Gysi tänzelte öfter durch die Reihen und munterte den einen oder anderen auf. Diese Unsicherheit betraf allerdings nicht den Parteitag der Linkspartei, die sich zum Ziel gesetzt hatte, klare und positive Signale auf dem Weg zu einer gesamtdeutschen politischen Kraft auszusenden. Vielmehr schauten die Delegierten mit einem Auge immer nach Ludwigshafen, wo zeitgleich der Parteitag der WASG stattfand. Von dort erwartete die Linkspartei klare Signale, ein Ja für die Fusion mit der Linkspartei bis zum Sommer 2007. Nachdem tagsüber nur Chaosmeldungen eintrafen, hellte sich erst am Abend die Stimmung auf, als die Nachricht kam, dass sich die Fusionsbefürworter nach erbittertem Streit durchgesetzt hätten. Zwar gab es in Ludwigshafen eine Mehrheit für eine Verschmelzung mit der Linkspartei, aber die widerspenstigen Landesverbände Berlin und Mecklenburg-Vorpommern wollen trotzdem bei den anstehenden Landtagswahlen am 17. September gegen die Linkspartei antreten. Außerdem traten die Vorstandsmitglieder Joachim Bischoff, Björn Radke und Sabine Lösing zurück. Eine Kette juristischer Auseinandersetzungen, zumindest eine Fortsetzung des Kleinkrieges und gegenseitiger Vorwürfe, droht. Was bleibt, ist eine zerstrittene WASG, die möglicherweise vor der Spaltung steht.
So hat die Linkspartei alles andere als ein klares Bekenntnis zum Fusionsprozess bekommen. Angesichts des chaotischen Zustandes der WASG versteht sich die Linkspartei als Anker in diesen stürmischen Tagen, die die Einheit mit den Fusionswilligen der WASG will und die Bildung einer gesamtdeutschen Linkspartei mit aller Energie anstrebt. Dazu gehört auch, Gelassenheit zu demonstrieren und die Probleme in der WASG als "normal" bei der Neugründung einer Partei herunterzuspielen. Schließlich sind beide Seiten aufeinander angewiesen, um politisch zu überleben. Ganz in diesem Sinne beschrieb Parteivorsitzender Bisky in seinem Grundsatzreferat den möglichen Parteineubildungsprozess als Lernprozess, der alles andere als Routine sei, nämlich Neuland.
Bisky kritisierte in seiner Rede die Politik der Bundesregierung. Er blieb aber, wie es seine Art ist, eher bedächtig und im Ton konziliant. Von Generalangriff oder Fundamentalopposition keine Rede. Sicherlich ist es auch für die Linke schwierig, denn die schwarz-rote Koalition bietet relativ wenig Angriffsfläche angesichts einer ziemlich stark sozialdemokratisch akzentuierten Politik. Trotzdem meinte er, vom "Durchregieren" der Kanzlerin sei nur ein "Durchwursteln mit vielen Risiken und Nebenwirkungen" geblieben. Die gegenwärtige Politik vertiefe die sozialen Klüfte, mache die Reichen reicher und die Armen ärmer. In diesem Zusammenhang wandte er sich gegen Lohndumping und forderte einen gesetzlichen Mindestlohn. Armut, Arbeitslosigkeit und Ausgrenzung dürften sich nicht vererben.
Mit Blick auf die Probleme der Berliner Rütli-Schule warnte der Parteivorsitzende vor einer "Ethnisierung der sozialen Probleme". Vor dem Hintergrund der gegenwärtigen Wertedebatte fragte er, ob nur religiöse Menschen wertkompetent seien. Schönbohms Äußerungen zum Potsdamer Mordanschlag bezeichnete Bisky als Verharmlosung des Rechtsradikalismus. Er forderte eine solidarische Bürgerversicherung, eine gerechte Steuerpolitik, mehr Geld für die Kommunen und die Überwindung der Hartz-IV-Reformen. Außenpolitisch verweigerte er sich der Logik, wonach immer mehr internationale Probleme durch immer mehr Militäreinsätze zu lösen seien. Den geplanten Kongoeinsatz nannte er "abenteuerlich".
Auffällig war der Schulterschluss, der einerseits zur WASG, andererseits zu den Gewerkschaften gesucht wurde. Praktisches Zeichen war der Start einer Kampagne zum 1. Mai - zeitgleich und abgestimmt mit der WASG - als Unterstützung der Gewerkschaften bei der Durchsetzung eines gesetzlichen Mindestlohnes von 8 Euro. Praktische Politik für die Bürger wolle man machen, man wolle sich nicht mit sich selbst beschäftigen. Auch das war ein deutliches Signal nach draußen. Der Einladung zum Parteitag der Linkspartei waren hochrangige Gewerkschaftsvertreter gefolgt, wie der Vorsitzende der Gewerkschaft Nahrung-Genuss-Gaststätten, Franz-Josef Möllenberg, und die stellvertretende Vorsitzende der Gewerkschaft Verdi, Margret Mönig-Raane. Beide Seiten bewegten sich spürbar aufeinander zu. Die Linke erweitert ihr Terrain, nachdem sich die Gewerkschaften von der SPD allein gelassen fühlen. Dank der WASG war es der Linkspartei gelungen, die jahrelangen Berührungsängste zwischen den Gewerkschaften und der Linkspartei weitgehend auszuräumen. Und die Gewerkschaften haben damit einen zusätzlichen Ansprechpartner, eine neue Option hinzugewonnen.
