Halbzeit auf dem Weg zum harmonisierten Hochschulraum Europa: Was 1999 in Bologna 29 europäische Staaten initiierten, ist zu einer gesamteuropäischen Bewegung angewachsen. 45 Staaten - weit mehr als die 25 EU-Mitglieder - beteiligen sich inzwischen am Bologna-Prozess, der als Synonym für den Weg zu einem transparenten und mobilitätsfördernden Hochschulraum steht. Bis 2010 sollen vergleichbare Qualitätsstandards, gestufte und gegenseitig anerkannte Abschlüsse umgesetzt sein.
Vielleicht gilt der Bologna-Prozess eines Tages als kulturelle Revolution Europas, denn er bindet nicht nur die Wissenschaft, sondern europaweit auch die Menschen ein. Wenn sich bis 2010 die Hochschulen von Dublin bis Warschau und von Helsinki bis Athen vernetzen, wenn deutsche Bachelor-Absolventen an einer Universität in London oder Riga problem- und grenzenlos einen Masterabschluss draufsetzen können, der auch in der Wirtschaft anerkannt wird, dann keimt neben der nationalen auch eine spezifisch europäische Kultur.
Für diese Vision wird das gestufte und modular aufgebaute Studiensystem europaweit durchgesetzt: Bachelor (BA) und Master (MA) werden nach identischen Kriterien verliehen, studienbegleitende Prüfungen mit gleich vielen Leistungspunkten gewertet und einheitliche Qualitätsstandards eingehalten. Ein BA-Absolvent soll über jenes Basis- und Praxiswissen verfügen, mit dem er entweder einen Beruf oder ein vertiefendes und spezialisierendes Masterstudium aufnehmen kann. Entsprechend muss bereits der BA für den Arbeitsmarkt qualifizieren.
Ungebrochen ist der Wille des ständig wachsenden Bologna-Clubs, den gemeinsamen Aufbruch zu mehr Mobilität und Transparenz, vielfältigen Qualifikations-Profilen, schnellerem Berufseinstieg und einem identitätsstiftenden gemeinsamen Wissenskanon termingercht zu schaffen. Das ergab die Zwischenbilanz der Bologna-Follow-up-Gruppe, die sich 2005 im norwegischen Bergen traf. Über die Hälfte der beteiligten Länder haben BA-/MA-Programme nach Bologna-Richtlinien bereits eingeführt; ein Fünftel ist auf dem Weg dahin. Selbst die Etablierung eines gemeinsamen Systems der Qualitätssicherung - Etappenziel der zweiten Halbzeit - nimmt bereits Form an: In den meisten Ländern ist die Akkreditierung von Studiengängen mittlerweile obligatorisch. Nun treibt die European Association for Quality Assurance ENQA die Qualitäts-Standardisierung voran.
Ein "Bologna Light" jedenfalls soll es nicht geben. Die neue Mobilität verlangt neue Curricula und nicht nur umgemodelte Strukturen. "Es darf nicht passieren, dass Studierende mit ausreichend Leistungspunkten an einigen Unis nicht zur Prüfung zugelassen werden, weil ihnen inhaltliche Bausteine fehlen", warnt Achim Meyer auf der Heyde, Generalsekretär des Deutschen Studentenwerks. "Geprüfte" Akkreditierungsagenturen sollen die europaweite Qualität durchsetzen.
Die deutschen Hochschulen liegen insgesamt gut in der Zeit. Nun aber organisiert sich auch Widerstand. Weil der Bologna-Prozess tief in gewachsene Identitäten eingreift, verteidigen besonders klassische Professionen mit Staatsexamen ihre Traditionen. Peter M. Huber, Vorsitzender des Deutschen Juristen-Fakultätentags, fürchtet, dass selbst akkreditierte MA-Studiengänge niemals garantieren, dass alle Juristen "auf einer Augenhöhe" sind. Auch unter den Pädagogen gärt es: Sie sehen in der Schule keinen Platz für Bachelor. Und Max Einhäupl, Mediziner und Vorsitzender des Wissenschaftsrats, zeigt ein "gewisses" Verständnis für die BA-Ablehnung der Mediziner, obwohl er sich grundsätzlich für den Bologna-Prozess stark macht. Allerdings sollte die Umstellung der Staatsexamens-Studiengänge sinnvoller Weise zwischen den Teilnehmern des Bologna-Prozesses abgestimmt werden.
