Zu den wenigen segensreichen Hinterlassenschaften der deutschen Kleinstaaterei gehört eine breite Präsenz kultureller Einrichtungen in so vielen Städten der Bundesrepublik. Seit dem 18. und 19. Jahrhundert wartete jede Fürstenresidenz, die etwas auf sich hielt, mit einem - sei's klitzekleinen - Ensemble aus Bibliothek, Theater und Kunstmuseum auf. Und diese Tradition feudal-verbürgerlichter Verpflichtung auf Bildungswerte riss historisch nie wirklich ab, auch wenn der Bildungsbegriff des Idealismus widerstandslos in der deutschen Barbarei unterging. Der deutsche Kulturbetrieb ist für viele Länder der Gegenstand eines neidvollen Hinüberblinzelns. Und das hat auch Auswirkungen auf den Wirtschaftsstandort Deutschland.
Wie hierzulande Kultur erhalten und gefördert wird, ist einzigartig in der Welt, und zwar aus drei Gründen. Zum einen sind die Künste unbestritten öffentliche Sache in Deutschland, was dazu führt, dass der demokratische Staat die Verantwortung für seine Kultureinrichtungen übernimmt. Kommunen, Länder, zu einem kleinen Teil auch der Bund unterstützen die Kultur jährlich mit 8 Milliarden Euro; mal mit etwas mehr, mal mit weniger, aber verlässlich. Woraus sich zum anderen die Besonderheit ergibt, dass das kulturelle Angebot in Deutschland ein stetiges und nachhaltiges sein kann - beileibe keine Selbstverständlichkeit, nicht einmal in Europa.
Das daraus sich entwickelnde künstlerische und intellektuelle Niveau ist noch immer herausragend. Und drittens hat der Umstand, dass in jedem Winkel der Republik kulturelle Institutionen ihr Publikum finden, ein gravierendes Gefälle zwischen Zentrum und Peripherie, Metropole und Provinz verhindert. Ein erweiterter Kulturbegriff und eine Subventionierungspraxis, die Kultur zum "niedrigschwelligen" Angebot machten, erwiesen sich als Faktoren der sozialen Integration.
Zu Recht wird man einwenden, dieses Idyll existiere so nicht länger: Kultur sei im Begriff, auch wieder elitärer zu werden, Ausdruck sozialer Ungleichheit; das kulturelle Energien ansaugende Berlin hinterlasse woanders Leere; die Wiedervereinigung habe tiefe Unterschiede in den Lebensverhältnissen mit sich gebracht, die mittels Kultur gewiss nicht einzuebnen seien; Kulturinstitutionen seien teils Existenz bedrohenden Kürzungen unterworfen; hier und da stehle der Staat sich schon aus seiner kulturstaatlichen Verantwortung davon. Im einzelnen mag das alles stimmen. Dagegen stehen aber - bezogen auf das Jahr 2002, und daran änderte sich bis 2006 wenig - immer noch 151 Theater mit 253.000 Plätzen und 23.000 Aufführungen, außerdem 49 Orchester, fast 7.000 Opernaufführungen, und gut 100 Millionen Besucher in öffentlichen Museen.
Das Gefüge ist nicht eigentlich bedroht, es unterliegt aber einem Struktur- und Funktionswandel. Ausschließlich um die Künste ging es dabei übrigens nie. Nach dem Krieg verbanden sich mit der öffentlichen Kulturförderung nationalpädagogische Intentionen, seit den 70er-Jahren ("Kultur für alle!") sozialstaatliche. Diese Phase ist offenbar vorbei.
