60. Sitzung
Berlin, Donnerstag, den 26. Oktober 2006
Beginn: 9.00 Uhr
* * * * * * * * V O R A B - V E R Ö F F E N T L I C H U N G * * * * * * * *
* * * * * DER NACH § 117 GOBT AUTORISIERTEN FASSUNG * * * * *
* * * * * * * * VOR DER ENDGÜLTIGEN DRUCKLEGUNG * * * * * * * *
Präsident Dr. Norbert Lammert:
Die Sitzung ist eröffnet.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich begrüße Sie alle herzlich und wünsche Ihnen einen guten Morgen und uns einen schönen und hoffentlich erfolgreichen Tag.
Vor Eintritt in die Tagesordnung möchte ich mit einigen Hinweisen des 50. Jahrestages des ungarischen Volksaufstandes gedenken.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, in diesen Tagen ist es 50 Jahre her, seit das ungarische Volk im Oktober und November 1956 aufstand, um sich gegen Unrecht und Unterdrückung zu wehren, die kommunistische Herrschaft abzuschütteln und individuelle Freiheit und nationale Selbstbestimmung zu erkämpfen. Was mit einer Studentendemonstration begann, wuchs rasch zu einer Volksbewegung. Der Aufstand war nicht vorhersehbar, wohl aber sein Ausgang. Der Aufstand endete in einer blutigen Tragödie, weil die Staatsmacht mit brutaler Härte zurückschlug, unterstützt von sowjetischen Panzern. Die Opfer zählten nach Tausenden und die Unterjochung der nach Freiheit strebenden Menschen hinterließ Bitterkeit und tiefe Wunden in Ungarns Seele.
Als sowjetische Truppen in Ungarn einmarschierten, löste das in der freien Welt Empörung und Entsetzen aus und die ohnmächtige Wut, zuschauen zu müssen, wie der Freiheitswille eines Volkes mit Waffengewalt niedergeknüppelt wurde. Der Bundestag kam damals spontan zu einer Sondersitzung zusammen. Bundeskanzler Adenauer sagte damals vor den Abgeordneten dieses Hauses - ich zitiere -:
Ich glaube, daß wir allen Anlaß haben, voller Bewunderung dieses Freiheitskampfes zu gedenken, der noch immer andauert. Das Wissen darum, daß die ungarische Nation in ihrem Freiheitskampf allein steht, daß sie wohl die moralische Unterstützung aller freien Völker der Welt genießt, aber daß die nackte Gewalt stärker zu sein scheint als die heroischen Anstrengungen dieses Volkes, muß uns in diesen Tagen quälen und sollte niemanden unberührt lassen, für den die Worte ?Demokratie“ und ?Freiheit“ mehr bedeuten als ein unverbindliches Lippenbekenntnis. Es ist keine unzulässige Einmischung in die inneren Verhältnisse eines anderen Volkes, wenn die Bundesregierung heute und hier an dieser Stelle ihre Bewunderung für diesen Freiheitskampf zum Ausdruck bringt ...
Damals hat weder Konrad Adenauer noch irgendjemand sonst wissen können, dass die ?Einmischung“ Ungarns in die inneren Verhältnisse des deutschen Volkes 33 Jahre später eine der wesentlichen Voraussetzungen für die Überwindung der deutschen Teilung wurde.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, die Deutschen fühlten damals wie viele andere im freien Teil Europas mit den Ungarn. Sie konnten es sehr offen tun - im unfreien Teil unseres Landes und Europas, wenn überhaupt, nur mit verdeckter Sympathie. Viele Ungarn, die nach dem Aufstand flüchten mussten, haben Zuflucht in Deutschland gefunden.
Der ungarische Volksaufstand von 1956 ist, wie wir heute noch besser wissen als damals, eines der herausragenden Ereignisse in der jüngeren ungarischen und europäischen Geschichte. Er ist ein Glied in der Kette des mutigen und schließlich doch erfolgreichen Widerstands gegen Unfreiheit und Unterdrückung durch kommunistische Diktaturen. Wie der Arbeiteraufstand vom 17. Juni 1953 in der DDR und der Prager Frühling im Jahr 1968 in der Tschechoslowakei zählt er zu den Bestrebungen nach mehr Freiheit und nach Reformen, die zunächst am militärischen Eingreifen der Sowjetunion scheiterten und in der Niederlage am Ende dennoch triumphierten. Denn damals wurden die Keime für die friedlichen Revolutionen von 1989 gelegt.
Die großen Veränderungen des Jahres 1989 in Ungarn wie in Deutschland sind ohne die Ereignisse von 1953, 1956 oder 1968 nicht denkbar. Wir Deutsche wissen sehr genau, welch großen Anteil Ungarn an der Überwindung der deutschen Teilung hat. Am 10. September 1989 öffnete Ungarn seine Grenzen für die Bürger der DDR. Was an der österreichisch-ungarischen Grenze begann, leitete die Serie von Ereignissen ein, die schließlich auch zur Einheit der Deutschen in Frieden und Freiheit führte. Es war Ungarn, das den ersten Stein aus der Berliner Mauer geschlagen hat.
An Ungarns Mut erinnert eine Gedenktafel am Reichstagsgebäude als - so steht es auf dieser Tafel - ?ein Zeichen der Freundschaft zwischen dem deutschen und dem ungarischen Volk, für ein vereintes Deutschland, für ein unabhängiges Ungarn, für ein demokratisches Europa“.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, in diesen Tagen, in denen sich Ungarn und die ganze Welt an den Volksaufstand vor 50 Jahren erinnern, fühlen wir uns den Menschen in Ungarn auf besondere Weise verbunden. Wir wissen sehr genau, was diese 13 Tage im Herbst 1956 für das Land und seine Menschen bedeuten. Sie sollen wissen, was sie für uns bedeuten.
