Parlamentarische Repräsentation gilt, neben konkurrierenden Parteien, als eine Minimalanforderung an Demokratien. In der aktuellen Phase der Globalisierung scheint sie in schwere Gewässer zu geraten. Wie immer man den Globalisierungsprozess beurteilt, es findet eine immer stärkere Verflechtung von Gesellschaften statt; Repräsentation geschieht zunehmend, wie in der Europäischen Union, jenseits nationalstaatlicher Strukturen.
In der Politikwissenschaft ist dieses Thema noch unterbelichtet. Dieses Desiderat griff Stefan Marschall mit seiner Arbeit, einer gekürzten Variation seiner Habil-Schrift, auf. Unter demokratietheoretischen Gesichtspunkten bot sich an, übernationale Zusammenschlüsse nationaler Abgeordneter, die als Parlamentarische Versammlungen (PV) firmieren, zum Untersuchungsgegenstand zu machen.
Neben einer Bilanz widmet sich der Autor der Frage nach den Möglichkeiten von Interessensvertretung, um schließlich die normative Ebene anzusprechen, wie also Interessensberücksichtigung institutionalisiert werden soll. Leitend waren dabei für ihn Fragen zur Quantität und Qualität. Ihnen nähert er sich über Fragen zur Genese von PVs, welche Funktionen und welche Macht sie haben, welche Form der Vertretung in ihnen stattfindet und wie ihre Rolle im politischen Prozess aussieht.
Sorgfältig aufgebaut ist der einleitende Teil mit ausführlicher Methodendiskussion, Begriffsdefinition und einer Skizze zum Stand der Wissenschaft, ebenso der zweite Teil mit einer ausführlichen Darstellung des Analyserahmens. Darin bilanziert und diskutiert Marschall zwei Repräsentationsmodi, parlamentarische und territoriale Repräsentation in Theorie und Organisationspraxis weltweit.
Abgesehen davon legt Marschall eine Bestandsaufnahme von 45 weltweit gezählten Parlamentarischen Versammlungen vor. Die Repräsentationsqualität untersucht er anhand von vier Dimensionen: institutionelle Idee, Bestallungsverfahren und Zusammensetzung, Organisation und Verfahren, Stellung und Rolle der einzelnen Abgeordneten. Zwar ist hier für den Kenner der Materie nicht viel Neues dabei, dennoch liegt gerade im Überblick und Vergleich verschiedener Systeme und Strukturen, in der sorgfältig Abwägung von deren Stärken und Schwächen ein Reiz. Erkennbar wird dabei, dass eine Typologie der ersten Kammer (Parlament im engeren Sinn) wegen geringerer Varianten eher möglich ist als für die zweite Kammer, die institutionell höchst unterschiedlich ausgestaltet ist.
Als Kriterium arbeitet Marschall mit dem Gini-Index, der die Gleichmäßigkeit zweier Variablen misst. Je näher der Wert des Gini gegen Null tendiert, desto gleichmäßiger die Repräsentation (Bevölkerungsanteile zur Anzahl der Mandate=Erfolgswert der Wählerstimme). Der Gini-Index für Erste Kammern (inklusive Europaparlament) liegt tendenziell nahe Null, bei Zweiten Kammern erreichen nur Belgien und Österreich vergleichbare Werte, alle anderen liegen weit darüber: Deutscher Bundesrat 0,32, US-Senat 0,49 bis hin zu Brasilien mit 0,51. Demokratietheoretisch lässt das Ergebnis nur den einen Schluss zu: Sofern sich demokratische Hoffnungen auf Parlamentarische Versammlungen richten, sollten sie, so Marschall vorsichtig, "parlamentarische Repräsentationsfacetten" besitzen.
Der dritte Teil enthält die empirische Untersuchung der Repräsentationspraxis von PVs. Methodisch wählte Marschall, nachdem er alle PVs in Kurzporträts vorgestellt hat, das Modell Tiefenanalyse bei vier PVs, in denen der Deutsche Bundestag vertreten ist: Europarat-Versammlung, die NATO-PV, die PV der OSZE und die Versammlung der WEU. Hier wartet Marschall mit einer Fülle von Detailergebnissen auf, die sich schwer auf einen Nenner bringen lassen: "Eine einheitliche Tendenz in den Indikatorenwerten fehlt."
Gleichwohl sind einige gemeinsame Merkmale feststellbar: Ist erst einmal ein gewisser Grad von Institutionalisierung erreicht, dann bleibt dieser stabil, die Mitglieder der vier PVs gestalteten die Strukturen der Versammlungen "gemäß ihren parlamentarischen Erfahrungen" mit und sie gehören eher zum Typus territorialer Repräsentation und teilen sich mit ihm deren Repräsentationsqualität.
Mit einer Diskussion zum demokratischen Potenzial der PVs beschließt Marschall seine Arbeit. Er ist in Maßen skeptisch darüber, ob durch PVs internationale Organisationen demokratisiert werden können. So fehlt bis heute die Grundnorm demokratischer Legitimation, die Wahl durch ein Volk. Andererseits aber partizipieren PVs an parlamentarischen Funktionen von öffentlicher Debatte und der Sichtbarmachung von "vormals der Öffentlichkeit entzogenen Willensbildungs- und Entscheidungsprozessen".
Marschalls Arbeit ist wichtig und kommt zur rechten Zeit. Auf der einen Seite verlieren nationale Parlamente an Souveränität und Kompetenzen; andererseits entstanden neue Institutionen mit den PVs, die aber, das ist das nüchterne Ergebnis von Marschall, noch weit davon entfernt sind, als Äquivalente Fragen von internationaler Bedeutung bearbeiten zu können. Umgekehrt - das zeigt die Arbeit auch - ist viel ist möglich, denn das Europaparlament ging ja auch aus einer PV hervor.
Das Buch, gut lesbar, ist auch als Anregung für Politiker gedacht, institutionelle Phantasie walten zu lassen. Der Leitfaden dazu liegt mit der gelungenen Arbeit von Marschall vor, die eine neue Reihe "Studien zum Parlamentarismus" eröffnet.
Stefan Marschall: Transnationale Repräsentation in Parlamentarischen Versammlungen. Demokratie und Parlamentarismus jenseits des Nationalstaates. Nomos Verlagsgesellschaft, Baden-Baden 2005; 377 S., 39,90 Euro