Möllenberg sprach von "verschiedenen gemeinsamen Projekten" und "gemeinsamer Solidarität". Und Mönig-Raane betonte ihre Genugtuung darüber, dass "wir an einem Strick gemeinsam" ziehen. Auch Marion Drögsler, Mitglied des Gesamtvorstandes des Arbeitslosenverbandes, betonte, dass die Zusammenarbeit seit der Bundestagswahl "inhaltlich neue Früchte" getragen habe.
In der Generaldebatte sprachen nur zwölf Delegierte, obwohl sich 47 angemeldet hatten. Man wollte einen affirmativen Parteitag, keine Selbstbeschäftigung oder gar Nabelschau.
Kritische Fragen oder Probleme wurden am Rande behandelt oder vertagt: So wurde Hans Modrows fragwürdige Geschichtsbetrachtung, dass auch die Bundesrepublik Verantwortung für den Mauerbau trage, von Bodo Ramelow und Gregor Gysi aufgegriffen und zurückgewiesen. Aber es wurde daraus kein Politikum gemacht. Die Debatte um Solidarität mit Kuba angesichts der Verletzung der Menschenrechte, die seit längerem in der Linkspartei schwelte und vor allem durch Andre Brie und einen Beschluss des Europaparlaments zugespitzt wurde, griff Gysi zwar kurz auf, sie wurde aber ansonsten auf den nächsten Parteitag vertagt. Ähnliches geschah mit der Frage der Privatisierung von kommunalem Wohneigentum, wie in Dresden geschehen - und dies mit Zustimmung von neun Dresdener Linkspartei-Stadträten. Die knöpfte sich zwar Lafontaine vor, aber ansonsten blieb es bei der nebulösen Formulierung, wonach es keine weiteren Privatisierungen öffentlichen Eigentums im "umfassenden Sinne" geben solle, wie es in Biskys Rede heißt.
Trotzdem gab es vereinzelte kritische Stimmen zu dem ewig strittigen Thema "Opponieren oder Regieren". Sahra Wagenknecht von der Kommunistischen Plattform und Vorstandsmitglied kritisierte mit klaren Worten die ihrer Meinung nach neoliberale Politik der Linkspartei in Berlin. "Gerade in Berlin, aber nicht nur da, haben wir in der Vergangenheit oft genug Wein gepredigt und Wasser verteilt. Schlechtes Wasser. Und dafür braucht man uns nicht."
Auch Hans Modrow kritisierte in seinen Begrüßungsworten als Ehrenvorsitzender die Regierungsbeteiligungen und den damit verbundenen Verlust an Profil und Vertrauen. Auch thematisierte er den Verlust von 20.000 Stimmen für die Linkspartei bei der letzten Landtagswahl in Sachsen-Anhalt. All das wollte die Parteiführung nicht hören. Bisky sprach hingegen "vom besten Wahlergebnis in der Geschichte der PDS" und vergaß, die geringe Wahlbeteiligung von nur 47 Prozent zu erwähnen. Ähnlich wurden die Ergebnisse bei den Kommunalwahlen in Hessen schöngeredet. Von den Wahlschlappen der WASG bei den Landtagswahlen in Rheinland-Pfalz und Baden-Württemberg sprach niemand. Bisky und die erste Diskussionsrednerin, die neue Vizepräsidentin des Deutschen Bundestages, Petra Pau, hatten es klar formuliert: Sie wollten positive Botschaften setzen und dem Bild von den ewig zerstrittenen Linken den Boden entziehen. Eines war allen klar: Man spürte, dass der mögliche Zusammenschluss mit der WASG als historische Chance begriffen wurde und dass man diese Chance nicht vertun dürfe.
In Halle wurde womöglich der letzte Bundesvorstand der Linkspartei gewählt: Die Wahlen zum Vorstand gingen problemlos über die Bühne. Lothar Bisky trat ohne einen Gegenkandidaten an. Er erhielt 88,5 Prozent Zustimmung und wurde damit in seinem Amt als Vorsitzender bestätigt. Zu seinen Stellvertretern wurden Wolfgang Methling, Katja Kipping und Katina Schubert gewählt. Lediglich um Schubert gab es schon im Vorfeld Diskussionen, da sie als Referentin des Wirtschaftssenators Wolf in Berlin angeblich zu realpolitisch und wirtschaftsfreundlich agiere. Im Gegenzug wurde Sahra Wagenknecht problemlos in den Vorstand gewählt. Als Bundesgeschäftsführer wurde Dietmar Bartsch wiedergewählt.
Lafontaine war von Ludwigshafen am Sonntag nach Halle geeilt. Sein leidenschaftlicher Einsatz beim WASG-Parteitag hatte sich gelohnt, eine Abstimmungsniederlage hätte ihn zwangsläufig beschädigt. So konnte er in Halle auftrumpfen und sich feiern lassen. Als möglicher Vorsitzender der neuen Linkspartei hatte er sich schon mal ins Spiel gebracht. Dabei hatte wohl kaum ein Delegierter daran gedacht, dass einst Lafontaine es war, der meinte, Paris sei ihm näher als Leipzig - was ja nur einen Katzensprung von Halle entfernt ist.