Phnom Penh. Glaubt man dem Kalender, müsste die Regenzeit längst vorbei sein. Doch dass auch in Kambodscha der Klimawandel die Gesetzmäßigkeiten durcheinander wirbelt, beweisen stundenlange tropische Regenfälle in eindrucksvoller Heftigkeit. Auf dem Weg zum östlichen Stadtrand der Hauptstadt Phnom Penh kommt der Wagen nur langsam voran. Die Schlaglöcher sind mit Wasser gefüllt, noch hundert Meter, dann streikt der Fahrer. Beim Aussteigen steht man knietief im Schlamm.
Beißender Qualm zeigt das Ziel an: Die Müllhalden der Metropole, die "garbage hills", erheben sich grau in grau. Schritt für Schritt geht es auf schwankendem Boden nach oben, vorbei an messerscharfen Glas- und Flaschenresten, an verrosteten Dosen und Plastiksäck-en. Der Gestank wird immer penetranter, alle Abfälle Kambodschas scheinen sich hier zu einem unerträglichen Gemisch aufzutürmen.
Rauchfahnen stehen über dem Hügel, dazwischen tauchen neben einigen, in zerlumpte Jacken gehüllten Erwachsenen mehrere Kinder auf. Mit Stöcken stochern sie in den Überresten aus den Müllplätzen der Millionenstadt.
Die 13-jährige Cheam ist eines von rund 200 Kindern, die hier nicht nur nach verwertbaren Abfällen suchen, sondern auch in einer aus mehreren Stangen und Plastikplanen behelfsmäßig errichteten Hütte leben. Der Dauerregen hat ihr arg zugesetzt, das von der Nässe vollgesogene Dach hängt tief durch. Mehrere dieser Hütten sind über den Müllberg verteilt, wo der faulige Gestank inzwischen unerträglich geworden ist.
Wie auf Kommando rennt Cheam plötzlich los, springt über eine zerbeulte Tonne und taucht in einen Pulk von Kindern ein - soeben hat wieder ein Lastwagen seine Ladung abgekippt, und nur wer schnell ist und einen guten Blick für intakte Flaschen, Dosen, Aluminium und Plastik hat, kann auf der Halde überleben. Cheam hat heute Glück, geübt schiebt sie mehrere Plastiksäcke zusammen, und auch einen Korb nimmt sie mit, den sie beim Schrotthändler gut verkaufen kann.
Es ist ein Hungerlohn, der kaum zum Überleben ausreicht, den Cheam und ihre Eltern auf dem städtischen Müllberg verdienen. Ihre beiden Geschwis-ter sind klein und können noch nicht zum Lebensunterhalt der Familie beitragen. War es früher noch ein Dollar am Tag, so bekommen die Müllsammler inzwischen lediglich die Hälfte, etwa 2.000 kambodschanische Riel, erklärt Chea Pyden, der seine ganze Kraft für die Menschen hier einsetzt.
Ein halber Dollar, das ist viel weniger als das ohnehin äußerst knappe jährliche Durchschnittseinkommen von rund 300 Dollar. Die Zwischenhändler, die mit der Drecksarbeit nichts zu tun haben, leben nicht schlecht von dem, was unter unvorstellbaren Bedingungen zusammengetragen wird.
Chea Pyden ist Direktor der "Vulnerable Children Assistance Organisation (VCAO), einer Organisation also, die schutzbedürftigen Kindern hilft. Unterhalb des Müllbergs hat die Hilfsorganisation ein einfaches Haus errichtet, wo die Kinder nach ihrer Arbeit unterrichtet werden. Es ist ein Minimalunterricht, aber immerhin sind die Kinder nicht der Straße ausgeliefert, wo die Gefahr durch Drogenkonsum ständig wächst. Der Unterricht ist kostenlos, doch bekommen die in Kambodscha völlig unterbezahlten Lehrer einige hundert Riel zugesteckt.
In einem anderen Raum stehen einige alte Nähmaschinen. Mädchen werden von freiwilligen Helferinnen im Zuschneiden und Nähen unterwiesen. Dem Engagement von Chea Pyden ist es zu verdanken, dass die städtischen Behörden kooperieren. Finanzielle Hilfe ist von ihnen zwar nicht zu erwarten, doch sie kümmern sich um Gesundheitskontrolle und Impfungen. Die Mitarbeiter wissen, dass die Kinder auf das Geld, das sie auf der stinkenden Halde verdienen, dringend angewiesen sind. "Deshalb haben wir den Unterricht auf den Nachmittag gelegt, wo nicht so viel Müllwagen kommen", sagt Chea Pyden. Dann allerdings sind die Kinder müde, manche schlafen beim Unterricht ein.
Ihre Erschöpfung wurde der kleinen Sral Srey Nick zum Verhängnis. Nur kurz war sie vor zwei Jahren auf einem Abfallhaufen eingeschlafen, als ein Müllwagen über sie hinwegrollte. Die Elfjährige war sofort tot. Die Hilfsorganisation protestierte bei den zuständigen Behörden, nachdem es auch schon früher zu tödlichen Unfällen gekommen war. Seitdem hat es keine weiteren Todesfälle mehr gegeben.
In sechs Klassen lernen jeweils 180 bis 200 Schüler. Von den von der Hilfsorganisation "terre des hommes" unterstützten Kindern kommen viele aus schwierigen Familien. Täglich erleben sie häusliche Gewalt, Drogen- und Gewaltexzesse. Um so erstaunlicher ist es, dass bisher über 150 Familien mit Hilfe von VCAO eine andere Arbeit aufgenommen haben und von der Müllhalde wegziehen konnten.
Chea Pyden sieht dies ganz und gar nicht euphorisch: "Jede dieser Familien wird durch eine andere ersetzt, die aus den Provinzen kommen, um Arbeit zu finden. So bildet der Müll die schmale Existenzgrundlage für etwa 500 Familien. Auf der rauchenden Schutthalde enden alle Träume von einem anderen, einem besseren Leben.