Das Parlament: Der ursprüngliche Gesetzentwurf zur Novelle des Stasi-Unterlagengesetzes ist passé, die Koalition hat das Gesetz überarbeitet. Ein Ergebnis Ihrer Proteste?
Detlef Stein: Sicher. Es war ja ursprünglich vorgesehen, dass die Mitarbeiter im öffentlichen Dienst künftig gar nicht mehr auf eine frühere Stasi-Tätigkeit überprüft werden können. Durch die gemeinsamen Aktionen von Bürgerrechtlern und Opferverbänden in den vergangenen Wochen konnten wir die Parlamentarier davon überzeugen, diesen wichtigen Punkt noch einmal zu überdenken. Den Schlussstrich unter die Aufarbeitung der DDR-Vergangenheit, den das Auslaufen der Regelanfrage bedeutet hätte, konnten wir so verhindern.
Das Parlament: Sind Sie mit der jetzt getroffenen Regelung zufrieden?
Detlef Stein: Nein. Das Gesetz ist janusköpfig, weil wir natürlich nach wie vor fordern, dass die Regelanfrage grundsätzlich entfristet wird. Die Fünfjahresfrist, die nun beschlossen wurde, ist für uns ausdrücklich nur die zweitbeste Lösung.
Das Parlament: Warum bestehen Sie auf der Fortführung der Regelanfrage auch über die fünf Jahre hinaus?
Detlef Stein: Ich spreche hier für einen Dachverband von 33 Verbänden mit 2,1 Millionen Mitgliedern: Wir werden mit der Fristverlängerung erst mal leben können. Aber ganz bestimmt werden wir die fünf Jahre intensiv nutzen, um diesen Punkt erneut zu diskutieren. Es ist doch eine Tatsache, dass in allen Teilen Ostdeutschlands und in vielen Verwaltungen immer noch eine Menge Menschen sitzen, die auch schon vor der Wende 1989 dort gesessen haben. In den Sozialämtern zum Beispiel. Nicht wenige der Mitarbeiter hatten vor 1989 ähnliche Funktionen in den Bezirksverwaltungen der DDR inne. Hier hat oft kein Austausch stattgefunden, die alten Eliten sind immer noch da. Das heißt, dass viele ehemalige Stasi-Leute, hauptamtliche wie inoffizielle Mitarbeiter (IM), nach der Wende unbehelligt auf ihren Posten geblieben sind.
Das Parlament: Wie ist das möglich?
Detlef Stein: Das ist passiert, weil viele Arbeitgeber im öffentlichen Dienst die Regelanfrage erst gar nicht genutzt haben. Ein Problem im Übrigen, das für die privaten Unternehmen noch viel mehr gilt: Die Regelanfrage ist für sie ohne Bedeutung, sie müssen und dürfen sie meist auch gar nicht anwenden. Das finden wir besonders schwierig. Große, renommierte Firmen, wie die Deutsche Bank zum Beispiel, haben nach 1989 Mitarbeiter aus der DDR einfach übernommen, von der Staatsbank der DDR und anderen Unternehmen. Oft wurde nicht eine einzige Überprüfung gemacht. Die Gesetzgebung, wie auch immer sie aussieht, hat darauf leider keinen Einfluss. Ändern kann man nur etwas durch gesellschaftlichen und moralischen Druck.
Das Parlament: Ein Grund, warum die Regelanfrage auslaufen sollte, war der Hinweis auf das rechtstaatliche Prinzip der Verjährung, wie es auch im Strafrecht existiert. Warum sollte das für ehemalige Stasi-Mitarbeiter nicht gelten?
Detlef Stein: Wenn wir einen Vergleich mit den Kriminellen zulassen, werden wir der Sache nicht gerecht. Es gab bis 1989 Menschen in der DDR, die ihre Mitbürger systematisch verraten und über Monate und Jahre bespitzelt haben. Viele Biografien wurden so zerstört, nicht wenige Opfer leiden bis heute unter posttraumatischen Problemen. Wir schauen deshalb sehr genau hin, wie Menschen mit einer Stasi-Vergangenheit in unserer freiheitlich-demokratischen Gesellschaft ihre Karriere voranbringen. Wir sprechen dabei nicht von tausenden Tätern, sondern von hunderttausenden, wenn man einmal die gesamten 40 Jahre der DDR-Diktatur betrachtet. Solange diese Täter in keiner Art und Weise zu ihrer eigenen Geschichte stehen, sie sogar verklären und so lange sie, wie in den vergangenen zwei Jahren geschehen, damit sogar massiv in der Öffentlichkeit auftreten, fordern wir, die Regelanfrage ohne Befristung fortzusetzen.
Das Parlament: Das zu verhindern, wird immer schwieriger. Ab 2007 können nur noch wenige Personen auf eine frühere Stasi-Tätigkeit überprüft werden.
Detlef Stein: Das halten wir für absolut nicht gerecht. Es sollten auch weiterhin alle Mitarbeiter im öffentlichen Dienst überprüft werden - ohne Einschränkung. Und das nicht nur in Ostdeutschland! Uns liegen inzwischen die Rosenholz-Dateien vor und eine Reihe neuester wissenschaftlicher Arbeiten. Diese Dokumente beweisen, dass die Stasi, insbesondere die "Hauptabteilung Aufklärung" (HVA), im Westen ein viel größeres Umfeld hatte, als wir bislang angenommen haben. Die Menschen im Westen sollten also akzeptieren, dass die Stasi-Problematik auch ein Teil ihrer eigenen Nachkriegsgeschichte ist.
Das Parlament: Sie wollen eine Ausweitung der Regelanfrage?
Detlef Stein: Dazu würde ich unbedingt raten. Möglich sind Überprüfungen von Bundesbürgern ja jetzt schon. Aber wenn das neue Gesetz den zu überprüfenden Personenkreis derart einschränkt, ist es das absolute Minimum, dass die Regelanfrage künftig auch in ganz Deutschland angewendet wird. Nur meinen noch immer viele Politiker im Westen, dass dieses Thema allein den Osten betrifft.
Das Parlament: Nach einer aktuellen Umfrage der "Leipziger Volkszeitung" sind 63 Prozent der Menschen in Ost und West gegen weitere Stasi-Überprüfungen.
Detlef Stein: Das ist nachvollziehbar. Die gesellschaftliche und soziale Realität vieler Menschen ist heute so schwierig, dass sie sich mit den so genannten "Altlasten" nicht mehr beschäftigen wollen. Und doch werden wir weiter darum streiten, dass wir in den nächsten fünf Jahren eine Mehrheit für die Entfristung bekommen. Der Diskurs über den Umgang mit der DDR-Geschichte und der Stasi-Vergangenheit muss fortgesetzt werden.
Das Interview führte Johanna Metz.