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Rund acht Millionen Bundesbürger haben eine Patientenverfügung verfasst. Doch wie verbindlich sind diese Willensbekundungen? Immer häufiger kommt es am Krankenbett zu Verunsicherung, zum Streit zwischen Ärzten, Verwandten und Vormundschaftsgerichten. Soll ein Gesetz für die notwendige Klarheit sorgen oder würde das nur neue Probleme bringen? Darüber diskutiert nicht nur gegenwärtig der Bundestag, sondern auch BLICKPUNKT BUNDESTAG im Streitgespräch mit dem SPD-Abgeordneten Joachim Stünker und Josef Winkler von Bündnis 90/Die Grünen.
Blickpunkt Bundestag: Warum, Herr Stünker, sind Sie für eine gesetzliche Regelung bei den Patientenverfügungen?
Joachim Stünker: Weil Millionen von Menschen Patientenverfügungen gemacht haben im Vertrauen darauf, dass das, was sie dort bestimmt haben, im Krankheitsfall auch rechtlich verbindlich ist. Leider wird diese Verbindlichkeit immer noch sehr unterschiedlich gesehen, obwohl die höchstrichterliche Rechtsprechung seit Jahren auf deren Beachtung drängt. Als Gesetzgeber wollen und sollten wir nicht den Menschen vorschreiben, Patientenverfügungen zu machen, sehr wohl aber dafür sorgen, dass die Bürger Rechtssicherheit haben, wenn sie für den Fall einer schweren Krankheit selbst bestimmt haben, was mit ihnen geschehen soll.
Blickpunkt: Gilt diese Argumentation auch für Sie, Herr Winkler? Sie sind ja gelernter Krankenpfleger. Wie haben Sie die schweren Entscheidungen am Sterbebett erlebt? Stehen da Ärzte und Verwandte nicht im wahrsten Sinne des Wortes vor existenziellen Fragen?
Josef Winkler: Natürlich möchte auch ich, dass Klarheit und Sicherheit am Krankenbett herrschen. Deshalb halte auch ich eine gesetzliche Regelung für nötig und sinnvoll. Aber die Verbindlichkeit von Patientenverfügungen muss da ihre Grenzen finden — und da unterscheide ich mich vom Kollegen Stünker —, wo sie zur Beendigung von Leben führt. Der Vorwurf, dass dann alle Patientenverfügungen hinfällig würden, stimmt nicht. Denn sehr viele Patientenverfügungen wären durch diese Begrenzung nicht betroffen, weil sie nur Maßnahmen für einen bestimmten Krankenverlauf regeln und nicht nur für die letzte Phase des Lebens.
Stünker: Aber die entscheidende Frage bleibt doch: Kann ich eine Entscheidung, die ich im Zustand der Geschäftsfähigkeit getroffen habe, rechtlich transformieren in einen Zustand, wo ich mich verbal oder durch Körpersprache nicht mehr äußern kann? Das ist die Frage, die wir klar beantworten müssen, und ich beantworte sie mit Ja.
Blickpunkt: Dass so viele Menschen — rund acht Millionen — eine Patientenverfügung verfasst haben, liegt an der Angst vor einer Fremdherrschaft der Apparatemedizin, vor einem unwürdigen Tod. Aber denken Menschen im Endstadium möglicherweise nicht doch anders als zuvor? Hängen Sie vielleicht mehr am Leben als früher gedacht? Relativiert dies den Wert von Patientenverfügungen?
Winkler: Es stimmt: Wenn Menschen sehr krank sind, denken sie oft anders und können sich Situationen als lebenswert vorstellen, die sie als Gesunder ausgeschlossen hätten. Das ist unbestritten, ich selbst habe das oft erlebt. Wenn man aber in einer Patientenverfügung festgelegt hat, was mit einem passieren soll, hat man als jemand, der sich nicht mehr artikulieren kann, keine Möglichkeit mehr, ein Update vorzunehmen. Das ist der Nachteil einer Patientenverfügung.
