Mitunter liegen Welten zwischen Selbstbild und Fremdwahrnehmung. Ende Oktober rief der Deutsche Gewerkschaftsbund (DGB) zu Demonstrationen für eine sozial gerechte Reformpolitik auf. An den Kundgebungen nahmen 220.000 Menschen teil. Der Chef des DGB, Michael Sommer, riet der schwarz-roten Koalition, diesen "Warnruf aus der Mitte der Gesellschaft nicht zu ignorieren". Markus Söder, der CSU-Generalsekretär, wollte davon nichts wissen. Er sagte noch am selben Tag, die Gewerkschaften hätten sich als ernsthafter Gesprächspartner verabschiedet. Sie seien "das eigentliche Standorthindernis in Deutschland".
Nun ist es der Job eines Partei-Generalsekretärs, durch Lautstärke aufzufallen. Dennoch zeigen jene Tage Ende Oktober, wie umstritten die Gewerkschaften sind. Die Organisationen selbst sehen sich als "Lobby der kleinen Leute", wie Sommer es ausdrückt, und als Garant des sozialen Friedens. Ihre Gegner in Wirtschaft, Publizistik und Politik halten sie hingegen für Zusammenschlüsse von Besitzstandswahrern. Genüsslich verweisen sie darauf, dass die DGB-Gewerkschaften seit Jahren unter Mitgliederschwund leiden und nur noch eine Minderheit der Arbeitnehmer überhaupt organisiert ist.
Fachleute konstatieren häufig, die Gewerkschaften in Deutschland seien weniger die Gegenmacht zum Kapital, als die sie selbst sich gern darstellen und als die sie von ihren Gegnern attackiert werden. Sie seien vielmehr ein Ordnungsfaktor im politisch-ökonomischen System. Man sollte sich in der Tat stets vor Augen halten, dass die deutschen Gewerkschaften ohne Vorbehalte zur demokratischen Staatsordnung und zur sozialen Marktwirtschaft stehen. Eine Selbstverständlichkeit ist das nicht: In anderen westeuropäischen Ländern gibt es durchaus radikale Arbeitnehmer-Organisationen, die beides in Frage stellen. Politische Streiks sind in Deutschland verboten, und die Gewerkschaften halten sich daran. Arbeitskämpfe sind immer nur die Ultima Ratio in der Tarifpolitik.
Umstritten sind die Gewerkschaften gleichwohl - und zwar deshalb, weil sie mächtig sind. Mehr noch: In Deutschland sind Gewerkschaften mächtiger als irgendwo sonst auf der Welt. Neben ihrer Verflechtung mit den Volksparteien, insbesondere mit der Sozialdemokratie, hat dies im Wesentlichen drei Ursachen: Sie sind Vertragspartei bei Lohnvereinbarungen im Rahmen der Tarifautonomie. Sie sind der gewichtigste Akteur der Mitbestimmung von Arbeitnehmern etwa in Aufsichtsräten. Und sie beeinflussen im Rahmen der Selbstverwaltung den Kurs der Sozialversicherungen.
Vor allem die Tarifautonomie und die Mitbestimmung haben sich nach Auffassung von Kritikern zum Nachteil für den Wirtschaftsstandort Deutschland und zur Gefahr für Wachstum und Arbeitsplätze entwickelt. Folglich fehlt es nicht an Vorschlägen und Forderungen, beides einzuschränken.
So war die Union bis zur Bundestagswahl entschlossen, nach einer Regierungsübernahme Firmen das Unterschreiten von Tarifstandards zu erleichtern, wenn sich dadurch Stellen sichern ließen. Im Kern ging es darum, die Arbeitskosten zu senken. In den Koalitionsverhandlungen mit der SPD konnte sich die Union dann allerdings nicht durchsetzen. Schon die intensive Debatte über eine gesetzliche Regelung hat jedoch erhebliche Auswirkung auf die Tarifverträge gehabt: Öffnungsklauseln zum Abweichen nach unten von den hohen allgemeinen Standards sind heute an der Tagesordnung.
Unklar ist hingegen, ob auch die Diskussion über eine Reform der Mitbestimmung Konsequenzen haben wird. Nach Auffassung der Wirtschaftvertreter sind die beiden wichtigsten Arten der Mitbestimmung - die des Betriebs- oder Personalrats in betrieblichen Belangen und die von Arbeitnehmervertretern in den Aufsichtsräten von Kapitalgesellschaften - in ihrer bisherigen Form ein Hindernis im internationalen Standortwettbewerb. Nach Auffassung der Gewerkschaften ist Mitbestimmung hingegen ein wesentlicher Erfolgsfaktor der deutschen Wirtschaft, weil sie Unternehmer-Willkür begrenzt, die Mitarbeiter motiviert, sie bei schwierigen Veränderungsprozessen einbindet und dabei auch ihre Kompetenzen nutzt.
Diese beiden Positionen sind kaum miteinander zu vereinbaren. Genau das ist der Grund, warum sich die so genannte Biedenkopf-Kommisson so schwer tut, Vorschläge für eine Reform der Mitbestimmung vorzulegen. Der ehemalige Bundeskanzler Gerhard Schröder (SPD) hatte das Gremium, dem neben dem CDU-Politiker Kurt Biedenkopf unabhängige Fachleute und Spitzenvertreter aus Wirtschaft und Gewerkschaften angehören, zum Ende seiner Amtszeit eingesetzt. Die Runde soll erörtern, wie das Mitbestimmungsrecht modernisiert werden kann, etwa in Hinblick auf grenzüberschreitende Fusionen oder bei Gründung von Aktiengesellschaften nach europäischem Recht. Die amtierende Koalition will die Vorschläge für eine Gesetzesnovelle aufgreifen - wenn denn welche kommen. Der Abschlussbericht der Kommission wird vermutlich erst zum Jahresende vorliegen, viel später als geplant.
Sollte die Kommission scheitern, wird die Schwarz-Rote Regierung eine Reform des Mitbestimmungsrechts womöglich erst einmal vertagen. Die Koalition hat schließlich keinen Mangel an Problemen. Die Gewerkschafts-Kritiker werden dann ihrem Ärger lautstark Luft machen, die Gewerkschaften selbst werden mit dem Status quo aber weiterhin ganz gut leben können. So wie auch die Bundesrepublik mit ihren mächtigen Gewerkschaften doch ziemlich gut leben kann: Sie sind ziemlich in die Jahre gekommen, aber sie gehören einfach dazu. Sie nerven häufig. Aber unterm Strich nutzen sie mehr als sie schaden.
Der Autor ist Redakteur der "Berliner Zeitung".