Zwischen Flagler Street und Douglas Road drängen sich kubanische Restaurants und "loncherías", Sandwichbars, "botánicas", Drogerien und spanische "librerías". Im Máximo Gómez Park hocken alte Männer an Betontischen, paffen Zigarren und spielen eine Partie Domino. In den kleinen Läden und Restaurants von Little Havana wird ausschließlich Spanisch gesprochen. Wenn man in South Beach am Strand steht und über das Meer schaut, ist Kuba nur einen Katzensprung entfernt. "Miami es la ciudad más cercana a Estados Unidos." Miami ist die Stadt, die am nächsten an den USA liegt. So sehen es die Exilkubaner.
Mehr als eine Million Exilanten sind seit 1959 hierher gekommen und haben aus Miami die zweitgrößte "kubanische Stadt" der Welt gemacht - einen hot spot kubanischer Kultur in den USA. Die Stadt und der Bundesstaat Florida waren schon immer Anlaufstelle für Flüchtlinge aus der gesamten Karibik und Lateinamerika - vielleicht, weil Florida ursprünglich spanisches Territorium war oder weil Miami, die Stadt an der Küste, sich geografisch als Zielort und Hafen für Immigranten aus der ganzen Welt anbot. Aber für die Exilkubaner ist Miami ihr Wohnzimmer.
Fidel Castro nannte diejenigen, die Kuba den Rü-cken kehrten, verächtlich "gusanos", Würmer, und "escoria", Abschaum. Dabei waren die kubanischen Exilanten, die unmittelbar nach der Revolution Richtung Miami flohen, keine armen, ungebildeten Flüchtlinge. Die Mehrheit stammte aus der weißen Mittelschicht, hatte eine exzellente Ausbildung und Geld, um sich in der neuen Heimat eine sichere Existenz aufzubauen.
Anfang der 60er-Jahre sahen viele Kubaner Miami zwar erst einmal als Exil auf Zeit: ein Fluchtpunkt, keine Heimat. Aber als immer klarer wurde, dass mit einem schnellen Sturz des "maximo líder" Fidel Castro nicht zu rechnen war, begannen sich die Flüchtlinge auf einen längeren Aufenthalt einzurichten. Sie gründeten Unternehmen und machten Miami zu einem internationalen Geschäftszentrum. Viele Banken, Baufirmen und Handelsgesellschaften sind bis heute fest in exilkubanischer Hand. Das ist die Tragik der Immigranten der ersten Stunde: Als Einwanderer haben sie Erfolg gehabt. Für sie als Exilanten ist Kuba weiter entfernt denn je. Ihr Kuba ist Little Havana. Und die Calle Ocho, das Epizentrum der kubanischen Exilanten, florierte dank des kubanischen Unternehmergeistes zum Wohle der Stadt Miami, die damals von den Erfolgsgeschichten profitierte. Und zwar nicht nur wirtschaftlich, sondern vor allem auch kulturell. Latino-Pop eroberte die Charts überall in den USA. Heute gibt es zwei nationale spanischsprachige Fernsehkanäle und hunderte Radiostationen. Allein Miami hat acht Sender nur für spanische Muttersprachler.
Dank Salsa und Rumba ist kubanische Musik weltweit ein Erfolgsschlager. Die kubanische Kunstszene boomt in den USA. Landesweit stellen Museen kubanische und exilkubanische Kunst aus. Internationale Stars wie die Sängerin Gloria Estefan und der Schauspieler Andy Garcia stehen stellvertretend für eine Künstlergeneration, die ihre Heimat Kuba zwar nur als Kinder erlebten, die aber dennoch stark davon geprägt ist. Garcia, geboren 1956 in Havanna, kam als Fünfjähriger mit seiner Familie ins Exil nach Miami Beach. Als Jugendlicher spielte er dort in lokalen Variete-Shows. Später studierte er Theater an der Florida International University und trat in regionalen Theaterproduktionen in Miami auf, bevor er in Hollywood Karriere machte. Kuba, die Heimat, an die er sich eigentlich nur aus Erzählungen seiner Eltern erinnert, hat ihn auch künstlerisch immer beschäftigt, sagt er. Sein neuer Film "The Lost City" spielt in Kuba, unmittelbar nach der Revolution. "Unterbewusst war dieses Thema immer in meinem Kopf und hat mein Leben und meine Karriere beeinflusst", sagt Garcia. Auch wenn er heute längst mehr Amerikaner als Kubaner ist.
