Als Bundespräsident Horst Köhler am 14. März vor dem Europaparlament in Straßburg sprach, hatte er einen Katalog kühner Forderungen im Gepäck: Einheitliches EU-Wahlrecht, einen direkt gewählten EU-Präsidenten, ein Haus der Europäischen Geschichte und ein Europa-Bundesverdienstkreuz. Die Liste stammte allerdings nicht von ihm, sondern von Teilnehmern eines Workshops in Dresden.
100 Jugendliche aus sieben europäischen Staaten hatten sich dort Anfang Februar mit europäischen Staatschefs getroffen und die "Dresdner Forderungen für den Zusammenhalt Europas" aufgestellt. "Nehmen wir uns an dem Elan der jungen Leute ein Beispiel!", forderte Köhler die Europaabgeordneten auf und ging gleich selber schwungvoll voran. Mindestens fünf Prozent des Bruttoinlandsproduktes sollten die EU-Mitgliedsstaaten für Forschung und Wissenschaft ausgeben, steht in den Dresdner Forderungen. Der Bundespräsident nannte zwar keine Zahlen, doch er verlangte: "Für Europas Zukunftsperspektiven und für die viel zu vielen jungen Arbeitslosen sind Bildung, Ausbildung, Forschung und Entwicklung entscheidend - genug gute Gründe, um auch die europäischen Budgetmittel deutlich in diese Richtung umzuschichten."
Nach einer kurzen verblüfften Pause antworteten die Abgeordneten mit dröhnendem Beifall. Genau das fordern sie in den derzeit anstehenden Finanzverhandlungen zwischen Rat und Parlament. Doch die Regierungschefs zeigen keine Bereitschaft, die Forderung aufzunehmen. Auch Auszubildende, so Köhler weiter, sollten in den Genuss von Austauschprogrammen kommen. Er erinnerte an Jacques Delors' Vorschlag, jedem Jugendlichen einen Ausbildungsscheck als Gutschein für derartige Auslandsaufenthalte zur Verfügung zu stellen. Den Abgeordneten rief er zu: "Ziehen Sie diesen Scheck!"
Die Parlamentarier reagierten sichtlich irritiert. Ihre Spielräume, eigene Schwerpunkte in der siebenjährigen Finanzplanung zu setzen, sind gering. Ein großer Teil des Budgets ist für Agrarsubventionen und Strukturförderung fest verplant. Beim Dezembergipfel in Brüssel einigten sich die Regierungschefs darauf, bei Forschungs- und Bildungsprogrammen den Rotstift anzusetzen. Mit der turbulenten Stimmung im Straßburger Plenum hatte der deutsche Bundespräsident sichtlich seine Probleme. Als er den Verfassungsvertrag lobte und sagte: "Das sollte nicht leichtfertig aufgegeben werden, auch angesichts der Tatsache, dass 14 Mitgliedsstaaten dem Vertrag bereits zugestimmt haben", höhnten und buhten die flegelhaften Hinterbänkler von der polnischen nationalistischen Partei und von der britischen Unabhängigkeitspartei lautstark. Köhler zuckte sichtlich zusammen und geriet offenbar einen Moment aus der Fassung - solche Gepflogenheiten ist er vom Deutschen Bundestag nicht gewöhnt.
Die große Mehrheit der Abgeordneten allerdings nahm seine Ruck- und Mutrede in der vergangenen Woche wohlwollend auf. Auch wenn sich manche Abgeordnete gefragt haben mögen, ob sie dafür die richtigen Adressaten sind - wenn es nach ihnen ginge, wäre Europa bestens angesehen und die Verfassung längst in Kraft. Sie nickten seufzend, als Köhler daran erinnerte, dass schon vor 30 Jahren der damalige niederländische Außenminister van der Stoel gesagt habe, das Motto "Vollendung, Vertiefung und Erweiterung" sei ersetzt worden durch "Stillstand, Rückschritt und Flucht".