Keine der beiden großen Parteien in den Bundesländern wollte und konnte sich gegen die Politik der Großen Koalition im Bund profilieren. Dieser Umstand erklärt wesentlich den gedrosselten Wahlkampf, der seinerseits die niedrige Beteiligungsrate begünstigte. Die Wahlen fungierten nicht als Test für den Bund in Form einer "Abstrafung" der dortigen Hauptregierungspartei. Und: Da für viele der bisherige Ministerpräsident als Sieger feststand, ließen sich Stimmberechtigte schwerlich mobilisieren - nicht die Anhänger der Ministerpräsidenten, nicht deren Gegner. Zudem sahen sie keine gravierenden Unterschiede zwischen den Konzepten von CDU und SPD und maßen der Landespolitik keinen großen Stellenwert bei.
Landtagswahlen gelten als "Nebenwahlen". Insofern gehen bei ihnen ohnehin weniger Bürger zur Wahl als bei einer "Hauptwahl". Lange nahmen bei Bundestagswahlen 80 bis 90 Prozent der Stimmberechtigten teil, bei Landtagswahlen 70 bis 80, bei Kommunalwahlen 60 bis 70 und bei Europawahlen 50 bis 60 Prozent. Doch mittlerweile ist die in Deutschland hohe Beteiligungsquote gesunken, auch bei der Bundestagswahl, wenngleich nicht so krass. Bei der jüngsten im Jahr 2005 wurde mit 77,7 Prozent ein Tiefststand erzielt (bisher: 1990 mit 77,8 Prozent). In den 50er- und 60er-Jahren lag die Beteiligungsquote zwischen 86 und 88 Prozent; bei den Wahlen in den 70er-Jahren (1972 und 1976) erreichte sie einen Höchststand (91,1 und 90,7 Prozent).
Zwar gibt es eine Regionalisierung des Wahlverhaltens und des Parteiensystems, aber der Trend zur sinkenden Wahlbeteiligung ist genereller Natur. Die Ursachen sind vielfältig. Die Zahl derjenigen, die sich mit einer Partei identifizieren, hat stark nachgelassen. Durch diese Erosion der herkömmlichen Milieus schrumpft die Zahl der Stammwähler, steigt zugleich die der Wechsel- und Nichtwähler. Verbreitete Individualisierung, zum Beispiel die Auflösung der herkömmlichen Familienstruktur, fördert Wahlabstinenz ebenso wie einen Wertewandel: Wahlbeteiligung gilt immer weniger als staatsbürgerliche Pflicht. Diese Abkehr von der Wahlnorm ist aus anderen Ländern bekannt. Schließlich gibt es den "wählenden Nichtwähler" (Michael Eilfort), der nach reiflicher Überlegung für das Fernbleiben votiert, sei es, weil ihm dieses Mal keine Partei zusagt, sei es, weil Nichtwahl zuweilen der "Wechselwahl" vorausgeht. Dies ließe sich bei einer wohlwollenden Interpretation als Zeichen für Wahlmündigkeit auffassen. Wie die Vielzahl der Motive zeigt: Eine "Partei der Nichtwähler" gibt es nicht, sind doch deren Typen höchst unterschiedlich, wenn nicht gar gegensätzlich. Das Spektrum reicht von den "Dauernichtwählern" (etwa den Zeugen Jehovas) bis zu den "unechten Nichtwählern" (wie den plötzlich Erkrankten).
Wer sind die Nichtwähler? Die repräsentative Wahlstatistik, die auf einer amtlichen Auszählung der Verzeichnisse der Wahlberechtigten basiert und erst einige Monate nach der jeweiligen Wahl vorliegt, gibt darüber interessanten Aufschluss. Sie zeigt einen typischen Verlauf. Um dies an der Bundestagswahl 2005 zu belegen: Der Wahleifer steigt von den 21- bis 24-Jährigen (66,5 Prozent) bis zu den 60- bis 69-Jährigen (85,0 Prozent) an und fällt dann ab (Über-70-Jährige: 76,7 Prozent). Wer alleine lebt, fühlt sich oft gesellschaftlich isoliert und nimmt am politischen Geschehen keinen Anteil. Auch Krankheit und Gebrechlichkeit begünstigen die Wahlabstinenz. Die Beteiligungsquote der 18- bis 20-Jährigen (70,0 Prozent) liegt stets höher als die der 21- bis 24-Jährigen.
Besonders krass ist der Unterschied bei den mehr als 70-Jährigen. Während 82,7 Prozent der Männer von ihrem Wahlrecht Gebrauch machten, taten dies bei den Frauen nur 73,1 Prozent. Die hohe Differenz von fast zehn Punkten erklärt sich wesentlich damit, dass weitaus mehr Frauen in diesem Alter allein leben als Männer und sich oft sozial isoliert fühlen. Frauen votieren mittlerweile fast ebenso häufig wie Männer; im Osten, wo die Beteiligungsquote 2005 um 4,5 Prozentpunkte niedriger lag, sogar mehr. Das dürfte wesentlich mit ihrer gesellschaftlichen Gleichberechtigung zusammenhängen. Wer in einer kleinen Gemeinde wohnt, geht im Schnitt häufiger zur Wahl als Großstädter, die sich einem nicht so großen Gruppendruck ausgesetzt fühlen. Konfessionell Gebundene sind wahleifriger als Konfessionslose.
Die Auffassungen über die gesunkene Beteiligungsrate differieren bei Forschern. Die einen erkennen darin eine Gefahr. Werde das wichtigste - und für viele das einzige - politische Partizipationsrecht ungenügend wahrgenommen, belege dies Verdruss. Eine Demokratie brauche aber die Zustimmung ihrer Bürger. Ansonsten verlören die Regierenden einen Teil ihrer Legitimation. Die anderen betrachten sie als ein Indiz der Normalisierung. Wäre der "Leidensdruck" größer, würden die Stimmberechtigten vermehrt das Wahllokal aufsuchen. Bei der ersten freien Volkskammerwahl 1990 beteiligten sich 93,4 Prozent der Wahlberechtigten. Eine niedrigere Quote basiere daher nicht auf einem Protestvotum. Die nachlassende Parteibindung sei eine Abkehr von der Klassengesellschaft und Ausdruck einer offenen Gesellschaft. Eine extrem hohe Beteiligungsrate könne dagegen eine gesellschaftliche Polarisierung signalisieren.
Gewiss: Grund zur Hysterie besteht nicht. Deutschland liegt im europäischen Maßstab im oberen Mittelfeld, wenn auch der Rückgang wegen des hohen Niveaus besonders stark ausfällt. Gleichwohl verdient die gesunkene Beteiligung in Verbindung mit anderen Faktoren Aufmerksamkeit. So erzielten in Sachsen-Anhalt, Rheinland-Pfalz und Baden-Württemberg die übrigen Parteien (ohne die CDU, SPD, FDP, Grüne, FDP, PDS beziehungsweise WASG) Achtungserfolge: 8,0 Prozent, 6,5 Prozent, 5,1 Prozent. Das ist ein vernachlässigtes Zeichen für die Abkehr von den etablierten Parteien und ein Indiz für künftige Unkalkulierbarkeit.
Wahlpflicht dürfte kein geeignetes Instrument sein, um das Interesse der Bürger an der Politik (wieder) zu wecken. Neben zahlreichen ungültigen Voten würden sich dann wohl verstärkt Proteststimmen bemerkbar machen. Demokratische Parteien müssen eine glaubwürdige(re) Politik anstreben und zentrale Fragen, die Wähler bewegen, auf die politische Tagesordnung rücken.