Wir trauern um die Opfer, die im Kampf für Ungarns und Europas Freiheit ihr Leben verloren haben. Wir sind glücklich und dankbar, dass Ungarn heute ein gleichberechtigtes Mitglied der demokratischen europäischen Staatenfamilie ist, die gemeinsam an einer Zukunft in Frieden und Freiheit arbeitet.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, interfraktionell ist vereinbart worden, die verbundene Tagesordnung um die in der Zusatzpunktliste aufgeführten Punkte zu erweitern:
ZP 1 Weitere Überweisungen im vereinfachten Verfahren
(Ergänzung zu TOP 30)
Beratung des Antrags der Abgeordneten Monika Knoche, Hüseyin-Kenan Aydin, Dr. Diether Dehm, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der LINKEN
Kosovo-Verhandlungen - für eine neutrale Moderation und eine eigenverantwortliche und einvernehmliche Lösung zwischen Serbien und den Kosovo-Albanern
- Drucksache 16/3093 -
Überweisungsvorschlag:
Auswärtiger Ausschuss
ZP 2 Beratung des Antrags der Fraktionen der CDU/CSU, der SPD, der FDP und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN
EU-Beitritt Bulgariens und Rumäniens zum Erfolg führen
- Drucksache 16/3090 -
Die Tagesordnungspunkte 7 c und 28 werden abgesetzt. Von der Frist für den Beginn der Beratungen soll, soweit erforderlich, abgewichen werden.
Schließlich mache ich auf drei geänderte Ausschussüberweisungen im Anhang zur Zusatzpunktliste aufmerksam:
Die in der 57. Sitzung des Deutschen Bundestages überwiesenen nachfolgenden Anträge sollen zusätzlich dem Ausschuss für Tourismus (20. Ausschuss) zur Mitberatung überwiesen werden.
Antrag der Abgeordneten Matthias Berninger, Grietje Bettin und der Fraktion des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN
PC-Gebühren-Moratorium verlängern
- Drucksache 16/2793 -
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Kultur und Medien (f)
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und
Verbraucherschutz
Ausschuss für Tourismus
Antrag der Abgeordneten Hans-Joachim Otto (Frankfurt), Christoph Waitz, Dr. Karl Addicks, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP
Keine Rundfunkgebühr für Computer mit Internetanschluss - Die Gebührenfinanzierung des öffentlich-rechtlichen Rundfunks grundlegend reformieren
- Drucksache 16/2970 -
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Kultur und Medien (f)
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und
Verbraucherschutz
Ausschuss für Tourismus
Antrag der Abgeordneten Dr. Lothar Bisky, Dr. Lukrezia Jochimsen, Dr. Petra Sitte, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der LINKEN
Moratorium für PC-Gebühren - Sofortige Neuverhandlung des Rundfunkgebührenstaatsvertrages
- Drucksache 16/3002 -
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Kultur und Medien (f)
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und
Verbraucherschutz
Ausschuss für Tourismus
Sind Sie mit diesen Vereinbarungen einverstanden? - Ich höre dazu keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.
Wir kommen nun zum Tagesordnungspunkt 4:
Abgabe einer Erklärung durch die Bundesregierung
Weißbuch 2006 zur Sicherheitspolitik Deutschlands und zur Zukunft der Bundeswehr
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für die Aussprache im Anschluss an die Regierungserklärung 90 Minuten vorgesehen. - Auch dazu höre ich keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.
Das Wort zur Abgabe einer Regierungserklärung hat der Bundesminister der Verteidigung, Dr. Franz Josef Jung.
Dr. Franz Josef Jung, Bundesminister der Verteidigung:
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Bevor ich zum eigentlichen Anlass dieser Debatte komme, möchte ich ein paar Bemerkungen zu den Bildern von den Vorfällen in Afghanistan machen, die wir gestern alle mit Abscheu und Entsetzen zur Kenntnis genommen haben. Dieses Verhalten steht im diametralen Widerspruch zu den Werten unseres Grundgesetzes und zu der Ausbildung, die die Bundeswehr auf der Basis der inneren Führung durchführt.
Wer sich so verhält, hat in der Bundeswehr keinen Platz.
Sie wissen, dass die Vorfälle aus dem Frühjahr des Jahres 2003 stammen. Deshalb bin ich froh darüber, dass es uns innerhalb von 24 Stunden gelungen ist, sechs Täter konkret zu ermitteln. Vier gehören der Bundeswehr nicht mehr an, zwei gehören ihr noch an. Wir werden alle disziplinarrechtlichen und strafrechtlichen Konsequenzen ziehen. Wir werden die Täter einer gerechten Strafe zuführen.
Ich habe aber die herzliche Bitte, aus diesem Vorfall keine Pauschalverdächtigung abzuleiten.
200 000 Soldatinnen und Soldaten der Bundeswehr waren in Auslandseinsätzen tätig. Sie haben ihren risikoreichen Auftrag in einer hervorragenden Art und Weise erfüllt und das Ansehen der Bundesrepublik Deutschland gemehrt.
Ich habe unseren Generalinspekteur Schneiderhan, der heute hier anwesend ist, gebeten, noch einmal die Ausbildungsgrundlagen zu überprüfen und die Frage der entsprechenden Begleitung von Auslandseinsätzen zu klären, um gegebenenfalls Anpassungen vornehmen zu können. Ich glaube, wir sind uns einig: Unser Anliegen ist, dass die Soldaten der Bundeswehr auch und gerade in den herausfordernden Einsätzen im Ausland die Werte unseres Grundgesetzes vermitteln und vorleben. Dafür sollten wir uns gemeinsam einsetzen.
Lassen Sie mich jetzt zu dem eigentlichen Thema kommen, nämlich zum von der Bundesregierung vorgelegten ?Weißbuch 2006 zur Sicherheitspolitik Deutschlands und zur Zukunft der Bundeswehr“, das das Bundeskabinett gestern in einer Sitzung im Bundesverteidigungsministerium verabschiedet hat. Dieses Weißbuch wird von der Bundesregierung zwölf Jahre nach Herausgabe des letzten Weißbuches vorgelegt.
Wenn Sie sich vor Augen führen, was sich im Hinblick auf die Fragen der Sicherheitspolitik und der sicherheitspolitischen Herausforderungen - auch im Hinblick auf die Situation der Bundeswehr - seit 1994 alles verändert hat, dann wird Ihnen deutlich, welch ein Transformationsprozess bei der Bundeswehr stattgefunden hat. Im Jahre 1994 gab es weder einen Einsatz auf dem Balkan noch einen Einsatz in Afghanistan noch einen Einsatz am Horn von Afrika noch einen Einsatz im Kongo noch einen Einsatz im Libanon.
