An einem frühen Morgen im September 2005 stieg Deborah Davis in den Bus und bekam zum ersten Mal im Leben Ärger mit der Polizei. Die 50-jährige Hausfrau und Mutter wunderte sich sehr, als der Bus auf halbem Weg angehalten wurde. Ein privater Wachmann betrat die Passagierkabine und fragte alle Insassen nach ihren Ausweisen. Das sei ein Routinecheck aus Anti-Terror-Gründen, hieß es etwas vage. (In der Mitte von Denver in Colorado, wo sich diese Geschichte ereignete, wirkt so etwas zudem unwahrscheinlich.) Deborah Davis aber wusste: Gemäß der amerikanischen Verfassung braucht kein Amerikaner ohne triftigen Grund seine Papiere zu zeigen. "Ich lebe doch nicht in einem Polizeistaat oder im kommunistischen Russland", sagte sie.
An diesem Morgen half ihr das freilich nichts. Der Sicherheitsmann rief die Bundespolizei zur Hilfe, Deborah Davis wurde von zwei Beamten in Handschellen gelegt und aus dem Bus geschleift. Auf der Wache erfassten sie ihre Daten, sie wurde angezeigt und erst nach Stunden wieder freigelassen.
In Deutschland würde die Aufforderung, einem Beamten seine Papiere zu zeigen, nicht weiter unangenehm aufgestoßen. In Amerika ist das anders. Tatsächlich ist es in der Verfassung verankert, dass Grenzkontrollen und eine Ausweispflicht innerhalb der Staaten nicht stattzufinden haben - im Prinzip zumindest. In der Praxis ist diese Regel längst an Flughäfen und in vielen privaten Einrichtungen aufgeweicht, aber im Staatsverständnis vieler Amerikaner spielt sie nach wie vor eine wichtige Rolle. Es geht um das Recht, sein eigenes Leben zu leben; so weit wie möglich unbehelligt von der Überwachung eines Staates, dem man in den USA ohnehin misstrauischer gegenübersteht als anderswo auf der Welt.
Der Cowboy und Rancher Larry Hiibel stieg 2004 in libertären Kreisen zu einem Volkshelden auf, als er nach Washington vor das oberste Gericht zog, um seine eigenen Rechte in dieser Frage durchzusetzen. Ein Polizeibeamter hatte ihn am Straßenrand um seinen Ausweis gebeten, und Hiibel hatte ähnlich wie Deborah Davis abgelehnt.
Freilich: Der Volksheld Hiibel unterlag damals vor dem obersten Gericht. Viele juristische Kommentatoren überraschte das, die politischen Beobachter waren weniger schockiert. Denn Verfassung hin oder her, unter George W. Bush hat sich Amerikas Umgang mit der Privatsphäre grundlegend gewandelt.
Natürlich waren die Terroranschläge vom 11. September 2001 der Auslöser. Polizisten sind seither wachsamer und reizbarer geworden, Richter helfen ihnen mit schärferen Urteilen. Ein großer Teil des Regierungsapparates ist mit Milliardenkosten umgebaut worden, um besser Daten sammeln und auswerten zu können als je zuvor. 45 Tage nach den Anschlägen hatte Bushs damaliger Generalstaatsanwalt John Ashcroft im Kongress eine Wunschliste der Geheimdienste und Polizeibehörden durchgepeitscht, von zusätzlichen Abhörrechten für Telefone und das Internet bis hin zu unangemeldeten Hausdurchsuchungen. Wünsche, die der Kongress in den Jahren zuvor immer wieder abgelehnt hatte. Diesmal stimmten die Abgeordneten mit großer Mehrheit zu. "Wer friedliebende Leute mit dem Gespenst verlorener Freiheiten erschrecken will, dem sage ich: Ihre Taktiken helfen nur den Terroris- ten", erklärte Ashcroft damals.
Ein weiteres Jahr später entstand das "Department of Homeland Security", das sich als Ministerium für Heimatsicherheit übersetzen lässt und die Aufgaben etlicher verstreuter Sicherheitsbehörden unter einem Dach vereint. Datensammeln gehört zu seinen Kernkompetenzen: Informationen aus "mehr als 35 Agenturen" fließen dort zusammen und werden mit neuartigen Computersystemen nach möglichen Anzeichen für Terror ausgewertet. Der CIA ist genauso dabei wie Post, die Küstenwache und die Drogenfahndung, das Transportministerium und viele Geheimdienst- und Polizeibehörden. Das Wirtschaftsministerium liefert Informationen über weltweite Finanzströme, das Gesundheitsministerium eine elektronische Liste aller gemeldeten Arbeitskräfte in den USA. Die Einreisebehörde liefert jene Fotos und Fingerabdrücke, die heutzutage vielen Ausländern bei der Einreise abgenommen werden.
Ein frühes Programm zur Auswertung all dieser Datenströme war im Amt für Heimatsicherheit etwas unheimlich "Total Information Awareness" genannt worden - die totale Übersicht über alle Informationen - und wird heute in kleineren Programmen mit Titeln wie "The Matrix" weiterentwickelt. "Längst gibt es keine technischen Barrieren mehr vor einer Überwachungsgesellschaft nach Art des Großen Bruders von George Orwell", sagt der US-Sicherheitsexperte Barry Steinhardt.
