Die Deutschen wandern aus. Rund 150.000 Bürger haben im vergangenen Jahr ihre Heimat verlassen, um anderswo in der Welt das Glück zu suchen. Das waren so viele wie seit Jahrzehnten nicht mehr. Als der Deutsche Industrie und Handelskammertag (DIHK) deswegen kürzlich Alarm schlug, herrschte zumindest in einen Punkt breiter Konsens: Ein gutes Zeichen für den deutschen Arbeitsmarkt sei das nicht. Wenn es um den demografischen Wandel geht, ist die öffentliche Wahrnehmung erstaunlicherweise eine andere. Beharrlich hält sich hier der Irrglaube, der Bevölkerungsrückgang sei gut für den Arbeitsmarkt. Wenn die Zahl der Arbeitskräfte schrumpft, weil weniger junge Menschen nachwachsen - dann mag das zwar der Rentenversicherung einige Probleme bereiten, denken viele. Aber wenigstens, so die Hoffnung, werden dann die Arbeitsplätze nicht mehr knapp sein. Richtig ist jedoch, dass die Alterung der Gesellschaft für den Wirtschaftsstandort Deutschland ein viel größeres Problem ist als die Auswanderung.
In 20 Jahren wird die Altersgruppe derer, die einen Arbeitsplatz suchen und besetzen könnten, bereits um fünf Millionen kleiner sein als heute, wie Bevölkerungsprognosen des Statistischen Bundesamts zeigen. Tatsächlich sagt das aber leider nichts darüber aus, ob sich Angebot und Nachfrage nach Arbeitsplätzen besser ausgleichen. "Solange wir die Strukturprobleme am Arbeitsmarkt nicht lösen, bleibt die Arbeitslosenquote bestenfalls konstant", so fasst Martin Werding, Bereichsleiter Arbeitsmärkte am Ifo-Institut für Wirtschaftsforschung, die Lage zusammen. In einer Gesellschaft, die um zehn Prozent schrumpft, könnte die absolute Zahl der Arbeitslosen daher vielleicht ebenfalls um zehn Prozent sinken - vielleicht aber auch nur um fünf oder gar nicht. In jedem Fall würde dann der Wohlstand sinken, und die Finanzprobleme der Sozial- und Staatskassen würden noch größer als ohnehin.
Entscheidend für die zukünftigen Beschäftigungsperspektiven im Land wird sein, wie gut es gelingt, das knapper werdende Angebot an Arbeitskräften mit den Anforderungen der Unternehmen in Einklang zu bringen. Schon heute zeigt sich aber, wie schwierig das ist: Den mehr als vier Millionen Arbeitslosen stehen regelmäßig zwischen 750.000 und 1,5 Millionen offene Stellen gegenüber, ohne dass es zum Ausgleich kommt.
Die Ursachen sind vielfältig. Teils sind den Unternehmen die Arbeitskosten zu hoch oder die Fähigkeiten der Bewerber passen nicht, teils fehlt es an Mobilität oder zeitlicher Flexibilität. Selbst wer manche der Vorbehalte anzweifelt, muss anerkennen, dass ein knapper werdendes Arbeitskräfteangebot dieses Problem keinesfalls entschärft. Im Gegenteil: Wenn Arbeit hier zu Lande nicht nur teurer ist als anderswo, sondern auch schwerer verfügbar, wird es für die Firmen immer mehr Gründe geben, neue Standorte im Ausland zu suchen. Es geht darum, Deutschland unter erschwerten Bedingungen als Wertschöpfungsstandort mit breit gefächerter Produktpalette zu erhalten, wie das Beispiel der Metall- und Elektroindustrie zeigt: "Wir brauchen für unsere innovationsorientierte Industrie aus den geburtenschwächeren Jahrgängen mehr junge Menschen mit hoher und höchster Qualifikation", betont Heike Maria Kunstmann, Hauptgeschäftsführerin des Arbeitgeberverbands Gesamtmetall. Sie warnt: "Wir werden zusätzliche Probleme haben, den Standort zu sichern, wenn die Arbeit anderswo nicht nur billiger, sondern auch besser gemacht wird."
Eine alternde, schrumpfende Gesellschaft ist umso stärker gefordert, ihre knapper werdenden Potenziale zu mobilisieren. Dass Bildung dabei eine Schlüsselrolle spielen muss, ist offenkundig. Dabei geht es aber nicht allein um Spitzenkräfte. Das Qualifikationsniveau müsste im breiten Durchschnitt der Bevölkerung rascher steigen als in der Vergangenheit. Die Realität aber ist: Erstmals seit Generationen sind die Jungen heute nicht mehr besser gebildet als ihre Eltern. Das belegt zum einen, wie dringend das gesamte Bildungssystem von der Vorschule bis zur beruflichen Weiterbildung verbessert werden muss. Es belegt zum anderen aber, wie wichtig es ist, auch andere Potenziale besser auszuschöpfen. Zum Beispiel die der älteren Menschen. Die Anhebung des Renteneintrittsalters ist insofern nicht nur ein Beitrag zur Sanierung der Rentenkasse. Sie senkt längerfristig auch die Gefahr, dass ein Mangel an passenden Bewerbern in einzelnen Segmenten zur gesamtwirtschaftlichen Jobbremse wird.
Dazu gehört, dass sich Unternehmen stärker für ältere Bewerber öffnen. Sie müssen ihre Arbeitsorganisation danach gestalten, dass Ältere ihre auf Erfahrung beruhenden Fähigkeiten auch dann noch produktiv einsetzen können, wenn die physische Leistungsfähigkeit nachlässt. Je eher das gelingt, desto weniger wird sich der Weg ins Ausland als bequeme Ausflucht für Firmen etablieren. Und es geht schließlich um das Potenzial derer, die heute keinen Schul- oder Berufsabschluss haben. Bildung kann ihre Perspektiven verbessern, doch selbst das beste Bildungssystem wird nicht alle Menschen zu Spitzenforschern machen. Daher bleibt die politische Aufgabe bestehen, den Zugang zu neuen Beschäftigungsfeldern zu erleichtern - etwa im Bereich handwerklicher Arbeit oder privater Dienstleistungen im Haushalt.
Der demografische Wandel ändert die gesellschaftlichen Knappheitsverhältnisse. Insoweit erleichtert jeder Zugewinn an Flexibilität die Umstellung. Als Trost mag den Deutschen dienen, dass sie mit ihrer demografischen Herausforderung nicht allein dastehen. Es trifft sie nur früher als andere - selbst der gerade erwachende Wirtschaftsriese China steuert bereits darauf zu. Die Deutschen haben aber die Chance, sich früher auf den nötigen Wandel einzustellen.
Der Autor ist Redakteur beim "Handelsblatt".