Wenn heute aufgeregt über den Produktionsstandort Deutschland debattiert wird, fehlt die historische Tiefenschärfe. Es wird so getan, als stünde das Land vor einer nie dagewesenen Krise. Der Blick in die Geschichte aber zeigt, dass derlei Untergangsprophezeiungen schon immer üblich waren - und dass das Angekündigte dann selten eintraf.
Die in den 1870er-Jahren unter anderem von Reuleaux befeuerte Debatte hatte durchaus tiefgreifende Konsequenzen für das deutsche Produktionssystem. Später jedoch wurden gerne Schreckensbilder gezeichnet, um letztlich Einzelinteressen durchzusetzen. Vom befürchteten Niedergang der deutschen Landwirtschaft durch die russische Konkurrenz beispielsweise, die man 1880 als Folge des Ende der Leibeigenschaft in Russland und des Eisenbahnbaus dort kommen sah, war auch Jahrzehnte später nichts zu spüren. Die Gründe dafür waren vielfältig und reichten vom deutschen Schutzzoll hin zum in Russland einsetzenden Arbeitskräftemangel durch Landflucht. Wie sich zeigte, waren nicht die Produktionsbedingungen im Ausland oder Inland sondern eher Schwankungen von Konjunktur und Erntemengen Anlass für die Furcht vor der ausländischen Konkurrenz. Dennoch vermochten die Interessengruppen der deutschen Agrarwirtschaft die bedrohliche Stimmung für sich zu nutzen.
Umgekehrt fand hier und da der Wandel des Wirtschaftsstandorts Deutschland ganz ohne Debatte statt. Der bereits in den 1950er-Jahren einsetzende Strukturwandel, der sich etwa am schleichenden Verschwinden der Textilindustrie festmachen ließ, führte damals verblüffenderweise nicht zu großen Diskussionen. Erst in den 1980er-Jahren erlebten die Standortdebatten wieder einen Aufschwung - und das, obwohl aus heutiger Sicht die Situation Deutschlands vor der Vereinigung in vergleichsweise goldenem Licht erscheint. 1982 zählte "Talfahrt der Wirtschaft" zu den Wörtern des Jahres.
Bei all diesen Debatten bleibt zu klären, wieso sich trotz des zunehmenden Globalisierungsdrucks weiterhin die dynamischsten Industriezweige an global nur wenigen Standorten ansiedeln? Wie können also die durchaus langfristigen Erfolge des deutschen Maschinen- und Fahrzeugbaus, der chemischen Industrie und anderer erklärt werden? Dafür lassen sich drei Erklärungen anführen: Erstens die Existenz historisch gewachsener regionaler Produktionsnetzwerke, zweitens der jeweilige institutionelle Rahmen aus formellen und informellen Regeln des Wirtschaftslebens, drittens die Handelstheorie David Ricardos, der zu den bedeutendsten englischen Ökonomen des 19. Jahrhunderts zählt.
Die Produktionsnetzwerke: Heute haben die führenden Ökonomien die Phase hinter sich gelassen, in der die Verfügbarkeit von Rohstoffen, von zinsgünstigem Kapital oder von Infrastruktur wie etwa Verkehrswegen entscheidend war. Sie befinden sich nun in der vom Faktor Innovation angetriebenen Phase, in der die Verfügbarkeit von Wissen und die Existenz hochspezialisierter Produktionsfaktoren unverzichtbar sind - und diese organisieren sich in Netzwerken auf regionaler Ebene. Baden-Württemberg und Ober-Italien sind Beispiele hierfür. Die in der Standortdebatte gern thematisierten Lohnkosten sind in diesen Regionen recht hoch, dennoch sind sie erfolgreich. Denn das Zusammenspiel spezialisierter Dienstleistungen und qualifizierter Arbeitskräfte, von Vertrauen und einem passenden institutionellen Rahmen macht diese Regionen zu Wachstumszentren.
Die Ursprünge solcher Netzwerke bildeten sich in Deutschland bereits im Kaiserreich aus. Damals beherrschte die hiesige chemische Industrie den Weltmarkt - etwa dank eines gut geschulten Nachwuchses an Chemikern und dank des institutionellen Rahmens, der ein sehr innovatives Patentgesetz umfasste. Gleichzeitig ist die chemische Industrie mit ihren Forschungseinrichtungen ein erstes Beispiel für die neue verwissenschaftlichte Produktion. Die "Ehe von Wirtschaft und Wissenschaft", sagte der mit dem Nobelpreis für Ökonomie ausgezeichnete Douglas North, sei der bedeutendste Durchbruch der Wirtschaftsgeschichte seit der Einführung von Ackerbau und Viehzucht in der Steinzeit. Bemerkenswerterweise hat sich mit der BASF gerade jenes deutsche Chemieunternehmen als Weltmarktführer behaupten können, das am stärksten an seinen Wurzeln festhielt.
Der institutionelle Rahmen der deutschen Wirtschaft hat seine Ursprünge im späten 19. Jahrhundert, als Globalisierung und wissensbasierte Produktion dominant wurden. Als Franz Reuleaux von der Weltausstellung in Philadelphia aus den Anstoß gab zum Aufbau eines Patentwesens, zu einer verbesserten Ausbildung der Arbeitskräfte, zu höheren Standards der Produktqualität und zu Schutzzöllen, sahen Teile der Industrie ihn als Nestbeschmutzer.
