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„Ein Foto aus unseren Schicksalstagen“, sagt Olena und zieht ihr Notebook näher heran, das vor ihr auf dem Schreibtisch steht. Das Foto auf dem Bildschirm zeigt sie selbst in einer dicken Jacke mit Pelzkragen, die Mütze tief ins Gesicht über die braunen Haare gezogen. Olena sitzt in einem Zelt auf dem Boden. Sie schaut direkt in die Kamera. Das war im Dezember 2004, auf dem Höhepunkt der orangenen Revolution. „Das waren schöne Tage“, sagt sie. „Wir hatten zwar weniger als zehn Grad minus und es war sehr kalt da draußen. Aber hier drinnen“, Olena tippt sich mit dem Zeigefinger leicht auf die Brust, „da war es ganz warm.“ Während sie das erzählt, sitzt die 23-jährige Ukrainerin im Büro der Bundestagsabgeordneten Dagmar Schmidt in Berlin. Durch die Fenster blickt man auf die Kuppel des Reichstagsgebäudes. Olena klickt ein weiteres Foto an. Es ist ebenfalls aus dieser Zeit, als Kiew, die Hauptstadt der Ukraine, tagelang in einem Ausnahmezustand war. Es zeigt Olena inmitten von anderen Demonstranten.
Zehntausende waren damals auf die Straße gegangen, um gegen die offensichtliche Manipulation des Ergebnisses der Präsidentschaftswahl zu protestieren. Weltweit berichteten die Medien über die „orangene Revolution“, über die friedlich und ausdauernd protestierenden Ukrainer, die sich mit orangefarbenen Bändchen, Schals oder Blumen geschmückt hatten, der Farbe der Opposition.
Seit März wohnt Olena Volochay in Berlin. Sie ist eine von 95 Stipendiaten, die am viermonatigen Internationalen Parlamentspraktikum des Bundestages teilnehmen. Erfahren hat sie von diesem Programm an der Uni, ihr Professor hatte sie darauf aufmerksam gemacht: „Du interessierst dich für Politik“, habe er gesagt, „wäre das nicht etwas für dich?“ Das war es. Olena bewarb sich und hatte Glück. Wenn sie in einigen Wochen in die Ukraine zurückkehrt, will sie wieder politisch arbeiten.
Olena erinnert sich gut, wie es früher war. Etwa bei der letzten Präsidentschaftswahl 1999: In der Ukraine wird das Staatsoberhaupt alle fünf Jahre direkt gewählt und offiziell auch „demokratisch“, das heißt in geheimer und gleicher Abstimmung. Im Wahlkampf 1999 hatte allerdings mancher Rektor die Studenten seiner Universität verpflichtet, öffentlich für den damaligen Präsidenten Leonid Kutschma zu demonstrieren. Wer sich dieser Anordnung widersetzte, dem drohte Exmatrikulation.
Diese Erfahrung, meint Olena, sei der Ursprung gewesen für den entschiedenen Protest vieler Studenten im vergangenen Jahr. Der Funke entzündete sich zwar spät, wurde aber 2004 schnell zum Flächenbrand: Zehntausende Menschen wollten weder die Wahlmanipulation akzeptieren, noch denjenigen, der davon profitiert hatte und schon wie der sichere Sieger aussah: Wiktor Janukowitsch, amtierender Premierminister und Wunschkandidat des scheidenden Präsidenten Kutschma.
Olenas Favorit war ein anderer: Wiktor Juschtschenko, Oppositionsführer und Präsidentschaftskandidat des Parteienbündnisses „Nascha Ukrajina“ (Unsere Ukraine). Auf ihn setzten viele Ukrainer, besonders im Westen des Landes. Er gilt auch international als Hoffnungsträger, denn er verspricht die Demokratisierung des ehemals sowjetischen Landes, das nach der Auflösung der Sowjetunion 1991 nur langsam politisch und wirtschaftlich auf die Beine kam. Noch heute verfügen einzelne Wirtschaftsmagnaten über großen Einfluss und Korruption gehört zum Alltag.
„Leistung und Fähigkeiten zählen wenig, wenn man nicht die richtigen Beziehungen hat“, sagt Olena empört. Die Löhne sind bis heute niedrig im Vergleich zu anderen europäischen Ländern. Und oft werden sie nur unregelmäßig gezahlt. Weitergehen konnte es so nicht, meint Olena. Sie wollte etwas tun, „damit ich einmal meinen Kindern in die Augen sehen kann und weiß, dass ich alles getan habe, damit sie eine bessere Zukunft haben.“
Dieses Gefühl, dass etwas nicht richtig läuft im eigenen Land, kennt Olena seit langem. Beim Reaktorunfall in Tschernobyl war sie vier Jahre alt. Wie viele andere Kinder, die im Umkreis von 30 Kilometern wohnten, reiste sie mit internationaler Hilfe mehrfach zur Erholung ins Ausland. So verbrachte sie 1996 und 1997 mehrere Wochen in Süditalien, nahe Salerno. Dort bemerkte sie erst, wie hart das Leben zu Hause ist: In Italien waren die Läden voll mit Waren und auf den Feldern erleichterten moderne Maschinen die Arbeit. „Das war ein anderes Leben, als ich es kannte“, sagt Olena. Eines, das sie auch für die Menschen in der Ukraine wünschte.
Im Juni 2004 meldete sie sich als Wahlkampfhelferin für Wiktor Juschtschenko. Sie hatte gerade ihr Germanistikstudium an der Taras-Schewtschenko-Universität abgeschlossen. Olena gehörte zu einem 15-köpfigen Wahlkampfstab in der Region Iwankiv, nahe Kiew. Dort ist sie aufgewachsen, die Mutter und die neun Jahre ältere Schwester wohnen noch immer in dem 1.000-Seelen-Dorf namens Orane.
