Es kann schon sein, dass wir in Zukunft noch mehr für Gesundheit ausgeben müssen. Womöglich sogar sehr viel mehr. Aber das können wir nur dann feststellen, wenn wir uns zunächst auf die medizinischen Inhalte konzentrieren. Beim Bau eines neuen Autos ist das nicht anders: Erst definiert man das Produkt - die Ausstattung, die Motorisierung und das Design. Danach macht man einen Konstruktionsplan, das so genannte Pflichtenheft, und legt die Lieferantengruppen fest. Dann erst diskutiert man über die Kosten. In der Politik jedoch wird beim Thema Gesundheit genau umgekehrt vorgegangen. Über die Kostendiskussion kommt man nicht hinaus, das Pflichtenheft wird ständig gewechselt und das Produkt nicht definiert.
Mit wachsendem Unbehagen ist zu beobachten, dass alle Diskussionen keinen wirklichen Fortschritt im Sinne einer besseren medizinischen Versorgung bewirken. Im Gegenteil: Über das, was Medizin eigentlich leisten soll, nämlich Wiederherstellung, Erhaltung und Steigerung von Lebensqualität, wird fast nicht mehr geredet. Genauso wenig über denjenigen, um den es eigentlich geht - den Patienten. Dabei verfügen wir heute über moderne, schonende und ambulante Diagnose- und Therapieverfahren, die, in der Breite angewendet, nicht nur besser wären als andere, überholte Methoden, sondern auch noch kostengünstiger. Und doch fehlt es entweder am Willen, sich in diese Richtung zu bewegen, oder aber am Wissen über die neuesten Entwicklungen. Außerdem verstellt ausgeprägtes Lobbydenken leider manchen Akteuren den Blick für den gesamtgesellschaftlichen Zusammenhang. Entscheidend für ein Gesundheitswesen ist nicht der teilreduzierte Blick auf den Menschen als Bündel von Funktionen, sondern der ganzheitliche Ansatz: Körper - Geist - Seele. Und ganzheitlich sollte auch die Versorgung in dem Sinne sein, dass die beste allen zusteht. Dass sich einige mehr leisten können oder wollen - diese Form von "Klassenmedizin" gab es immer und wird es wohl in der Marktwirtschaft immer geben.
Individuell gesehen ist Gesundheit zwar nicht alles, aber in Abwandlung des geflügelten Wortes über das Geld ganz im Sinne des jungen Goethe: Ohne Gesundheit ist alles nichts. Gleichzeitig hat Gesundheit eine erhebliche volkswirtschaftliche Dimension: Nur gesunde Menschen können durch ihre Leistungen für Wachstum und Wohlstand sorgen, wobei unter "gesund" mehr zu verstehen ist als die bloße Abwesenheit von Krankheit. Gesundheit ist in diesem weiteren Sinn ein entscheidender Wirtschaftsfaktor. Ein hoher Krankenstand schwächt nicht nur die Ökonomie nachhaltig, auch die Gesellschaft nimmt Schaden. Ist die Bevölkerung hingegen gesund und stimmen die Arbeitsbedingungen, bedeutet dies steigende Leistungsfähigkeit und ein Plus an Lebensqualität. Wenn das Stimmungsbarometer innerhalb der Gesellschaft nach oben zeigt, sind die Menschen motiviert und leis-
tungsbereit. Auch für die Wettbewerbsfähigkeit einer Wirtschaft spielt die Medizin somit eine entscheidende Rolle. Um die Frage zu klären, welche Versorgung jedem zugänglich sein muss, sollten wir zunächst entscheiden, welche Qualität der Krankheits- und Gesundheitsversorgung wir eigentlich haben wollen. Es geht dabei um etwas ganz Grundlegendes: Was ist uns Gesundheit wert? In diesem Kontext geht es schließlich auch um die kulturelle Dimension, die Klärung unseres Welt- und Menschenbildes.
Ein anderer Punkt: Müssen wir alles medizinisch Machbare in die Tat umsetzen? Denken wir zum Beispiel an die Gentechnik oder das Klonen. Wollen wir diese Diskussion wirklich nur den Ethikkommissionen überlassen? Nein, wir alle sind gefordert - denn bestimmte Entwicklungen können so gravierend sein, dass sie später nicht mehr zurückzudrehen sind. Dabei gilt andererseits auch, die eindeutig positiven Entwicklungen den Betroffenen so schnell wie möglich zukommen zu lassen.
Medizinisch ist es so: Nur wenn alle Komponenten unseres Gesundheitssystems optimal vernetzt sind, können Krankheiten effektiver behandelt werden. Dazu gehört die richtige Kombination und Koordination von ambulanter und stationärer Versorgung, von Vorsorge, Akutbehandlung und Rehabilitation, von Schulmedizin und Alternativmedizin, von medizinischen und psychosozialen Bereichen, von Netzwerken der Hausärzte, der niedergelassenen Ärzte, der Krankenhäuser und Kompetenzzentren - dieses Netzwerk ist konsequent zu entwickeln.
Selbstverständlich sind sinnvolle Sparpotenziale auszuloten und auszuschöpfen. In der Medizin gibt es einen so rasanten Wissenszuwachs, dass sich das medizinische Wissen alle drei bis fünf Jahre verdoppelt. Während es jedoch für Ärzte eine Pflicht der medizinischen Weiterbildung gibt, gilt dies bisher nicht für die Entscheider im Gesundheitsbereich. Daher hängen sie leider oft an Veraltetem und häufig viel zu Teurem.
