Deutscher Bundestag Drucksache 12/815
12. Wahlperiode 19. 06. 91
Antrag der Abgeordneten Willy Brandt, Dr. Burkhard Hirsch,
Dr. Günther Krause (Börgerende), Maria Michalk, Dr.
Rainer Ortleb, Dr. Wolfgang Schäuble, Dr. Oscar Schneider
(Nürnberg), Dr. Hermann Otto Solms, Wolfgang Thierse, Dr.
Wolfgang Ullmann, Dr. Hans-Jochen Vogel und weiterer Abgeordneter
Vollendung der Einheit Deutschlands
In Einlösung seiner Beschlüsse, in denen
der Deutsche Bundestag seinen politischen Willen vielfach bekundet
hat, daß nach der Herstellung der Deutschen Einheit Parlament
und Regierung wieder in der deutschen Hauptstadt Berlin sein sollen,
wolle der Bundestag beschließen:
- Sitz des Deutschen Bundestages ist Berlin.
- Die Bundesregierung wird beauftragt, gemeinsam
mit der Verwaltung des Deutschen Bundestages und dem Senat von
Berlin bis zum 31. 12. 1991 ein Konzept zur Verwirklichung dieser
Entscheidung zu erarbeiten. Dabei soll mit der Herrichtung der
notwendigen Kapazitäten für Tagungen des Deutschen Bundestages,
seiner Fraktionen, Gruppen und Ausschüsse in Berlin schnell
begonnen werden. Die Arbeitsfähigkeit soll in vier Jahren
hergestellt sein. Bis dahin finden in der Bundeshauptstadt Plenarsitzungen
des Deutschen Bundestages nur auf Beschluß des Ältestenrates
in besonderen Fällen statt. Die volle Funktionsfähigkeit
Berlins als Parlaments- und Regierungssitz soll in spätestens
10 bis 12 Jahren erreicht sein.
- Der Deutsche Bundestag erwartet, daß die
Bundesregierung geeignete Maßnahmen trifft, um ihrer Verantwortung
gegenüber dem Parlament in Berlin nachzukommen und in entsprechender
Weise in Berlin ihre politische Präsenz dadurch sichert,
daß der Kernbereich der Regierungsfunktionen in Berlin angesiedelt
wird.
- Zwischen Berlin und Bonn soll eine faire Arbeitsteilung
vereinbart werden, so daß Bonn auch nach dem Umzug des Parlaments
nach Berlin Verwaltungszentrum der Bundesrepublik Deutschland
bleibt, indem insbesondere die Bereiche in den Ministerien und
die Teile der Regierung, die primär verwaltenden Charakter
haben, ihren Sitz in Bonn behalten; dadurch bleibt der größte
Teil der Arbeitsplätze in Bonn erhalten. Darüber hinaus
werden für die Region Bonn -- von der Bundesregierung bzw.
von einer unabhängigen Kommission -- unter Mitwirkung der
Länder Nordrhein-Westfalen und Rheinland-Pfalz sowie der
Stadt Bonn Vorschläge erarbeitet, die als Ausgleich für
den Verlust des Parlamentssitzes und von Regierungsfunktionen
die Übernahme und Ansiedlung neuer Funktionen und Institutionen
von nationaler und internationaler Bedeutung im politischen, wissenschaftlichen
und kulturellen Bereich zum Ziel haben.
- Der Hauptstadtvertrag zwischen der Bundesregierung
in der Stadt Bonn soll zu einem Bonn-Vertrag fortentwickelt werden
zum Ausgleich der finanziellen Sonderbelastung Bonns und der Region
durch die Funktionsänderungen.
- Die Bundestagspräsidentin wird gebeten, eine
Kommission aus Vertretern aller Verfassungsorgane, der obersten
Bundesbehörden und von weiteren unabhängigen Persönlichkeiten
zu berufen. Diese Kommission soll -- als unabhängige Föderalismuskommission
-- Vorschläge zur Verteilung nationaler und internationaler
Institutionen erarbeiten, die der Stärkung des Föderalismus
in Deutschland auch dadurch dienen sollen, daß insbesondere
die neuen Bundesländer Berücksichtigung finden mit dem
Ziel, daß in jedem der neuen Bundesländer Institutionen
des Bundes ihren Standort finden. Auch vorhandene Institutionen
des Bundes in Berlin stehen dafür zur Disposition.
- Die Ergebnisse dieser Arbeiten sollen von der Bundesregierung
und der Kommission dem Deutschen Bundestag so rechtzeitig zugeleitet
werden, daß er bis zum 30. Juni 1992 dazu Beschlüsse
fassen kann.
- Der Deutsche Bundestag geht davon aus, daß
der Bundespräsident seinen 1. Sitz in Berlin nimmt.
