Im Dezember machte Silvio Berlusconi auch diesem Fortschritt ein Ende: Um die Auswirkungen der sich abzeichnenden Wahlniederlage zu begrenzen, gab er dem Drängen seiner Koalitionspartner nach und ließ vier Monate vor den Wahlen am 9. und 10. April ein neues Verhältniswahlrecht verabschieden. "Das Wahlgesetz? Eine Schweinerei, obwohl ich es selbst geschrieben habe!" urteilte der zuständige Reformminister Roberto Calderoli (Lega Nord), meinte damit aber vor allem den Umstand, dass die blockierten Listen nun von den Parteichefs im Alleingang aufgestellt werden. Drei Viertel der Kandidaten auf den vorderen Listenplätzen haben damit den Parlamentssitz bereits sicher, bevor die Wähler nur eine einzige Stimme abgegeben haben.
Die neue Handlungsfreiheit wurde von Berlusconis Koalitionspartnern sofort genutzt, um die eigenen Spitzenkandidaten als Alternative für das Amt des Ministerpräsidenten zu lancieren. Seitdem tritt das "Haus der Freiheiten" mit einem "Dreizack im Sturm" an. Der Vorsitzende der Nationalen Allianz Gianfranco Fini (AN) und der Parlamentspräsident Pierferdindando Casini (UDC) von der christdemokratischen Zentrumsunion blieben dennoch weit von ihrem erklärten Ziel entfernt, Berlusconis Forza Italia in der Wählergunst zu überflügeln. "Wenn ich drei Sender hätte, würde ich ihn überragen!", beschrieb Casini ohnmächtig das Dilemma.
Der Streit um die Kontrolle der Medien stand daher von Anfang an im Mittelpunkt des Wahlkampfes. Den Auftakt bildete im November eine Fernsehshow von Italiens Altrocker Adriano Celentano im Staatssender RAI, in der die Allmacht Berlusconis erstmals seit Jahren wieder offen kritisiert werden durfte. Nach dieser Einstimmung begann Berlusconi eine Gegenkampagne, um den Italienern die Wahrheit über die "großartige Arbeit" seiner Regierung zu erzählen, "die mehr Reformen verwirklicht hat, als alle bisherigen Regierungen der Republik zusammengenommen".
In beinahe täglichen Auftritten auf allen Kanälen (sogar im Verkehrsfunk) begann er Italien als ein Land zu zeichnen, in dem alles bestens funktionieren würde, wenn nicht sämtliche Institutionen von "Kommunisten" unterwandert wären, "von den Banken und Genossenschaften über die Justizbehörden bis zu Zeitungsverlagen und Fernsehsendern". Um diese These zu untermauern, suchte er die offene Auseinandersetzung mit allen Kritikern. Wobei kaum eine Institution ungeschoren blieb. Selbst das Statistische Amt ISTAT wurde unterschwellig beschuldigt, mit den "Kommunisten" unter einer Decke zu stecken.
Bei fast allen wichtigen Parametern bildet Italien heute im europäischen Vergleich das Schlusslicht, auch beim Wachstum und bei der zuletzt wieder kräftig zunehmenden Staatsverschuldung. Die "Financial Times" kolportierte deshalb jüngst sogar Spekulationen im Europäischen Zentralbankrat über einen möglichen Ausschluss Italiens aus der Währungsunion. Die Antwort Berlusconis auf die Kritik aus Wirtschaftskreisen bestand in einem überfallartigen Auftritt beim Kongress des Unternehmerverbands Confindustria, wo er die versammelten Unternehmer in einer aggressiven Wahlkampfrede zu mehr Optimismus aufrief und gleichzeitig den Verbandsvorsitzenden und FIAT-Chef Luca Cordero di Montezemolo heftig angriff.
Kritische Fragen nach der Bilanz seiner Regierung oder nach Lösungskonzepten für die drängenden Probleme beantwortet der Ministerpräsident schon lange nicht mehr. So stürmte er aus einem Fernsehstudio der RAI, weil eine kritische Journalistin seinen Monolog mit ihren Fragen unterbrochen hatte. Angesichts der drohenden Niederlage hat Berlusconi sein gewinnendes Lächeln verloren und zeigt nun die grimmige Maske eines zum äußersten entschlossenen Autokraten, der voll böser Vorahnungen ums Überleben kämpft.
Außer einer Serie verheißungsvoller Werbespots leistete die Regierung keinen konstruktiven Beitrag für eine Trendwende. Nur wenige Wochen vor den Wahlen wurden zwei Minister zum Rücktritt gezwungen, darunter der eingangs zitierte Reformminister Calderoli, der in einer Fernsehsendung ein T-Shirt mit Mohammed-Karikaturen getragen und damit Ausschreitungen in Bengasi und eine diplomatische Krise mit Libyens Revolutionsführer Gaddafi heraufbeschworen hatte. Berlusconi selber provozierte einen Eklat mit der Volksrepublik China, als er behauptete, Maos Kommunisten hätten "Kinder gekocht, um mit ihnen die Felder zu düngen".
