Der "Erweiterungsschock" vom Mai 2004, als auf einen Schlag zehn neue Mitgliedstaaten in die EU aufgenommen wurden, scheint über-wunden. Zu diesem Schluss kommt eine Untersuchung des European-Instituts (EACS), die ihr Vorsitzender Mario Monti vergangene Woche in Straßburg vorstellte. Die Zuwanderungszahlen und Wirtschaftsdaten zeigen, dass der befürchtete Ansturm von Arbeitssuchenden auf die alten EU-Länder ausgeblieben ist und dass Länder ohne Beschränkungen für den Arbeitsmarkt davon wirtschaftliche Vorteile haben. "Migranten sind normalerweise jung (18 bis 35 Jahre), haben einen Gymnasial- oder Universitätsabschluss, arbeiten aber meist in Branchen, für die sie überqualifiziert sind. Als Saisonarbeiter füllen sie oftmals Lücken aus und bedeuten dadurch keine Konkurrenz für die anderen Arbeitnehmer", fasst die Studie zusammen. Deutschland und Österreich wollen die Zuzugsbeschränkungen in vollem Umfang bis 2009 aufrecht erhalten. In Belgien, Luxemburg und Frankreich gelten sie hingegen in abgeschwächter Form. ECAS rät hingegen, die Beschränkungen aufzuheben: "Sie schaffen eine künstliche Trennung zwischen alten und neuen Mitgliedstaaten und schüren Misstrauen und Vorurteile." Stattdessen sollten die Bürger darüber aufgeklärt werden, dass im gemeinsamen Markt freie Wohnort- und Berufswahl der Regelfall sein sollte. Die wirtschaftlichen Vorteile einer solchen Regelung sollten mehr herausgestellt werden. Auch die neuen Mitgliedstaaten werden in die Pflicht genommen: Sie müssten ihre Bürger besser auf die Herausforderungen vorbereiten, die bei der Arbeitsuche im Ausland auf sie zukommen. In Bezug auf Bulgarien und Rumänien, die der EU voraussichtlich zum 1. Januar 2007 beitreten werden, rät die Studie zu mehr Gelassenheit. Zunächst solle der Effekt auf den Arbeitsmarkt beobachtet werden. Erst wenn sich ein Überangebot an Arbeitskräften abzeichne, sollte ein Land Quoten und andere Beschränkungen einführen.
Entsprechende Bedenken versuchte auch der bulgarische Premierminister Sergej Stanishev bei seinem Besuch in Straßburg auszuräumen. Dort traf er mit dem Präsidenten des Europaparlaments Josep Borrell zusammen. Er sei zuversichtlich, dass sein Land die Beitrittskriterien vollständig erfüllen werde. Gleichzeitig warnte er jedoch: "Eine Verschiebung des Beitritts würde von vielen Bulgaren als Zurückweisung betrachtet - die Glaubwürdigkeit der Union würde leiden", so Stanishev.
Am 26. September wird die EU-Kommission in einem Sonderbericht entscheiden, ob sie den Beitritt beider Länder zum 1. Januar 2007 empfehlen kann. Andernfalls würde er um ein Jahr verschoben. Es wird vermutet, dass Erweiterungskommissar Olli Rehn sich für das frühere Datum aussprechen wird. In Kommissionskreisen heißt es, die Entwicklung in Bulgarien in Bezug auf Korruption und Kampf gegen das organisierte Verbrechen sei zwar enttäuschend. Nach einem Beitritt könne Brüssel aber mehr Druck und stärkeren Einfluss dadurch ausüben, dass dem Land zusätzliche Auflagen gemacht und bestimmte Rechte zeitweise ausgesetzt werden. Würde der Beitritt ein weiteres Mal verschoben, könne das im Land noch mehr Lähmung und Stagnation bewirken. Deutlich ungünstiger sind die Prognosen für den weiteren Verlauf der Beitrittsverhandlungen mit der Türkei. Am 4. September sprach sich der Auswärtige Ausschuss des Europaparlaments mit großer Mehrheit für einen Bericht aus, der die Entwicklung überaus kritisch einschätzt. Bis spätestens Ende 2006 müsse das Ankara-Protokoll, das die Zusammenarbeit zwischen der Türkei und der griechischen Republik Zypern regelt, umgesetzt sein. Bis Ende 2007 sollten rechtsstaatliche Grundlagen wie Meinungsfreiheit und Gleichberechtigung für religiöse Minderheiten gewährleistet sein. Andernfalls, so die Forderung des Europaparlaments, müssten die Verhandlungen mit Ankara gestoppt werden.
Der zuständige niederländische Berichterstatter Camiel Eurlings von der konservativen Fraktion gestand letzte Woche, er sehe seinen eigenen Bericht mit gemischten Gefühlen. Zwar freue er sich über die große Zustimmung im Ausschuss. "Aber ich hätte viel lieber einen positiven Bericht geschrieben, der gegenseitiges Vertrauen schafft, weil Zusagen umgesetzt werden." Im Dezember 2004 habe man sich für Verhandlungen entschieden, obwohl längst nicht alle politischen Voraussetzungen erfüllt waren. Damit wollte die EU die außerordentlichen Reformleistungen der Jahre 2002 bis 2004 würdigen. "Aber jetzt hat sich die Entwicklung enttäuschend verlangsamt."
Eurlings verwies auf mehrere Paragrafen im neuen Strafgesetzbuch, die dazu missbraucht werden könnten, um Menschen mundtot zu machen. Der Fall des Schriftstellers Orhan Parmuk sei nicht der einzige. Das Strafgesetzbuch müsse nochmals überarbeitet werden. Auch religiöse Minderheiten seien nach wie vor benachteiligt. Religiöse Gemeinschaften würden enteignet, Priesterausbildung sei nicht möglich, Missionare würden diskriminiert und beleidigt - sogar aus Regierungskreisen. Eine Analyse der Brüsseler Denkfabrik "Freunde Europas", die den Konservativen nahe-steht, sagt für den Herbst einen Eklat in den Verhandlungen zwischen der EU und der Türkei voraus. Auf beiden Seiten wachse die Überzeugung, dass es der Partner mit seinen Zusicherungen nicht ernst meine. An der verfahrenen Situation trage die EU eine Mit-schuld. Sie hätte Zypern erst aufnehmen dürfen, wenn für die geteilte Insel eine befriedigende Lösung gefunden worden wäre. Der grüne Abgeordnete Cem Özdemir warnte vor den Folgen gescheiterter Verhandlungen. Die Union sei dabei, einen riesigen strategischen Fehler zu machen. Sein konservativer Kollege Hartmut Nassauer forderte hingegen, die Gespräche zu stoppen, wenn Ankara seine Verpflichtungen gegenüber Zypern bis zum Jahresende nicht erfülle. Die "Freunde Europas" warnen hingegen, dass bei einem Scheitern, letztlich beide Seiten verlieren würden.