Stolze will aber nicht nur arbeiten, um zu überleben, sondern auch Spaß am Beruf verspüren. Er möchte ab April an der Handwerkskammer in Dortmund seinen Meister in knapp einem Jahr schaffen, um sich "auf den neuesten Stand zu bringen". Er spricht von neuen Spachtel- und Lasurtechniken, von Vergolderarbeiten. "Das ist heute ganz, ganz wichtig, dass man was anderes macht, sich von der breiten Masse abhebt." Langfristig will er sein eigener Chef sein.
Dass er das in Kanada und nicht in Dortmund plant, hat zu einem Teil mit deutscher Bürokratie zu tun: "Da muss man von Pontius zu Pilatus laufen. In anderen Ländern ist es wesentlich einfacher." Andererseits hat er eine Familie, ist seit zwölf Jahren verheiratet. Zeynep Stolze, 34, ist Türkin und findet als diplomierte Kauffrau keinen Job. 80 Bewerbungen hat sie geschrieben. "Momentan gibt es zu viele BWLer." Ihr Alter und die fehlende Berufserfahrung sprechen zudem gegen sie. In Kanada, so spekulieren die Stolzes, würden sie vom dortigen Bauboom profitieren.
Kanada gehört wie Australien und Neuseeland zu den Einwanderungsländern, die ihre Arbeitskräfte sys-tematisch weltweit suchen. Deutsche Handwerker sind wegen ihrer guten Ausbildung besonders beliebt. So veranstaltet die Zentrale Arbeitsvermittlung (ZAV) in Bonn, die zur Bundesagentur für Arbeit gehört, seit 2004 so genannte Jobmessen für diese Länder. Hier stellen sich Arbeitgeber vor und werden arbeitssuchende Deutsche eingeladen.
Der zu beobachtende Trend der letzten Jahre, dass immer mehr Deutsche das Land verlassen und ihr Glück im Ausland suchen, ist eine Folge der Globalisierung. Gerald Schomann, Leiter des Teams Internationale Vermittlung, legt Wert darauf, dass die ZAV nicht die Auswanderung fördere, sondern nur Arbeitsplätze ins Ausland vermittele. Er zerstreut Bedenken, dass die ZAV mit ihrem Service die Abwanderung von Know-how begünstige. "Wir machen das ja nur solange es volkswirtschaftlich sinnvoll ist."
Stolzes wären dann ein nicht so unbedingt gewünschter Fall - sich in Deutschland sehr gut ausbilden lassen (der Staat übernimmt etwa ein Drittel des Meisterkurses), um im Ausland für immer sein Glück zu finden. "Wir können den Menschen natürlich keine Vorschriften machen", so Schomann.
Akademische Spitzenforscher würden ohnehin nicht durch die ZAV vermittelt. "Je höher das Qualifikationsniveau, desto dichter sind die transnationalen Netze", sagt Professor Klaus J. Bade, Leiter des interdisziplinären Instituts für Migrationsforschung und Interkulturelle Studien (IMIS) der Universität Osnabrück. Für Bade ist der Begriff ‚Auswanderung' überholt - im Sinne der klassischen "Lebensentscheidung zum Weg ins Ausland ohne die feste Absicht, jemals wieder auf Dauer ins Herkunftsland zurückzukehren". Es gebe im Zeichen der Globalisierung immer häufiger fließende Grenzen zwischen Auslandsaufenthalten auf Zeit, Daueraufenthalten und Auswanderung. Das Phänomen des verstärkten Fortzugs aus Deutschland gibt es schon seit Mitte der 90er-Jahre.
Sorgen bereiten Bade jedoch die zunehmenden Abwanderungen aus dem eigenen Berufsstand. An bedeutenden deutschen Forschungsinstituten und auf internationalen Tagungen würden immer wieder amerikanische Kontaktpersonen auftauchen und mit einer Greencard winken. "Mein Kollege Dieter Oberndörfer hat das die ,Absaugpumpe' USA genannt." In den vergangenen zehn Jahren seien zunehmend Promovierte aus den verschiedensten akademischen Fächern abgewandert. Wenn er andere Kollegen frage, "die am laufenden Bande Gutachten für Bewerbungen im Ausland, für Anträge auf ‚permanent residency', die ‚green card' in den USA und andere Auslandsambitionen ihrer Nachwuchsleute schreiben", dann kriege er meist die gleiche Antwort: "Die Fortzüge sind horrend angestiegen." Und es sei schwer, die einmal Abgewanderten wieder zurückzuholen. Neben der Globalisierung spielt auch die Europäisierung eine große Rolle im Zusammenhang mit dem Fortzug aus Deutschland. Europa ist näher zusammengerückt. Die Schweiz zum Beispiel liegt mit fast 13.000 aufgenommenen deutschen Fortzüglern fast gleich auf mit den USA. Die ZAV hat im vergangenen Jahr fast 10.000 Menschen innerhalb des europäischen Wirtschaftsraumes vermittelt - so viel wie nie zuvor. Die EU-Kommission will den Trend zur Mobilität innerhalb Europas weiterfördern. Das Jahr 2006 hat sie zu einem "Year of worker's mobility" ausgerufen. Es sind ja auch erst drei Prozent, die nicht im eigenen Land ihr Geld verdienen.
Wenn man die Stolzes fragt, warum sie sich ausgerechnet Kanada in den Kopf gesetzt haben und nicht etwa die USA, dieses Traumland Nummer eins für die deutschen Auswanderer seit dem 19. Jahrhundert, dann sagen sie, dass es ihnen gesellschaftlich "zu kalt" ist. "Kanada ist im Vergleich noch europäischer ausgerichtet." Für den 42-jährigen Christof Plümacher waren die Vereinigten Staaten von Amerika dagegen mal das Traumland, als es ihn vor zehn Jahren mit seiner Werbefilmproduktionsfirma von Düsseldorf nach Los Angeles zog. "Das war ein klarer Fall von Karrieredenken. Ich habe mir vorgestellt, dass hier Milch und Honig fließen."
Und er hat Glück gehabt, da er sich etablieren konnte, als die Werbewirtschaft noch boomte. Sein Kundenstamm erstreckt sich von Automobilherstellern bis zu Kreditkartenunternehmen. Seit einigen Jahren, genauer seit dem September 2001, hat seine Einstellung zu den USA erheblich gelitten. "Sie sind in ein wenig begehrenswertes politisches Klima abgedriftet, und Los Angeles ist nur eine seelenlose Kulisse für den Traum vom Erfolg." Für dieses Jahr plant er die Übersiedlung in die Schweiz. Ein Grundstück nahe Davos hat er sich schon ausgeguckt. "Ein ruhiges Land mit milden Steuersätzen und guter Luft, Bergen und im Winter Schnee satt." Eine Rückkehr nach Deutschland schließt er aus. "Lustiges Zitat", sagt er mit vergnügt krächziger Stimme, "Heimat ist da, wo man weg will."