Heute lebt Sheng Qi wieder in seiner alten Heimat. In der Millionenstadt Peking arbeitet er als Fotograf und Performancekünstler. Doch trotz all der Versprechungen des neuen "konfuzianischen Kapitalismus": Die Erinnerung an die Vergangenheit ist ihm für immer ins Körpergedächtnis eingeschrieben. Vor sechs Jahren hat er die zerstümmelte Hand in der dreiteiligen Fotoserie "On Memories" festgehalten. Darauf zu sehen ist die vergrößerte Handfläche, die in ihrem Inneren jeweils ein kleines Passfoto zeigt: Mal eines von Mao, mal eines von seiner Mutter und zum Schluss eines von ihm selbst. "Das ist die Kollektion meiner Erinnerung", sagt Sheng Qi. "Diese Bilder sind mein Leben. Die behinderte linke Hand und alte Fotos: Das bin ich."
Wie Sheng Qi, so machten sich in den vergangenen Jahren viele junge chinesische Künstler daran, mit Mitteln der Kunst über das eigene Selbst neu nachzudenken. Die junge Kunst des Landes boomt. Und seit der wirtschaftlichen Öffnung Chinas wächst auch im Westen das Interesse an der zeitgenössischen Kultur des neuen Handelspartners. Noch klingen viele Künstlernamen fremd, aber immer mehr Museen widmen sich der jungen Szene aus dem Reich der Mitte.
Oftmals handelt es sich um kuratorische Schnellschüsse. In der Hatz nach frischer Ware stürzt sich die Kunstszene schnell auf unbedeutende Positionen. Die kreativen Schätze eines derart großen und vitalen Landes wollen eben möglichst schnell gehoben werden. Viel bedachter geht da die gerade im Berliner Haus der Kulturen der Welt eröffnete Ausstellung "China - Zwischen Vergangenheit und Zukunft" vor, in der man sich ausschließlich der Fotografie und Videokunst des Landes verschrieben hat.
Fast vier Jahre hat der renommierte Fotokurator Christopher Phillips zusammen mit Wu Hung, einem international anerkanntem Spezialisten für chinesische Gegenwartskunst, benötigt, um diese Schau zu realisieren. Im Sommer 2004 wurde sie erstmals in New York gezeigt. Die lange Vorbereitungszeit der beiden Kuratoren hat sich gelohnt. Nach Zwischenstationen in Chicago, Seattle und London ist die Ausstellung nun in Berlin angelangt. Eingebettet ist sie hier in ein umfangreiches Kulturprogramm zu den Umwälzungen im gegenwärtigen China. Mit Lesungen, Diskussionen und Operninszenierungen will man sich im Haus der Kulturen der Welt in den nächsten Wochen intensiv mit einem Land auseinandersetzen, in dem heute ein Drittel der Weltbevölkerung lebt.
Mehr als 90 Arbeiten von 48 Künstlern wurden von Phillips und Wu Hung zusammengetragen. Die meisten Werke sind in den unzähligen künstlichen Megacities entstanden, die in China wie Krebsgeschwüre wuchern. Viele der Künstler sind nicht einmal vierzig Jahre alt. Geboren wurden sie in den düsteren Jahrzehnten des kommunistischen Riesenreichs, in den Wirren der Kulturrevolution. Doch diese Sinngebung durch den Maoismus, die einst in Schauprozessen willkürlich und blutrünstig ausgeübt wurde und nach einer zwischenzeitigen Phase der angedeuteten Liberalisierung im Massaker auf dem Tiananmen-Platz 1989 ihren vorläufigen grausamen Höhepunkt fand, ist im Erfahren der Generation vor allem zu Erinnerung geworden, mit der - so weit hat sich die junge Generation bereits vom damaligen China entfernt - in der Kunst auch gespielt werden kann. Denn Mao reicht nicht einmal mehr als Schreckensherrscher, sondern ist zum ahistorischen Revolutionsopa geworden. Seine Bilder sind nur noch als entkernte Staffage präsent.
