Auslöser des Sturms der Entrüstung waren ein Gesetz und eine Feier, gewürzt durch die deftige Sprache des Ministers: Die von einer düsteren Neigung zur Selbstverleugnung bedrohten Franzosen sollten ihre exzessive Reue wegen ihrer Geschichte ablegen, sagte Sarkozy, um ein Gesetz zu rechtfertigen, das die positive Rolle der Kolonialmacht Frankreich würdigen sollte. Hinzu kam noch die Pariser Feier zum Gedenken an Napoleons Sieg bei Austerlitz vor 200 Jahren.
Weder Napoleon, geschweige denn die Kolonialzeit sind auf Martinique und Guadeloupe in guter Erinnerung geblieben. Napoleon wurde zur Hassfigur, weil er 1802 die Sklaverei wieder einführte, die 1794 bereits abgeschafft worden war. Bis 1884 mussten die schwarzen Plantagenarbeiter warten, um ihr Recht als freie Personen genießen zu dürfen. Und noch einmal verstrichen mehr als 100 Jahre, bis aus den Kolonien Überseegebiete mit zunehmender Selbstverwaltung wurden. Kein Wunder also, wenn die rund 440.000 Einwohner Guadeloupes und die zahlenmäßig fast ebenbürtige Bevölkerung auf Martinique keinen Grund zur Glorifizierung der kolonialen Vergangenheit der Grande Nation sehen. Außerdem sind sie zwar Franzosen, aber zu 90 Prozent dunkler Hautfarbe und Nachfahren der aus Westafrika eingeschleppten Sklaven. Sie waren gut genug, in den Kriegen an der Seite des Mutterlandes zu kämpfen, aber die "Eingeborenen der Republik", wie sich die aus den Ex-Kolonien stammenden, im Mutterland lebenden Franzosen auch nennen, spüren: Ihre Kinder werden immer noch ausgeschlossen.
Doch weshalb beschreiten die meist Créole sprechenden - eine Art Mischsprache aus Französisch und afrikanischen Elementen - Insulaner dann nicht den Weg in die Unabhängigkeit? Die Antwort auf diese Frage ist simpel und mit einem Blick ins Portefeuille gegeben: Unabhängigkeit wäre schlicht zu kostspielig. Weder Französisch-Guyana mit seinem 173.000 Einwohnern, noch die beiden großen französischen Antilleninseln könnten auf sich gestellt, so gut leben, wie sie es jetzt tun.
Eine Million "Karibik-Franzosen" genießen die gleichen Rechte wie die Bürger im 8.000 Kilometer entfernten Mutterland. Alle französischen Gesetze finden Anwendung, den lokalen Besonderheiten wird Rechnung getragen. Welcher Bürger von Martinique oder Guyana würde schon gern auf den französischen Mindestlohn, die Familien- und Kinderzuschüsse verzichten - noch dazu in Euro und auf dem Niveau des Mutterlandes? Lediglich die Sozialhilfe ist den örtlichen Gegebenheiten angepasst und Sache der Lokal-, beziehungsweise Regionalverwaltung.
Für Verteidigung, Sicherheit und außenpolitische Belange der Überseedepartments ist Paris zuständig. Im Senat reden jeweils zwei Vertreter aus den drei karibischen Überseedepartements mit. In der Nationalversammlung sind Martinique und Guadeloupe entsprechend ihrer Bevölkerung mit jeweils vier, Guyana ist mit zwei Abgeordneten vertreten. Die Regionen verwalten sich im Übrigen selbst, das heißt sie wählen ihren "Conseil General" (für das Departement) und den "Conseil régional".
Auch in wirtschaftlicher Hinsicht ginge es den Insulanern ohne Frankreich schlechter. Der Tourismus und der Bananen-, Fisch- und Rumexport reichen als Finanzbasis nicht. Die Überseedepartements bauen auf die Großzügigkeit des "Ministère d'outre mer" und der Europäischen Union. So zeigt ein Blick in das letzte Budget von Guadeloupe: Von 100 Euro auf der Habenseite stammen 39 aus eigenen Steuereinnahmen, 28 Euro entspringen Zuwendungen und Staatsbeteiligungen, 22 aus EU-Geldern und 11 Euro sind Neuverschuldung. Kein Wunder, dass der Drang in die Unabhängigkeit in der Breite der Bevölkerung nicht allzu groß ist! Es sind nur jene Zwischentöne wie die von Innenminister Sarkozy, die einen empfindlichen Nerv treffen.