- Der Deutsche Bundestag empfiehlt dem Bundesrat,
in Wahrnehmung seiner förderalen Tradition seinen Sitz in
Bonn zu belassen.
Bonn, den 19. Juni 1991
Willy Brandt
Dr. Burkhard Hirsch
Dr. Günther Krause (Börgerende)
Maria Michalk
Dr. Rainer Ortleb
Dr. Wolfgang Schäuble
Dr. Oscar Schneider (Nürnberg)
Dr. Hermann Otto Solms
Wolfgang Thierse
Dr. Wolfgang Ullmann
Dr. Hans-Jochen Vogel
Ulrich Adam
Gerd Andres
Dietrich Austermann
Dr. Gisela Babel
Angelika Barbe
Heinz-Günter Barkfrede
Holger Bartsch
Richard Bayha
Dr. Sabine Bergmann-Pohl
Hans-Dirk Bierling
Wilfried Böhm (Melsungen)
Wolfgang Börnsen (Bönstrup)
Arne Börnsen (Ritterhude)
Edelgard Bulmahn
Dankward Buwitt
Wolf-Michael Catenhusen
Joachim Clemens
Peter Conradi
Dr. Nils Diederich (Berlin)
Dr. Peter Eckardt
Wolfgang Ehlers
Rainer Eppelmann
Carl Ewen
Horst Eylmann
Anke Eymer
Jochen Feilcke
Dirk Fischer (Hamburg)
Dr. Gerhard Friedrich
Katrin Fuchs (Verl)
Hans-Joachim Fuchtel
Dr. Margret Funke-Schmitt-Rink
Jörg Ganschow
Monika Ganseforth
Norbert Gansel
Horst Gibtner
Elisabeth Grochtmann
Karl Hermann Haack (Extertal)
Hans-Joachim Hacker
Gerlinde Hämmerle
Manfred Hampel
Christel Hanewinckel
Klaus Harries
Dr. Ingomar Hauchler
Klaus-Jürgen Hedrich
Dr. Renate Hellwig
Günther Heyenn
Reinhold Hiller (Lübeck)
Stephan Hilsberg
Gabriele Iwersen
Claus Jäger
Renate Jäger
Ulrich Junghanns
Dr.-Ing. Dietmar Kansy
Dr. Franz-Hermann Kappes
Peter Kittelmann
Günter Klein (Bremen)
Siegrun Klemmer
Ulrich Klinkert
Dr. Hans-Hinrich Knaape
Roland Kohn
Manfred Kolbe
Regina Kolbe
Jürgen Koppelin
Arnulf Kriedner
Dr.-Ing. Paul Krüger
Wolfgang Kubicki
Dr. Klaus Kübler
Hinrich Kuessner
Dr. Uwe Küster
Eckart Kuhlwein
Helmut Lamp
Detlev von Larcher
Herbert Lattmann
Walter Link (Diepholz)
Dr. Christine Lucyca
Wolfgang Lüder
Heinrich Lummer
Dr. Diedrich Mahlo
Lothar de Maizière
Erwin Marschewski
Günter Marten
Dorle Marx
Ulrich Mascher
Christoph Matschie
Heide Matischeck
Markus Meckel
Ulrike Mehl
Herbert Meißner
Dr. Bruno Menzel
Dr. Angela Dorothea Merkel
Dr. Hedda Meseke
Dr. Jürgen Meyer (Ulm)
Dr. Reinhard Meyer zu Bentrup
Wolfgang Mischnick
Dr. Christian Neuling
Volker Neumann (Bramsche)
Gerhard Neumann (Gotha)
Dr. Rolf Niese
Johannes Nitsch
Dr. Rolf Olderog
Manfred Opel
Angelika Pfeiffer
Dr. Gero Pfennig
Rosemarie Priebus
Susanne Rahardt-Vahldieck
Gerhard Reddemann
Klaus Reichenbach
Renate Rennebach
Dr. Klaus Röhl
Helmut Schäfer (Mainz)
Siegfried Scheffler
Otto Schily
Cornelie Schmalz-Jacobsen
Horst Schmidtbauer (Nürnberg)
Wilhelm Schmidt (Salzgitter)
Dr. Jürgen Schmieder
Dr. Jürgen Schmude
Michael von Schmude
Dr. Emil Schnell
Dr. Rupert Scholz
Reinhard Freiherr von Schorlemer
Ottmar Schreiber
Dr. Conrad Schroeder (Freiburg)
Gisela Schröter
Dietmar Schütz
Brigitte Schulte (Hameln)
Dr. R. Werner Schuster
Ernst Schwanhold
Rolf Schwanitz
Dr. Christian Schwarz-Schilling
Wilfried Seibel
Bodo Seidenthal
Werner H. Skowron
Dr. Hartmut Soell
Dr. Cornelie Sonntag-Wolgast
Wieland Sorge
Bärbel Sothmann
Dr. Rudolf Sprung
Dr. Jürgen Starnick
Dr. Lutz G. Stavenhagen
Antje-Marie Steen
Erika Steinbach-Hermann
Dr. Wolfgang Freiherr von Stetten
Karl Stockhausen
Dr. Peter Struck
Michael Stübgen
Margitta Terborg
Jürgen Türk
Siegfried Vergin
Karsten D. Voigt (Frankfurt)
Gerd Wartenberg (Berlin)
Dr. Konstanze Wegner
