Tatsächlich hatte Schröder das Gremium damals mit dem Verweis eingerichtet, er lehne „ideologische Scheuklappen“ ab – insbesondere bei der Diskussion um die Gentechnik. Eine Aussage, die wohl auf die Enquete-Kommission für „Recht und Ethik in der modernenen Medizin“ gemünzt war, die sich anders als Schröder gegen einen Import embryonaler Stammzellen ausgesprochen hatte. Dem Ethikrat, dessen 23 Mitglieder das Kanzleramt bestimmte, hing deshalb seit seiner Gründung das Etikett an, ein willfähriges „Akzeptanzbeschaffungsgremium“ des Kanzlers zu sein. Selbst SPD-Mitglieder hegten immer wieder Zweifel an der Unabhängigkeit des Rats und sprachen sich dafür aus, das Gremium besser beim Bundespräsidenten oder beim Bundestag anzusiedeln.
Kritik ertönte auch aus den Reihen der Enquete-Kommission, die dem Ethikrat, der sich selbst immer als unabhängig bezeichnete, ebenfalls die parlamentarische Legitimation absprach. Die Gremien befanden sich seit der Gründung des Ethikrats als „nationales Forum des Dialogs über ehtische Fragen in den Lebenswissenschaften“ in einem unausgesprochenen Wettkampf um die Vorherrschaft in der Deutung der „nationalen Ehtik“. Beide Organe verfassten in den vergangenen Jahren Stellungnahmen zu ehtisch brisanten Themenbereichen wie dem therapeutischen Klonen, der Stammzellforschung, der Sterbehilfe oder der Präimplantationsdiagnostik – und beide wurden immer wieder von Politik und Wissenschaft für ihre differenzierten und ausgewogenen Veröffentlichungen gelobt.
Nun, fünf Jahre nach Beginn des Streits, scheinen die Fronten vertauscht. Die CDU, die noch vor der Wahl angekündigt hatte, den Ethikrat abschaffen zu wollen und in ihm eine „Gefährdung der Gewaltenteilung“, so Friedrich Merz, gesehen hatte, unterstützt den Gesetzentwurf ( 16/2856 ) von Bildungsministerin Annette Schavan (CDU), der den Nationalen zum Deutschen Ethikrat machen und ihm eine gesetzliche Grundlage geben will. Der Bündnispartner SPD und die Oppositionsfraktionen machen nun das, was die Union wiederum vor der Wahl getan hat: Sie bemängeln die unzureichende Einbeziehung des Parlaments in den bioethischen Diskurs – denn der Entwurf sieht weiterhin vor, dass dem Gremium nur Experten, aber keine Abgeordneten angehören sollen.
Die Feststellung Schavans, der Rat suchende Bundestag könne nicht sein eigener Berater sein, können insbesondere die Grünen nicht nachvollziehen. Mit der gleichen Logik, so ihr Bioethik-Experte Reinhard Loske in der Debatte zum Gesetzentwurf am 9. November, könne man auch die Enquete-Kommissionen und die Bundestagsausschüsse abschaffen. Angesichts der Tatsache, dass sowohl Annette Schavan als auch Angela Merkel Mitglieder im Innovationsrat seien, der die Regierung beraten soll, falle Schavans Argumentation „zusammen wie ein Kartenhaus“. Kritik an Schavan übte auch die Vorsitzende des Bildungsausschusses Ulla Burchardt (SPD): Die Ministerin wolle die Abgeordenten bewusst nicht beteiligen und pflege damit „populistisch antiparlamentarische Ressentiments“. Die Regierung übe Druck auf die CDU-Fraktion aus, um eine Entscheidung zu dem Entwurf „schnell zu exekutieren“. Norbert Lammert, der nicht in seiner Eigenschaft als Bundestagspräsident, sondern als CDU-Abgeordneter das Wort ergriff, warb für einen Kompromiss. Der Entwurf sei eine Grundlage, die nach Änderungen die Zustimmung aller Fraktionen finden könne. Vorschlägen der Linksfraktion und der Bündnisgrünen, ein Ethik-Komitee als „dauerhafte Beratungseinrichtung“ des Bundestags zu installieren, lehnte Lammert allerdings ab: Damit werde das Instrument der Enquete-Kommissionen „verbraucht“.
