Zwei Jahre nach dem englischen Original erscheint die deutsche Übersetzung von John Dickies "History of the Sicilian Mafia", die in den USA, in England und in Italien in den höchsten Tönen gelobt wurde. "Das Buch ist eine Sensation! Spannender als ein Dutzend Mafia-Filme", schrieb die "Times" in ihrer Literaturbeilage.
Um es gleich vorweg zu nehmen: Abgesehen von einigen Übersetzungsfehlern - auf Seite 103 wird beispielsweise der Polizeichef Giuseppe Albanese 1869 in Palermo "erstochen", auf der nächsten Seite aber wird er zwei Jahre später in einem Mordprozess aus Mangel an Beweisen freigesprochen - hält auch die deutsche Ausgabe, was die Vorschusslorbeeren versprechen. Hier ist ein süchtig machender Lesestoff, den man bis zum Schluss nicht mehr aus der Hand legt.
Dickie erzählt seine Geschichte der sizilianischen Mafia im Stil einer großen Familiensaga ohne jedoch jemals ins Romanhafte abzugleiten. Bei dem gewaltigen und gewalttätigen Thema hat er es in der Tat nicht nötig, seine Fantasie zu bemühen, um den Leser bei der Stange zu halten. Die beinahe endlose Reihe unfassbarer Verbrechen, die mit all ihren grausamen Details geschildert werden, gleicht streckenweise einer Wanderung durch die Abgründe der menschlichen Seele, wie sie auch Dante als erster Chronist einer Weltgeschichte des Verbrechens in seiner "Göttlichen Komödie" kaum intensiver schildern konnte.
Solide recherchiert und lebhaft geschildert werden die Hauptpersonen des Dramas vorgestellt: Unauffindbare Bosse, gnadenlose Killer, zweifelhafte Politiker, aber auch aufrechte Bürger und mutige Kämpfer für Recht und Gesetz, die in eindrucksvollen Charakterporträts am geistigen Auge des Lesers vorbeiziehen.
Vielfach versucht Dickie seine Leser bei ihrem Halbwissen abzuholen. Häufig bemüht er dazu das Kino, mitunter auch Literatur und Musik, die nicht unerheblich zum Mythos der Mafia beigetragen haben. Die Belehrung braucht niemand zu fürchten, räumte doch selbst der Vorsitzende der Antimafia-Kommission im italienischen Parlament 1972 ein, "er habe seine ganzen bisherigen Kenntnisse über die Mafia ausschließlich aus der Lektüre des Romans ,Der Pate' von Mario Puzo bezogen". Der gleichnamige Film mit Marlon Brando wird daher schon in der Einleitung zitiert, die ansonsten einen aktualisierenden Ausblick auf die bedeutsamsten Ereignisse und Erkenntnisse Ende des 20. Jahrhunderts wirft. Der Mythos der Mafia, ihr "Ehrenkodex" und ihre seit den 1980er-Jahren von dem Kronzeugen Tommaso Buscetta aufgedeckte Struktur kommen dabei ebenso ins Blickfeld wie die Rache der Bosse an den beiden erfolgreichen Untersuchungsrichtern Giovanni Falcone und Paolo Borsellino.
Nach diesem recht umfangreichen Prolog geht der Autor in elf großen Kapiteln weitgehend chronologisch vor, wobei der Bogen von den Anfängen um 1860 in Palermo bis ins 21. Jahrhundert reicht. Dabei lernt der Leser gleich zu Beginn Opfer und Täter wie auch flankierende Politiker kennen, und es wird klar, wie die Komplizenschaft oder Unfähigkeit der politischen Kräfte den Aufstieg der Mafia über viele Jahrzehnte begleitet und gefördert haben. Eine andere Musik spielte nur für einige Jahre während des Faschismus, als Mussolini den "eisernen Präfekten" Cesare Mori nach Palermo schickte. Viele Sizilianer wanderten in dieser Zeit nach Amerika aus, und folglich ist es nur konsequent, dass der Autor an dieser Stelle zu einem größeren Exkurs über die Geschichte der amerikanischen Mafia ausholt. Nach der anglo-amerikanischen Invasion auf Sizilien war es auch den hilfsbereiten Vettern aus Chicago und New York zu danken, dass die Mafia bald wieder Fuß fasste.
Die blutigste Phase der sizilianischen Mafia begann Anfang der 70er-Jahre, als der Clan der Corleoneser, angeführt zunächst von Luciano Leggio und dann von seinen beiden Nachfolgern Totò Riina und Bernardo Provenzano, die anderen Familien unterwarf und schließlich seit 1979 die absolute Macht übernahm. Obwohl die Zahl der Opfer in die Hunderte ging, ließ die Antwort des Staates lange auf sich warten. Als sie schließlich kam, war sie einzig der Aktion einer Handvoll mutiger, aber weitgehend isolierter Richter zu verdanken. In vorderster Front standen dabei Giovanni Falcone und Paolo Borsellino, welche die Aussagen Tommaso Buscettas ernst nahmen und auf den daraus gewonnenen Erkenntnissen aufbauend den bis dahin größten "Maxi-Prozess" gegen insgesamt 474 Angeklagte erfolgreich durchfochten. Im Sommer 1992 präsentierte die Mafia die Rechnung, als sie innerhalb weniger Wochen zuerst Falcone und dann Borsellino ermordete.
Durch ihr unerhörtes Auftrumpfen hatten die Bosse allerdings ihre politischen Schutzhelfer in Rom in eine unhaltbare Position manövriert und gleichzeitig eine Reaktion geradezu herausgefordert. Als die italienischen Ordnungskräfte nach vielen Jahrzehnten erstmals freie Hand für ein entschlossenes Vorgehen erhielten, kam es bald zu beachtlichen Erfolgen, gipfelnd in der Verhaftung Totò Riinas und seiner engsten Mitstreiter. Sein Nachfolger als "Boss der Bosse" wurde Bernardo Provenzano, der vor allem darum bemüht war, seine Organisation aus den Schlagzeilen herauszuhalten.
Während Tommaso Buscetta am Ende seiner Tage über die Sinnlosigkeit seiner Bemühungen reflektierte, bleibt John Dickies Ende offen. Einerseits beleuchtet er die Indizien für Verbindungen der Mafia zu Ministerpräsident Silvio Berlusconi und seiner Partei Forza Italia, von deren Wahlsieg 2001 sich die Bosse viel versprochen hatten, andererseits bemerkt er aber auch, dass die konkrete Gesetzgebung in den vergangenen Jahren den inhaftierten Mafiosi kaum Erleichterungen gebracht hat.
Provenzano konnte indes bis heute nicht gefasst werden und fand vor einigen Jahren sogar die Gelegenheit, sich unbehelligt in einer Klinik in Marseille operieren zu lassen. Sein Kartell der Gewalt hält die Wirtschaft und Verwaltung Siziliens weiter fest im Griff. Den Bürgern der Insel aber bleibt immerhin die Hoffnung Giovanni Falcones: "Wir werden die Mafia noch für lange Zeit bekämpfen müssen, aber nicht für ewig, denn wie alle menschlichen Unternehmungen hat auch die Mafia einen Anfang und eine Entwicklung, und so wird sie schließlich auch ein Ende haben."
John Dickie
Cosa Nostra. Die Geschichte der Mafia.
S. Fischer Verlag, Frankfurt am Main 2006; 560 S., 19,90 Euro