Reinhard Weis (Stendal)
Gunter Weißgerber
Gert Weisskirchen (Wiesloch)
Inge Wettig-Danielmeier
Dr. Margrit Wetzel
Gabriele Wiechatzek
Dr. Bertram Wieczorek (Auerbach)
Dr. Roswitha Wisniewski
Peter Kurt Würzbach
Werner Zywietz
Begründung
- Zur Vollendung der Einheit Deutschlands gehört
die dauerhafte Entscheidung über den Sitz der Verfassungsorgane
des Bundes. Der Deutsche Bundestag soll deswegen mit diesem Beschluß
über seinen Sitz entscheiden. Mit dieser Entscheidung wird
der in Art. 2 Abs. 1 des Einigungsvertrages formulierte Auftrag
erfüllt. Zugleich sollen Ausgleichsmaßnahmen für
die Region Bonn und Entscheidungen über die Ansiedlung wichtiger
Funktionen in den neuen Bundesländern vorbereitet werden.
- Der Deutsche Bundestag hat sich seit seiner ersten
Wahlperiode kontinuierlich dafür ausgesprochen, nach der
Herstellung der Einheit Deutschlands Parlament und Regierung als
notwendige hauptstädtische Funktionen (Formulierung Drs.
2/3167) nach Berlin zu verlegen.
In der 11. Sitzung der 1. Wahlperiode hat der Deutsche
Bundestag am 30. September 1949 erstmalig beschlossen, daß
Berlin für die Bundesrepublik Deutschland »in Zukunft
wieder ihre Hauptstadt werden soll«. In der 14. Sitzung (Drs.
1/135/143) wurde mit überwältigender Mehrheit beschlossen:
»Die leitenden Bundesorgane verlegen ihren Sitz
in die Hauptstadt Deutschlands, Berlin, sobald allgemeine, freie,
gleiche, geheime und direkte Wahlen in ganz Berlin und in der
sowjetischen Besatzungszone durchgeführt sind.«
Dieser Beschluß gilt noch heute, er soll durch
den vorliegenden Antrag konkretisiert werden. Er wurde in den
bisherigen 11 Wahlperioden des Deutschen Bundestages mehrfach
durch Beschlüsse und Bekundungen bekräftigt, beginnend
in der 2. Wahlperiode (190. Sitzung am 6. 2. 1957, Drs. 3116 bei
nur 4 Gegenstimmen), zuletzt in der 11. Wahlperiode durch Bekundungen
in der Debatte der 197. Sitzung vom 15. Februar 1990.
Die Ausbauplanung des Bundestages in Bonn begründete
Bundestagspräsident Stücklen vor dem deutschen Parlament,
indem er die Vorzüge Bonns würdigte und die Bedeutung
Berlins klarstellte:
»Diese Bemühungen haben nichts mit Bestrebungen
zu tun, die gewöhnlich in die Worte gekleidet werden, daß
nun das _ehemalige Provisorium_ Bonn auf dem Wege zur _echten
Hauptstadt_ sei. Bonn ist eine schöne, eine liebenswerte,
eine gastfreundliche Stadt, und es ist inzwischen auch zum Träger
gesamtstaatlicher deutscher Tradition geworden -- ähnlich
wie früher schon Frankfurt als die Stadt der Kaiserwahlen,
des Deutschen Bundes und der Paulskirche. Die hier in diesem Saal,
in dieser Stadt getroffenen Schicksalsentscheidungen der Nachkriegszeit
sind ebenfalls wesentliche Bestandteile unserer nationalen Geschichte
geworden. Dennoch -- die eigentliche Hauptstadt Deutschlands ist
Berlin. Und dieses Berlin wird eines Tages auch wieder voll seine
alte Hauptstadtfunktion erfüllen. Dies ergibt sich ganz einfach
aus der Tatsache, daß die
Deutschen hüben und drüben in einem einzigen
freien deutschen Staat leben wollen.
Solange uns allerdings die Teilung unseres Vaterlandes
aufgezwungen bleibt, wird Berlin in seiner politischen Funktion
als Hauptstadt -- als Parlaments- und Regierungssitz des freien
Deutschland -- durch Bonn vertreten.« (168. Sitzung der 8.