Für die verblichene Kolonialmacht Frankreich selbst sind gerade die karibischen Überseegebiete nicht nur Relikt glorreicherer Zeiten, sie besitzen durchaus strategische Bedeutung: vor allem Guyana mit seinen Weltraumbahnhof. In den 60er-Jahren errichtete die französische Raumfahrtagentur CNES den Raumflughafen in Kourou. Mit Hilfe der Europäischen Weltraumbehörde ESA wurde Kourou für experimentelle und kommerzielle Ariane-Starts ausgebaut. Guayanas Nähe zum Äquator macht es strategisch für die Raumfahrt so bedeutsam: Die Raketen können von Kourou aus zehn Prozent mehr Ladung ins All transportieren als vom US-amerikanischen Cape Canaveral. Allein aus diesem übergeordneten Interesse wird Frankreich das Überseegebiet wohl nie in die Unabhängigkeit entlassen.
Europa bleibt also auf absehbare Zeit präsent in der Karibik, zumal sich auch die Niederlande und Großbritannien als alte Seefahrernationen und Kolonialmächte noch mit Kronkolonien in der Karibik schmücken. Eine Insel teilen sich die Holländer sogar mit Frankreich: St. Martin heißt sie im Norden, im Süden St. Maarten. Zusammen mit Bonaire und Curacao - vor allem wegen des gleichnamigen Likörs bekannt -, Saba und St. Eustatius bildet St. Maarten die "Niederländischen Antillen" (800 Quadratkilometer Fläche, 181.000 Einwohner) und als solche auch eine Gebiets und Verwaltungseinheit. Aruba (193, 93.000), unweit der venezolanischen Küste gelegen, ist das zweite koloniale Standbein der niederländischen Krone in der Karibik.
Zum deutlich geschrumpften britischen Karibikimperium gehören Anguilla (96 Quadratkilometer, 11.400 Einwohner), die britischen Jungferninseln (153, 21.000), die Cayman-Inseln (259, 41.000), die 1997 von einem Vulkanausbruch heimgesuchte Insel Montserrat (102, 4.500) sowie die über 30, bis auf acht unbewohnten, Turks- und Caicoinseln (430, 20.000). Bermuda liegt zwar auf dem Weg in die Karibik - in 1.000 Kilometern Entfernung zählt diese Kolonie unter Regentschaft von Queen Elizabeth II. territorial jedoch nicht mehr zur Karibik.
Die letzten Kolonialbastionen im Zeichen ihrer Königinnen sind sehr heterogen: weniger was ihre Bevölkerung, eine Mischung meist aus den Nachfahren der afrikanischen Sklaven und den jeweils tonangebenden Europäern und womöglich einem Rest an indianischen Ureinwohnern angeht, als vielmehr wirtschaftlich.
Die britischen Jungferninseln profitieren vom Tourismusboom, was sich in einem sehr hohen Pro-Kopf-Einkommen von 38.643 US-Dollar (2003) niederschlägt. Die Finanzdrehscheibe Cayman Islands schwimmt buchstäblich im Geld: So sehr, dass die britische Regierung Mühe hat, dem Geldwäscherparadies europäische Richtlinien auf- und damit die Daumenschrauben anzulegen. Das Pro-Kopf-Einkommen auf den Cayman-Inseln betrug zuletzt 36.271 US-Dollar im Jahr.
Die Wirtschaftskraft der eng mit Jamaika verbundenen Turks- und Caicoinseln hingegen wurde für 2003 nur auf rund 13.500 US-Dollar pro Kopf geschätzt. Montserrat indes ist noch im Begriff, sich von den Aktivitäten und dem Ausbruch des Soufriere Hills Vulkans in den 90er-Jahren zu erholen. Damals unterstützte die britische Regierung die Insel allein mit umgerechnet 100 Millionen Euro.
