Löhne und Lohnnebenkosten in Deutschland seien die höchsten auf der Welt, so klagte das arbeitgebernahe Institut der deutschen Wirtschaft (IW). Dessen Statistiken fanden bereitwillige Aufnahme in den Medien. Um die Standortbedingungen in Deutschland zu verbessern, müsste Arbeit in Deutschland dringend billiger werden, so tönte es allenthalben.
Heute wird das Problem der deutschen Arbeitskos-ten als harmloser eingeschätzt. "Deutschland hat durch die Lohnzurückhaltung der vergangenen Jahre enorm an Wettbewerbsfähigkeit gewonnen", urteilt etwa die Deutschland-Expertin der Investmentbank Morgan Stanley, Elga Bartsch. Als Deutschland 2003 den Titel des Exportweltmeisters zurückeroberte und wieder mehr Waren als jedes andere Land der Welt exportierte, konstatierten auch die Experten der Dresdner Bank: "Heute ist die deutsche Wettbewerbsfähigkeit kein Problem mehr."
Tatsächlich ist eine Stunde Arbeit nach Berechnungen des Statistikamts in Deutschland nicht mehr teurer als in vergleichbaren anderen europäischen Ländern: Auf die ganze private Wirtschaft bezogen kostete eine Arbeitsstunde die Arbeitgeber zuletzt im Schnitt 28,18 Euro. Dabei sind neben dem Bruttolohn auch die Arbeitgeberbeiträge zu den Sozialversicherungen, Urlaubs- und Weihnachtsgeld und die Lohnfortzahlung im Krankheitsfall enthalten. In den Niederlanden kostet eine Arbeitsstunde im Schnitt 1,2 Prozent mehr, die Kosten in Frankreich übersteigen jene in Deutschland um 4,8 Prozent, die dänischen Arbeitskräfte sind gar 14,1 Prozent teurer. Deutlich niedriger als in Deutschland lagen die Kosten in der EU nur in Italien (rund 20 Prozent billiger), Spanien (etwa 50 Prozent billiger) und Portugal (rund 60 Prozent billiger).
Allerdings unterscheidet sich das Bild zwischen Industrie und Dienstleistung. Während eine Arbeitsstunde im produzierenden Gewerbe in Deutschland mit 30,37 Euro sogar minimal (0,3 Prozent) teurer ist als in Dänemark, dem Spitzenreiter bei den gesamtwirtschaftlichen Arbeitskosten, liegen die Kosten in den Dienstleistungssektoren im unteren Mittelfeld der Altmitglieder der EU (also jener Staaten, die bereits vor der Osterweiterung 2004 Mitglied waren). In einzelnen Bereichen liegen die Arbeitskosten in Deutschland inzwischen sogar weit niedriger als in vergleichbaren Ländern. In Ostdeutschland sind die Tariflöhne im Wachgewerbe oft geringer als 5 Euro pro Stunde. Selbst mit den Nebenkosten liegen damit die Arbeitskosten für diese Branche dort nur bei knapp 6 Euro pro Stunde. Nach Angaben des Sachverständigenrats zur Beurteilung der gesamtwirtschaftlichen Lage arbeiteten 2001 mehr als 17 Prozent der deutschen Vollzeitbeschäftigten unter der Niedriglohnschwelle von 7,10 Euro. In den vergangenen Jahren dürfte der Niedriglohnsektor weiter gewachsen sein. In vielen anderen westeuropäischen Ländern dagegen liegt schon der gesetzliche Mindestlohn spürbar über dieser Marke. So beträgt der vorgeschriebene Mindestlohn in Großbritannien 5,35 Pfund, also rund 8 Euro, in Irland sind es 7,65 Euro.
Die niedrigeren Arbeitskosten bei den Dienstleistern in Deutschland entlasten die Industrie: Zu den Produktionskosten des verarbeitenden Gewerbes zählen auch jene Kosten, die entstehen, wenn etwa die Produktionsanlage von einer Sicherheitsfirma bewacht wird oder wenn die Produktionsarbeiter in der Kantine bekocht werden. Zahlen die Industriebetriebe weniger für diese Dienstleistungen, so steigt auch ihre Wettbewerbsfähigkeit im Ausland. Dies dürfte einer der Gründe sein, warum die deutsche Industrie in den vergangenen Jahren nicht nur ihren Marktanteil auf den Weltmärkten steigern konnte, sondern zuletzt auch ihren Anteil am deutschen Bruttoinlandsprodukt wieder ausgebaut hat.