Wahlperiode)
- Zur Bedeutung Berlins als Parlaments- und Regierungssitz
hat Bundespräsident von Weizsäcker in seinem Memorandum
von Ende Februar 1991 Stellung genommen. Der Bundespräsident
stellte sich damit in die Kontinuität der Bekundungen unserer
Bundespräsidenten, die Heinrich Lübke in der 80. Sitzung
der 3. Wahlperiode des Bundestages mit einer Erklärung begann,
in der er u. a. ausführte:
»Bei solcher Gemeinsamkeit des Willens zur Einheit
kann auch Berlin seinen unveräußerlichen Rang als politischer
Mittelpunkt Deutschlands erfolgreicher behaupten. Das Gefühl
für die Bedeutung unserer deutschen Hauptstadt lebt in unserem
Volke stärker denn je.«
Der Alterspräsident des Bundestages hat zur
Eröffnung der 12. Wahlperiode, unter dem Beifall aller Fraktionen
mit Ausnahme der PDS, im Berliner Reichstag am 20. 12. 1990 an
die politisch-moralische Bedeutung Berlins erinnert:
»Wenn zwischen 19046 und 1962 -- ich könnte
auch sagen: 1971 -- Berlin (West) nicht standgehalten hätte,
wären wir heute nicht hier versammelt.«
- Im Sinne der zitierten politischen Grundaussagen
der demokratisch gewählten deutschen Parlamente ist die Entscheidung
für Berlin ein Bekenntnis zur ganzen deutschen Geschichte
und zugleich zu einem geschichtlichen Neuanfang, der mit der deutschen
Einigung eröffnet worden ist. Die Entscheidung für Berlin
ist eine Investition des Vertrauens in die Entwicklung der neuen
Bundesländer; sie stellt eine -- dem Föderalismus dienende
-- Ergänzung der politischen, wirtschaftlichen und kulturellen
Zentren dar, wie sie sich in den letzten 40 Jahren in der Bundesrepublik
Deutschland entwickelt haben, ohne deren Entfaltungsmöglichkeiten
zu beeinträchtigen; sie setzt dabei einen Akzent auf die
Einbeziehung der neuen Länder in die Entwicklung und Verteilung
der demokratischen Institutionen des geeinten Deutschlands und
vermag einen besonderen Beitrag zum politischen Zusammenwachsen
Deutschlands zu leisten insofern, als in Berlin die Einheit Deutschlands
am schnellsten und sinnfälligsten vollzogen werden muß
und wird; sie ist ein Zeichen für den nach der erfolgreichen
westeuropäischen Integration möglich gewordenen gesamteuropäischen
Einigungsprozeß.
- Der Vollzug der Entscheidung über den Sitz
des Parlaments (und auch von Regierungsstellen) erfordert Zeit,
damit sich sowohl die betroffenen Mitarbeiter, als auch die Bürger
beider Städte auf die neue Situation einstellen können,
damit in vernünftigen Fristen geplant und Aufgabenteilung
zwischen beiden Städten festgelegt werden kann, damit auch
die Planungen in Berlin in angemessener Form und auf sparsamste
Weise umgesetzt werden können. Hierbei ist zu berücksichtigen,
daß Berlin die Stadt ist, in der der Bund den meisten Grund-
und Immobilienbesitz in Deutschland hat, über den er im Vollzug
der 2 + 4-Verträge auch zunehmend frei verfügen kann.
- Für die Region Bonn, für ihre Bürger
und für die Wirtschaft, muß ein angemessener Funktionsausgleich
gefunden werden, was in der gewählten Zeitspanne von 10--12
Jahren besonders im Hinblick auf das vergrößerte Europa
und die gewachsene Bedeutung Deutschlands auch möglich ist.
Es ist dies eine Pflicht, die sich daraus ergibt, daß Bonn
über 4 Jahrzehnte der deutschen Teilung die Funktion des
provisorischen Sitzes von Parlament und Regierung wahrgenommen
hat.
- Im Zusammenhang mit der Entscheidung über
die wirklichen Hauptstadtfunktionen sollten Vorschläge entwickelt
werden, die die Stärkung des Föderalismus in Deutschland
bezwecken, indem sie bei künftigen Entscheidungen über
Standorte von Bundeseinrichtungen und
internationalen Institutionen den neuen Bundesländern
Vorrang gewähren (so z. B. für die Städte Weimar,
Leipzig, Halle/Dessau, Rostock).
- Der Deutsche Bundestag soll in die Lage versetzt
werden, seine aus den Vorschlägen von Bundesregierung und
unabhängiger Kommission zu entwickelnden Beschlüsse
so rechtzeitig zu fassen, daß sie mit dem Beginn der grenzfreien
Europäischen Gemeinschaft im erweiterten Europa wirken können.
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