Stünker: Hier wird ein schiefes Bild gezeichnet. Denn die meisten Verfügungen werden von älteren Menschen verfasst. Und sie machen diese sehr bewusst, nicht leichtfertig. Sie ahnen, dass ihr Leben absehbar ist, dass sie mit Krankheiten rechnen müssen. Sie wollen nach dem zweiten oder dritten Schlaganfall eben nicht reanimiert werden, wollen keine Magensonde, wenn sie nicht mehr schlucken können. Diese Menschen haben einen Anspruch darauf, dass das, was sie ganz bewusst in dieser Phase ihres Lebens bestimmt haben, akzeptiert wird. Das ist sogar ein Verfassungsrecht. Denn Artikel 2 unseres Grundgesetzes normiert ein Recht auf Leben und auf körperliche Unversehrtheit. Die Frage, ob ich möglicherweise doch später anders denke, ist eine hypothetische Frage, die niemand beantworten kann.
Winkler: Das ist keineswegs eine nur hypothetische Frage, sie kommt durchaus oft vor! Ich finde deshalb, dass Herr Stünker es sich zu einfach macht, immerhin geht es um Fragen von Leben und Tod. Die darf man nicht auf die leichte Schulter nehmen. Mir ist die Gleichsetzung des mutmaßlichen Willens mit dem aktuellen Willen nicht verständlich, weil es ausblendet, dass hier durchaus eine Konkurrenz bestehen kann.
Stünker: Es geht doch gar nicht um die Gleichsetzung des mutmaßlichen mit dem aktuellen Willen. Es geht immer um den aktuellen Willen. Der aktuelle Wille muss ermittelt werden; und er wird es durch das, was mal verfügt worden ist. Natürlich ist auch einzubeziehen, wie sich der Patient in der letzten Zeit noch geäußert hat — im Krankenhaus oder gegenüber Angehörigen.
Blickpunkt: Sollte es eine Pflicht zur regelmäßigen Aktualisierung von Patientenverfügungen geben?
Stünker: Auf jeden Fall sollten Verfügungen immer neu überdacht werden. In welchem Rhythmus, ob etwa alle zwei oder fünf Jahre, ist schwierig zu beschreiben. Von einer gesetzlichen Pflicht dazu halte ich nicht so viel.
Blickpunkt: Wie sollte überhaupt eine Patientenverfügung aussehen? Wie detailliert muss sie sein? Kann ein Laie alle medizinischen Eventualitäten überblicken? Müsste es eine Pflicht zur ärztlichen Beratung geben?
Winkler: Formvorschriften müssen sicherlich sein. Patientenverfügungen per Vordruck sind der Sache nicht angemessen. Aber wir müssen gleichwohl aufpassen, dass wir nicht durch zu viele formale Vorgaben viele Patientenverfügungen ungültig machen und sagen: Zurück auf los!
Blickpunkt: Der entscheidende Streitpunkt im Parlament — wobei die Fronten quer durch alle Lager gehen — betrifft die Reichweite von Patientenverfügungen. Sie, Herr Stünker, und die Anhänger Ihres Gesetzentwurfes, wollen die bisherige Reichweite von Patientenverfügungen erhalten und bestätigen; der Gegenentwurf aus den Reihen der Union, der SPD, der FDP und der Grünen würde die Wirksamkeit einschränken: Nur noch für den Fall von Erkrankungen mit „irreversibel tödlichem Verlauf” dürften Patienten lebensverlängernde Maßnahmen ablehnen. Warum halten Sie das für falsch, Herr Stünker?
Stünker: Weil das letzten Endes auf eine staatlich verordnete medizinische Zwangsbehandlung hinausläuft. Denn der Entwurf spricht davon, dass unumkehrbar der Krankheitsverlauf zum Tod führen muss. Das bedeutet, dass im ganzen Zeitraum zuvor der Mensch medizinische Eingriffe in seinen Körper erdulden muss, obwohl er das gar nicht will. Das ist mit dem Selbstbestimmungsrecht des Menschen nicht vereinbar. Noch einmal: Die Freiheit der Person ist unverletzlich. Der Mensch hat ein Recht auf Leben, nicht aber die Pflicht zu leben.