Alle drei Oppositionsfraktionen hatten eigene Anträge ( 16/3199 , 16/3277 , 16/3289 ) eingebracht, die mit dem Gesetzentwurf an den Bildungsausschuss überwiesen wurden: Während Linke und Grüne das Modell eines Komitees präferieren, das aus Abgeordneten und Sachverständigen zusammengesetzt werden soll, befürworten die Liberalen einen Parlamentarischen Beirat, der parallel zum Deutschen Ethikrat „über die Grenzen der Ausschüsse hinweg“ die bio- und medizinethische Diskussion vorantreiben könnte. Der FDP-Bildungspolitiker Uwe Barth bezeichnete in der Debatte den Rat als „Instrument der modernen Politikberatung“, in dem die Mitarbeit von Abgeordneten „nicht sinnvoll“ wäre. Sie könnten an der Diskussion im Beirat mitwirken. So werde eine „klare Trennung zwischen Politikberatung und Entscheidungsfindung“ erreicht.
Der Nationale Ethikrat verfolgt die Diskussion der Parlamentarier mit Interesse. Man habe sich ohne ein Gesetz zum Ethikrat „nie gehandicapt gefühlt“, so die Vorsitzende des Rats, Kristiane Weber-Hassemer zu „Das Parlament“. Für die längerfristige Entwicklung sei eine gesetzliche Grundlage aber sicher sinnvoll: „Sie gibt ja eine gewisse Bestandssicherheit.“ Die Diskussion um die bisherige Legitimität des Nationalen Ethikrates hält Weber-Hassemer für „missverständlich“. „Der Ethikrat sollte nicht in die Rechte des Parlaments eingreifen oder vorschreiben, was wer zu denken hat.“ Er sei beratendes Gremium, das sowohl den interdisziplinären Diskurs befördere als auch der Öffentlichkeit bestimmte Problemstellungen vermittle und Regierung und Parlament berate. International sei es unüblich, dass Abgeordnete einem Ethikrat angehörten. „Das liegt an der gewollten Trennung von Beratung und Entscheidung. Etwas überspitzt: Das Parlament ist der Ort der Entscheidung, das Gremium das des Diskurses.“ Der Expertenrat gehöre gerade nicht dem politischen System an: „Der springende Punkt ist seine Unabhängigkeit.“
Jörg Tauss, SPD-Bildungsexperte, teilt diese Ansicht nicht: Keinesfalls dürfe das Gremium, das über so wichtige ehtische Fragen berate, zu einer „freischwebenden Plattform für akademische Diskurse“ werden. Annette Schavan wirbt damit, der Deutsche Ethikrat werde Parlament und Regierung unabhängig und „in voller Souveränität“ gegenüber stehen. Die ehtische Urteilsbildung werde er den Abgeordneten nicht abnehmen: Dies sei das „Königsrecht“ des Parlaments. In diesem und anderen Rechten sieht sich die Opposition aber mit dem Entwurf beschnitten. Dem Rat sollen 24 Mitglieder angehören, die Bundestag und Regierung je zur Hälfte auswählen. Damit sichere sich die Regierung eine doppelte Mehrheit, so Loske: Aufgrund der Mehrheitsverhältnisse im Bundestag würden Union und SPD so 21 der Mitglieder auswählen. In ihrer Argumentation für ein Ethik-Komitee wissen die Grünen den Bundespräsidenten auf ihrer Seite: Horst Köhler stellte kürzlich fest, Verfassungsorgane sollten die Institutionen, die sie zur Erfüllung ihrer Aufgaben benötigen, „grundsätzlich selber einrichten und berufen“.