Er ist die schrillen Schlagzeilen zu seiner Person gewohnt. Seit seinen ersten öffentlichen Auftritten als Lyriker und Theaterautor, vor allem natürlich seit dem sensationellen "Blechtrommel"-Erfolg von 1959 gelingt es Günter Grass immer wieder, seine Landsleute in Wallung zu bringen. Fast keinem Streit ist er aus dem Weg gegangen, gleichgültig, ob es um Fragen der Politik, der Gesellschaft oder der Literatur ging. Seit der Adenauer-Ära gibt es kaum ein wichtiges öffentliches Thema, das er nicht mit verbalen Ausrufezeichen versehen hat. Die Restaurationstendenzen der 50er-Jahre hat er mit scharfen Angriffen gegeißelt; Wahlkämpfer für Willy Brandt und die Es-Pe-De ist er gewesen (um die Partei wegen ihrer Haltung zur Asylfrage wütend zu verlassen); als skeptischer Beobachter der sich radikalisierenden 68er erzürnte er die Studentenbewegung; Helmut Kohl und das "dumpfe Einheitsgebot" rissen ihn zu immer neuen Attacken hin; Menschenrechtsverletzungen in der DDR, in der Sowjetunion oder in den vielen anderen Diktaturen dieser Welt stellte er wortmächtig an den Pranger. Ein sich in die öffentlichen Belange einmischender Citoyen ist er, ein Demokrat, der die Demokratie bitter ernst nimmt.
Aber auch sich selbst. Mancher Auftritt geriet Grass so zur nicht unpeinlichen Ein-Mann-Show, zum Selbstdarstellungstrip eines selbstbewussten Schriftstellers, der Andersdenkende nur selten schont. Und sie haben es ihm heimgezahlt. Kaum eine Neuerscheinung des Dichters, die in den deutschen Feuilletons nicht in Grund und Boden gestampft wurde, kaum eine politische Äußerung, die vom konservativen Lager nicht höhnisch mit der "Gutmensch"-Vokabel belegt wurde.
Der Journalist und Literaturwissenschaftler Harro Zimmermann hat dieses Wechselspiel zwischen dem Schriftsteller und seinen kritischen Landsleuten in einer umfangreichen "Chronik eines Verhältnisses" akribisch beschrieben. "Günter Grass unter den Deutschen", so der Titel des Buches, das ist nicht nur ein bedeutendes Kapitel bundesrepublikanischer Kulturgeschichte, sondern auch der Fortsetzungsroman eines nicht enden wollenden Streitgespräches. "Erschrecktes Innehalten vor der Wirklichkeit", heißt es bei Zimmermann, "das Arbeitsprinzip des jungen Künstlers Grass war von Anbeginn an mehr als ein bloß ästhetisches Bekenntnis. Es trat zugleich als ein inszeniertes Imago, als Selbststilisierung eines Nonkonformisten in Erscheinung, der Kunst und Welt, Artistik und Engagement - nach den Vorbildern Camus und Sartre und belehrt durch die "deutsche Unheilsgeschichte" - in desillusionierende Spannung zueinander setzen wollte."
Jetzt hat Grass die deutsche Unheilsgeschichte nach 60 Jahren eingeholt. Sein Bekenntnis, dass er als 17-Jähriger für einige Monate zur Waffen-SS geholt worden war, entpuppt sich als Medienbombe. Wie schon so oft bei diesem Schriftsteller zu beobachten war, erobert er sich durch einen selbstinszenierten Auftritt genau zu dem Zeitpunkt wieder einmal die Schlagzeilen, zu dem ein neues Werk auf den Buchmarkt kommt. Marktschreierisch von einer großen Tageszeitung verbreitet, steht seine in wenigen Tagen erscheinende Autobiografie "Beim Häuten der Zwiebel" im Zentrum der Feuilleton-Berichterstattung. Die wiederum hat kaum noch etwas mit Literatur, aber sehr viel mit den Mechanismen der Medienwelt zu tun.
Der Fakt selbst erschüttert die Glaubwürdigkeit eines Intellektuellen, der ein halbes Jahrhundert brauchte, um diese "Beichte" abzulegen. Kein Täter war er damals, sondern ein pubertärer Mitläufer in den Wochen des totalen Zusammenbruchs. Peinlich aber ist Zeitpunkt und die laute Art, mit der Grass diese Selbstanklage präsentiert. Schlimm ist, dass er vielfach die moralische Haltung vieler seiner prominenten Kollegen oder zahlreicher Politiker im Umgang mit der Vergangenheit kritisiert hat und seine eigene nicht besonders rühmliche Rolle in der Endphase des Dritten Reiches verschwieg, vergaß oder verdrängte.
Zimmermanns Buch ist vor dem jüngsten Grass-Rummel erschienen. Aber möglicherweise macht er es noch wertvoller. Denn will der Leser den Mann, sein Verhältnis zur Geschichte und zu seinen Landsleuten verstehen, dann findet er dieser "Chronik" viele Antworten. Auch nach dem jüngsten Skandalon gilt, was Zimmermann anmerkt: "Wenn es zutrifft, dass der Intellektuelle um seiner öffentlichen Wirkung willen so etwas wie eine Aura besitzen muss, dann ist Günter Grass in besonderer Weise damit ausgestattet. Die Beharrlichkeit und die Wirkung seines jahrzehntelangen Dreinredens macht deutlich, dass die Leistungen dieses Dichters und Denkers vom großen Publikum der Deutschen seit je anders und womöglich wohlwollender wahrgenommen werden als von der jeweils stimmführenden Kulturpublizistik."
Grass bleibt auch nach den Schlagzeilen dieser Tage der bedeutende Dichter vieler guter und einiger sehr guter Bücher. Sein öffentliches "Dreinreden", seine Haltung als Demokrat - Zimmermann belegt dies vielfach - wird deswegen nicht unwahr, weil er als Mensch Schwächen zeigt. In "Mein Jahrhundert" heißt es im Kapitel "1945" mit Blick auf das Grauen von Flucht, Elend und Tod: "Dafür fehlten mir Worte. So lernte ich das Verschweigen."
Harro Zimmermann: Günter Grass unter den Deutschen. Chronik eines Verhältnisses. Steidl Verlag, Göttingen 2006; 688 S., 28 Euro.