Die ganze Woche lang wartet der 37-jährige Kestius G., darauf, dass der Wärter seine Zellentür öffnet und ihn zum Gefängnispsychologen führt. Kestitus G. ist ein kräftiger großgewachsener Mann. Hals und Hände sind mit grünen Schlangenmotiven tätowiert. Bei einem Streit im Gefängnis hat der Häftling seinen Zelleninsassen erschlagen, das war vor zehn Jahren. Kestitus wurde zu lebenslanger Haft verurteilt und sitzt seitdem in Einzelhaft. Dennoch liegt ein offenes, freundliches Lachen auf seinem Gesicht. "Ich habe zehn Jahre lang mit niemandem gesprochen. Ich war immer allein. Ich konnte Gedanken formulieren, brachte aber kein Wort über die Lippen. Erst bei dem Psychologen habe ich wieder gelernt, auf andere Menschen zuzugehen."
Resozialisierungsmaßnahmen dieser Art sind in Litauen noch nicht die Regel. Denn obwohl das Land bereits seit 2004 Mitglied der Europäischen Union ist, verlaufen Veränderungen im Strafvollzug bislang eher schleppend. Die litauische Regierung hat sich daher die "Förderung sozialer Integration" zum Ziel gesetzt. 860.000 Euro aus Mitteln der Europäischen Strukturfonds hat sie dafür bisher eingesetzt.
Romas Rasavicius will den Häftlingen als Gefängnispsychologe helfen, sich selbst zu erkennen, und sie auf ein Leben nach dem Gefängnis vorbereiten. Denn die Integration zurück in die Gesellschaft muss im Gefängnis beginnen - das haben litauische Politiker erkannt. Rasavicius spürt allerdings täglich, dass das Gefängnispersonal nicht viel von den Reformen im Strafvollzughält. Er habe das Gefühl, als sei die Zeit im Gefängnis stehengeblieben, meint Rasavicius. "Es herrscht noch immer ein militärischer Drill, wie im Sozialismus. Für die Aufseher stelle ich eine Bedrohung dar." Ständig witterten sie Gefahr, dass es in "lockerer" Atmosphäre zu einem Aufstand kommen könnte. "Den Wärtern wäre es lieber, wenn alles beim Alten geblieben wäre", sagt Romas Rasavicius.
Über das Internet tauscht Rasavicius sich mit seiner Professorin aus. Rita Bandzeviciene hat sich direkt nach der Unabhängigkeit für eine psychologische Betreuung in den litauischen Haftanstalten ausgesprochen. In der Hauptstadt Vilnius hat sie einen Studiengang für Rechtspsychologie aufgebaut. "Im Sozialismus sollten die Gefängnisse nur als Ort der Bestrafung dienen", sagt Rita Bandzeviciene. Deshalb sei das Haftmass immer sehr hoch gewesen, mindes-tens zwei bis drei Jahre ging jeder Verurteilte in den Knast. Theoretisch hätten die Häftlinge dann als bessere Menschen entlassen werden sollen, aber das Gegenteil war der Fall. "Im Knast verrohten sie und wurden unfähig für ein Leben danach." Rita Bandzeviciene hat mit ihrer Arbeit dazu beigetragen, dass jede Haftanstalt heute für 300 Insassen mindestens einen Psychologen einstellen muss. Gleichzeitig setzt sie sich für ein anderes Bewusstsein in der Gesellschaft ein: "Die Gefängnisse waren immer geschlossene Orte, terra inkognita, niemand wusste, was dort passierte", sagt sie. Deshalb halte sie auch Vorlesungen vor Ort im Knast. Sie sind für alle angehenden Psychologen Pflicht.
Romas Razavicius beobachtet, dass der Litauische Staat die Entlassenen häufig alleine lässt. Darum unterstützt er die "Unabhängige Litauische Häftlingshilfe". Mit EU-Mitteln hat dieser Verein ein Bildungszentrum eröffnet: Hier können sich ehemalige Gefangene treffen, einen Computerkurs machen oder sogar Arbeit finden. Der 35-jährige Vitalij wurde vor einem Jahr zum zweiten Mal entlassen und arbeitet jetzt täglich in der Nähwerkstatt. Davon könne er leben. Beim ersten Mal habe er noch geklaut, um Lebensmittel zu kaufen und musste nach drei Monaten wieder zurück in den Knast. "Jetzt habe ich eine Perspektive und kann mir sogar eine eigene Wohnung leisten."