Und wie jeden Donnerstag sind nach den Protes-tierern, um Punkt 15.30 Uhr, die Frauen mit den weißen Kopftüchern an der Reihe, die "Mütter vom Plaza de Mayo". Schweigend marschieren sie im Kreis, kaum jemand mehr dreht den Kopf nach ihnen um. Man hat sich an sie gewöhnt, schließlich drehen sie ihre Runden hier seit bald 30 Jahren, fast seit dem Beginn der letzten Militärdiktatur in Argentinien. Weiße Kopftücher haben sie sich umgebunden, sie haken einander ein, 60, 70 Frauen. Einigen fließen immer noch die Tränen, nach all den Jahren, für andere ist es Routine geworden.
Eine von ihnen ist Juanita. Juanita Pargament, 91 Jahre alt, hat Ärmchen so dünn wie Besenstiele, aschegraues Haar auf dem Kopf und einen krummen Gang - doch Energie hat sie für zwei: "Dieser Marsch ist wichtig für mich, ich werde nie damit aufhören", sagt sie. Seit 1977 marschiert sie jeden Donnerstag, an die 1.500 Mal wird sie wohl schon ihre Runden um den Plaza de Mayo gedreht haben, sie zählt zu den Gründerinnen der "Madres". Ihren Sohn hat man 1976 entführt, aber darauf will sie gar nicht eingehen: "Wir fragen nicht nach einem oder nach zweien unserer Söhne, wir fragen nach allen! Wir haben unsere Mutterschaft vergemeinschaftet", sagt sie und ballt eine kämpferische Faust.
Ein paar Stunden später, ein paar Kilometer weiter im Norden, im Stadtteil Palermo, huschen die Touris-ten durch die Kleiderboutiquen, auf der Suche nach letzten Schnäppchen vor Ladenschluss. In den Bars zapft man Feierabendbiere, in den Sushi-Restaurants wird Gemüse und Fisch angeliefert, in den Parrillas, den Grilllokalen, brutzeln die ersten Steaks auf dem Rost - das neue In-Viertel von Buenos Aires macht sich bereit für eine weitere Nacht. Es ist Donnerstag, das Wochenende steht vor der Tür, ab zehn Uhr sind die meisten Restaurants so voll, dass Tische nur per Reservierung zu haben sind.
Früher war Palermo das Viertel der Messerstecher und der Kleinfabrikanten, das Viertel von José Luis Borges. Heute ist es das Glamourviertel, das Viertel des Neun-Prozent-Argentiniens. Denn um so viel ist das argentinische Bruttosozialprodukt im letzten Jahr gewachsen - und im Vorjahr genauso. Nach dem Absturz in die Krise 2001/2002 ist im Land eine Art Wirtschaftswunder ausgebrochen. Der niedrige Peso und die hohen Rohstoffpreise bescheren dem Land üppige Exporteinnahmen, die ausländischen Touristen strömen scharenweise ins Land. Die Zahl der Arbeitslosen hat sich seit 2002 halbiert, die der Armen ebenfalls. "Kellner gesucht" oder "Verkäufer gesucht" - diese Schilder sieht man oft.
Doch trotz aller Wachstumseuphorie, trotz Sekt-und-Sushi-Stimmung: Die Vergangenheit ist hier alles andere als vergessen. Auch in Palermo sind die Buchläden voll von frisch erschienenen Analysen, Zeugenberichten und Fotobänden über die Militärdiktatur. Auch in Palermo rufen die weißen Plakate an den Laternenpfählen auf zu den Gedenkmärschen am 24. März, dem 30. Jahrestag des letzten Putsches. "Von meinen Freunden", sagt Fernanda, "gehen bestimmt 90 Prozent dahin". Die 39-jährige Deutschlehrerin hatte zwar kaum zu tun mit der Diktatur, keine "Verschwundenen" in ihrem Freundeskreis. "Aber die Jahre der Diktatur haben Spuren hinterlassen, überall sichtbare Spuren - und wenn wir denen nicht nachgehen, wird uns das auch in der Zukunft verfolgen", sagt sie.
