7.50 Uhr: München Flughafen. Weiße Kondensstreifen durchziehen den Himmel über München, der blau ist mit leichtem Morgenrotstich. Hinter den Abfertigungsgebäuden röhren die Flugzeugmotoren, davor klappern Pumps und Ledersohlenschuhe auf dem Marsch unter einem futuristischen Vorplatzdach hin zur S-Bahn, auf dem Weg zur Arbeit. Es ist kalt. Alle drängen sich in die Abteile. Etwas ruckelnd setzt sich der Zug in Bewegung. Deutschland ist unterwegs.
Unternehmensberater Jürgen Oehmke, 54, ist gerade aus Mallorca eingeflogen. Vor acht Jahren hat er als Heimatort das deutsche Festland gegen die spanische Insel getauscht. "Ich kenne unheimlich viele, die sich aus Deutschland zurückziehen", sagt Oehmke. "Vor allem von denen, die erfolgreich sind." Dass Deutschland heruntergewirtschaftet sei, sagt er, der als Angestellter offenbar gut verdient. Dass man sich hier nicht mehr wohl fühle. Dass die Arbeitslosigkeit hausgemacht sei. Er nickt wissend.
"Da legst du die Ohren an", sagt auf der Sitzbank nebenan ein 40-Jähriger, die Brille auf seiner Nase wirkt billig. Er schlägt empört mit einem Handrücken auf den Wirtschaftsteil der Zeitung in seinem Schoß. Die einzig beiden Schlagzeilen, in denen Worte auftauchen wie "Gewinnsprung" haben sich links unten klein in die Ecke gedrückt. Groß über die Seite verteilt steht anderes: "Abbau", "Pleite", "Verkauf". Wörter in dickem Schwarz, die nicht nur auf die Finger abfärben.
8.30 Uhr: München Hauptbahnhof. "Ich glaube, dass es Deutschland richtig gut geht gerade. Wir haben nur das Problem, dass wir Gutes nicht einfach hinnehmen können - immer müssen wir alles in Frage stellen." Antje Mainka, 28, hat kleine Augen, aber ein zuversichtliches Lächeln. Sie ist Ärztin und hat gerade eine nicht sehr gut bezahlte 24-Stunden-Schicht im Krankenhaus hinter sich. Das sei aber das einzige, worüber sie jammern könne. "Naja, München ist schon extrem privilegiert", sagt sie, die gebürtige Kölnerin. Am Bäckerstand stimmt ihr Cathal Meere zu. Der 35-jährige Ire lebt seit 14 Jahren in Deutschland und arbeitet als Einkäufer beim Pharmakonzern Hexal. "In der Branche hat man schon Angst, dass auch hier vieles nach Indien oder China ausgelagert wird. Bislang ist aber nichts passiert. Bei unserem Gebäude wird sogar angebaut, der Standort wird vergrößert."
9.44 Uhr: Regionalbahn nach Nürnberg. Ab Landshut werden die Wolken dichter, flacher, grau. Hanna Wölfel, 41, nähert sich ihrer Heimat: einem kleinem Dorf bei Hof, dem Armenhaus Bayerns. Auch das gibt es im reichen Süden Deutschlands. Einer alten Schulfreundin, die in der Gegend geblieben ist, wurde gerade gekündigt, erzählt Wölfel - dabei habe sie sich sogar mit Blasenentzündung und Fieber noch zur Arbeit geschleppt. So sei das heute. Hanna Wölfel ist in einem Chemie-Unternehmen Buchhalterin. Sogar Bilanzbuchhalterin, seit sie in ihrer Freizeit zur Fortbildung ging. Sie hat mehr Arbeit bekommen und kompliziertere noch dazu; die Kosten für die Fortbildung musste sie dennoch alleine tragen und eine Gehaltserhöhung steht nicht in Aussicht. "Unser Problem ist die Schere", sagt Wölfel. "Gerade in mittelständischen Unternehmen wie unserem wird unten eingespart und oben eingestellt. Soll das die Zukunft sein?" In Regensburg steigt sie aus, auf dem Nachbargleis wartet der Zug nach Hof auf sie. Er ist fast leer.