Winkler: Ich finde, man sollte das Selbstbestimmungsrecht nicht absolut setzen, sondern in Abwägung mit dem Lebensschutz bringen. Hier müssen wir nach einem Ausgleich suchen. Wer todkranke Patienten zunächst weiter behandelt, verstößt nicht gegen unsere Verfassung.
Blickpunkt: Was ist mit der zunehmenden Zahl von Demenzkranken, die sich nicht eindeutig artikulieren können?
Winkler: Hier sind wir noch im Gespräch, aber wir wollen keine festen Kategorien von Krankheiten einführen. Ich finde, bei Demenzkranken sollten auf keinen Fall medizinische Maßnahmen ausgeschlossen werden, denn aus meiner Erfahrung leben sie in ihrer neuen Persönlichkeitsstruktur jahrelang noch oft glücklich und zufrieden. Anders mag es sein, wenn Demenzkranke zu schwersten Pflegefällen werden, vor dem Tod stehen. Dann sollten, denke ich, lebensbeendende Maßnahmen möglich sein.
Stünker: Aber es geht doch gar nicht um medizinische lebensbeendende Maßnahmen! Es geht darum, dass bestimmte medizinische Maßnahmen nicht vorgenommen werden. Das ist ein wichtiger Unterschied. Und es geht darum, dass das, was der Mensch in seine Patientenverfügung hineingeschrieben hat, nämlich dass er einen bestimmten Krankheitsverlauf für sich akzeptiert und zum Ende kommen lassen will, befolgt wird.
Blickpunkt: Viele Menschen haben Angst vor einem schmerzhaften Tod. Bräuchten wir statt neuer Gesetze nicht eher einen massiven Ausbau der Schmerztherapie?
Stünker: Richtig. Die Palliativmedizin muss dringend ausgebaut werden. Darüber sind wir uns alle einig. Niemand sollte im Sterbeprozess Schmerzen erleiden.
Winkler: Absolut einverstanden.
Blickpunkt: Bundesärztekammer-Präsident Jörg-Dietrich Hoppe plädiert dafür, auf das geplante Gesetz zu verzichten. „Sterben ist nicht normierbar”, sagt er. Richtig?
Stünker: Nein, überhaupt nicht. Wir wollen auch nicht Sterben normieren, sondern den selbstbestimmten Willen der Patienten akzeptieren und rechtlich durchsetzen.
Winkler: Ich habe den Eindruck, der Bundesärztekammer geht es darum, den Nimbus vom Halbgott in Weiß noch möglichst lange aufrechtzuerhalten. Einige Ärzte möchten den Entscheidungsspielraum weiter allein für sich behalten. Doch die Zeiten sind vorbei.
Josef Winkler (Bündnis 90/Die
Grünen),
Jahrgang 1974, ist seit 2002 Mitglied des Deutschen Bundestages.
Der gelernte Krankenpfleger unterstützt den
fraktionsübergreifenden Gruppenantrag zum „Entwurf eines
Gesetzes zur Verankerung der Patientenverfügung im
Betreuungsrecht”.
E-Mail:
josef.winkler@bundestag.de
Webseite:
www.josef-winkler.de
Joachim Stünker (SPD),
Jahrgang 1948, ist seit 1998 Mitglied des Deutschen Bundestages.
Der Jurist und Richter hat einen Entwurf erarbeitet für eine
gesetzliche Regelung der Patientenverfügung.
E-Mail:
joachim.stuenker@bundestag.de
Webseite:
www.stuenker.de
Das Gespräch führte
Sönke Petersen.
Fotos: Photothek
Erschienen am 18. Juni 2007