Eher pragmatisch nehmen die neun Technischen Hochschulen des selbstbewussten TU9-Consortiums die Herausforderung an. Obwohl sie den BA-Ing. nur für bedingt praxistauglich halten, setzen sie die neuen Studiengänge eifrig um. Tatsächlich ist noch offen, wie in ein BA-Studium, das nach dem bisherigen politischen Willen nur sechs Semester dauern soll, neben Grundlagenwissen auch Praxis oder gar ein Auslandssemester gepackt werden soll. Vorsorglich agieren Technische Hochschulen nach der Devise: "Der BA öffnet alle Türen, der MA ist das Ziel."
Die findige Formel erklärt den MA zum Regelabschluss und damit - als konsekutiv auf den BA aufbauend - auch als BAföG-berechtigt. Genau das aber ist umstritten, wie ein BA-Absolvent der Hamburger Bucerius Law School erlebte. Er wollte nach dem BA weiter studieren, erhielt dafür aber kein BAföG mehr, weil er bereits einen akademischen Abschluss besitze. Dagegen klagte er vor dem Hamburger Verwaltungsgericht - mit Erfolg. Urteilsbegründung: Der Jura-BA befähige nicht zu einem juristischen Beruf im klassischen Sinn. Das Verfahren wird wegen seiner grundsätzlichen Bedeutung zur Berufung zugelassen.
Als sozial brisant könnten sich auch die stark strukturierten Studiengänge erweisen, die eine hohe zeitliche Präsenz verlangen. Meyer auf der Heyde jedenfalls sieht die 60-Stunden-Woche für Studierende dämmern - "prohibitiv" für alle, die ihr Studium selbst finanzieren müssen. Vielleicht fehlt den Studierenden deshalb noch der richtige Glaube an die Abschlüsse á la Bologna, wie die European University Association EUA feststellte. Trotzdem wächst die Zahl der Studierenden kontinuierlich, die den Schritt in die BA-/MA-Zukunft wagen. Und drei Viertel der Unternehmen, so das Institut der Deutschen Wirtschaft, warten nach eigenen Angaben bereits auf die neuen Bachelor und Master.
Enorme Mehrbelastung auch für die Hochschulen: Sie müssen eine Vielzahl zusätzlicher Prüfungen bewältigen, verschärft noch durch steigende Studierendenzahl. Knapp zwei Millionen junge Menschen studieren heute in Deutschland; die Aufnahmekapazität der Hochschulen sei bereits überschritten, berichtet die Hochschulrektorenkonferenz (HRK). Das wird die Einführung von Quoten beschleunigen, die einen Großteil der BA-Absolventen vom MA-Studium ausschließen - und damit für neuen Konfliktstoff sorgen.
Wird allmählich der Geist von Bologna verwässert oder schlicht flexibler damit umgegangen? Jedenfalls ermöglicht das Bundesland Sachsen nun alte und neue Abschlüsse. Und Bayern hat die Ausnahmeregelung für Lehrer festgeschrieben.
Bisher nicht konsensfähig unter den Mitgliedsstaaten ist der Versuch, die Promotion als dritte Bildungsstufe in den Bologna-Prozess aufzunehmen. Auch die deutschen Hochschulen möchten die Promotion als eigenständiges Qualifikationsmerkmal erhalten. Auf EU-Ebene allerdings soll auch den Forschern künftig Mobilität und soziale Absicherung erleichtert und damit der Forschermangel entschärft werden: Die EU-Kommission hat eine "Europäische Charta für Forscher und einen Verhaltenskodex für die Einstellung von Forschern" aufgestellt.
Trotz mancher Hürde - eines wird der Bologna-Prozess sicher erreichen: Es wird den Wettbewerb zwischen den europäischen Hochschulen ankurbeln. Denn Angleichung weckt den Wunsch nach Differenzierung. So wird, wie in den USA, auch hier das Image einer Hochschule künftig darüber bestimmen, welche Karrieretüren sich ihren Absolventen öffnen.
Die Autorin arbeitet als Journalistin in Hannover.