Aldous Huxley und George Orwell waren Propheten vor ihrer Zeit. Jahrzehntelang gehörten ihre Bücher "Schöne neue Welt" und "1984", beide in den 30er- und 40er-Jahren des letzten Jahrhunderts erschienen, zur Pflichtlektüre des kritischen Bewusstseins. Ganzen Gymnasiasten-Generationen ist mit den darin beschriebenen Horrorvisionen von einer kalten Kontrollgesellschaft und einem allmächtigen Überwachungsstaat das Gruseln gelehrt worden. Noch in den 1980-er-Jahren hatte eine von den Orwellschen Szenarien aufgeschreckte Alternativbewegung zum Volkszählungsboykott mobil gemacht und die Durchführung der Zählung über das Bundesverfassungsgericht jahrelang verhindert. Die ursprünglichen Fragebögen wiesen derart detaillierte Fragen auf, dass Rück-
schlüsse auf die Identität der Befragten möglich waren. Mehrfache Änderungen sicherten schließlich die erforderliche Anonymität und räumten mit den Befürchtungen der Kritiker auf.
Ob der Datenschutz heute noch ein vergleichbares bürgerliches Engagement entfachen könnte, erscheint fraglich. Seitdem Privatfernsehsender die Überwachung in Exhibitionismus verwandelt haben und aus "Big Brother" eine große mediale Nabelschau geworden ist, sind viele Hemmschwellen und Schamgrenzen gefallen. Vor einem Millionenpublikum aus dem Nähkästchen zu plaudern und dabei allzu Privates öffentlich zu machen, ist zu einer alltäglichen Erfahrung geworden. Das grundgesetzlich verankerte Recht auf Privatsphäre wird von solchen Sendungen mit großer Genugtuung untergraben.
Vergleichbar ist es um die informationelle Selbstbestimmung bestellt, das Recht des Einzelnen, über die Verwendung seiner personenbezogenen Daten selbst zu bestimmen. Wer denkt schon beim Bezahlen mit einer Kundenkarte an die Konsumprofile, die von ihm erstellt und weitergegeben werden können? Wem ist beim Telefonieren oder Schreiben einer E-Mail bewusst, dass seine Kommunikationsdaten bald sechs Monate lang gespeichert werden und gegebenenfalls sowohl Polizei als auch Nachrichtendienste darauf zugreifen dürfen? Und wer hält sich schon vor Augen, dass viele deutsche Innenstädte raumgreifend videoüberwacht und jeder einzelne Schritt der Bürger beschattet werden kann?
Darüber hinaus ermöglichen neue Technologien wie etwa Location-based-Services im Mobilfunkbereich, dass vielfältige Informationen an Handybesitzer gelangen, abhängig davon, wo im Stadtraum sie sich befinden und welche Interessen sie haben. "Lust auf einen Asia-Snack? Das nächste Restaurant befindet sich nach 50 Metern links." So könnten entsprechende Nachrichten lauten, die auf dem Handy landen.
Zu dieser Situation ist es auch nach den Anschlägen auf das New Yorker World Trade Center am 11. September 2001 gekommen. Seitdem geht Sicherheit oft vor Datenschutz. Viele Bürger erachten dies als unumgänglichen Schritt und nehmen die staatlichen Kontrollen, die bisweilen heimlich geschehen und weit über das Ziel hinausschießen, in Kauf. Dass sich dabei die Grenzen unmerklich verschoben haben und ehedem schlecht vorstellbare Eingriffe in die Privatsphäre geschehen, fällt kaum jemandem noch auf.
"Die Überwachungsgesellschaft haben wir definitiv heute noch nicht", sagt Thilo Weichert, Datenschutzbeauftragter des Landes Schleswig-Holstein. "Sie wird zwar technisch immer einfacher möglich, aber ich sehe gleichzeitig auch eine Demokratisierung durch die Informationstechnologien." Nach Weicherts Ansicht verbessern sich mit den Informationstechnologien gleichzeitig auch die Möglichkeiten des Selbstschutzes. Denn es ist nicht so, dass Konsumenten kein gut entwickeltes Gespür für ihre Privatsphäre hätten. "Die Privatsphäre ist keinesfalls verschwunden, sondern das Bewusstsein hat zugenommen", sagt Rena Tangens, die sich beim Bielefelder Verein zur Förderung des öffentlichen bewegten und unbewegten Datenverkehrs (FoeBuD) engagiert. "Viele Leute empfinden einen stillen Ärger, wissen aber nicht, dass man sich erfolgreich wehren kann." Mit den Big-Brother-Awards versucht der FoeBuD jedes Jahr die gröbsten Verstöße gegen den Datenschutz zu küren und konnte beispielsweise bei RFID-Chips, die bald den Barcode auf Produkten ablösen sollen und detaillierte Konsumprofile erlauben, für große Aufmerksamkeit sorgen.