Olenas Engagement stieß dort nicht nur auf Zustimmung. Dass sie Werbematerial wie die Wahlkampfschrift „Tak!“ (Ja!) verteilte, gefiel denen, die für Janukowitsch waren, überhaupt nicht. Es kam vor, dass ihre Mutter auf der Straße angesprochen und gedrängt wurde, etwas dagegen zu tun. Olena solle aufhören für Juschtschenko zu arbeiten. Ihr wurde es unheimlich: „Ich fühlte mich von den Menschen dort fast bedroht“, sagt sie. Doch ihre Mutter und ihre Schwester standen zu ihr, behaupteten einfach, dass sie nichts tun könnten – Olena mache ohnehin das, was sie wolle, sagten sie.
Und das stimmte sogar. Olena machte weiter, arbeitete bis zum Herbst fast täglich im Wahlkampfteam, nur zweimal in der Woche fuhr sie nach Kiew und gab Deutschunterricht, um Geld zu verdienen. Für die Wahl am 31. Oktober 2004 ließ sie sich für die Wahlkommission im Ort nominieren. „Ich habe es förmlich gerochen, dass auch in unserem Wahlkreis manipuliert werden sollte“, erinnert sie sich.
Olena war klar: Dagegen konnte sie nur etwas tun, wenn sie bei der Kommission mitarbeitete. Denn nur so konnte sie die Stimmabgabe im Wahllokal beobachten und auch die Stimmen mit auszählen. Und sie setzte am Ende ihre Unterschrift auf das Protokoll und bestätigte so, dass die Wahl korrekt verlaufen ist. Tatsächlich gab es Versuche, die Stimmen älterer Menschen, die nicht zum Wahllokal kommen konnten, zu fälschen. In Orane ging es gut. Massive Fälschungen fanden nicht statt und Juschtschenko wurde Wahlsieger. Doch insgesamt war der Wahlausgang eng. Olena wartete gespannt auf das Ergebnis. Sie hatte schon Pläne für die Wochen nach der Wahl. Nach Konstanz sollte es gehen, zu einem Deutschkurs, den sie bereits bezahlt hatte. Auch das Visum war beantragt und die Flugtickets gekauft.
Es kam ganz anders. Die Wahl führte zu keinem klaren Ergebnis: Die Kontrahenten Juschtschenko und Janukowitsch lagen fast gleich auf, so dass ein weiterer Wahlgang notwendig wurde. Die Stichwahl wurde auf den 21. November gelegt. Statt nach Deutschland fuhr Olena direkt nach der Stichwahl nach Kiew. „Hier ging es um unser Schicksal, da konnte ich doch nicht wegfahren“, sagt sie. Übernächtigt von der Auszählung der Stimmen, die bis spät in die Nacht gedauert hatte, wollte sie mit ihren Freunden auf die Bekanntgabe des Ergebnisses warten.
Sie trafen sich am Platz der Unabhängigkeit. Auch Juschtschenko wurde dort erwartet. Viele Menschen hatten sich versammelt und man redete über die Wahl. Nachrichten machten die Runde: Janukowitsch sei neuer Präsident und nicht, wie alle Umfragen vorher ermittelt hatten, Juschtschenko. Der zweite Wahlgang sei manipuliert worden, erzählten sich die Menschen.
Schnell formierte sich Protest auf den Straßen. Ausländische Berichterstatter waren fasziniert und überrascht zugleich. Doch die Opposition hatte sich darauf vorbereitet: „Uns war klar, dass wir auf die Straße gehen würden, sollte die Wahl manipuliert worden sein“, sagt Olena. Und als Wiktor Juschtschenko bei seinem Auftritt sagte, dass es „Zeit sei, Gerechtigkeit einzufordern“, wussten alle, was das bedeutete.
Olena und ihre Freunde organisierten Zelte und verabredeten Schichten, wie lange jeder die Stellung halten sollte. „Immer acht Stunden, dann wurde gewechselt“, erzählt sie. Täglich wuchs die Unterstützung: Geschäftsleute, Teile der Polizei und der Verwaltung solidarisierten sich mit den Demonstranten. Der Bürgermeister sorgte für Elektrizität in der Zeltstadt, die sich auf dem Platz der Unabhängigkeit gebildet hatte, Geschäftsleute sammelten Geld für Medikamente und viele Bürger brachten Essen oder warme Kleidung.
Für Olena sind diese zehn Tage zwischen der Stichwahl und der Anerkennung des Wahlbetrugs durch das Oberste Gericht vor allem eines: Tage der Solidarität. „Ich hätte nie gedacht, dass die Menschen in Kiew so zueinander sein können“, sagt sie und die Euphorie in ihrer Stimme ist unüberhörbar. Olena berichtet von alten Frauen, die, obwohl selbst fast mittellos, den Demonstranten Wurstbrote oder gekochte Kartoffeln brachten oder selbst gestrickte Schals. War die „orangene Revolution“ eine geschickte Medieninszenierung? Auf diesen Vorwurf reagiert Olena mit Unverständnis. Dass viele Menschen in der Ukraine auch Angst haben, durch politische Veränderungen etwas zu verlieren, kann sie aber verstehen. Auch, dass man einfach anderer Meinung sein kann. Doch die Revolution als bloßes Medienereignis abzutun, das begreift sie nicht. „Das sagen nur die, die nicht dabei gewesen sind“, sagt Olena achselzuckend. Sie ist dabei gewesen.