Ein erster Teil des Bandes informiert über das ereignisreiche Leben der politischen Denkerin. Aus der behüteten Jugend und Adoleszenz wurde die junge, im Jahre 1906 in Hannover geborene, aber in Königsberg groß gewordene Studentin der Philosophie durch den heraufkommenden Nazismus herausgerissen und praktisch gegen ihre Lebenspläne in das Nachdenken über Politik hineingezwungen.
Die deutsche Jüdin floh vor den Nazis nach Frankreich und wenig später, vom Einmarsch der Deutschen gezwungen, in die USA. Sie wurde Bürgerin der Vereinigten Staaten von Nord-Amerika. Hier begann und endete die wissenschaftliche Lebensgeschichte, die die Teile zwei bis vier des Buches beschreiben.
Der fünfte Teil der Sontheimerschen Beschreibung der Lebensgeschichte Arendts schildert die großen Persönlichkeiten, mit denen Hannah Arendt Leidenschaften und politische Interessen teilte; wir erfahren über ihre Partnerschaften, ihren Lehrer Karl Jaspers und über Martin Heidegger, über ihre engen Beziehungen zu Kurt Blumenfeld und Mary McCarty. Ein sechster Teil ("Was bleibt?") versucht abschließend, das theoretische Vermächtnis der Arendt darzustellen.
Es ist schwer, die bedeutende Theoretikerin Hannah Arendt in einer Biografie von 292 Seiten voll zu würdigen. Der ergänzende Anhang, die Auswahlbibliografie und die Zeittafel verdeutlichen dem Leser, dass er es mit einer der wichtigsten Persönlichkeiten zu tun hat, die bemüht war, die fürchterlichen Ereignisse des 20. Jahrhunderts zu verstehen.
Es waren nicht nur die beiden großen totalitären Bewegungen Kommunismus und Nationalsozialismus, die Hannah Arendt analysierte. Sie sieht auch - und etliches davon wird von Sontheimer in dem Unterkapitel "Denken ohne Geländer" beleuchtet -, wie die Politik in den modernen Gesellschaften zu einer Magd der Ökonomie herunterkommt und so ihren freiheitsstiftenden Charakter verliert.
Für Arendt ist diese Dienstfunktion der Politik nicht freiheitsstiftend. Die Ökonomie, die Arendt in aristotelischer Tradition dem Haushalt, dem "Oikos", zurechnet, gehört zum Bereich der Notwendigkeit, in dem es keine Freiheit gibt. Freiheit gibt es - so Arendt - nur jenseits der Wirtschaft, in der Politik. Sontheimer: "Es ist ein Charakteristikum und zugleich ein großes Problem ihrer politischen Theorie, dass Hannah Arendt das Politische in einer Art Reinkultur versteht, so dass es in der Wirklichkeit nur in wenigen Situationen aufleuchtet. Sie spricht von der Politik als Freiheit, als einer ,Insel im Meer der Notwendigkeit'".
Ihre Theorie des Politischen hat Hannah Arendt in mehreren Werken herausgearbeitet. Ihr Buch "Über Revolution" ist ebenso ein Dokument ihres Verständnisses der Politik wie das schwierige Werk "Vita Activa", das in den USA zuerst und unter dem Titel "The human condition" erschien. Im Zentrum ihres Verständnisses steht die Einsicht, dass Politik - und damit für sie Freiheit - in starkem Maße an das Handeln gebunden ist und nur so verstanden werden kann.
Die heftige Kontroverse, die ihr Buch "Eichmann in Jerusalem" auslöste, wird von Sontheimer ebenso gewürdigt wie ihre vielen kleinen politischen Essays. In diesen äußerte sie sich zu wichtigen politischen Fragen der praktischen Politik wie der passiven Widerstandsbewegung etwa amerikanischer junger Männer gegen den Vietnamkrieg oder der Publikation der "Pentagon-Papers", in denen das Hineinschlittern der USA in den Vietnamkrieg im Auftrag des Pentagon analysiert wurde. Die Essayistin Arendt nahm dabei oft überraschende Positionen ein, die aber, für den Kenner ihrer Schriften durchaus konsequent, Folgen ihrer theoretischen Arbeiten waren.
Kurt Sontheimer kannte Hannah Arendt gut; er war auch persönlich mit ihr verbunden und hat sie mehrmals in New York gesehen. Jetzt hat man den Eindruck, das Buch sei von Sontheimer nicht bis zur Druckreife begleitet worden. So etwa wenn er von der "mehr oder weniger berechtigten Kritik an ihren Methoden und Formen der Darstellung des Totalitarismus" spricht, ohne das "mehr oder weniger" zu erklären; oder wenn der Text von der "Realitätsferne der Pentagon Papers" spricht, obwohl er die Realitätsferne der militärischen und politischen Führer der USA meint, die in den Papieren deutlich wird. Und den folgenden Satz hätte Sonntheimer beim endgültigen Korrekturlesen sicher nicht so unklar stehen lassen: "Es war ... ein Verstehenmüssen, dem sie sich hingab mit dem Ziel, ihre Erfahrungen einzubringen in ihr Denken und die Wirklichkeit unvoreingenommen zu erfassen."
Etwas anderes ist auffällig: Hannah Arendt hatte - wie Sontheimer richtig beschreibt - anfangs Schwierigkeiten, für ihr großes Werk "Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft" einen Verleger zu finden. Es war aber nicht der für die Gesamtausgabe ihrer Werke in Deutschland so verdienstvolle Verleger Klaus Piper, der das Buch in Deutschland zuerst veröffentlichte, sondern die "linke", dem DGB nahestehende Europäische Verlagsanstalt. Die Nicht-Erwähnung des Gewerkschaftsverlages wird durch die Abbildung des Deckblattes der Taschenbuchausgabe des Totalitarismus-Buches des Piper-Verlags befremdlich verstärkt.
Ebenso bleibt unerwähnt, dass auch die hernach erscheinenden Essays "Fragwürdige Traditionsbestände im politischen Denken der Gegenwart", die sich auch mit dem Marxismus auseinandersetzen, in eben jenem Gewerkschaftsverlag veröffentlicht wurden. Selbst die "Vita activa" erschien zuerst in einem anderem, dem Kohlhammer-Verlag.
Wer sich nur bei der im Piper-Verlag erschienenen Biografie Sontheimers informiert, erfährt davon nichts. Er könnte leicht der Illusion zum Opfer fallen, allein dieser verdienstvolle Verlag habe Hannah Arendt für Deutschland entdeckt. Tatsächlich hat der Piper-Verlag das unbestrittene Verdienst, nahezu das gesamte Werk der erfolgreichen Theoretikerin inzwischen im Verlagsprogramm zu haben.
Kurt Sontheimer: Hannah Arendt. Der Weg einer großen Denkerin. Piper-Verlag, München 2005; 292 S., 19,90 Euro