Er kann mit seinem ersten Auftritt am Rednerpult des Deutschen Bundestages vor wenigen Tagen zufrieden sein. Das Wortungetüm Tagesbetreuungsausbaugesetz ging ihm locker über die Lippen. Und auch sonst war es eine sachliche, mit deutlichen Worten an die Opposition gerichtete Rede von Jürgen Kucharczyk, Parlamentsneuling in der SPD-Bundestagsfraktion. Zur Diskussion stand der Antrag der Linksfraktion "Elternbeitragsfreie Kinderbetreuung ausbauen". Bundestagsvizepräsident Hermann-Otto Solms gratulierte zur Jungfernrede und ließ es sich dabei nicht nehmen, den großzügigen Zuschlag auf die Redezeit anzusprechen - als Premierengeschenk Zeit statt Blumen.
Der neue Mann im Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend unterstrich, dass ein Bündel von komplexen Aufgaben erforderlich sei, die inhaltlich und finanziell aufeinander abgestimmt sein müssen, um Eltern das Leben zu erleichtern. Er nannte beispielhaft den Ausbau der Ganztagsschulen, der bereits in der vergangenen Legislaturperiode begonnen wurde, die geplante Einführung des Elterngeldes ab 2007 und den Ausbau der Betreuungsplätze für unter Dreijährige, der fortgesetzt werden müsse. Die öffentliche Kinderbetreuung sei eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe. "Wir wollen die Kommunen mit dieser Aufgabe nicht allein lassen, sondern uns mit den Kommunen und den Ländern verständigen, wie wir gemeinsam Kindergartenplätze ohne eine finanzielle Beteiligung durch die Eltern erreichen können", betonte Kucharczyk.
Der Schulterschluss mit den Kommunen ist für den Politiker keine höflich gemeinte Worthülse, denn er kennt die Sorgen und Nöte in den Kommunen aus persönlicher Erfahrung. 15 Jahre ehrenamtlicher Kommunalpolitik in Remscheid als Ratsherr und auch Bürgermeister liegen hinter ihm. Jetzt will er ausschließlich Bindeglied zwischen Berlin und dem Bergischen Städtedreieck Remscheid, Solingen, Wuppertal (Wahlkreis 104) sein. Wenn der Politiker nun mit an Gesetzen feilt, kann er sehr schnell einschätzen, wie sich diese auf die Kommune auswirken werden. Dass er als ehemaliger Kommunalpolitiker weiß, worauf er achten muss, sei seine besondere Qualifikation und ein Gewinn bei der neuen Tätigkeit. Entscheidungen seien mit diesen Erfahrungen im Rücken stärker von Nachhaltigkeit geprägt.
Kucharczyk ist Vater zweier erwachsener Töchter und mit fast 49 Jahren auch ein junger Großvater. Dies gibt ihm Ansporn, die Betreuungsangebote für Kinder und Jugendliche zu verbessern. "Wir brauchen eine lückenlose Betreuungskette vom Krippenplatz und Kindergarten, über die Grund- bis zu den weiterführenden Schulen, damit Eltern Job und Familie gut miteinander verbinden können. Kinder müssen von Anfang an gefördert werden. Hier werde ich meine langjährige Erfahrung als Vorsitzender des Jugendhilfeausschusses in Remscheid einbringen. In meiner Amtszeit haben wir den Rechtsanspruch auf einen Kindergartenplatz erfolgreich durchgesetzt. Innerhalb von fünf Jahren sind in Remscheid die Bedarfsdeckungszahlen von 62,5 Prozent auf mehr als 90 Prozent erhöht worden", unterstreicht er im Gespräch mit "Das Parlament". Mit dem gerade geschaffenen Kompromiss der Großen Koalition zur die Absetzbarkeit von Kinderbetreuungskosten könne man leben, so Kucharczyk. Er bewertet das Ergebnis positiv, weil es ein weiterer Baustein ist, um Familie und Beruf besser unter einen Hut zu bekommen.
Im Bundestagsausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend wird er sich außerdem um das Kinder- und Jugendhilfegesetz und um bessere Berufschancen für junge Menschen, insbesondere der schlecht qualifizierten, kümmern. Der ganze Komplex Jugendarbeitslosigkeit passe gut zu seiner Stellvertreteraufgabe im Ausschuss für Arbeit und Soziales. Auch in seinem Wahlkreis ist die Zahl der arbeitslosen Jugendlichen angestiegen - trotz großer Anstrengungen der Unternehmen, wie er sagt: "Das ist Ansporn, die Ärmel hochzukrempeln, damit junge Leute eine vernünftige Lebensplanung angehen können."
Der Mann mit dem Schnauzbart ist also kräftig dabei, sich in seine neue berufliche Rolle einzuarbeiten. Bis zu seiner Wahl hat er als Vertriebsbeauftragter am Regionalstandort der T-Punkt Vertriebsgesellschaft mbH in Remscheid gearbeitet. Ursprünglich hat Kucharczyk bei der früheren Deutschen Bundespost den Beruf des Fernmeldetechnikers gelernt und sich dann weiterqualifiziert, unter anderem auf dem Gebiet des Qualitätsmanagements. Als "Hinterbänkler" sieht sich der Neue nicht. Wenn andere jetzt mehr Erfahrung hätten, sei das wie im sonstigen Wirtschaftsleben auch. Formal gäbe es bei den Abgeordneten keinen Unterschied. Alle seien gleich. Wie der Einzelne seine Chancen und Möglichkeiten nutze und ausschöpfe, sei jedem selbst überlassen.
Dass er in Berlin auf ein erfahrenes Büroteam zurückgreifen kann, das vorher für seinen Vorgänger Hans-Werner Bertl gearbeitet hat, erleichtere vieles. Außerdem stärkt ihm die Familie den Rücken. Der neue Abgeordnete ist nicht nur Familienpolitiker, sondern auch Familienmensch. Das jüngste Mitglied ist zwei, das älteste 94, Kucharczyks Großmutter. Er sagt: "Familienleben ist etwas sehr Schönes. Ich kann junge Leute nur ermuntern, sich gut zu überlegen, was die eigentlichen Dinge des Lebens sind. Ich habe das Glück gehabt, in einer Familie groß zu werden, über die ich sagen kann, ich wünschte mir, es würde vielen eine solche Kindheit und Jugend beschert, wie ich sie hatte."
Diese Erfahrungen waren mit wegbereitend für sein späteres politisches Engagement. Im Juso-Alter hat er sich beispielsweise als junger Familienvater mit Kinderspielplätzen und Aufenthaltsflächen für Jugendliche beschäftigt und sich mit der Verwaltung angelegt. Er erinnert sich noch gut daran, wie er in seinem Stadtteil mit an der Katalogisierung aller öffentlichen Spielflächen gearbeitet hat, um herauszukristallisieren, was ist und was sein sollte. "Für mich ist es immer wichtig gewesen, nicht nur zu theoretisieren, sondern die Ärmel hochzukrempeln, um direkt etwas zu bewegen." Das kann er jetzt in einem Politikfeld tun, das in den vergangenen Jahren von der Peripherie ins Zentrum gesellschaftspolitischer Diskussionen gerückt ist. Wenn seine Enkel ihn am Wochenende besuchen und gerodelt oder mit der Eisenbahn gespielt wird, ist das für den Parlamentarier Entspannung pur. Aber vor allem hat er dann direkt vor Augen, für wen er Politik macht.