Das ist kaum verwunderlich, da damals nicht wenige Unternehmen nur Plagiate produzierten. Anderen aber half die von Reuleaux betriebene Standortdebatte, etwa dem Erfinder und Unternehmer Werner Siemens. Die Institutionen des seit 1806 vom Staat vorangetriebenen Liberalismus hatten ausgedient. Liberale Errungenschaften wie die Gewerbefreiheit oder die Beseitigung von Zöllen waren zwar zuvor von großer Wirkung für die ökonomische Entwicklung - aber auf die Auswirkungen der Weltwirtschaftskrise von 1873 vermochte diese Politik keine Antworten mehr zu geben. Es folgte der gründlichste Umbau des deutschen Produktionsregimes der letzten 150 Jahre.
Damals wurden die Grundlagen der korporativen Marktwirtschaft gelegt, die die Spielregeln für die deutsche Wirtschaft bis heute prägen. Unternehmer und Beschäftigte schufen sich jeweils Organisationen zur Interessenvertretung. Die Einführung des dualen Ausbildungssystems aus Berufsschule und betrieblicher Praxis oder auch die Mitbestimmung von Arbeitnehmern im Betrieb Ende des 19. Jahrhunderts waren einer höheren gesamtwirtschaftlichen Effizienz dienlich. Charakteristisch für die deutsche Wirtschaft ist seitdem ihre langfristige Orientierung. Dies lässt sich sowohl in Bezug auf die Finanzierung als auch im Umgang mit Mitarbeitern zeigen. Durch die gewachsene enge Vernetzung von Hausbanken und Industrieunternehmen besaßen die Bankvertreter ein tiefes Wissen über Situation und Glaubwürdigkeit von Unternehmen. Auf diese Weise konnte die Industrie abseits der Börse auf Mittel für langfristige Investitionen zurückgreifen, die sonst kaum zu erhalten gewesen wären. Für die Beziehungen zwischen Arbeitgebern und Arbeitnehmern besteht im System der Qualitätsproduktion ebenfalls ein beidseitiger Anreiz, die Beziehungen langfristig anzulegen statt auf Heuern und Feuern zu setzen. Wer als Arbeitgeber seine Beschäftigten lange hält, der reduziert die Kosten für das immer wieder neue Anlernen neuer Arbeitskräfte. Zudem stärkt die Verlässlichkeit der Beziehung die Identifikation der Arbeitnehmer mit den Unternehmenszielen und damit ihre Motivation. Für die Arbeitnehmer werden durch dauerhafte Beschäftigungsverhältnisse Anreize erzeugt, eine spezialisierte Ausbildung zu erwerben. Dadurch lässt sich die Produktivität der Arbeit immens steigern.
In der aktuellen Standortdebatte wird die Ursache für Innovationsschwäche und Massenarbeitslosigkeit in eben jenem institutionellen Rahmen der Wirtschaft vermutet. Koordination der Interessen und Langfristigkeit der Beziehungen scheinen unzeitgemäß. Als Vergleich wird dabei gerne das amerikanische Modell angeführt. Vergessen wird hier aber der Abgesang auf das amerikanische Produktionsregime, der Ende der 1980er-Jahre angestimmt wurde. Seitdem hat die amerikanische Wirtschaft einen damals kaum für möglich gehaltenen Aufschwung erlebt.
Überaus bemerkenswert ist dabei, wie der Wirtschaftshistoriker Werner Abelshauser darlegte, dass sich die institutionelle Verfassung des deutschen und amerikanischen Produktionsregimes in den letzten 120 Jahren voneinander weg bewegten, statt in einer "besten Praxis" zusammenzulaufen. Während das amerikanische Wirtschaftssystem auf eine Vielzahl unqualifizierter Arbeitskräfte und eine starke Binnennachfrage bauen konnte, bestand in Deutschland ein großes Angebot qualifizierter Arbeiter, mit dem sich eine Qualitätsproduktion aufbauen ließ. Seither blieb Deregulierung kennzeichnend für den amerikanischen Arbeitsmarkts, während in Deutschland kollektive Lohnabschlüsse vorherrschen.
Der Grund für den Fortbestand dieser verschiedenen Formen des Kapitalismus ist in den komparativen institutionellen Kostenvorteilen zu sehen. Laut der Theorie David Ricardos können Handelspartner durch Spezialisierung wechselseitig Produktion und Einkommen steigern. Folgt man einer Studie des Fraunhofer-Instituts, so erscheinen die beiden Ökonomien der USA und Deutschlands heute als geradezu komplementär. Sie ergänzen sich wechselseitig. Daraus folgen für beide Systeme unterschiedliche Konsequenzen aus der Globalisierung. Die chinesische und indische Herausforderung - kostengünstige Massenproduktion - besteht in wesentlich größerem Maß für amerikanische als deutsche Industrien. Traditionell deutsche Qualitätsbranchen wie der Maschinenbau profitieren sogar von der gestiegenen Nachfrage aus Asien. In den 1870er-Jahren brauchten die zukunftsträchtigen Industrien ein neues institutionelles Umfeld, das Anreize für wissensbasierte Produktionsformen vor dem Hintergrund der ersten Globalisierungswelle erzeugte. Heute wäre es verwegen, eine ähnliche Situation zu diagnostizieren. Graduelle Anpassungen des deutschen Systems sind notwendig, doch wie die Geschichte zeigt, stellt ein radikaler Umbau nach amerikanischem Muster keine Lösung dar.
Der Autor ist wissenschaftlicher Assistent am Lehrstuhl für Wirtschaftsgeschichte, Universität Bielefeld. 2007 erscheint sein Buch über Innovationen und Institutionen, eine Analyse des deutschen Patentsystems von 1877 - 1916.