Das eigene Regierungsprogramm vorzustellen, hält dagegen kaum jemand in der Freiheitskoalition für notwendig, auch weil ein gemeinsames Programm nicht existiert. Wirtschaftsminister Giulio Tremonti (FI) konzentriert sich deshalb lieber darauf, Entschuldigungen für die Stagnation der Wirtschaft vorzubringen und ansonsten die Angst der Bürger vor Steuererhöhungen zu schüren.
"Vor fünf Jahren verkaufte Berlusconi Träume, heute schürt er nur noch Ängste", fasste Herausforderer Romano Prodi (Union) den politischen und persönlichen Niedergang des Cavaliere zusammen. Mit seiner Weigerung, in den Sendern Berlusconis aufzutreten, reagierte der ehemalige EU-Kommissionspräsident auf die systematische Nachrichtenmanipulation und persönliche Verhöhnung in den Programmen des Premiers. In der Mannschaftsaufstellung von Forza Italia waren zuletzt vier Regierungs- und Parteisprecher gleichzeitig als "Manndecker" gegen den gegnerischen Spielmacher Prodi abgestellt, um ihn täglich mit Schmutz zu bewerfen und jeden seiner Vorschläge mit billigen Kommentaren herabzuwürdigen. Trotzdem hat Prodi den Wahlkampf nach seinen eigenen Regeln durchgezogen, sachbezogen und verbindlich, bereit zum Dialog und deshalb eher auf den direkten Kontakt mit den Wählern setzend.
Deutlich wurde dieser Unterschied auch im ersten Fernsehduell der beiden Kandidaten, bei dem Berlus-coni mit finsterem Ausdruck über die "Verdrehung der Realität durch die Kommunisten" jammerte. Prodi dagegen unterstrich die Notwendigkeit des Dialogs mit allen Bevölkerungsgruppen und Institutionen als seine persönliche Regierungsmethode und kündigte als ersten Schritt hierzu die Wiederbelebung der in den 90er-Jahren erfolgreichen Konzertierten Aktion an.
Den Nachteil mangelnder Hausmacht in seiner heterogenen Acht-Parteien-Koalition hat Prodi durch die koalitionsinternen Vorwahlen im Oktober ausgeglichen, bei denen er mehr als drei Millionen Stimmen (74,1 Prozent) erhielt. Mit dieser im europäischen Vergleich einzigartigen Legitimation im Rücken, begann er anschließend eine intensive Programmdiskussion mit den Koalitionspartnern der zur "Union" erweiterten Ölbaum-Koalition. Die Ergebnisse wurden in einem mit 281 Seiten recht detaillierten Wahlprogramm festgehalten, das als passable Grundlage für die in den nächsten Jahren notwendigen Reformen durchgehen könnte. Als erste und wichtigste Maßnahme kündigte Prodi eine Senkung der Lohnsteuer und Lohnnebenkosten um mindestens fünf Prozent an.
Auch in der Außenpolitik steht Prodi für eine Wiederaufnahme der klassischen Rolle Italiens im europäischen Konzert, eine Politik, die angesichts der akuten Energiekrise des Landes mehr denn je im nationalen Interesse liegt. Er befindet sich damit im Einklang mit Staatspräsident Carlo Azeglio Ciampi, der bei seinem letzten Staatsbesuch in Deutschland ebenfalls die Notwendigkeit einer gemeinsamen europäischen Energiepolitik betonte.
Überraschend erhielt Prodi zuletzt sogar öffentliche Unterstützung durch Altbundeskanzler Helmut Kohl, der es inzwischen offensichtlich bereut, dass er Berlusconis Forza Italia einst den Weg in die Europäische Volkspartei geebnet hatte. Mit seinem unauffälligen, aber hartnäckigen Regierungsstil könnte es dem Professor aus Bologna tatsächlich gelingen, das Land wieder auf die richtige Spur zu bringen. Bereits einmal schaffte er entgegen allen Prognosen den Beitritt zum Euro, eine substanzielle Leistung, von der Italien heute noch zehrt.
Für den Fall eines erneuten Wahlsiegs der Freiheitskoalition zeichnet der Schriftsteller Umberto Eco dagegen ein apokalyptisches Szenario, das definitive Ende von Demokratie, Gewaltenteilung und Rechtsstaat: "Viele Staatsorgane, die fünf Jahre lang allen Aufforderungen zur Illegalität heroisch widerstanden haben", würden nicht weiter durchhalten.
Die anstehende Entscheidung ist deshalb kein normales demokratisches Kräftemessen, sondern eine Schicksalswahl über die Frage, ob ein 70-jähriger Medienmogul ein ganzes Land mit seinen Lügen in die Tasche stecken kann, obwohl er angesichts seines fortschreitenden Realitätsverlusts offensichtlich gar nicht mehr in der Lage ist, es wirklich zu regieren.
Noch weiter geht deshalb sein Biograf Alexander Stille ("Citizen Berlusconi", Rezension auf Seite 16), der das von Berlusconi propagierte Italien mit der virtuellen Realität im Film "Die Truman-Show" vergleicht: "Diese Wahlen werden ein interessanter Test sein, und wir werden sehen, ob die Wirklichkeit überhaupt noch ein Gewicht hat oder ob zum Regieren allein der Schein genügt."