Es riecht nach Farbe, die Gänge sind leer, nur eine der ochsenblutroten Türen steht offen. Ramponierte Schultische aus Holz, altertümliche Klassenstühle, ein paar Halbstarke rangeln und lärmen, ihre Sachen haben sie in die Ecke gepfeffert. Eine Schulklasse in Berlin, wie es sie auch überall sonst in der Republik gibt. Aber Jakob, Mustafa, Henrik, Mohamed, Vicco und Darko tun nur so als ob. Sie spielen Schule. Sie sind die Jugendtheatergruppe der Vagantenbühne in Berlin, die wie fast jeden Nachmittag seit Ende Oktober ihre fünfstündige Probe beginnt. Die Premiere ihres Stücks "Klassen Feind 2.0" ist am 5. Dezember. Die Story über gewaltbereite Jugendliche, ratlose Lehrer und das Aufeinanderprallen verschiedener Kulturen könnte kaum aktueller sein.
"Integration und Zusammenleben" und "Rechtsextremismus" waren zwei der Aspekte, unter denen sich die Teilnehmenden des Bundestagsworkshops dem diesjährigen Hauptthema "Patriotismus" näherten. Um sich Stoff für ihre Artikel zu suchen, interviewten die Nachwuchsjournalisten Jugendliche, die sich für Menschenrechte engagieren, Anerkennung in einer von Sozialpädagogen organisierten Breakdance-Gruppe suchen oder eben Theater spielen. Die Streifzüge waren auch eine Recherchereise, auf der die jungen Presseleute mit der journalistischen Verantwortung konfrontiert wurden, immer genau hinzuschauen.
"Die Medien haben die falschen Ansätze", schimpft Henrik Dießel. Sobald die Proben zu "Klassen Feind 2.0" beginnen, heißt er Hoffmann, er ist einer der Anführer. Henrik ist 23 und macht eine Ausbildung zum Erzieher. Er ist der älteste in der Theatertruppe. In den letzten Tagen haben die Jungschauspieler oft über den Amokläufer diskutiert, der Mitte November in Emsdetten mit abgesägten Schrotflinten seine ehemalige Schule stürmte. Und darüber, welches Bild Zeitungen und Fernsehen von dem Fall vermittelten. "Jetzt schieben sie wieder alles auf die Computerspiele", Henrik schüttelt den Kopf. "Und keiner überlegt, warum in seinem Tagebuch steht: Das einzige, was er an der Schule gelernt habe, ist, dass er ein Versager sei." Henrik spielt an der Kette, die an seinem rechten Jeansbein baumelt.
Die Angst zu versagen, nicht dazuzugehören, nicht mit den väterlichen Schlägen zurechtzukommen, ist eines der Leitmotive des Stücks des Briten Nigel Williams, die Uraufführung war 1978. Der Berliner Regisseur Folke Braband inszeniert "Klassen Feind" bereits zum dritten Mal, aber zum ersten Mal mit Laien, mit Jugendlichen, die zum Teil noch in die Schule gehen. Und zum ersten Mal mit einer Gruppe, die in ihrer Zusammensetzung "der heutigen Gesellschaft mehr entspricht", so Braband. "Wir wollten Charaktere zeigen, die jeder wiederkennen kann." So wie Murat, gespielt von dem 18-jährigen Mustafa Jounis. Mustafa - sein Bart ist in stylish dünne Streifen rasiert - lehnt sich lässig an die Wand und sagt: "Wir zeigen, was die Jugendlichen wirklich denken, was sie fühlen. Uns ist wichtig, dass alles so authentisch wie möglich ist, wir haben viel aus unserem Alltag eingebracht. Happy Slapping zum Beispiel, das sind Videofilme mit Gewaltszenen, aufgenommen mit dem Handy."
Jugendtheatergruppen, das zeigte auch eine andere Anlaufstelle der jungen Medienmacher, sind nicht einfach nur sensibilisiert für gesellschaftliche Themen: Sie stellen etwas auf die Beine. Wie die Schauspielerinnen und Schauspieler des Grips-Theaters mit ihrer inzwischen bundesweiten Initiative "Hiergeblieben!". Am Anfang war ein Stück über die reale Geschichte einer 13-Jährigen, die abgeschoben werden sollte. Ihre Klasse setzte sich für sie ein, sie konnte bleiben. Aber die Jugendlichen wollten mehr, sie wollten helfen. In einem ihrer ersten Appelle an die Bundesinnenministerkonferenz heißt es: Alle Kinder und Jugendlichen, "die hier leben, hierher geflohen oder hier geboren sind", sollen auch weiter bleiben dürfen. Die Initiative Pro Asyl, die Gewerkschaft für Erziehung und Wissenschaft GEW, der Berliner Flüchtlingsrat, alle machen sie inzwischen mit.
Die Angst, nicht Teil der Gesellschaft zu sein, ist nicht einfach Bühnenfiktion, sie ist bundesdeutsche Realität. Sie zeigt sich in der Unsicherheit, welche Kultur die eigene ist, ob man Deutscher ist oder Muslim, ob das eine das andere ausschließt, oder ob man einfach sagt: Ich bin Berliner.
Asghar Pourkashani kennt das. Er ist Sozialpädagoge bei Outreach, einem Berliner Projekt, das in fast allen Stadtteilen Jugendarbeit anbietet. "Wir wollen den Jugendlichen mit und ohne Migrationshintergrund das Gefühl vermitteln, dass sie dazugehören, wir wollen sie in die Gesellschaft einbinden." Sie helfen bei der Jobsuche, geben Breakdance-Training, hören zu. Und Pourkashani organisiert jedes Jahr einen Streetdance-Wettbewerb. Dieses Jahr seien 294 Tänzer dabei gewesen, erzählt er. Man wolle den jungen Menschen zeigen, dass sie wer seien, sie sollen Anerkennung bekommen. Und auch er beklagt das medial vermittelte Stereotyp: "In den Medien heißt es immer nur: Gewalt, Drogen, Kriminalität."
Die Nachwuchsreporter trafen eine der Tanzgruppen, für andere hatte Pourkashani ein Treffen mit jungen Frauen in einem Mädchenhaus organisiert. "Ich wollte, dass sie mit unseren Jugendlichen reden, sie fragen, wer sie sind, was sie machen." Die allgemeine Hoffnung: mehr Verständnis, Aha-Effekte. Und differenziert berichtende Jungjournalisten.