Dynamisch, effizient, erfolgreich - so sehen die Chilenen ihr Land am liebsten. Doch es gibt auch die Kehrseite: Obschon sich die Armut in Chile in den vergangenen Jahren verringerte wie in keinem anderen Land Lateinamerikas, klafft das Land sozial immer weiter auseinander. Michelle Bachelet - am 15. Januar zur ersten chilenischen Staatspräsidentin gewählt - muss sich dieser Herausforderung stellen. Die 54-jährige Kinderärztin und ihre Regierung werden daran gemessen werden, ob und in welchem Umfang in den nächsten vier Jahren ein sozialer Ausgleich stattfindet.
Politisch hält sich die Überraschung in Grenzen, dass Chile erstmals eine Frau zur Staatspräsidentin wählte. Dem Grundsatz "never change a winning Team" folgend, gab es für die Wählenden im Prinzip wenig Veranlassung, außerhalb der regierenden Mitte-Links-Koalition aus Christ- und Sozialdemokraten nach Alternativen zu suchen. Diese Tendenz war schon nach der ersten Runde im Dezember 2005 klar, als Bachelet die absolute Mehrheit knapp verfehlte. Bei der gleichzeitigen Parlamentswahl fiel der Zuspruch für das Regierungsbündnis deutlicher als je zuvor aus. Erstmals haben die Regierungskräfte nun in beiden Häusern des Parlaments die absolute Mehrheit, wobei die Sozialisten ihre Positionen auf Kosten ihres christdemokratischen Koalitionspartners ausbauen konnten.
Die Wahlen fanden in einer wirtschaftlich sehr günstigen Phase statt: Chiles Hauptausfuhrprodukt, das 50 Prozent aller Devisen einbringende Kupfer, ist zurzeit mehr Wert als je zuvor. Innerhalb von zwei Jahren hat sich der Kupferpreis fast verdreifacht, auf über zwei Dollar je Pfund. Entsprechend "flüssig" ist die Staatskasse. Denn der Kupferkonzern Codelco, im Gegensatz zum sonstigen längst verscherbelten Tafelsilber, ist bis heute Staatseigentum geblieben.
Schon überraschender ist, für welche Frau sich Chile entschied: Michelle Bachelet ist allein erziehende Mutter, sie hat zwei gescheiterte Beziehungen hinter sich und sie bezeichnet sich als Agnostikerin. Darin liegt die Substanz des Wahlergebnisses: Wenn das liberale Finnland eine Frau wählt, gibt es nicht viel zu sagen. In Chile, das vor gut einem Jahr als letztes Land der westlichen Welt die Ehescheidung einführte, wo Männer und Frauen noch heute sauber getrennt wählen gehen, ist es ein Symptom für die Aufbruchstimmung, die die Gesellschaft erreicht hat.
Das regierende Bündnis, das zwischen 1990 und 2000 stets dafür kritisiert worden ist, alle seine Entscheidungen durch den makroökonomischen Grobfilter zu pressen und bei der Demokratisierung der Gesellschaft zu versagen, ist in den sechs vergangenen Jahren unter Präsident Ricardo Lagos über den eigenen Schatten gesprungen. Agnostiker und Sozialist wie Michelle Bachelet, sorgte Lagos für überfällige Gesellschaftsreformen, angefangen mit dem Thema Ehescheidung.
Aus der von Pinochet übernommenen Staatsverfassung wurden alle autoritären Inhalte entfernt und damit die Grundbedingungen für einen glaubhaften Rechtsstaat geschaffen. Darüber hinaus gab es eine Strafrechts- und Justizreform, die in der dunkelsten, von vielen Handlangern der Diktatur beseelten Institution des Rechtsstaates endlich Transparenz schuf. Die deutsche Entwicklungszusammenarbeit hat dieses Ziel nachhaltig unterstützt. Auch die Filmzensur fiel. Die Verfahren gegen den zuvor vom höchsten Gericht krankgeschriebenen und für prozessunfähig erklärten Ex-Diktator Pinochet kamen wieder in Gang.
Ricardo Lagos, der nach sechs Jahren Regierungstätigkeit höchste Popularitätswerte genießt, hat das autoritäre Korsett der Hinterlassenschaft Pinochets gesprengt und einer oft auch "Demokratur" genannten Formaldemokratie substanzielle Inhalte eingehaucht. Lagos verkörpert jenen soliden Denker und Macher, an dem es in Lateinamerika in Zeiten des wiederaufblühenden Populismus und Caudillotums so krass mangelt.
Sowohl der Sieg Bachelets als auch die Mehrheiten im Parlament zeigen, dass die Gesellschaft diesen Kurs beibehlten will. Die eindrückliche Vita der neuen Präsidentin steht ja nicht zuletzt dafür, dass sie die seltene Fähigkeit hat, absolut Gegensätzliches unter einen Hut zu bringen, ohne dabei ins Schleudern zu geraten. Als Tochter eines Luftwaffengenerals, der im Augenblick des Putsches verfassungstreu geblieben war und es mit dem Leben bezahlt hatte; als damals selbst Misshandelte nachher Verteidigungsministerin und damit politische Chefin der Streitkräfte zu sein, die sich selbst mühsam und spät von ihrer Rolle in der Diktatur lossagten, ist an sich schon außergewöhnlich. Bei diesem Spagat noch eine gute Figur zu machen, ist nochmals etwas ganz anderes.