Was tatsächlich mit all dieser neuen Technik gesammelt wird, und wie der Staat diese Informationen nutzt, bleibt freilich in vielen Fällen schleierhaft. Mitte Juli stand das Weiße Haus gerade wieder unter Beschuss wegen eines solchen Programmes: Der US-Senat - pikanterweise angeführt von Bushs republikanischem Parteifreund Arlen Specter - fordert zusätzliche Details über ein vom Präsidenten angeordnetes Abhörprogramm des technischen Geheimdienstes NSA. In diesem Programm waren offenbar systematisch Anrufe unbescholtener US-Bürger ausgewertet worden, ganz ohne richterlichen Durchsuchungsbefehl. Zugleich verklagte die Bürgerrechtsorganisation American Civil Liberties Union (ACLU) die NSA selber, und die kalifornische Electronic Frontier Foundation (EFF) verklagte Telekomfirmen, die für dieses Abhörprogramm angeblich die Daten ihrer Kunden an den Geheimdienst weitergegeben hatten.
Es war der jüngste Versuch in einer langen Liste von Anläufen, mehr über die Datensammelwut Washingtons zu erfahren. Zuvor hatte es schon Untersuchungsausschüsse über staatliches Bespitzeln im Internet oder etwa das Sammeln von Daten über Flugpassagiere in aller Welt gegeben. Das Problem ist stets, dass nicht viel dabei herauskommt: Mehrfach vermied das Weiße Haus öffentliche Auskünfte unter Berufung auf die "nationale Sicherheit".
Wie gut das Sammeln und Abgleichen von Daten in Amerika inzwischen funktioniert, ist also vielleicht am besten an Anekdoten zu erkennen: etwa am Fall von Issah Samori, einem 60-jährigen Taxifahrer aus Chicago, der seine Frau bei einem Besuch zu der Einwanderungsbehörde begleitete. Der Sicherheitsbeamte an der Tür schaute sich auch seinen Pass an, gab die Nummer in einen Computer ein und entdeckte, dass Samori wegen einer Geschwindigkeitsübertretung im Bundesstaat Indiana gesucht wurde. Samori verbrachte die Nacht in einer Zelle.
Der Vergleich mit dem "Großen Bruder" ist in solchen Momenten besonders verständlich. Eines ist in Bushs Amerika freilich ganz anders als in Orwells Fantasiewelt Ozeania: Die fruchtbarste Anwendung für all die Überwachungstechnik haben bislang nicht die staatlichen Aufseher gefunden, sondern die Geschäftsleute. Die Betreiber von Warenhäusern, Schulen, Sportstätten und Sozialwohnungen setzen Überwachungskameras heute routinemäßig ein und werten nach Kräften die Daten aus Kreditkarteneinkäufen und dem Gebrauch eigener Kundenkarten aus. Als ein kalifornischer Shopper namens Robert Rivera vor einiger Zeit im Vons-Supermarkt auf einer Joghurtlache ausrutschte, wollte er den Markt wegen seiner gebrochenen Kniescheibe verklagen. Nach Auskunft seines Anwalts konterte der Supermarkt: Die Kaufgeschichte von Herrn Rivera deute darauf hin, dass der Mann Alkoholiker sei. Das werde man vor Gericht verwenden.
Im Einzelnen mag es trivial erscheinen, was sich in solchen privaten Datenbanken findet: Pizzalieferanten und Taxigesellschaften lesen häufig gleich von ihrem Telefon die Nummer des Anrufers ab, kennen die passenden Namen ihrer Kunden samt Adressen, auch wenn diese aus Datenschutzgründen in keinem Telefonbuch eingetragen sind. Mobiltelefonbetreiber können die Aufenthaltsorte ihrer Nutzer nachvollziehen - und einige haben begonnen, ihnen gezielte Nachrichten, Informationen und Werbung bereitzustellen. Webseiten halten fest, was Konsumenten kaufen oder sich nur anschauen. Banken und Finanzinstitute sammeln Details über die finanziellen Verhältnisse ihrer Kunden. Wer freilich mehrere solcher Datenbanken über die gleiche Person zu Rate zieht, kann erschreckend komplette Dossiers über sie erhalten: über Lebensgewohnheiten, Interessen und Vorlieben, Lebensstile, persönliche Probleme und sexuellen Orientierungen, politische Neigungen, finanzielle Verhältnisse, Familienstand und so weiter. "How to Get Anything on Anybody", lautet in den USA eine Bibel für Privatdetektive, deren Autor Lee Lapin Schritt für Schritt durch die Nutzung solcher Quellen führt. Etliche Agenturen bieten solche Dienste inzwischen im Internet an: Man gibt ihnen einen Namen, eine Telefonnummer oder ein Auto-Nummernschild und zurück kommt eine Lebensgeschichte. Gesetzlichen Schutz gibt es in den Vereinigten Staaten quasi nicht dagegen.
So bestand eine der wichtigsten Veränderungen für viele Behörden (etwa die CIA) darin, dass nach dem 11. September 2001 Schranken zwischen bislang separat geführten Datenbanken fielen. Vor allem wurde der Zugriff amtlicher Stellen auf private Datenbanken erheblich erleichtert. Datenbanken von Supermärkten zum Beispiel dürfen ganz ohne Durchsuchungsbefehl ausgewertet werden, und die eifrigen kommerziellen Marketingexperten und Datensammler werden gewollt oder ungewollt zu Instrumenten der staatlichen Überwachung. In einigen Fällen ist es Firmen nun untersagt, ihre Kunden zu informieren, wenn sich Gesetzeshüter nach ihnen erkundigen.
So ist es fast schon eine Ausnahme, welches Ende die Geschichte von Deborah Davis und ihrer ungewöhnlichen Busfahrt fand: Anwälte der ACLU und anderer Bürgerrechtsorganisationen nahmen sich des Falles an und der Staatsanwalt von Denver zog im Dezember seine Anklage zurück. Bei ihrer nächsten Busfahrt zur Arbeit bestieg freilich wieder ein Sicherheitsmann den Bus von Davis und fragte nach Papieren.
Der Autor ist Korrespondent der "Zeit" in New York.