Wir standen damals auch noch nicht vor den Herausforderungen, die sich aus dem 11. September 2001 ergeben haben. Ich bin froh darüber und dankbar dafür - denn es ist dringender denn je -, dass es gestern gelungen ist, ein Weißbuch zur sicherheitspolitischen Standortbestimmung der Bundesrepublik Deutschland einvernehmlich zu verabschieden.
An dieser Stelle möchte ich einen Satz zu den aktuellen Irritationen im Hinblick auf den Libanoneinsatz sagen, über die ich heute gelesen habe. Ich will vor diesem Hohen Hause unterstreichen, dass wir deutlich gemacht haben, dass wir die UN-Resolution unterstützen, dass wir mit UNIFIL gut und effektiv zusammenarbeiten, dass wir klare Rules of Engagement haben. Die Zusammenarbeit mit der libanesischen Armee erfolgt in einer hervorragenden Art und Weise. Auf unserem Führungsschiff befindet sich ein Verbindungsoffizier. Im Hinblick auf die Befahrerlaubnis innerhalb der Sechsmeilenzone gibt es keine Konditionierungen, sodass wir unseren Auftrag - die Unterstützung der Souveränität des Libanon und die Durchsetzung des Waffenstillstands sind unser Ziel - sachgerecht, so, wie ihn der Bundestag beschlossen hat, erfüllen können.
Das Weißbuch soll die Grundlage für eine sicherheitspolitische Debatte in Deutschland sein. Ich denke, dass wir uns inhaltlich noch mehr mit diesen Fragen auseinander setzen müssen; denn es geht um die Sicherheit unserer Bürgerinnen und Bürger. Das Koordinatensystem und die Herausforderungen haben sich in den letzten Jahren entscheidend verändert. Auch darüber müssen wir in der Öffentlichkeit eine Diskussion führen.
Durch die Sicherheitspolitik und insbesondere durch die Auslandseinsätze rückt auch unsere Verantwortung, die wir im Rahmen unserer internationalen Verpflichtungen wahrnehmen, mehr in den Blickpunkt. Deshalb denke ich, dass das Weißbuch zum richtigen Zeitpunkt erscheint. Am 1. Januar 2007 übernimmt Deutschland die EU-Ratspräsidentschaft. Darüber hinaus hat Deutschland danach auch den Vorsitz in der G 8. Unsere internationalen Partner und Verbündeten haben große Erwartungen an uns. Deshalb ist es gut, dass wir unsere Vorstellungen zur Sicherheitspolitik klar und deutlich formuliert und im Weißbuch vorgelegt haben. Bei seinem gestrigen Besuch hat der NATO-Generalsekretär mir gegenüber noch einmal darauf hingewiesen, wie dankbar er ist, dass die Bundesrepublik Deutschland auf diese Art und Weise ihre internationalen Verpflichtungen wahrnimmt und ihren Beitrag zu Frieden stiftenden Einsätzen in der Welt leistet.
Meine Damen und Herren, Deutschlands Sicherheit ist untrennbar mit der politischen Entwicklung in Europa und in der Welt verbunden. Deshalb denke ich, es ist richtig, dass wir die sicherheitspolitischen Herausforderungen, die sich unserem Land zurzeit stellen, eindeutig und klar benannt haben. Dabei geht es erstens um die Herausforderungen durch den internationalen Terrorismus, zweitens um die Herausforderungen im Hinblick auf die weltweite Weiterverbreitung von Massenvernichtungswaffen und Trägermitteln und drittens um die Herausforderungen durch innerstaatliche Konflikte, Staatszerfall und ähnliche Krisen, die auch für unser Land Bedrohungslagen mit sich bringen. Es ist notwendig und wichtig, dass wir diesen Risiken und Bedrohungen rechtzeitig vor Ort begegnen, bevor sie eine Gefahrensituation für unser Land darstellen. Insofern liegen die Einsätze der Bundeswehr im Interesse der Sicherheit unserer Bürgerinnen und Bürger.
Ich habe gerade gesagt: Bislang waren insgesamt mehr als 200 000 Soldatinnen und Soldaten in Auslandseinsätzen. Aktuell sind 9 000 Soldatinnen und Soldaten auf drei Kontinenten im Einsatz. Deshalb stellt sich zu Recht die Frage - sie wird nicht nur von Bürgerinnen und Bürgern, sondern auch von Soldaten gestellt -: Auf welcher Grundlage ist die Notwendigkeit derartiger Einsätze zu beurteilen?
Aufgrund welcher Interessen und welcher Werteorientierung finden diese Einsätze statt?
Es ist gut, dass wir diese Grundprinzipien im Rahmen unseres Weißbuches formuliert haben. Niemand wird die Auffassung vertreten, wir würden lediglich einen Katalog von eins bis zehn formulieren, ihn abhaken und dann könne der Auslandseinsatz stattfinden.
Das würde, glaube ich, unserer Verantwortung im Hinblick auf die Abwägung nicht gerecht.
Aber eines sollte klar sein: Die Auslandseinsätze müssen den Werten unseres Grundgesetzes entsprechen, sie müssen den Zielen und Verantwortlichkeiten im Rahmen unserer internationalen Verpflichtungen entsprechen, und sie müssen unseren Interessen entsprechen. Auf dieser Wertegrundlage muss dann die Entscheidung getroffen werden, an welchen Einsätzen wir uns beteiligen und an welchen nicht. Niemand wird den Anspruch erheben, dass wir eine Art Weltpolizei darstellen sollten. Aber wir müssen unseren Beitrag zur Krisen- und Konfliktbewältigung vor Ort leisten, um Bedrohungen für unser Land abzuwehren. Das entspricht unseren Werten, unserem Auftrag und unseren Interessen.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, unsere Verantwortung in der Außen- und Sicherheitspolitik muss eingebettet sein in die transatlantischen Beziehungen der Nordatlantischen Allianz und in die Fortentwicklung einer Europäischen Verteidigungs- und Sicherheitspolitik, aber auch in die Fortentwicklung der Europäischen Union insgesamt. Deshalb müssen die deutsch-amerikanischen Beziehungen auf einer freundschaftlichen und vertrauensvollen Grundlage weiterentwickelt werden. Dadurch können wir auch den Verbund zu unserem stärksten Anker in der Sicherheits- und Verteidigungspolitik, der NATO, herstellen. Die NATO muss die Grundlage unserer kollektiven Verteidigung bleiben und auch in Zukunft die Garantie für Sicherheit und Verteidigung in Deutschland, aber auch darüber hinaus, darstellen.
