Wer den Blick in die Zukunft richtet, muss zurückschauen. Diesem Prinzip sind Bundestagspräsident Norbert Lammert (CDU) und der frühere Kulturstaatsminister und Professor der politischen Theorie und Philosophie, Julian Nida-Rümelin (SPD) gefolgt, als sie am vergangenen Mittwoch im Historischen Museum in Berlin den umstrittenen Begriff "Leitkultur" neu zu definieren suchten. Anlass der von Thomas Krüger, dem Präsidenten der Bundeszentrale für politische Bildung, moderierten Diskussion, war die Veröffentlichung des Buches "Humanismus als Leitkultur" (C.H.BECK Verlag München), in dem Nida-Rümelin Vorträge aus den Jahren zwischen 1996 und 2005 publiziert hat. Der Titel des Buchs gibt eine erste Antwort auf die vielschichtige Frage, wie Leitkultur definiert werden kann. Es sei ein Buch, das, so Lammert, "im Wortsinn Zusammenhänge aufklärt", aber - so der Bundestagspräsident salopp - "als Nachtlektüre nicht unbedingt geeignet ist."
Tatsächlich entspann sich eine fast zweistündige Debatte auf höchstem Niveau. Für ein schnelles Ausschlachten von politischen Kampfbegriffen bot sie wenig Anlässe - ganz anders als die eher verunglückte Leitkulturdebatte vor knapp sechs Jahren. Der damalige Fraktionschef der CDU/CSU, Friedrich Merz, hatte zu dieser Zeit die Frage nach einer deutschen Leitkultur in die politische Diskussion eingeführt ("Den Begriff weise ich regelmäßig zurück", so Lammert) und war schnell ins politische Abseits geraten. Ihm war von mehreren Seiten Deutschtümelei vorgeworfen worden. "Die Zeit" hatte ihn als "Leitkulturwart" verspottet.
Im Historischen Museum ging es nun vielmehr um die Formulierung eines "universalistischen Verständnises" (Nida-Rümelin) von Leitkultur. Oder - anders ausgedrückt - um die Frage: Was hält unsere Gesellschaft im Innersten zusammen? Gerade angesichts der multikulturellen Zusammensetzung der Gesellschaft und der Globalisierung dürfte diese Debatte immer wichtiger werden. Lammert und Nida-Rümelin waren sich darin einig, dass es im Kern darum gehe, die Substanz unserer normativen Basis zu identifizieren, auf der sowohl unsere Verfassungsordnung wie auch die Rechtspraxis und die politische Praxis aufgebaut seien. Eine nötige Diskussion, die endlich geführt werden müsse, so Lammert. Viele würden darum lediglich "Pirouetten drehen".
Was versteht Nida-Rümelin unter einer Haltung, die er "Humanismus als Leitkultur" nennt? Der Begriff des Humanismus sei für ihn vor allem der "gegenseitige Respekt. Menschen zählen als Menschen." Es habe Jahrhunderte gebraucht, bis diese "Erkenntnis" politisch Wirkung habe entfalten können. Um dieser Haltung des Respekts in einer multikulturellen Gesellschaft nachhaltig Raum zu geben, forderte Nida-Rümelin eine Debatte über die Ziele von Bildung: "Hat Bildung nicht vor allem die Aufgabe, die Menschen instand zu setzen, selbst ihr Leben verantwortlich zu leben?" Erst das Humboldtsche Bildungsideal führe zu Persönlichkeitsbildung, zu Urteilskraft, zu Entscheidungsfähigkeit. Damit wandte sich Nida-Rümelin gegen ein Bildungssystem, das die Menschen lediglich ausbildet, also für den Arbeitsmarkt verwertbar macht. Letztlich setzte Nida-Rümelin damit einen Kontrapunkt zu der Mehrheit der Reformer, die beispielsweise den eher verschulten, anwendungsorientierten Bachelorstudiengang favorisieren.
Lammert, der von 1998 bis 2002 kulturpolitischer Sprecher der Unionsfraktion war und mit dem damaligen Kulturstaatsminister (Januar 2001 bis Oktober 2002) Nida-Rümelin über die Parteigrenzen hinweg zusammengearbeitet hatte, betonte, dass es in einer Gesellschaft "einen Minimalbestand geteilter Normen und Werte, Einstellungen und Kenntnisse" geben müsse. Er sehe im Hinweis auf das Regelgerüst dieser Gesellschaft, wie etwa auf die Verfassung, den Ausdruck der historischen und kulturellen Erfahrungen und Überzeugungen unserer Gesellschaft. Damit spannte Lammert den großen Bogen eines westlichen Kulturverständnisses einer Leitkultur und vermied die Verengung auf eine nationale Frage.
Behandelte Nida-Rümelin Religion eher als ein Integrationsthema, konnte sich der Bundestagspräsident eine Leitkultur ohne die ausdrückliche Miteinbeziehung der christlichen Religion nicht denken. "Eine Reaktivierung von christlichen Glaubensüberzeugungen ist als Voraussetzung einer säkularen Welterfahrung unabdingbar." Mit diesem Gedanken bezog sich Lammert auf ein schriftlich dokumentiertes Gespräch des damaligen Kardinals Josef Ratzinger und heutigen Papstes mit dem Philosophen Jürgen Habermas. Aber er lenkte den Blick auch noch auf ein Phänomen, dass die deutsche Öffentlichkeit im Karikaturenstreit bemerken konnte: Die skizzierte Leitkultur erscheine nur im Westen als selbstverständlich.
Ähnlich hatte der Bundestagspräsident gleichen Tags im Parlamentsfernsehen des Deutschen Bundestags, im Internet unter Web-TV zu empfangen, argumentiert. In einer Diskussion mit der Parteivorsitzenden von Bündnis 90/ Die Grünen, Claudia Roth, hatte er vor dem Hintergrund der Existenz einer multikulturellen Gesellschaft gefragt: "Trauen wir uns zu, für die Gesellschaft zu entscheiden, was im Konfliktfall gilt?" Die Gesellschaft müsse sich vorhalten lassen, dass sie manches, was zu ihren Fundamenten gehöre, viel zu lange als gleichermaßen natürliche Voraussetzung angesehen habe.
Vielleicht, so sagte der Bundestagspräsident in der Fernsehrunde nachdenklich, "besteht der Nutzen der gelegentlich schmerzhaften Konfrontationen darin, dass uns manches scheinbar Selbstverständliche wieder stärker bewusst wird und wir manches an Zusammenhängen zwischen Kultur und Recht, zwischen Geschichte und Verfassung wieder stärker aufarbeiten, als das in den vergangenen Jahren der Fall war."