Dass das verarbeitende Gewerbe in Deutschland mit den verhältnismäßig hohen Arbeitskosten in der Produktion recht gut leben kann, hat aber auch einen anderen Grund: Für die Entscheidung von Unternehmen, wo sie produzieren, sind nicht nur die Kosten pro Arbeitsstunde relevant - sondern auch wie produktiv die Beschäftigten in dieser Zeit arbeiten. Hier liegt Deutschland im internationalen Vergleich nach wie vor sehr gut. Die Stundenlöhne in China oder Polen mögen deutlich niedriger sein. Aber Autoproduzenten beklagen, dass sie selbst mit den gleichen Maschinen in China eine wesentlich geringere Produktivität als in Deutschland erreichen, weil die Arbeiter nicht die nötige Präzision aufbringen.
Um gleichzeitig Veränderungen in den Arbeitskosten und in der Produktivität abzubilden, vergleichen Ökonomen deshalb gerne die Entwicklung von Lohnstückkosten in den verschiedenen Ländern. Gerade bei diesen Lohnkosten pro Produktionseinheit hat Deutschland in den vergangenen Jahren im Vergleich zu den übrigen EU-Ländern enorm Boden wettgemacht. Während die Lohnstückkosten von 2000 bis 2006 in der Euro-Zone insgesamt um 10,4 Prozent zulegten, stiegen sie in Deutschland lediglich um 2,6 Prozent. Gegenüber Ländern wie Portugal oder Spanien ist der Unterschied noch größer: Die spanischen Lohnstückkosten stiegen seit der Jahrtausendwende um fast 22 Prozent, die portugiesischen um knapp 21 Prozent. Wenn Ökonomen heute von mangelnder Wettbewerbsfähigkeit im Euro-Raum sprechen, dann werden Italien und Portugal angeführt, obwohl dort die Löhne immer noch deutlich niedriger als in Deutschland sind.
Überhaupt verabschieden sich Experten zunehmend von dem einfachen Bild, dass hohe absolute Arbeitskosten direkt zu steigender Arbeitslosigkeit führen und niedrigere Löhne automatisch Vollbeschäftigung schaffen: In Deutschland sind es gerade jene Regionen, die besonders niedrige Arbeitskosten haben, in denen auch die Arbeitslosigkeit hoch ist. So kostete die Arbeitsstunde in Baden-Württemberg 2004 im Schnitt 30,84 Euro, rund 50 Prozent mehr als in Sachsen-Anhalt, wo die Kosten lediglich 20,84 Euro betragen. Trotzdem lag die Arbeitslosigkeit zuletzt in Baden-Württemberg bei 6 Prozent, in Sachsen-Anhalt dagegen bei 17,5 Prozent. Auch international gibt es keinen klaren Zusammenhang zwischen hohen Arbeitskosten und hoher Arbeitslosigkeit. Dänemark und die Niederlande weisen Arbeitslosenquoten von weniger als 4 Prozent auf. Dänische Unternehmen werben sogar in Deutschland Personal an. In Polen betragen die Arbeitskosten nicht einmal ein Fünftel der deutschen Kosten. Trotzdem liegt dort die Arbeitslosigkeit mit rund 15 Prozent noch ein Drittel höher als in Deutschland. Auch in China, wo zum Teil Stundenlöhne von weniger als einem Euro gezahlt werden, beträgt die Arbeitslosigkeit nach Schätzungen mehr als 10 Prozent.
Ob die Unternehmen die Arbeitskosten als Investitions- und Einstellungshemmnis wahrnehmen, hängt nach dieser Lesart nicht nur von ihrer Höhe ab, sondern von einer Reihe von Rahmenbedingungen in den verschiedenen Ländern. Dazu gehören etwa die Verfügbarkeit und der Ausbildungsstand der Fachkräfte, die Infrastruktur, die Existenz eines leistungsfähigen Netzwerks von Zulieferbetrieben und die Absatz-Chancen in dem Land. Nach den Anstrengungen, die Deutschland in den vergangenen Jahren gemacht hat, um die preisliche Wettbewerbsfähigkeit zu verbessern, liegen die Probleme inzwischen eher bei diesen anderen Standortfaktoren - vor allem in dem Image Deutschlands als stagnierender Markt. Und das wird durch weiteres Klagen über hohe Arbeitskosten nur verschärft.
Der Autor ist Redakteur der "Financial Times Deutschland".