Auf dem Gang der Regionalbahn nach Nürnberg sitzen Schüler auf dem Boden. In der ersten Klasse sind 37 freie Plätze. Nur der 38. ist belegt. Tania Böhmer, 28, ist Headhunterin aus Frankfurt, Kopfjägerin also, wie das im Branchenjargon heißt. Sie sucht für Firmen das Personal. Von ihrem Platz aus ist der Blick ein anderer: auf die immer noch grellgelben Rapsfelder und die dunkelbraunen Äcker, auf die buntgescheckten Wälder, die Kirchtürme der vorbeihuschenden Dörfer. Und auf Deutschlands Wirtschaft: "Im letzten halben Jahr mussten wir sogar Suchanfragen absagen - es waren einfach zu viele. Gerade die Banken suchen wie wild nach Leuten, auf allen Führungsebenen. Und die anderen Bereiche ziehen doch schon nach. Ich habe das Gefühl, dass die Wirtschaft seit dem Frühjahr unglaublich zugelegt hat."
14.35 Uhr: ICE Nürnberg-Leipzig. Irgendwann mischen sich unter die weißen und bonbonfarbenen Einfamilienhäuser Fachwerkhäuser und braun-graue Fassaden aus DDR-Zeiten; an der Saale entlang kurvt der Zug durch den schroffen Thüringer Wald. "Ist das nicht wunderschön?", fragt Johanna Peltner-Rambeck, 58 Jahre alt und Dokumentarfilmerin. Und ihr Mann Johann sagt, dass als Westdeutscher einem Ostdeutschland fremd sei, "fremder als Italien". Er ist 57 Jahre alt und Realschullehrer.
Was sie vom Standort Deutschland denken? Sie: "Wenn man hier aus dem Fenster schaut, kann man nur positiv drüber denken, oder? Wir sind ein so kompetentes Land und zum Glück besinnen sich die Leute auf die Qualität zurück." Er: "Die Unternehmen haben das Risiko erkannt, wegzugehen. Sie verlieren dabei Know-how - und ihre Wurzeln. Produzieren können sie in anderen Ländern vielleicht billiger. Aber entwickeln? Verwurzelung ist von großer Bedeutung, trotz Globalisierung. Schließlich erzeugt die Reibung mit der eigenen Kultur kreativen Zündstoff. Im Ausland sind die meisten angepasster als zu Hause." Sie: "Ich finde es wichtig, dass wir uns weiterhin nach außen öffnen; wir können nicht nur Altes bestehen lassen. Aber wir müssen dabei aufpassen, dass wir nicht wurzellos werden..." Er: "... sonst haben wir bald so eine dünne Kultur wie in den USA. Wer alle zwei Jahre den Ort wechselt, baut nur Papphäuser - und nichts für die nächste Generation."
Und was halten sie von Ostdeutschland? Er: "Das ist nur eine Frage der Zeit, bis sich Brandenburg oder Mecklenburg-Vorpommern entwickeln. Und dann werden Leute gebraucht, die es anpacken." Sie: "Man muss sich heute seine Nische suchen, sich etwas ausdenken. Angst zu haben ist die größte Bremse."