Xing Danwen etwa hat auf drei Fotografien mit dem Titel "Born with the Cultural Revolution" diese skurrile Polit-Deko festgehalten. In einer Privatwohnung hat die Fotografin einen weiblichen Akt vor Bildern des Großen Vorsitzenden, gebettet auf die Landesflagge, in Szene gesetzt. Die Botschaft ist klar: In solch verzierten Räumen, wie man sie in Peking noch zuhauf findet, kann es keine Intimsphäre geben. Der nackte Körper bleibt lediglich eine hübsch anzuschauendes Bonmot im Kontext politischer Bilder.
Diese schwer aufzuhebende Trennung zwischen intimem und öffentlichem Bereich, den sich der chinesische Kommunismus einst vom Konfuzianismus abgeschaut hatte, ist auf fast allen Arbeiten der Ausstellung präsent. Zhuang Hui etwa hat auf drei beeindruckenden Gruppenpanoramen die riesigen Belegschaften von Firmen und Behörden in Szene gesetzt. Es sind uniformierte Menschenreihen, in denen das Individuum untergeht. Doch wer genau hinschaut, der entdeckt am rechten Bildrand den Fotografen. Wie einst Hitchcock in seinen Filmen, so hat sich auch Zhuan Hui dezent ins eigene Werk eingeschrieben. Es ist eine trickreiche Überlistung des Massenmenschen, die kaum ins Auge sticht.
Die Selbstdarstellung des künstlerischen Subjekts mittels Porträt und Selbstporträt nimmt in dieser Ausstellung breiten Raum ein. In der einstigen Propagandafotografie war dieses Genre Tabu. Erst mit dem Aufkommen der "shiyan sheying", der "experimentellen Fotografie", hat man mit dieser ideologischen Maßregelung gebrochen. Die neue Fotokunst Chinas, oftmals hervorgegangen aus privaten Fotoclubs, ist erfrischend subjektiv. Mit der propagandistischen Dokumentation von parteilich verordneten Planzielen ist seit längerem Schluss. Im Zentrum der neuen Bilder steht ein Subjekt, das mittels neuer Perspektiven und visueller Experimente seinen eigenen Körper auslotet; seine Umwelt neu ins Bild zu setzen versucht.
Es ist eine Wiederentdeckung des Ichs. Besonders die im Westen präsente "dushi yidai", die "Generation Stadt", macht sich verstärkt Gedanken über die Zuschreibungen und Erwartungen, die das Kollektiv immer wieder an das Subjekt herangetragen hat. Zhan Huan, ein Performancekünstler und Fotograf, hat dies auf der Serie "Family Tree" dokumentiert. Auf seine eigene Haut hat er mit schwarzer Farbe verschiedene chinesische Kaligraphien gemalt. Diese formulieren die traditionellen Pflichten, denen sich das Individuum zu unterwerfen hat. Für Zhan Huan sind diese Zwänge jedem Chinesen auf den Leib geschrieben. Mit jeder Zeichnung wird das Wirrwarr der Kaligraphien dichter. Auf dem letzten Bild ist auf dem Gesicht lediglich noch eine dicke schwarze Patina zu sehen. Das Antlitz hat sich unter den Forderungen des Kollektivs aufgelöst.
Es ist nicht einmal vierzig Jahre her, da hatte Mao die Jugend Chinas mit der frei übersetzten Parole: "Die Revolution ist kein Partyspaß", auf Linie zu bringen versucht. Im neuen "konfuzianischen Kapitalismus" wären solche Entsagungen kaum mehr möglich. Zwar ist Chinas Kultur der Gegenwart mit ihren immensen Umbrüchen und Entwurzelungen noch lange keine freie Gesellschaftskultur. Die jungen Künstler aber werden zunehmend kritisch gegen jegliche Vereinnahmung durch die traditionellen Pflichten und Zwänge. Im Kontext einer mehr als 3.000 Jahre alten Kultur, die stoisch der Zeit getrotzt hat, erscheinen die vergangenen Jahre wie ein unvorstellbarer Sprung nach vorn. Wer die Ausstellung durchwandert, der erblickt eine tastende aber beflügelte Generation.
Die Ausstellung ist noch bis zum 14. Mai im Berliner Haus der Kulturen der Welt, John-Foster-Dulles-Allee 10 zu sehen. Weitere Informationen unter: www.hkw.de einsehbar.