Generell lassen sich die Briten die Karibik durchaus etwas kosten: Im Haushaltsjahr 2006/2007 sind 96 Millionen Pfund (circa 150 Millionen Euro) für die Gesamtregion an Ausgaben vorgesehen. Der Großteil davon fließt in die Kolonien, nicht unbeträchtliche Summen erhalten die ehemaligen britischen Gebiete. Die meisten erlangten in den 60er-Jahren die Unabhängigkeit. Die Territorien, die damals bei der Krone blieben, erlangten sukzessive interne Autonomie. Die Aufteilung der Zuständigkeiten und der Macht zwischen Großbritannien und den britischen Überseegebieten, wie die Kolonien genannt werden, ist etwas kompliziert. In den "British Overseas Territories" wählt das Volk in der Regel einen Legislativrat. Diese Volksvertretung bestimmt dann die meist von einem "Chief Minister" angeführte Regierung, die für alle internen Fragen zuständig ist. Der Legislativrat kann in der Regel auch das Recht zur Ernennung von Richtern und anderen wichtigen öffentlichen Funktionen in den jeweiligen Gebieten wahrnehmen.
Formell hat allerdings der Gouverneur seiner Majes-tät das Sagen: Verteidigung, Innere Sicherheit und die außenpolitische Vertretung sind Sache der Regierung Ihrer Majestät, die diese entweder direkt von London aus wahrnimmt, oder an den Gouverneur entsprechend delegiert.
Ähnlich wie die britische, regelt auch die niederländische Krone die Geschicke ihrer Untertanen in der Karibik: Sie bleibt zuständig für Verteidigung, Außenpolitik, Menschenrechte, Demokratie und Rechtstaatlichkeit. Für die erwähnten Aufgaben sowie für Förderung im Bildungs- und Wirtschaftssektor zahlt Den Haag nach Auskunft des Außenministeriums in diesem Jahr 45 Millionen Euro an Aruba und 145 Millionen Euro an die Niederländischen Antillen. Intern genießen beide Gebiete Autonomie, wählen ihre "Staten", ihre Parlamente mit 21 (Aruba) beziehungsweise 22 Abgeordneten. Die Geschäfte führt ein Regierungschef. Die Interessen der Niederlande vertritt ein Gouverneur.
Gouverneure für Kolonien im 21. Jahrhundert? Die Existenz von immer noch 16 Kolonien weltweit bezeichnete UN-Generalssekretär Kofi Annan vor nicht allzu langer Zeit als Anachronismus. Mehr als die Hälfte der 16 Kolonien liegt, je nach Zähl- und Interpretationsweise, in der Karibik. So können auch die amerikanischen Jungferninseln als Kolonie gelten. Erst vor wenigen Wochen hatte der UN-Ausschuss zur Abschaffung der Kolonien auch die Vertreter aus der Karibik erneut zu Anhörungen nach New York geladen. Was die UN-Verfechter der Unabhängigkeit zu hören bekamen, war nicht immer ganz nach ihrem Geschmack. Unabhängigkeit ist ein hohes, vor allem aber ein teures Gut, lautete die Botschaft. Kurzum: Bei weitgehender interner Autonomie, beziehungsweise Gleichstellung mit anderen Landesteilen wie im Falle der französischen Überseegebiete, wäre der Preis für die völlige Eigenständigkeit einfach zu hoch. Zu großzügig sprudeln die Finanzquellen der Kolonialherren, zu weitreichend sind die Rechte der Karibikeuropäer, sich überall in der Europäischen Union niederzulassen, als dass man einen derart hohen Preis für die Verwirklichung eines Ideals zu zahlen bereit wäre.
Und das obwohl sich die Bewohner der Karibik in den jeweiligen Mutterländern als Bürger zweiter Klasse behandelt fühlen! Immerhin sind sie aber Bürger - auch der EU - mit allen Rechten, und müssen nicht - wie so viele andere aus ehemaligen Kolonien - an die immer dickeren Pforten der Festung Europa anklopfen.
Burkhard Birke arbeitet als Redakteur beim Deutschlandfunk.