Zwerg, das bedeutet das griechische Nano auf Deutsch. In diesem Kosmos der Zwerge - Moleküle, Atome, Elektronen, Photonen - gelten andere physikalische, biologische und chemische Gesetze als in der uns vertrauten sichtbaren Welt. Ein menschliches Haar müsste rund 50.000 Mal gespalten werden, damit es einen Nanometer dünn wäre, das ist der milliardste Teil eines Meters. In Nanogröße wird Keramik plötzlich transparent, bekommt Gold eine rote Farbe, werden Metalle zu Halbleitern.
"Der Nanotechnik gehört die Zukunft", ist sich Udo Oels sicher, zuständig für Innovation im Vorstand des Leverkusener Bayer-Konzern. "Sie wird eine völlig neue Epoche der industriellen Produktion einleiten", ergänzt der amerikanische Nobelpreisträger Richard Smalley von der Rice-University. Die Wissenschaft fließt in viele Produkte ein, in Autos ebenso wie in Computer, Baustoffe, Medikamente und Kosmetika. "Kein Lebensbereich und kein Zweig der Wirtschaft wird von den Auswirkungen der Nanotechnik unberührt bleiben", prophezeit Wolfgang Heckl, Physikprofessor an der Münchner Ludwig-Maximilians-Universität. Entsprechend wichtig ist diese Technologie auch für den Wirtschaftsstandort Deutschland.
Die ersten Produkte sind bereits da: In Sonnencremes schützen Nanoteilchen die Haut vor der gefährlichen UV-Strahlung, in Schutzschichten bewahren sie Brillengläser vor dem Zerkratzen, in Wandfarben bekämpfen sie Bakterien, Pilzsporen und schlechte Raumluft. Eingebettet in Klebstoffe verbinden Nano-partikel Bleche schneller und dazu noch stabiler, als jede Schweißnaht dies kann. In jedem neuen 7er-BMW sind bereits 150 Meter Nähte geklebt.
Schon heute beträgt der weltweite Umsatz mit Produkten, in denen Nanotechnik steckt, nach Schätzungen des Vereins Deutscher Ingenieure (VDI) über 100 Milliarden Euro. In den nächsten fünf Jahren soll er auf über 500 Milliarden Euro steigen. Die Marktforscher von Lux Research in New York rechnen damit, dass im Jahr 2014 Nanoprodukte im Wert von 2,6 Billionen Dollar verkauft werden. "Das entspricht dem, was die IT- und Telekommunikationsindustrie dann zusammen erwirtschaften", sagt Lux-Präsident Matthew Nordan.
Neben neuen Märkten geht es um Millionen zusätzlicher Jobs. Zehn Millionen Arbeitsplätze werden 2014 allein in der Fertigung mit Nano zu tun haben, so die Lux-Hochrechnung. Von diesem Aufbruch wollen alle profitieren: Regierungen, Unternehmen und Risikokapitalgeber steckten 2005 nach einer Übersicht von Marketresearch.com mehr als 9,5 Milliarden Dollar in die Erforschung und Entwicklung von Nanoprodukten - zehn Prozent mehr als im Vorjahr. Das meiste Geld floss danach mit einem Anteil von 27 Prozent in den USA; Japan und Europa gaben mit je 25 Prozent kaum weniger aus.
Mit Abstand größter Investor auf dem alten Kontinent sind die Deutschen. Sie haben keine schlechte Ausgangsposition, um vom Boom der jungen Disziplin zu profitieren. Ein Netz aus über 220 Forschungszentren und Universitätsinstituten, 450 kleinen und mittleren sowie 114 Großunternehmen treibt den Fortschritt voran. "Deutschland hat ein großes Potenzial und liegt in Europa klar vorn", urteilt der VDI-Experte Gerd Bachmann. Der Ingenieurverein stuft die Nanotechnik nach den optischen Technologien als zweitwichtigstes Zukunftsfeld für die deutsche Industrie ein - mit überdurchschnittlichen Wachstums- und Exportchancen.
Stark ist das Land allerdings vor allem in der Grundlagenforschung, so das Ergebnis einer aktuellen VDI-Umfrage unter Nano-Experten. Eine Flut an wissenschaftlichen Veröffentlichungen unterstreicht dies. Dagegen zeigt es bei der Kommerzialisierung die hinlänglich bekannten Schwächen. Vielen Arbeiten fehle der Bezug zu möglichen Anwendungen, monieren die befragten Fachleute. Zwar gibt es einige Vorreiter bei der Entwicklung neuer Produkte, etwa die Chemiekonzerne BASF, Bayer und Degussa, den Autobauer BMW und den Chiphersteller Infineon. Doch insgesamt investieren deutsche und europäische Unternehmen mit Abstand doch weniger in die Zukunftstechnik als die Konkurrenz aus den USA und Asien.
Das gleiche Bild bietet sich bei Patenten: Einer Studie der internationalen Patent- und Handelsmarkenanwälte von Marks & Clerk zufolge hat sich die Zahl der Patentanmeldungen beispielsweise in der Nano-Elektronik zwischen 2000 und 2003 nahezu verdreifacht. Von den 30 führenden Unternehmen auf diesem Gebiet kommen 18 aus Asien, zehn aus den USA, aber nur zwei, nämlich Philips und Infineon, aus Europa. In anderen wichtigen Anwendungsfeldern sieht es nicht anders aus. "Viele Institute und Unternehmen scheinen sich des wirtschaftlichen Potenzials ihrer Erfindungen nicht bewusst zu sein", wundert sich Co-Autor Rhian Granleese.
Ein weiteres Manko kommt in Deutschland zum Tragen: Neue Technologien setzen sich am schnellsten über das Entstehen junger Unternehmen durch, die im Idealfall rasch zu Konzernen von Weltrang heranreifen, so die Erfahrung aus der Vergangenheit. Es machen sich zwar auch hierzulande nicht wenige solcher Start-Ups auf den Weg, doch allzu viele scheitern, weil sie zu wenig Risikokapital erhalten und ihnen bürokratische Hindernisse zusätzlich die Luft abdrücken. Das zeigt die VDI-Studie.
Gründer in den Vereinigten Staaten haben es da wesentlich leichter: Sie konnten vergangenes Jahr mit 375 Millionen Dollar sechs Mal so viel Risikokapital einsammeln wie ihre Wettbewerber in Europa.
Wie es trotz solcher Widrigkeiten auch in Deutschland gelingen kann, Entwicklungen aus der Wissenschaft zügig am Markt zu etablieren, macht das Saarbrücker Leibniz-Institut für Neue Materialien (INM) vor. Elf Unternehmen sind bis heute daraus hervorgegangen, Nanogate und ItN Nanovation debütierten bereits an der Börse. Das Erfolgsrezept der Nanopioniere von der Saar: Sie denken die Umsetzung in Produkte von Anfang an mit.
Mitgründer und langjähriger Chef des INM ist Helmut Schmidt; er hat ein extrem kratzfestes Nanoglas zum Schutz von Oberflächen erfunden, das er mit der Engineered nanoProducts Germany jetzt vermarktet. Er hält die Praxisperspektive bei der Forschung für selbstverständlich: "Wenn dieser Teil vernachlässigt wird, produziert die Wissenschaft nur Papier."
Der Autor ist Redakteur des Magazins "Wirtschaftswoche" in Düsseldorf.