Ein Beispiel: Einerseits wird geklagt über die Kosten für mehr als eine halbe Million diagnostischer Herzkatheteruntersuchungen. Andererseits beklagen wir jährlich in Deutschland 90.000 Herzinfarkt-Tote - unter ihnen viele "in den besten Jahren" und viele, bei denen es vorher keine Anzeichen für einen plötzlichen Herztod gab. Dabei gibt es inzwischen äußerst erfolgreiche High-Tech-Verfahren zur Prävention von Herzinfarkten - ohne Katheter und ambulant durchführbar. Eine Spitzenmethode zur Vorsorge und zum rechtzeitigen Einsatz gezielter Gesundheitsförderungsprogramme.
Die Reformbemühungen der Gesundheitspolitiker kranken demnach vor allem daran, dass überwiegend Teilaspekte thematisiert werden und im Vordergrund die Suche nach kurzfristigen Sparmöglichkeiten steht. Dabei geht es gerade nicht um die kurzfristig billigsten Lösungen, sondern um die mittel- und langfristig effektivsten. Erst eine Gesamtschau, die Medizin und Wirtschaft zusammen denkt, wird einen nachhaltigen Lösungsansatz ermöglichen. Nicht nur das Gesundheitssystem, sondern die gesamte Gesellschaft wird bei Erkrankungen belastet. Zu den direkten Kosten einer Krankheit addieren sich die indirekten durch Krankschreibungen, Arbeits- und Produktionsausfall sowie Renten.
Das Heilen von Krankheiten verlangt neben medizinischen Kenntnissen die Einbindung von umfassender Anamnese, gezielter und hochwertiger Diagnostik, von Prävention und schonender Therapie in Kombination mit körperzentrierten Verfahren. Im Angebot braucht es außerdem alternativ-naturheilkundliche, immunologische, psychosoziale Maßnahmen sowie Rehabilitation, Kur und Fitness. Und nicht zuletzt gehört zu diesem Therapie-Mix die mitmenschliche Entschleunigung des Umgangs zwischen Arzt und Patient.
Der Hausarzt alter Prägung erlebt hier eine Renaissance. Seine Stellung sollte im Sinne des traditionellen Familienarztes wieder gestärkt werden. Der Hausarzt kennt in der Regel nicht nur die Krankengeschichte und die Familiensituation gut, sondern auch die beruflichen Gegebenheiten des einzelnen Menschen. Oft werden Klagen laut, dass der Arzt einfach zu wenig Zeit hat. Diese Kritik ist nicht unberechtigt, wenn man an die zunehmenden bürokratischen Belastungen der Ärzte denkt. Dabei sollten die bewährten Tugenden der Ärzte insgesamt wieder mehr zum Zuge kommen: Zuhören, Gespräche führen, geduldig nachfragen und umfassend körperlich untersuchen. Kurz: Die "hörende und sprechende Medizin" sollte zu ihrem Recht kommen. Und zu angemessenem Honorar.
In unserem immer komplexer werdenden System kommt dem Hausarzt daher eine zentrale Aufgabe zu, denn er wird zukünftig im Sinne eines Gesundheitsmanagers die Fäden in der Hand halten. Er steht nicht nur am Anfang der medizinischen Beratungskette, sondern entscheidet auch oder gibt doch wenigstens Tipps, wann ein Patient wohin überwiesen wird, welche fachärztlichen und technischen Möglichkeiten er nutzen sollte, wie Liegezeiten minimiert werden können, wann eine Rückkehr in seine Obhut geraten erscheint und vieles mehr. Eine leider noch kaum entwickelte Vernetzung mit Fachärzten und Kliniken könnte ihm diese Aufgaben entscheidend erleichtern.
Eine deutliche Aufwertung im medizinischen Kanon sollte die Prävention erfahren. Denn nur umfassende Vorbeugung kann die großen Volkskrankheiten schon im Ansatz bekämpfen. Regelmäßige Check-ups beim Hausarzt, beim Sportmediziner oder bei anderen Fachärzten sind die Basis dazu. Gibt es Hinweise auf Krankheiten, sollte die moderne Diagnostik rasch eingesetzt werden, beispielsweise zur Früherkennung von Arteriosklerose oder zur Verhinderung eines Bandscheibenvorfalls.
Und eines sollten wir bei alldem nicht vergessen: Wir haben in Deutschland ein unglaubliches Potenzial an Know-how und Kreativität in Medizin und Medizintechnik. Nach aktuellen Zahlen ist der Gesundheitssektor der größte Arbeitgeber in Deutschland, mit über vier Millionen Beschäftigten. Und die "internationale Bedeutung der Medizintechnik ist enorm gestiegen", sagte Uwe Berkermann, Branchenanalyst der IKB Deutsche Industriebank in Düsseldorf, gerade erst in einem Interview. "Derzeit liegt Deutschland zwar noch an Position drei hinter den USA und Japan", so der Experte, doch fühle man sich gut gerüstet, um es in die Weltspitze zu schaffen.
Nutzen wir unsere Chancen! Machen wir "med. in Germany" zu einem international gültigen Qualitätssiegel - ganz so wie einst "made in Germany".
Der Autor ist Professor für Radiologie und Mikrotherapie an der Universität Witten/Herdecke.