Die NATO verfügt über ein einzigartiges militärisches Kräftedispositiv und hat die Fähigkeiten, Konflikte zu beenden. Ich darf an die Situation auf dem Balkan erinnern: Es war dort erst möglich, befriedend und stabilisierend zu wirken, als die NATO Verantwortung übernommen hat. Wir haben den Einsatz in Bosnien-Herzegowina jetzt in eine europäische Verantwortung überführt. Aber wir brauchen im Kosovo weiterhin die Unterstützung der NATO. Ich hoffe, dass mit einem positiven Ergebnis der Statusverhandlungen der Prozess der Stabilisierung und friedlichen Entwicklung dieser Region vorankommt. Letztlich müssen wir alles daransetzen, dass eine Situation, wie sie in dieser Region, die mitten in Europa liegt, entstanden ist, nicht wieder vorkommt, indem wir die Region politisch stabilisieren und dazu beitragen, dass sie sich friedlich entwickelt - im Interesse Europas, aber auch im Interesse unseres eigenen Landes.
Die Europäische Verteidigungs- und Sicherheitspolitik ist weiter fortentwickelt worden. Als diese Bundesregierung ins Amt kam, hat niemand voraussehen können, dass wir in diesem Jahr einen europäisch verantworteten Einsatz im Kongo durchführen würden oder einen, so darf ich sagen, europäisch dominierten Einsatz im Libanon. Dies zeigt, wie sich auch im Rahmen der Europäischen Verteidigungs- und Sicherheitspolitik die Dinge fortentwickelt haben.
Was ich dabei als einen ganz wichtigen, entscheidenden Punkt ansehe, ist, dass NATO und Europäische Union nicht in Konkurrenz zu sehen sind, sondern in einer partnerschaftlichen Beziehung miteinander stehen. NATO und Europäische Union bedingen einander, sie sind keine Konkurrenten. In dieser Art und Weise sollten wir unsere Sicherheitspolitik auch in Zukunft fortentwickeln.
Wir haben in diesem Halbjahr die Verpflichtung übernommen - auch das ist ein wichtiger Punkt, der in der öffentlichen Diskussion oft nicht auftaucht -, für die Schnelle Einsatztruppe der NATO, die NATO Response Force, die über insgesamt 25 000 Soldaten verfügt, 6 600 deutsche Soldaten zu stellen. Für die Schnellen Einsatztruppen Europas, die EU-Battle-Groups, von denen ab dem zum 1. Januar 2007 unter anderem gemeinsam mit den Niederlanden und mit Finnland eine bilden, stellen wir 1 500 deutsche Soldaten. Das zeigt, dass hier eine partnerschaftliche Beziehung zu entwickeln ist. Duplizitäten sind auf jeden Fall zu vermeiden. Denn es hat niemand die Kraft, Doppelungen vorzuhalten, weil die Europäische Sicherheits- und Verteidigungspolitik in einer partnerschaftlichen Beziehung zwischen NATO und Europäischer Union fortzuentwickeln ist. Auf dieser Grundlage wird zu entscheiden sein, welche Schnelle Einsatztruppe in welchem Gebiet gegebenenfalls zum Einsatz kommt.
Ein zentraler Punkt dieses Weißbuches ist, dass die deutsche Sicherheitspolitik auf einem umfassenden Sicherheitsbegriff beruht. Sie ist vorausschauend und sie ist multilateral angelegt. Sicherheit kann weder rein national noch allein durch Streitkräfte gewährleistet werden. Die Erfahrungen der Bundeswehr im Einsatz zeigen ganz deutlich, dass unser umfassender Sicherheitsansatz richtig ist. Wenn ich das so sagen darf: Das Konzept der verbundenen oder der vernetzten Sicherheit spielt eine zentrale Rolle in diesem Weißbuch, es zieht sich sozusagen wie ein schwarz-rot-goldener Faden durch das Weißbuch. Ich glaube, dass wir gerade im Rahmen unserer internationalen Verantwortung immer wieder deutlich unterstreichen müssen, dass unsere Sicherheitspolitik militärische, aber auch entwicklungspolitische, wirtschaftliche, humanitäre, polizeiliche und nachrichtendienstliche Instrumente der Konfliktverhütung und der Krisenbewältigung integriert. Dies muss auch im Rahmen unserer internationalen Verpflichtungen der Fall sein. Ich bin sicher, dass wir etwa eine Operation wie die in Afghanistan nur dann erfolgreich bewerkstelligen können, wenn wir nicht nur militärisch Sicherheit herstellen, sondern auch alles daransetzen, den Wiederaufbau voranzubringen, damit wir die Herzen der Bevölkerung gewinnen, damit man uns nicht als Besatzungsmacht empfindet, sondern als Sicherheitsgaranten, der eine positive Entwicklung ermöglicht. Nur dann werden wir - das ist meine felsenfeste Überzeugung - in einem Prozess wie dem in Afghanistan erfolgreich sein. Ich bin froh, dass sich diese Überzeugung auch innerhalb der NATO jetzt doch weitestgehend durchsetzt.
Meine Damen und Herren, natürlich muss man sich bei einer vernetzten Sicherheitspolitik immer wieder auch die Frage stellen, wo sich beispielsweise Berührungspunkte zwischen innerer und äußerer Sicherheit ergeben. Dies hat schon oft zu entsprechenden öffentlichen Diskussionen geführt. Ich will hier nur sagen, dass wir auch in diesem Weißbuch deutlich gemacht haben, dass es heute neue terroristische Bedrohungen gibt, für deren Abwehr die Fähigkeiten der Polizei beispielsweise im Hinblick auf die Luftsicherheit und die Seesicherheit nicht ausreichen, sodass man dort die Fähigkeiten der Bundeswehr zum Schutz unserer Bürgerinnen und Bürger nutzen muss. Deshalb erachten wir eine entsprechende verfassungsrechtliche Änderung für notwendig. Ich bin mir sicher - die Federführung dafür hat ja der Bundesinnenminister -, dass wir diese auch alsbald gewährleisten können.