Dass Bachelets Herausforderer Sebastián Piñera über die Defensive nie hinauskam, liegt aber nicht nur daran. Das oppositionelle Rechtsbündnis - die wirtschaftsliberale "Renovacion Nacional" und die reaktionäre "Union Democrata Indpendiente" - blieb beinhart bei der Ideologie, der Markt allein löse so gut wie alle Probleme, auch die einer (Drittwelt)-Gesellschaft.
Gegenüber der Politik des ökonomischen "laisser faire", hinter der zuletzt doch immer nur die hemmungslose Gewinnakkumulierung durchschimmert, haben die Chilenen in den letzten 15 Jahren ein gesundes Misstrauen entwickelt. Nicht, dass der breite Konsens zur offenen, deregulierten Marktwirtschaft deswegen Schaden genommen hätte. Doch die Tatsache, dass die Unternehmensgewinne zigfach rasanter angestiegen sind als die Löhne und Gehälter in einem von der Diktatur und ihren Helfershelfern neoliberal getrimmten Land, schuf das Bewusstsein, dass der Staat gerade hier als ausgleichendes Regulativ wieder gebraucht wird.
Für ein Land mit annähernd europäischen Lebenshaltungskosten verdienen die Chileninnen und Chilenen skandalös wenig. 70 Prozent der Beschäftigten bringen nach Angaben des Arbeitsministeriums Ende des Monats keine 800 Euro nach Hause. Dass die nötigen Korrekturimpulse nicht vom Rechtsbündnis ausgehen würden, war für die Gesellschaft einsichtig, zumal die Arbeitsbedingungen bei der Vorzeige-Airline "Lan Chile", deren Mitinhaber Piñera ist, bekanntermaßen mehr als lausig sind.
Auch die von Pinochet eingeführte, von der Demokratie übernommene Kostenpflichtigkeit der höheren Bildung schafft in Chile einen sozialen Graben, den die Schwächeren immer weniger überwinden können. Wer in Chile heute arm zur Welt kommt und sich später nicht als überdurchschnittliches Fußball- oder Gesangstalent in Szene setzen kann, wird mit größter Wahrscheinlichkeit auch arm sterben, ohne je eine Chance im Leben bekommen zu haben.
Als Kandidatin hat Michelle Bachelet konsequent den Nachholbedarf bei der Chancengleichheit in den Vordergrund gerückt. Sie hat damit die Fehler im neoliberalen Wirtschafts- und Staatsmodell zum Thema gemacht. Die Konkurrenz aus dem Lager der Rechten ging dagegen reichlich populistisch ans Werk. Piñera versprach etwa, den Mapocho-Hausfluss in Santiago zum Tretboot-Paradies zu stauen oder den Kriminellen 12.000 neue Polizeibeamte in den Weg zu stellen.
Solange das Oppositionsbündnis - so wie in der jüngsten Vergangenheit - gegen jedes egalisierende Reformwerk in der Arbeits-, Umwelt-, Jugend- oder Bildungspolitik zu Felde zieht, bloß weil es Steuererhöhungen wittert und Tycoons wie Piñera ihre Interessen geschmälert sehen könnten, wird wohl nichts werden aus dem Traum, demokratisch an die Macht zurückzukehren. Gut möglich, dass die Rechte es nur dann schafft, wenn sie sich ideologisch entwickelt und zusammen mit dem heute doch weit rechts stehenden Regierungspartner der Christdemokraten eine große konservative Volkspartei gründet, etwa nach dem Vorbild des spanischen Partido Popular.
Michelle Bachelet hat sich vorgenommen, in Schlüsselbereichen Reformen durchzusetzen. Das während der Diktatur vollprivatisierte und vom Umlage- auf das Kapitaldeckungsverfahren umgepolte Rentenwesen hat sich vom neoliberalen Hit zum schnöden Flop entwickelt, weil es nur die Hälfte der Arbeitnehmer erreicht und davon bestenfalls 40 Prozent jemals eine Rente erhalten werden, mit der man überleben kann. Auf den subsidiär haftenden Staat wird sonst eine Forderungslawine an Elementarrenten zukommen, während sich die großen Rentenfonds - die 33 Prozent aller individuellen Beitragsleistungen als Honorare einstreichen - eine goldene Nase verdient haben dürften. Ähnlich groß sind die Herausforderungen in den Bereichen öffentliche Bildung und öffentliche Gesundheit. Beides liegt im Argen. Der Hochzyk-lus bei den Rohstoffpreisen und beim Kupfer wird allenfalls das Improvisieren erlauben. Will Michelle Bachelet wirklich nachhaltig ans Werk, wird es ohne Steuererhöhungen nicht gehen. Sie sagt, es gehe ohne.