Auf den ersten Blick wirkt das Triptychon von Grisha Bruskin wie ein gigantisches Altarbild sowjetischer Ideologie. 14 Meter breit, mehr als 8 Meter hoch, bestehend aus 23 mal 5 gleichförmigen Gemäldetafeln im Stil des sozialistischen Realismus; jede Tafel ein blasses Abbild eines Sowjetmenschen. Von der Kolchosebäuerin über den Soldaten bis zum Lehrer, alle tragen sie rötlich abgesetzt von ihrer eigenen gräulichen Erscheinung die Attribute der wenig ruhmreich untergegangen UdSSR: Roter Stern, Hammer und Sichel, Porträts von Lenin und Stalin, Panzer, Raketen und der Kreml. Schwere Symbole, die sich geradezu aufdrängen, entziffert zu werden. Unter den 115 Ikonen sind auch etwas rätselhafte Motive, wie der Träger der Wappen von BRD und DDR oder die Arbeiterin mit einer kyrillischen Losung. Zum Werk gehört ein Tableau an der Tür zum Clubraum des Reichstagsgebäudes, die jede Figur benennt und die Schriften übersetzt. Zur Arbeitern liest man: "Arbeiterwort ist zuverlässig", ein Soldat hält am Spruch "Der Sozialismus ist unbesiegbar" fest.
Hier findet sich auch die Erklärung zum fünften Bild von rechts, unterste Reihe: Junge mit Artilleriegranate "Für den Reichstag". Dies sei kein geschmackloser Gag, sondern ein ernsthafter Hinweis auf historische Tatsachen, erklärt Andreas Kaernbach, Kurator des Deutschen Bundestages. "Die Rotarmisten hatten das bei ihrem Marsch auf Berlin mit Kreide auf ihre Raketen geschrieben." Der Reichstag galt als das Machtzentrum von Hitler und des Nationalsozialismus, "ein Ort, der erobert werden musste. Daher auch die Graffitis an den Wänden als symbolische Besitzergreifung", so Kaernbach.
Für den Maler, Bildhauer und Schriftsteller Bruskin, 1945 in Moskau geboren, sind die Mythologien des Sozialismus neben der Beschäftigung mit den jüdischen Traditionen zentrales Thema seines künstlerischen Schaffens. Auf Einladung des Deutschen Bundestages hat er als Vertreter einer der vier ehemaligen Alliierten 1999 das Triptychon mit dem Titel "Leben über alles" angefertigt. Kaernbach sieht darin einen Gegenpart zur deutschen Nationalhymne, es gehe nicht um "Deutschland über alles" oder ein anderes Land über alles. Bruskin wendet sich gegen Patriotismus, "über alles" steht für ihn das Leben der Menschen.
Bruskin studierte in Moskau und war Mitglied des Künstlerverbandes, konnte aber seine Arbeit nicht präsentieren, da sie von staatlichen Kommissionen abgelehnt wurde. Er wandte sich vom offiziellen Kunstbetrieb ab. Ausstellungen wurden kurz nach der Eröffnung geschlossen und Bruskin schließlich aus dem Künstlerverband ausgeschlossen. 1988 übersiedelte er nach New York. Im selben Jahr erzielten einige seiner Bilder bei einer Sothebys Versteigerung von russischer Gegenwartskunst in Moskau Rekordsummen. Im Frühling 2006 kehrte er für ein paar Wochen nach Moskau zurück. Im Puschkin-Museum präsentierte er sein Opus Magnum, einen riesigen allegorischen Bildteppich mit 160 Figuren und fremden Schriftzeichen.
Mit seinen bildlichen und literarischen Zitaten entschlüsselt Bruskin, der auch als "Archäologe" optischer Mythen bezeichnet wird, die Struktur der Sowjetgesellschaft in seinem Werk für das Reichstagsgebäude. Er ironisiert die sowjetische Bilder- und Denkmalkultur mit ihren eigenen Stilmitteln und legt die Folgen der Diktatur aus Moskau offen.
Die Menschen treten zugunsten der beigegebenen Attribute zurück und verlieren ihr Gesicht, ihre Individualität. Sie sind zu leblosen, wulstigen Statuen geworden. Die Figuren stehen vor einer unwirklichen grau-braunen Landschaft mit Bergen und einem kleinen Mond. Vor diesem immergleichen Panorama, das den Stillstand symbolisiert, werden die Figuren austauschbar und zu Leerstellen. Aber auch das ganze Repertoire an Beigaben wird austauschbar. Sein Altarbild mit dem Personal der sowjetischen Nomenklatur hängt nun ausgerechnet im Clubraum über der Bar, wo der einst real existierende Sozialismus besonders surreal wirkt. Dessen Symbole sind längst veraltet, ihr kultureller Kontext vergänglich. Das kräftige Rot, großflächig an den Wänden und kleinteilig wiederkehrend auf den Bildertafeln, hat jetzt und hier einen hohen Wohlfühlfaktor.