Ich glaube, wir haben eine Verantwortung gegenüber unserer Bevölkerung dafür, dass wir den Schutz optimal gewährleisten. Niemand von uns will, dass von der Bundeswehr originäre Polizeiaufgaben übernommen werden. Wenn es aber eine terroristische Bedrohung aus der Luft oder von See her gibt und die polizeilichen Mittel nicht ausreichen, dann muss man die Möglichkeit haben, die Fähigkeiten der Bundeswehr zu nutzen, um unsere Bevölkerung umfassend schützen zu können.
Meine Damen und Herren, eine aktiv gestaltende Sicherheitspolitik erfordert eine leistungsfähige Bundeswehr. Vergessen wir nicht: Wir haben eine Verantwortung für rund 360 000 Menschen mit und ohne Uniform, die in der Bundeswehr tätig sind - sei es im Bereich soldatischen Tuns, sei es im Bereich der zivilen Verwaltung. Die Bundeswehr hat den größten Wandel ihrer Geschichte und aller europäischen Armeen hinter sich. Wenn ich daran denke, was der Bundestagspräsident einleitend gesagt hat, dann muss ich hinzufügen: Als ich noch Bundeswehrsoldat war, habe ich den Einmarsch der Sowjetunion in die Tschechoslowakei und den letzten scharfen Alarm erlebt. Wir haben diese Situation zum Glück überwunden und wir sind zu einer Armee der Einheit geworden. Die Bundeswehr hat einen unglaublichen Prozess durchlaufen. Wir haben die innere Einheit Deutschlands innerhalb der Bundeswehr erreicht. Ich wäre froh, wenn wir hinsichtlich der inneren Einheit unseres Landes in den anderen gesellschaftlichen Bereichen genauso weit wie die Bundeswehr wären.
Die Bundeswehr ist zu einer Armee im Einsatz geworden, die auf der Grundlage unserer Philosophie des Staatsbürgers in Uniform, auf der Grundlage unseres Grundgesetzes, wie ich es einleitend gerade gesagt habe, und auf den Grundsätzen der inneren Führung operiert und die ihre Tätigkeit auch weiterhin auf diesen leitenden Prinzipien aufbaut. Jeder Vorgesetzte, der Verantwortung trägt, muss durch sein Verhalten Vorbild sein; denn nur so kann der richtige Geist in der Truppe vorgelebt werden.
Dies gilt auch hinsichtlich der Traditionen innerhalb der Bundeswehr. Für uns stehen die preußischen Heeresreformen, der militärische Widerstand gegen das NS-Regime - gestern haben wir das Weißbuch im Stauffenbergsaal verabschiedet -, die Geschichte der Bundeswehr und die Werte des Grundgesetzes im Mittelpunkt. Das ist die Grundlage für unsere Traditionen und für die Tradition der Bundeswehr. In dieser Art und Weise sollten wir die Bundeswehr auch fortentwickeln.
Ein letzter Gedanke. Ich bin froh darüber, dass wir vereinbaren konnten, die Bundeswehr auf der Basis der allgemeinen Wehrpflicht fortzuentwickeln. Die Erfolgsgeschichte der Bundeswehr ist durch die Wehrpflichtarmee geprägt. Die allgemeine Wehrpflicht stellt die Verbindung der Bundeswehr mit unserer Gesellschaft dar. Deshalb bin ich froh darüber, dass wir eine Übereinstimmung dahin gehend erzielt haben, die Wehrpflichtarmee auch in Zukunft beizubehalten.
Meine Damen und Herren, ich denke, dass die Leistungen der Bundeswehr - die Einsatzfähigkeit sowohl im Äußeren als auch zum Schutz unseres Landes - unseren Rückhalt und auch unseren Dank verdienen. Denn unsere Soldatinnen und Soldaten verteidigen das Recht und die Freiheit des deutschen Volkes: unser Recht und unsere Freiheit. Unser Ziel bleibt ein Deutschland, das auch in der Welt von morgen handlungsfähig, bündnisfähig und gestaltungsfähig ist, ein Deutschland, das sich im Interesse der Sicherheit seiner Bürgerinnen und Bürger aktiv für diese Sicherheit einbringt.
Ich danke Ihnen.
Präsident Dr. Norbert Lammert:
Ich eröffne die Aussprache und erteile das Wort der Kollegin Birgit Homburger, FDP-Fraktion.
Birgit Homburger (FDP):
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Herr Minister, ich möchte Ihnen zu Beginn meiner Rede für die klaren Worte danken, die Sie für die schockierenden Vorgänge gefunden haben, die gestern öffentlich geworden sind und von denen wir noch nicht wissen, welchen politischen Schaden sie anrichten werden. Das ist alles noch nicht absehbar.
Es hat aber - das will ich deutlich sagen - auch etwas mit dem Weißbuch zu tun; denn Sie beschreiben im Weißbuch zu Recht die Prinzipien der inneren Führung, die seit 50 Jahren in der Bundeswehr gelten. Angesichts der Tatsache, dass es diese Prinzipien gibt, ist es umso alarmierender, dass solche Vorgänge in der Bundeswehr möglich sind.
Ich kann Ihre Feststellung, dass die an solchen Vorgängen Beteiligten wissen müssen, dass es für sie in der Bundeswehr keinen Platz gibt, nur unterstreichen. Wer so etwas tut, hat in der Bundeswehr nichts verloren.
Ich möchte Sie auch hinsichtlich einer schnellen Aufklärung unterstützen. Wir brauchen eine schnelle, umfassende und restlose Aufklärung dieser Vorfälle. Das sind wir vor allen Dingen all den Soldatinnen und Soldaten schuldig, die sich gegenwärtig in Auslandseinsätzen befinden, die sich vorbildlich verhalten und eine hervorragende Arbeit leisten. Ihnen sind wir schuldig, dass diese Vorwürfe gegenüber der Bundeswehr so schnell wie möglich ausgeräumt werden.
Wir warten seit Monaten gespannt auf das Weißbuch. Immerhin muss man konstatieren, Herr Minister, dass Sie das geschafft haben, woran Rot-Grün gescheitert ist, nämlich ein Weißbuch vorzulegen. Wer allerdings ein außen- und sicherheitspolitisches Grundsatzdokument erwartet hat, das eine längerfristige Orientierung liefert, die über den Horizont von Regierungen hinausgeht, der fühlt sich völlig verloren.