17.46 Uhr: Leipzig Hauptbahnhof. In den Läden glitzert Leuchtreklame und der erste Weihnachtsschmuck, auf einer Bank sitzt ein altes Paar mit düsteren Mienen. Was sie vom Wirtschaftsstandort Deutschland halten? Erbittertes Schweigen. Über Niederlagen redet niemand gern. Auf anderen Bänken wird geschwärmt: "Uns geht es so gut. Ohne all die Panikmache würden wir viel besser dastehen, wirtschaftlich und emotional", sagt Kathrin Knabe, 37; sie kommt aus Jena. Auch Ralf Schmiedel, 39, ist gegen Schwarzmalerei: "Ich habe noch so lange in der DDR gelebt, dass ich die Verbesserungen in den letzten Jahren wirklich zu schätzen weiß." Und das, obwohl er im Café Saturn in Zwickau, wo er kellnert, auch oft sorgenvolle Gespräche mithört. Geld ist in Zwickau bei vielen knapp, auch bei Schmiedel. Trinkgeld kriegt er wenig; ohne verdient er um die 1.700 Euro im Monat, und das brutto, vor Steuern und Abgaben. "Die Leute wollen nicht sauviel Luxus haben", sagt Schmiedel, der Kellner. "Aber ein Stück mehr vom Kuchen", das wollten die Leute schon.
19.50 Uhr: ICE Leipzig-Berlin. Die drei Töchter von Petra Ertel, 48, haben alle einen Job gefunden. Nur nicht zu Hause, in dem kleinen Ort Mallnow im Osten Brandenburgs. Sie sind alle fortgegangen. "Bei uns gibt es kaum Arbeit", sagt Petra Ertel, "und wenn, dann sind die Polen billiger." Sie macht sich Sorgen, als Mutter und auch als Kindergärtnerin: Sinkt die Zahl der Kinder im Kindergarten unter zehn, wird er geschlossen; mittlerweile sind es nur noch 17. Und es werden jedes Jahr weniger.
21.14 Uhr: ICE Berlin-Hamburg. In Berlin steigen Mädchen mit kupferrot gefärbten Haaren und Jungs mit Trainingsjacken aus; ihre Sitze werden eingenommen von Frauen im Kostüm und Männern im Anzug. Eine Szene wie aus dem Werbefernsehen: Wer arm und sexy aussieht, wohnt in Kreuzberg oder Prenzlauer Berg. Wer hingegen in der Hauptstadt nur tags Geschäfte gemacht hat, gediegen in dunkelblauem Tuch, der fährt nun zurück nach Hamburg. Der Zug rauscht vorbei an pompös angestrahlten Regierungsgebäuden, hinein in die Nacht. Die Dunkelheit draußen lässt drinnen genauer hinblicken. Auch im Zug nach Hamburg sehen nicht alle wie hanseatische Kaufleute aus.
Die Krankenschwester Margret Jokelle, 45, hat sich mit einem roten Fleece-Pulli gegen die Kälte der Klimaanlage im Zug gewappnet. Gegen die Widrigkeiten des Lebens wappnet sie sich mit einem steten Lächeln. Ihr Mann kämpft gegen den Krebs, sie selbst hat sich als Krankenschwester den Rücken kaputt gemacht. Die Berufsunfähigkeitsversicherung will nicht zahlen, sie lebt von Hartz IV.
In Stade wohnt die Familie, in der Nähe des prosperierenden Hamburg. Und doch, auch die 21-jährige Tochter ist arbeitslos. Nach gerade mal einem halben Jahr hatte deren Ausbildungsunternehmen, eine Spedition, Konkurs gemacht. "Bei uns in der Gegend gehen viele mittelständischen Betriebe kaputt", sagt Margret Jokelle. "Da verliert Deutschland ganz wichtige Firmen." Einige Freundinnen ihrer Tochter hätten gar nicht erst einen Ausbildungsplatz gefunden. "Und mein 13-jähriger Sohn sagt schon: Ich hab' keinen Bock zu lernen, das bringt doch eh nichts."
22.50 Uhr: Hamburg Hauptbahnhof. Sehen kann man die Grenze zwischen Ost und West nicht. Aber hören. Mit Tröten, Piepsen, Dudeln grüßen die Handys das nahe Hamburg - im Funkloch zuvor entgangene Anrufe und Kurzmitteilungen erreichen nun endlich ihr Ziel. "Ja, ja", ruft einer ins Handy und streift sich nebenbei den Mantel über, "morgen früh flieg ich nach München."
Die Autorin ist freie Journalistin. Sie lebt und arbeitet in Hamburg.