Argentiniens Auseinandersetzung mit dem Militärregime ist in Wellen verlaufen. Nach dem desaströs verlorenen Malvinas-Krieg und nach der demokratischen Wende war Aufklärung großgeschrieben. Eine Wahrheitskommission erforschte das Ausmaß der Gräueltaten. Es wurden Ermittlungen eingeleitet, Verfahren eröffnet, einige Generäle kamen sogar hinter Gitter - bis die große Welle des Vergessens und Verdrängens anrollte. Zum Schutz der Folterer und ihrer Vorgesetzten erließ der Kongress Amnestieregeln, das "Schlusspunktgesetz" und das "Gesetz zur Gehorsamspflicht". Präsident Carlos Menem ließ die Hauptverantwortlichen per Gnadenerlass frei. Die Mechanikschule der Marine ESMA, das größte aller Folterlager, wollte man sogar sprengen.
Erst seit drei Jahren, seitdem der Linksliberale Néstor Kirchner im pinkfarbenen Präsidentenpalast am Plaza de Mayo herrscht, ist die Militärdiktatur wieder ein Thema. Erst jetzt sind die Amnestiegesetze aufgehoben worden. Erst jetzt, kurz vor dem 24. März, hat Luftwaffenchef Eduardo Schiaffino erstmals um Verzeihung gebeten für die "Verbrechen gegen die menschliche Würde, begangen von Mitgliedern unserer Institution". Erst jetzt hat ein Richter das so genannte Megaverfahren gegen die ESMA-Folterer mit einer ganzen Batterie von Rechtsakten vorangetrieben: Er erließ unter anderem Haftbefehl gegen einen der Krankenpfleger und drei weitere Ex-ESMA-Angehörige. Gegen Héctor Antonio Febres, den früheren Chef der Küstenwache und Anführer einer der "Arbeitsgruppen" in der ESMA, wurde sogar das Hauptverfahren eröffnet. Das erste Urteil gegen einen der ESMA-Folterer ist damit in Reichweite.
Juanita von den Müttern des Plaza de Mayo ist glücklich über das neue Vergangenheitsbewusstsein: "Der Präsident empfängt uns, versteht unseren Kampf und unseren Schmerz. Er weiß, was wir empfinden, denn er hat selbst Freunde verloren." Ihr komme es so vor, sagt Juanita, als werde in diesem Jubiläumsjahr die Erinnerung an den "dreckigen Krieg" ganz neu aufgefrischt. "Früher hat man uns belacht, wenn wir eingehakt in die U-Bahn stiegen - heute küsst man uns", sagt die 91-Jährige. Jetzt wollen die Madres sogar ihren alljährlichen Protestmarsch einstellen: "Denn der Feind sitzt nicht mehr im Präsidentenpalast", so die Begründung der Organisation.
Auch Fernanda, die Deutschlehrerin, sieht in der Vergangenheitsbewältigung einen der ganz großen Pluspunkte der aktuellen Regierung: "Damit werden sie Geschichte machen." Von einer gründlichen, systematischen Aufarbeitung der dunklen Jahre allerdings sei Argentinien noch weit entfernt: "Die Dokumentationszentren und Museen in Deutschland finde ich fantas-tisch. So etwas haben wir hier noch nicht", sagt Fernanda. Was zum Beispiel mit der Marineschule ESMA geschehen soll, ist hart umstritten. Ein gutes Dutzend von Opferverbänden und Menschenrechtsorganisationen hat ein gutes Dutzend Vorschläge gemacht - völlig unterschiedliche Vorschläge. Die einen, die Opferverbände, wollen einen Ort des Gedenkens, wo alles bleibt, wie es war. Andere wollen ein Dokumentationszentrum oder ein Museum, sogar Sport- und Unterhaltungsstätten für Straßenkinder sind im Gespräch. Der radikalste Entwurf in dieser Hinsicht kommt von den "Madres": Ein Kultur- und Sportzentrum für Jugendliche, offen für alle und rund um die Uhr. "Wir wollen keine Orte der Trauer und des Todes", erklärt Juanita. "Wir wollen unsere Söhne zurück ins Leben holen - auch wenn wir wissen, dass sie tot sind."