In diesem Weißbuch ist keine gesamtpolitische Konzeption erkennbar. Es verliert sich auf vielen Seiten in der Beschreibung bestehender Strukturen. Wer Antworten auf die Fragen sucht, die Sie selbst zu Beginn in verschiedenen Szenarien aufwerfen, wird dies vergeblich tun. Da ist an dieser Stelle völlige Fehlanzeige. Sie haben die Chancen, die mit diesem Weißbuch verbunden waren, schlicht und ergreifend nicht genutzt, meine Damen und Herren von der Koalition.
Herr Minister, Sie haben sich zu Recht zu den Diskussionen über den UNIFIL-Einsatz geäußert, weil auch im Weißbuch die Auslandseinsätze noch einmal dokumentiert sind. Sie haben hier festgestellt, dass es im Zusammenhang mit dem UNIFIL-Mandat für die Bundesmarine keinerlei Konditionierung hinsichtlich des Einsatzes gibt, Herr Minister. Dann möchte ich aber von Ihnen Auskunft über den schriftlichen Bericht an das Parlament, den wir aus Ihrem Hause erhalten haben. Was stimmt denn jetzt? Trifft das zu, was in dem Bericht enthalten ist - nämlich dass Operationen in der Sechsmeilenzone ausschließlich auf Anforderung Libanons möglich sind -, oder das, was Sie hier gesagt haben, Herr Minister? Darüber brauchen wir als Parlament Aufklärung. Denn dies war einer der zentralen Punkte, die im Rahmen der Diskussion über das UNIFIL-Mandat eine Rolle gespielt haben. Selbst die Bundeskanzlerin hat auf einer Pressekonferenz auf Nachfrage zu der damaligen Siebenmeilenzone erklärt: Nein, es gibt sie nicht. ?Wir können den gesamten Bereich befahren, wie es erforderlich ist.“ - Das ist O-Ton Bundeskanzlerin Merkel.
Das, was wir nun wissen, bedeutet aber, dass dem Waffenschmuggel in einer Zone von bis zu 6 Seemeilen Tür und Tor geöffnet ist und dass die Marine nicht selbstständig handeln kann. Das ist nicht etwa ein militärisches Detail und keine technische Vereinbarung mit dem Libanon, Herr Minister. Dieser Aspekt war vielmehr für viele Kolleginnen und Kollegen dieses Hauses entscheidend. Sie machen das Gegenteil von dem, was Sie dem Deutschen Bundestag versprochen haben. Damit wird der Einsatz zur Farce; denn eine effektive Kontrolle des Waffenschmuggels ist nicht mehr möglich. Das, meine sehr verehrten Damen und Herren von der Bundesregierung, ist Wortbruch gegenüber dem Parlament. Das werden wir nicht dulden.
Herr Minister, ich hätte mir gewünscht, dass Sie etwas zu dem nun öffentlich gewordenen Zwischenfall mit der israelischen F-16-Maschine gesagt hätten. Das ist doch ein kapitaler Vorgang. Wir von der FDP haben immer gesagt: Selbst wenn der Einsatz nur auf See erfolgt, sind Zusammenstöße - auch mit den Israelis - nicht ausgeschlossen. Die Bundesmarine ist noch keine zehn Tage im Einsatz und schon müssen Sie den ersten Zwischenfall einräumen.
Egal ob es nun so war, wie es im Verteidigungsausschuss des Bundestages dargelegt wurde, oder ob die Darstellung der Israelis stimmt, es ist ein Zwischenfall. Das, wovor wir gewarnt haben, ist damit bereits Realität geworden.
Ich hätte erwartet, dass Sie hier zur Aufklärung dieses Vorfalls beitragen, Herr Minister. Wir verlangen Aufklärung und Information des Parlaments.
Ich möchte einen weiteren Aspekt aufgreifen. Wir haben eine Armee im Einsatz; der Minister hat darauf hingewiesen. Unsere Armee ist an elf Auslandseinsätzen in sechs verschiedenen Regionen der Welt beteiligt ist. Dafür brauchen wir eine Armee, die hervorragend ausgebildet ist, die über schnelle Reaktions- und Verlegefähigkeiten verfügt sowie aus eingespielten Teams besteht. Herr Minister, dieses Weißbuch hätte Ihnen die Chance eröffnet, endlich die Weichen für die Aufstellung einer Freiwilligenarmee zu stellen, die den neuen Herausforderungen gerecht wird. Aber das haben Sie nicht getan. Stattdessen versuchen Sie weiterhin, die Wehrpflicht zu legitimieren und die Zahlen zu schönen. Wenn aber 60 Prozent der wehrfähigen jungen Männer gar keinen Dienst mehr leisten, hat das mit Wehrgerechtigkeit nichts mehr zu tun. Angesichts dieser Tatsache hätten Sie die durch das Weißbuch eröffnete Chance nutzen müssen.
Meine letzte Bemerkung bezieht sich auf die innere und die äußere Sicherheit. Herr Minister, Sie sagen, das könne man nicht mehr messerscharf trennen. Das ist völlig richtig; diese Feststellung teilen wir. Aber was folgt denn daraus? Wird der Verteidigungsfall auch auf das Inland ausgeweitet oder soll die Bundeswehr der Polizei im Rahmen der Amtshilfe in irgendeiner Form helfen? Man hätte im Zusammenhang mit dem Weißbuch die Chance nutzen müssen, die Diskussion über einen Bundeswehreinsatz im Innern und die Verunsicherung der Bundeswehr durch eine klare Formulierung ein für allemal zu beenden. Meine Kolleginnen und Kollegen von der Koalition, das alles hat aber die Bundesregierung nicht geschafft.
Präsident Dr. Norbert Lammert: Frau Kollegin!
Birgit Homburger (FDP):
Ja, Herr Präsident. - Es ist nach wie vor offen, wie es weitergehen soll. Dieser Streit tut der Bundeswehr in keiner Weise gut.
Ich fasse zusammen: Das heute im Deutschen Bundestag vom Bundesverteidigungsminister vorgelegte Weißbuch ist ein Dokument verpasster Chancen.