Dennoch ist es ein Paradox: Einerseits wissen die meisten Bürger um die Wichtigkeit des Datenschutzes, andererseits scheren sie sich herzlich wenig darum. Im Internet, wo derzeit die Generation "Web 2.0" für Furore und ein zweites Dotcom-Wunder sorgt, wird so freigiebig mit persönlichen Inhalten umgegangen wie nie zuvor. In Weblogs verbreiten Nutzer ihre intimsten Gedanken, bei Flickr.com stellen sie die passenden Fotos parat, YouTube.com bietet gleich ganze Videostreifen von Amateuren an, und mit MySpace.com ist ein gigantisches digitales Einwohnermeldeamt entstanden mit den freiwilligen, zum Teil sehr detaillierten Angaben von derzeit über 70 Millionen Nutzern. Auf der aktiven Partizipation basieren alle diese Seiten im "Mitmach-Web", dessen prominentes- tes Beispiel das Online-Lexikon Wikipedia ist.
Für den Medienwissenschaftler Norbert Bolz besteht für viele Nutzer die Motivation darin, "die ganze Welt über ihre Existenz zu informieren", wie er in einem Spiegel-Interview kürzlich erklärte. "Früher war Identitätsbildung - vor allem bei Jugendlichen - meist auf die Mode beschränkt. Die jungen Medien bieten ein neues Forum: Exhibitionismus - leichtgemacht. Sie können über die körperliche Beschränkung hinaus Selbstdarstellung betreiben, ein ganz anderes Ich aufbauen." Auch der Medienphilosoph Mike Sandbothe hat bereits vor acht Jahren das Internet "als Ort permanenter Public Relations" beschrieben: "Das Internet funktioniert als eine Form kollektiver Prostitution, die häufig die Veröffentlichung auch des Individuellsten und Intimsten einschließt."
Die Frage freilich, warum Menschen sich derartig veräußerlichen, bleibt weiter offen. Immerhin könnte der Arbeitgeber die intimen Geständnisse im Weblog mitlesen, eine Versicherungsgesellschaft den Meinungsaustausch im Medizin-Forum mit Interesse verfolgen oder die Polizei den Einbruch in ein Einkaufs- zentrum durch Kundendaten aufklären wollen. Ein Grund für die öffentliche Zurschaustellung des Privaten liegt sicherlich in der vermeintlichen Anonymität im Web, die zu größerem Selbstvertrauen verleitet. Durch eine anonyme E-Mail-Adresse und einen Spitznamen wähnen viele sich in Sicherheit und wagen Dinge, die sie als Privatperson nicht sagen oder unternehmen würden. Letztlich jedoch ist jeder über die IP-Adresse seines Internetanschlusses identifizierbar.
Ein weiterer Grund liegt beim Mitmach-Effekt im Mitmach-Web. Wenn alle sich freigiebig präsentieren, fallen auch persönliche Schranken. Im Schutz der ano- nymen Masse herrscht ein Gottvertrauen in die eigene Namenlosigkeit. Der neue Kalvinismus zieht keine Gardinen vor das Fenster, weil es dahinter nichts Schändliches zu verbergen gibt. Er setzt darauf, in der Masse unentdeckt zu bleiben - eine Mimikry-Strategie. Auf diese Weise weiten sich die Grenzen der Privatsphäre allmählich immer mehr aus. Zur allgemeinen Sorglosigkeit und zur Unbeliebtheit von Datenschutzmaßnahmen trägt auch deren Kompliziertheit bei. Wer wissen will, welche Behörde welche Informationen gespeichert hat oder was sich auf der geplanten Gesundheitskarte alles befindet, muss selbst aktiv werden. E-Mails zu verschlüsseln - so wie man Briefe in ein Kuvert steckt - setzt zusätzliche Kryptografie-Software voraus. Anonym im Internet zu surfen und dabei keine Datenspur zu hinterlassen, basiert ebenfalls auf spezieller Software. Solange sie allerdings nicht standardmäßig im Betriebssystem oder E-Mail-Programm integriert ist, wird Anonymität im Internet wohl kein Massenphänomen werden. "Datenschutz wird als etwas Bürokratisches erlebt und als Behinderung angesehen", sagt Rena Tangens, "tatsächlich schützt er aber die Persönlichkeitsrechte."
Vor einiger Zeit hatte der amerikanische Juraprofessor Lawrence Lessig die Frage aufgeworfen, ob Privat-sphäre zum Eigentum und damit zum Handelsgut wird. Eine aktuelle Studie über Privatsphäre im Mobilfunk an der Europa-Universität Viadrina in Frankfurt/ Oder bestätigt diese Befürchtung: Obwohl die Befragten sich ihrer Privatsphäre beim Telefonieren bewusst sind, war knapp ein Viertel zugunsten von Gebührenerlässen bereit, persönliche Konsumangaben zu machen. Daraus schloss die Studie auf ein "Muster der Freigabe von Konsumgewohnheiten".
Der Autor arbeitet als freier Journalist in Berlin.