In den letzten Jahren geriet der wirtschaftliche Aspekt des Kulturellen in den Blick. Um den real existierenden Kulturbetrieb hat sich eine recht erfolgreiche Dienstleistungsbranche etabliert. Unternehmen, die Kultur produzieren - Buchverlage, Musik-, Film- oder Videoproduktionen - , beanspruchen in dem Maße, wie sie auf dem deutschen Markt erfolgreicher werden, auch mehr Anerkennung. Branchen, deren Produkte von Kultur und von kulturellen Trends beeinflusst werden - Mode, Architektur, Werbung und so fort - , drängen ebenfalls auf eine Erweiterung des Kulturbegriffs. Die strikte Trennung "legitimer" Kultur, die sich in der Hege des Öffentlichen befindet, von einer "illegitimen" Kultur, die durch wirtschaftliche Interessen befleckt ist, wird sich nicht aufrecht erhalten lassen. Sie spielt in der künstlerischen Praxis in Wirklichkeit keine Rolle mehr. Es ist auch eine sehr deutsche, mit viel weltanschaulichem Bombast verteidigte Unterscheidung. Länder wie Großbritannien, Frankreich oder Österreich fördern ihre Kulturwirtschaft (andere sagen: "Kreativindustrien") derzeit sehr erfolgreich.
In Sachen Anerkennung und politische Unterstützung dieses Wirtschaftszweiges hinkt die Bundesrepublik hinterher. Das widerspricht der Unbekümmertheit und dem Geschick, mit dem deutsche Stadt- und Landesväter derzeit die Kultur - und zwar die Hochkultur ebenso wie die kommerzielle - als Guthaben im Wettbewerb der Wirtschaftsstandorte in Anspruch nehmen. Wieso tun sie das? Vielleicht gibt eine gerade im Auftrag der EU-Kommission erstellte Studie darauf eine Antwort. Intelligenterweise unterscheidet die Studie nicht zwischen dem kulturellen Sektor im engeren Sinn und seinem ökonomischen Rand. 2,6 Prozent zum Bruttosozialprodukt Europas trug die Kulturwirtschaft 2003 insgesamt bei, 654 Milliarden Euro setzte sie um. 5,8 Millionen Arbeitsplätze stellt sie, Tendenz steigend, und kann auf jährliche Wachstumsraten von bis zu 20 Prozent verweisen.
Mit anderen Worten: Kulturwirtschaft ist in den vergangenen Jahren nicht nur zu einem interessanten ökonomischen Faktor geworden, sondern es wächst ihr in Zeiten niedergehender Produktionswirtschaft auch eine enorme symbolische Bedeutung zu. Wenn es in Westeuropa überhaupt noch mit einem Zukunftsindex versehene Ökonomien gibt, dann sind es jene mit der Aufschrift "kreativ". Dass der Übergang von ihnen zur Software- und IT-Industrie, zur Medienwirtschaft fließend ist, trägt zu ihrem Nimbus nur bei.
Und nur die Deutschen würden das symbolische Kapital dieses Sektors trennscharf von ihrer Hochkultur abheben. Gegen sein puristisches Selbstbild ist der öffentlich geförderte deutsche Kulturbetrieb also energisch zu verteidigen. Er ist kein zu beschützendes Retrophänomen, sondern innerhalb der globalen Wahrnehmungskonkurrenz durchaus wettbewerbsfähig. Künstlerisch ebenso wie ökonomisch. Wenn es stimmt, dass Volkswirtschaften wie die deutsche in Zukunft nur noch von jenem flüchtigen und geheimnisumwitterten Rohstoff Kreativität leben werden, dann wird die Zukunft ein Kampf um die besten Köpfe sein. Dieser Standortwettbewerb wird sich nicht mehr nur unter Kommunen oder zwischen Bundesländern abspielen, sondern er wird ein globaler sein. Nationen, Regionen, Städte bemühen sich um ein entsprechendes "Branding", um das Herausbilden einer Marke.
Kreative Eliten gehen nur dorthin, wo bereits kreative Eliten sind; das lehrt das Beispiel Berlin. In dieser Hinsicht Anziehungskraft zu erzeugen, ist weniger die Sache klassischer ökonomischer Anreize wie Greencards oder Gehälter. Es hat mehr mit dem Talent und der Sensibilität zu tun, urbane Gefüge sich entwickeln zu lassen, Rahmenbedingungen auf Mikroebene zu erzeugen und für die Verlässlichkeit bestimmter Strukturen einzutreten, kurz: eine Kultur zu erhalten. Daran wird der deutsche Kulturstaat künftig gemessen werden.
Der Autor ist Redakteur der Wochenzeitung "Die Zeit".