Die kubanischen Exilanten haben die USA aber nicht nur wirtschaftlich und kulturell, sondern vor allem politisch von Anfang an geprägt. Heute wird nicht nur auf lokaler Ebene Politik von Exilkubanern gemacht: Der neue alte Bürgermeister von Miami heißt Manny Diaz und stammt aus Havanna. Auch der Polizeichef und drei Kongressabgeordnete sind Exilkubaner. Seit Anfang 2005 ist der in Kuba geborene Carlos Gutierrez Wirtschaftsminister der Regierung Bush in Washington.
Die Gruppe der Exilkubaner ist - auch lange nach dem Ende des Kalten Krieges - weiterhin ein wichtiger politischer Faktor. Bei Präsidentschaftswahlen oft Zünglein an der Waage, werden sie insbesondere in Wahljahren heftig umworben. Ronald Reagan versicherte sich der exilkubanischen Wählerschaft bei Besuchen in der Calle Ocho und auch Bill Clinton hat schon im Cafe Versailles "fritas" gegessen. Jedem Politiker ist klar, dass wer Wahlen gewinnen will, die richtige Position zu Kuba und Castro vertreten muss. Traditionell stimmen die Exilkubaner zu mehr als 70 Prozent für die Republikaner.
Die größte politische Organisation des kubanischen Exils ist die Cuban American National Foundation (CANF) - eine der mächtigsten Lobbygruppen der USA. Selbstgestecktes Ziel der streng konservativen Stiftung ist es, Freiheit und Demokratie in Kuba zu fördern (und zu unterstützen). Und tatsächlich hat die CANF seit ihrer Gründung 1981 maßgeblich mit entschieden, wenn in Washington beispielsweise über weitere Verschärfungen des Handelsembargos gegen Kuba oder die nordamerikanische Freihandelszone NAFTA debattiert wurde.
CANF-Gründer Jorge Mas Canosa gilt bis heute als einer der einflussreichsten Exilkubaner in den USA. Und als einer der wohlhabendsten obendrein. Mas Canosa war jahrelang enger Berater in den Regierungen, Reagan, Bush senior und Clinton. Bill Clinton war übrigens bisher der einzige Demokrat, der den Bundesstaat Florida gewinnen konnte: Mit der Zusage, das Embargo zu verschärfen, erhielt er 42 Prozent der exilkubanischen Stimmen.
So umworben die Exilanten von Politikern sind, so skeptisch werden insbesondere die neuen Immigranten von der weißen, nicht hispanischen Bevölkerung Miamis und Floridas beäugt. Zumal die Flüchtlingszahlen in diesem Jahr wieder dramatisch angestiegen sind: Mehr als 2.600 Kubaner hat die US-Küstenwache abgefangen, doppelt so viele wie im vergangenen Jahr. Nach dem so genannten "wet foot, dry foot"-Prinzip schicken die amerikanischen Behörden kubanische Flüchtlinge, die vor der Küste aufgefischt werden, zwar sofort zurück. Diejenigen, denen es gelingt an Land zu kommen, dürfen dagegen legal in den USA bleiben.
Diese Regelung motiviere immer neue illegale Flüchtlinge sich auf den Weg zu machen, sagen nicht nur Amerikaner, sondern auch mehr und mehr Latinos in Florida. Selbst alteingesessene Immigranten sprechen sich mittlerweile für eine Verschärfung der Gesetze aus. Anders als die Einwanderer der ersten Stunde sind die neuen Flüchtlinge oft arm und ungebildet. Sie kennen nur das Kuba von Fidel Castro. Das Amerika von heute kennt niemand von ihnen.
