Der Journalist und Schriftsteller Butz Peters hat das Geschehen erstmals akribisch und umfassend durchleuchtet, vom Frankfurter Kaufhausbrand im Jahr 1968, als sich die RAF noch gar nicht etabliert hatte, bis zu dem Desaster in Bad Kleinen 1993, das mit der Tod des GSG-9-Polizeikomissars Michael Newrzella und des RAF-Mitglieds Wolfgang Grams endete. Seit der offizielle "Auflösungserklärung" im April 1998 ist die RAF bis heute spurlos von der Bildfläche verschwunden.
Raubüberfälle, Sprengstoffanschläge auf US-Einrichtungen und Behörden, Attentate auf prominente Militärs, Politiker und Wirtschaftsführer - der Autor schildert an Hand von Gerichtsurteilen, Augenzeugenberichten, Gefängnis-Kassibern, RAF-Erklärungen und Untersuchungsakten nicht nur die einzelnen Vorfälle außerordentlich detailliert, sondern beschreibt auch die Täter, ihre Motive und ideologischen Rechtfertigungen, die minutiöse Vorbereitung und den präzisen Ablauf der Terrorakte sowie die Entwicklungen innerhalb der RAF, die immer wieder gekennzeichnet waren durch interne Machtkämpfe, gegenseitige Ausgrenzungen und Abspaltungen.
Hierbei unterscheidet Peters zwischen drei "Generationen". Die erste Generation (1970-72), geprägt von Andreas Baader, Gudrun Ensslin und Ulrike Meinhof, wollte den Kapitalismus und Imperialismus in der Bundesrepublik durch "bewaffneten Kampf" überwinden. Als Vorbild galt das Vorgehen der Stadtguerilla in Südamerika. Menschenopfer wurden von Anfang an kaltblütig einkalkuliert. Natürlich dürfe geschossen werden, hatte Ulrike Meinhof lange vor den ersten Blutopfern verkündet, anders sei das verhasste "Schweinesystem", der "Polizeistaat", nicht in die Enge zu treiben. Ganze Waffenarsenale standen der RAF zur Verfügung, der Umgang mit Schusswaffen aller Art wurde in Trainingscamps der El-Fatah erworben.
Als die führenden Köpfe verhaftet waren, übernahm die zweite "Generation" (1974-82) das Kommando, angeführt von Brigitte Mohnhaupt, Adelheid Schulz und Christian Klar. Ihr Hauptziel: Freipressung der Gefangenen in Stammheim. Das Vorhaben misslang, trotz der Besetzung der deutschen Botschaft in Stockholm, trotz der Entführung der Lufthansamaschine "Landshut" und der Ermordungen von Arbeitgeberpräsident Schleyer und Generalbundesanwalt Siegfried Buback. Mit dem Selbstmord von Baader, Ensslin und Raspe wurde die politische Isolation der RAF immer offensichtlicher. Die ersten RAF-Aussteiger, frustriert und desillusioniert, fanden unter den Fittichen der Stasi bequemen Unterschlupf.
Nach der Verhaftung des Trios Mohnhaupt, Klar und Schulz führte die dritte Generation (1984-98) den aussichtslosen Kampf weiter. Nur kurzfristig gelang die Zusammenarbeit mit der Action Directe und den Roten Brigaden. Nach der Ermordung des MTU-Chefs Ernst Zimmermann, des Deutsche-Bank-Vorsitzenden Alfred Herrhausen, des Diplomaten Gerold von Braunmühl und des Treuhandchefs Detlef Carsten Rohwedder sowie der Sprengung der brandneuen Gefängnisanlage in Weiterstadt - Sachschaden 123 Millionen Mark - hatte die Isolation ein Ausmaß erreicht, dass die Entscheidung, den Kampf einzustellen und die RAF als beendet zu erklären, unumgänglich geworden war.
Wie ist es möglich, dass eine verschwindend kleine Gruppe die Republik jahrelang in Atem halten konnte? Peters verweist auf die Schwierigkeiten, die Polizei und Staatsschutz anfangs hatten, sich auf Mentalität und Ziele der RAF einzustellen. Man kannte sich zwar aus mit "gewöhnlichen" Kriminellen, nicht aber mit Intellektuellen, die überwiegend aus besten Kreisen stammten, die sich nicht persönlich bereichern wollten, für ihr Handeln moralische Argumente vorgaben.
Als sich das Bundeskriminalamt unter Führung von Horst Herold auf die neue Situation eingestellt hatte und mit Rasterfahndungen Erfolge erzielte, konterte die RAF mit einer nahezu perfekten Verfeinerung ihrer Methoden. Man mietete keine Wohnungen mehr an, sondern lebte in Untermiete, hinterließ in den aufgegebenen Wohnungen und abgestellten Autos so gut wie keine Spuren. So wurden von den 22 bekannten Straftaten der dritten Generation bis jetzt lediglich zwei aufgeklärt.
Was der Autor in seiner vorzüglichen, für den Leser oft beklemmenden Untersuchung noch nicht leisten konnte, ist die befriedigende Antwort auf die Frage, was begabte junge Menschen dazu brachte, einen derart mörderischen und zugleich sinnlosen Kampf zu beginnen. Anlässe, das autoritär-stockkonservative Gesellschaftssystem Ende der 60er-Jahre kritisch zu hinterfragen, gab es natürlich viele, etwa das rüde Vorgehen der Polizei gegen aufmüpfige junge Leute, die Nichtbefassung mit der NS-Vergangenheit, der Vietnamkrieg, das überholte, demokratieferne Erziehungs- und Bildungssystem, die unfaire und einseitige Berichterstattung in Teilen der Medien.
Das Abgleiten in den Terrorismus, die völlige Mitleidlosigkeit gegenüber unschuldigen Opfern, muss jedoch auch Ursachen haben, die in der individuellen Sozialisation und im Charakter der Betroffenen zu suchen sind. Insofern kann die Geschichte der RAF erst dann als erschöpfend aufgearbeitet gelten, wenn die Psychostruktur von Baader, Meinhof und Co. eingehend analysiert worden ist.
Butz Peters
Tödlicher Irrtum. Die Geschichte der RAF.
Argon Verlag, Berlin 2004; 863 S., 24,80 Euro