Präsident Dr. Norbert Lammert:
Für die SPD-Fraktion erhält nun das Wort der Kollege Walter Kolbow.
Walter Kolbow (SPD):
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die SPD-Fraktion begrüßt das von der Bundesregierung vorgelegte Weißbuch zur Sicherheitspolitik Deutschlands und zur Zukunft der Bundeswehr. Wir würdigen die Arbeit des federführenden Verteidigungsministers ebenso wie die gestaltende Mitwirkung des Außenministers, der Justizministerin und des Innenministers.
Leider wird dieses gute und sichtbare Zeichen der Sicherheits- und Verteidigungspolitik unseres Landes von den schockierenden Bildern deutscher Soldaten bei einer Totenschändung in Afghanistan überschattet. Auch ich unterstreiche wie die Kollegin Homburger vor mir das von Ihnen, Herr Bundesminister Jung, hierzu Gesagte. Wir klären unverzüglich auf und wir haben nachdrücklich dafür zu sorgen, dass wir unseren Soldaten Werte und Verhaltensweisen in Ausbildung und Erziehung mitgeben, die schon Gegenstand der bisherigen Praxis sind, die aber immer wieder - das hat dieser Vorgang gezeigt - überprüft werden müssen. Die Ausbilderinnen und Ausbilder und die Vorgesetzten in der Bundeswehr müssen darauf achten, dass diese Werte angewandt werden, und dazu bedarf es der Dienstaufsicht vor Ort.
Das Weißbuch ist in diesem Zusammenhang aktuell; denn es unterstreicht die innere Führung als leitendes Prinzip der Bundeswehr. Sie geht davon aus, dass - ich zitiere -
die Funktionsbedingungen einsatzfähiger Streitkräfte mit den freiheitlichen Prinzipien eines demokratischen Rechtsstaats in Einklang zu bringen sind. Gerade vor dem Hintergrund der Besonderheiten des militärischen Dienstes ist es wichtig, dass die Soldatinnen und Soldaten über eine enge und bewusste Bindung an die in der Verfassung verankerten Werte und Normen verfügen. Nur wer die freiheitliche demokratische Grundordnung aktiv anerkennt, kann sie mit Überzeugung verteidigen.
Das gilt auch bei den Auslandseinsätzen für die Achtung der Würde und der Menschenrechte der Kulturen, auf die unsere Soldatinnen und Soldaten bei ihren Friedenseinsätzen im Ausland treffen.
Frau Kollegin Homburger, auch die Art und Weise, wie man an ein Weißbuch herangeht und wie man es liest, prägt das Ergebnis. Ich denke, dass Sie nicht voll aufgearbeitet haben, was im Weißbuch auch im Zusammenhang mit unseren aktuellen Beratungen und Beschlüssen im Parlament zum Kampf gegen den internationalen Terrorismus steht, was zur Bedeutung der transatlantischen Partnerschaft mit dem Bezug zur Sicherheits- und Verteidigungspolitik der NATO ausgeführt wird und was - ich ergänze den Bundesminister der Verteidigung - zur Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik in Europa mit der Bedeutung der Europäischen Union und mit der zentralen vertraglichen Festlegung von ?Berlin Plus“ und ?NATO first“ gesagt wird, qualitätsmäßig ergänzt um die Europäische Union mit ihren Möglichkeiten.
Wenn man in das Weißbuch schaut, trifft man auf die Fragen, die zwar nicht abschließend geregelt, aber mit Substanz im Inhalt vorhanden sind, nämlich wie es sich mit der Energieversorgung und mit der nationalen und internationalen Sicherheit verhält, wie die Fragen der Migration zu behandeln sein werden und wie die Frage der Demografie und die, wie sich jüngere Gesellschaften im Vergleich zu alternden entwickeln, zu beantworten sind. Das geht die Sicherheit im 21. Jahrhundert an. Wir von der sozialdemokratischen Bundestagsfraktion sind sehr zufrieden, dass Jaap de Hoop Scheffer gestern vor der Deutschen Atlantischen Gesellschaft gesagt hat, dass das Weißbuch Realität mit Vision verbindet und dass wir ein sicherheitspolitisches Grundlagendokument zustande gebracht haben, das mit der Festschreibung eines erweiterten Sicherheitsbegriffs zur Entmilitarisierung der Sicherheitspolitik beiträgt.
Es wird das gesamte Spektrum der zur Verfügung stehenden politischen Instrumente benannt. So umfasst endlich gesamtstaatliche und kohärente Sicherheitspolitik die politischen und diplomatischen Initiativen genauso wie die wirtschaftlichen, die entwicklungspolitischen, die rechtsstaatlichen, die polizeilichen, die humanitären, die sozialen und schließlich auch die militärischen Maßnahmen. ?Das Militär nur ein Element der Sicherheitspolitik“, titelt die ?FAZ“ also folgerichtig. Das gilt sowohl auf nationaler Ebene für die ressortübergreifende Zusammenarbeit als auch auf internationaler Ebene, insbesondere für die Zusammenarbeit von NATO, Europäischer Union und Vereinten Nationen.
Zu Recht ist im Weißbuch auch das von der Bundesregierung in der vergangenen Legislaturperiode vorgelegte Gesamtkonzept ?Zivile Krisenprävention, Konfliktlösung und Friedenskonsolidierung“ enthalten. Denn erst dann, wenn zivile Krisenprävention und Konfliktregelungen gescheitert oder ohne konkrete Erfolgsaussichten sind, kann der Einsatz militärischer Mittel in Betracht gezogen werden. Allerdings schließt politisches Handeln den vorbeugenden militärischen Einsatz nicht aus, wenn dadurch verbesserte Bedingungen für Hilfeleistungen und zivile Konfliktregelungen geschaffen werden können.
Meine Damen und Herren, im ersten Weißbuch seit 1994 wird die deutsche Sicherheitspolitik in ihren strategischen Rahmenbedingungen sowie in ihren Werten, Interessen und Zielen erläutert. Die Bundesregierung unterstreicht im Weißbuch, dass eine vorausschauende und nachhaltige Sicherheitspolitik, die erfolgreich sein will, zivile und militärische Instrumente aufeinander abstimmen und zum Einsatz bringen muss. Die Bundeswehr ist eines dieser Instrumente.