"Willkommen im Kapitalismus. Jeder hier ist künftig selbst für sich verantwortlich." Das ist die erste Lektion im Crashkurs für Neuankömmlinge. Amerika, erklärt der Lehrer im Einführungskurs den staunenden Immigranten, sei nicht dafür zuständig, dass sie essen, dass sie ein Haus haben, dass sie Arbeit finden. Amerika biete Möglichkeiten. Nutzen müsse sie jeder selbst. Viele der neuen Immigranten sind "balseros", Menschen, die per Boot oder Floß an der Küste Floridas landen. Sie sind Kinder der kubanischen Revolution, die soziale Garantien aber wenig wirtschaftliche Möglichkeiten geboten bekamen. Das Abenteuer Amerika wird auch deshalb für die meisten Neuankömmlinge zum Drahtseilakt ohne Netz. Und viele bringen außer der Hoffnung auf ein besseres Leben wenig mit. Für die Stadt Miami und den Staat Florida sind steigende Arbeitslosigkeit und Kriminalität die Folgen des konstanten Flüchtlingsstroms.
Dabei kommen die Immigranten heute längst nicht mehr nur aus Kuba. Flüchtlinge aus Lateinamerika und dem Karibikraum strömen in die Stadt, die zum Schmelztiegel der Karibik geworden ist. Das ist in jeder beliebigen Cafeteria zu beobachten. Die Kellner sprechen Spanisch, aber statt des kubanischen, sind immer öfter jamaikanische, haitianische und nicaraguanische Akzente zu hören. Ob aus wirtschaftlichen oder politischen Gründen: Der Strom der Neuankömmlinge reißt nicht ab. Bereits heute sind mehr als 57 Prozent der Einwohner des Landkreises Miami-Dade lateinamerikanischer Herkunft.
Die Kubaner bilden nach wie vor die größte Einwanderergruppe - immerhin stellen die USA jährlich 20.000 Visa für ausreisewillige Kubaner aus. Die zweitgrößte Gruppe sind die Haitianer. Als Anfang der 90er-Jahre ein Militärputsch die gewählte Regierung in Haiti wegfegte, flohen Tausende von der Insel. Mit Flüchtlingen überladene Flöße und Kutter nahmen Kurs auf die US-amerikanische Küste. Viele der Immigranten landeten in Little Haiti, der haitianischen Enklave in Miami.
Trotz der immer neuen Flüchtlinge aus der gesamten Karibik bleiben die Exilkubaner weiterhin die treibende Kraft in Miami und Südflorida. Auch wenn die vergangenen 40 Jahre nicht spurlos an der Exilgemeinde und Little Havana vorbeigegangen sind. Eine der alteingesessenen Cafeterias, "El Rey de las Fritas", in der Calle Ocho wird zum Jahresende schließen. Ein hochmoderner Gebäudekomplex soll da entstehen, wo vier Jahrzehnte original kubanische "fritas" serviert wurden.
Der Bauboom und die explodierenden Preise verdrängen allmählich die kleinen kubanischen Nachbarschaftsläden. Immer neue Luxusappartments, Shoppingcenter und Büro-Hochhäuser entstehen im Herzen von Little Havana. Das angrenzende Banken- viertel expandiert und lässt die Mieten explodieren. Viele Einwohner sprechen bereits wehmütig vom Abschiednehmen.
Wer heute als Immigrant hierher zieht, findet so schnell keine neue Heimat, Freunde, Familie und einen Job, sagen sie. Das Nachbarschaftsviertel Little Havana verwandelt sich in ein postmodernes, großtädtisches New Havana. Und mit dem Viertel haben sich auch die Menschen verändert. Die zweite Generation der Exilkubaner - geboren und aufgewachsen in den USA - hat immer weniger gemein mit ihren traditionellen, konservativen Eltern und Großeltern, den so genannten "historicos", deren Leben sich damals wie heute um ihre verlorene Heimat Kuba dreht.
Die 20- und 30-Jährigen sind inzwischen längst Teil der US-amerikanischen Mehrheitsgesellschaft. Daheim wird zwar nach wie vor Spanisch gesprochen und über Fidel Castro, Antikommunismus und das Wirtschaftsembargo gegen Kuba debattiert. Draußen im Job oder an der Universität allerdings interessieren sich die Kinder und Enkel der "historicos" wie die anderen jungen Amerikaner mehr für George W. Bush und den Irak-Krieg als für Castro und Kuba. Ihr Zu-hause ist Miami, nicht Havanna.
Maya Dähne lebt in Washington und arbeitet als freie
Journalistin unter anderem für das Deutschlandradio, für
den NDR und MDR sowie "Tagesschau online".