Manche Verkürzung ist eine Lüge. Die Wirtschaft fordere dieses oder jenes, so heißt es oft. Und X oder Y schade der Wirtschaft. Doch wer ist das, "die Wirtschaft"? Gemeint ist meist: die Unternehmen. Oder gar nur: deren Verbandsfunktionäre. Das aber ist höchstens die halbe Wahrheit. Die Wirtschaft, das sind wir alle. Wir Arbeitnehmer, wir Arbeitgeber, wir Konsumenten. Wir Steuerzahler, wir Aktienbesitzer. Wir, das Volk.
Die Wirtschaft ist unser aller Angelegenheit, im Guten wie im Schlechten. Wir machen mit unseren alltäglichen Entscheidungen die Wirtschaft kaputt oder stärken sie, an der Werkbank und im Chef-Sessel, am Ladentresen und auch beim Gerede abends in der Kneipe. Die Wirtschaft, das sind wir alle - dieser Satz lehnt sich an Friedrich Naumann an, jenen großen liberalen Politiker aus dem deutschen Kaiserreich. "Der Staat, das sind wir alle", hat er vor hundert Jahren gesagt. Dass im demokratischen Staat der einzelne Mensch nicht bloß hilfloses Objekt sondern handlungsfähiges Subjekt ist und dies genauso Chance wie Pflicht ist, dieses Wissen hat sich durchgesetzt. Dass es in der Wirtschaft genauso ist, diese Erkenntnis ist mindestens ebenso wichtig. Deshalb ist die schwierige Debatte über den Wirtschaftsstandort Deutschland etwas, das alle angeht.
Fast könnte man diese Debatte schon satt haben. Seit Jahren beherrscht sie die Schlagzeilen. Warum nun noch eine Themenausgabe? Ein neuer Blick auf die Sache lohnt - nicht nur, weil es der Wirtschaft wieder besser geht. Oft ist in dieser Debatte das, was als wohlbekannte Tatsache gilt, doch eher nur eine Ansicht, vorgetragen von Lobbyisten mit wahlweise professionell düsterer oder pflichtgemäß heiterer Miene. Nun schauen sich in dieser Ausgabe Autoren von der Financial Times Deutschland, der Sozialromantik unverdächtige Beobachter also, noch einmal mit frischem Blick den Streit um die Lohnkosten sowie um die Verlagerung von Produktionsstandorten ins Ausland an. Und kommen zu dem bemerkenswerten Schluss: Kein Grund zur Panik. Auch die anderen harten Standortfaktoren werden untersucht. Genauso aber die vermeintlich weichen Standortfaktoren wie die Bildung - und hier ist der Befund schlechter. Dabei waren der Kindergarten, die duale Ausbildung mit Berufsschule und Betriebspraxis, die Universität Humboldtscher Prägung mit der Einheit von Forschung und Lehre einst gleichsam deutsche Erfindungen.
Aus China, das die Deutschen furchtsam anstarren ob seines heftigen Wirtschaftswachstums, berichten Autoren über den skeptischen Blick von außen auf unseren Wirtschaftsstandort Deutschland. Und was folgt aus all dem in der Praxis? Der Blick in die Unternehmen hinein zeigt ein gespaltenes Bild. Da sind jene deutschen Mittelständler, die in ihrem Segment Weltmarktführer sind. Sie sind die stillen Sieger, die "hidden Champions". Da sind aber auch die traditionell deutschen Großkonzerne wie Daimler, die sich von ihrer Heimat längst weit entfernt haben und sich als Welt AG versuchen. So lohnt der Blick auf die Zukunftsbranchen, von der Zwergenwissenschaft Nanotechnologie bis hin zur Windenergie, wobei auch die alte neue Hoffnung Maschinenbau nicht vergessen werden darf. Denn sie boomt.
In Deutschland wird zuviel gejammert, auf diesen Schluss konnten sich im großen Streitgespräch dieser Ausgabe die beiden Abgeordneten und Wirtschaftsfachleute von CDU und Grünen einigen -über die Grenze zwischen Regierung und Opposition hinweg. Dieser Ton klingt in vielen der Beiträge an: Der Standort wird oft schlechter geredet, als er tatsächlich ist. Das allerdings macht die Debatte über Nachteile und Vorteile, über zu Veränderndes und zu Bewahrendes nicht überflüssig - sondern erst richtig spannend. Es geht um uns. Um die Wirtschaft.
Der Autor arbeitet als freier Journalist in Berlin beim Büro Schön & Gut.