Unsere Bundeswehr ist sichtbarer Ausdruck der Bereitschaft unseres Landes, Frieden und Sicherheit zu bewahren sowie die Freiheit der Bürgerinnen und Bürger zu verteidigen. Im Weißbuch wird eine Bundeswehr beschrieben, die durch den größten Wandel ihrer Geschichte gegangen ist und sich durch die Transformation konsequent an den Erfordernissen des Einsatzes ausrichtet.
Im Ergebnis wird deutlich, dass die Bundeswehr leistungsstark, modern und hoch motiviert ist, als unverzichtbarer Teil einer vernetzten Sicherheitspolitik ihren Beitrag zur gesamtstaatlichen Sicherheitsvorsorge leistet und ihre bewaffneten Einsätze - auch das zeigt sehr deutlich, dass das Weißbuch ein Grundsatzdokument ist - auf der Grundlage eines völkerrechtlichen Mandates und des Gewaltmonopols der Vereinten Nationen sowie der konstitutiven Zustimmung dieses Hauses auf den Weg gebracht werden können.
Die Bundeswehr ist eine Parlamentsarmee. Aus dem Richterrecht des Bundesverfassungsgerichtsurteils vom Juli 1994 ist das verlangte Parlamentsbeteiligungsgesetz entstanden, in dem der Bundestag die entsprechenden inhaltlichen und verfahrensrechtlichen Grundlagen für seine konstitutive Beteiligung an Entscheidungen über Auslandseinsätze geregelt hat. Mit dem Recht zur Entsendung sind auch Kontrollaufgaben des Parlamentes verbunden, die nicht allein Holschulden des Parlaments, sondern auch Bringschulden der Bundesregierung darstellen.
Mit ihrer erklärten Bereitschaft, dies in entsprechender Weise beim zu verlängernden Mandat Enduring Freedom auch für das Kommando Spezialkräfte zu leisten, geht die Bundesregierung in die richtige Richtung. Aber als Parlamentarier sage ich auch: Nichts ist so gut, als dass es nicht noch besser werden könnte.
Wir stimmen zu: Die Nordatlantische Allianz ist der Anker der deutschen Sicherheits- und Verteidigungspolitik. In diesem Bündnis ist Amerika eine herausragende Rolle beizumessen. Im Weißbuch wird aber zu Recht festgestellt, dass in der NATO eine Diskussion über die Abschreckung im Sicherheitsumfeld des 21. Jahrhunderts begonnen hat, deren Ergebnisse zu gegebener Zeit in ein fortzuschreibendes strategisches Konzept des Bündnisses einfließen werden; mein Kollege Hans-Peter Bartels wird hierzu noch Ausführungen machen.
Ich will für meine Fraktion feststellen, wie wichtig es für uns ist, dass im Weißbuch die Problematik der nuklearen Teilhabe in untrennbarem Zusammenhang mit den abrüstungs- und rüstungskontrollpolitischen Zielen der Bundesrepublik Deutschland steht
und sich die Bundesregierung ausdrücklich zu dem strategisch-politischen Ziel bekennt, weltweit alle Atomwaffen und sonstigen Massenvernichtungswaffen zu ächten und abzuschaffen.
Wir wollen, dass Rüstungskontrolle ein wichtiges Ordnungsprinzip der internationalen Beziehungen ist. Wir unterstreichen die Formulierung des Koalitionsvertrages, in dem es heißt:
Vertraglich abgesicherte Nichtverbreitung, Abrüstung und Rüstungskontrolle sind zentrale Anliegen der deutschen Außen- und Sicherheitspolitik.
Wir halten an dem langfristigen Ziel der vollständigen Abschaffung aller Massenvernichtungswaffen fest. Wir setzen uns für nukleare Abrüstung und die Stärkung des internationalen Nichtverbreitungsregimes ein.
Denn es gilt weiterhin: Abrüstung ist das beste Mittel zur Kriegsverhütung.
Der guten politischen Ordnung halber werfe auch ich zum Abschluss einen Blick auf die Frage des Einsatzes der Bundeswehr im Inneren. Hier decken sich die Vorschläge des Bundesministers der Verteidigung mit unserer Auffassung, die Streitkräfte nur in dem engen Bereich der Luft- und Seesicherheit einzusetzen, wenn dies die Mittel der Polizei nicht erlauben. Einer Klarstellung im Grundgesetz stimmen wir zu, wenn sie über Art. 35 erfolgt. Hier sehen wir, wie die Bundesregierung, die Notwendigkeit einer Erweiterung des verfassungsrechtlichen Rahmens. Die jüngsten Stellungnahmen der Vorsitzenden des Bundeswehrverbandes und der Gewerkschaft der Polizei zu diesem Thema bestärken uns im Übrigen in dieser Position.
Die SPD-Fraktion stellt sehr zufrieden fest, dass im Weißbuch 2006 der Transformationsprozess der Bundeswehr, den die Verteidigungsminister Rudolf Scharping und Peter Struck begonnen haben und der in den Verteidigungspolitischen Richtlinien Peter Strucks von 2003 eindrucksvoll belegt ist, fortgesetzt wird. Das Weißbuch ist also auch ein eindrucksvolles Dokument für die Kontinuität in der Außen- und Sicherheitspolitik der Bundesregierung und eine gute Grundlage für eine erfolgreiche Außen-, Sicherheits- und Verteidigungspolitik im 21. Jahrhundert.
Präsident Dr. Norbert Lammert:
Das Wort hat nun der Kollege Wolfgang Gehrcke, Fraktion Die Linke.
Wolfgang Gehrcke (DIE LINKE):
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Selbstverständlich steht die Debatte um das Weißbuch unter dem Vorzeichen der schrecklichen Bilder, die man gestern in der Presse gesehen hat. Ich kann mich hier nur dem anschließen, was der Kollege Verteidigungsminister, der gerade anderweitig beschäftigt ist, gesagt hat: Ich würde solche Bilder nie allen Angehörigen der Bundeswehr anrechnen. Dem muss man sich verweigern.
Ich stelle mir aber eine andere Frage: Was muss in den Köpfen von jungen Menschen vorgegangen sein, damit es zu einer derartigen Verrohung und Entmenschlichung kommen konnte?
- Möglicherweise gar nichts, aber möglicherweise doch etwas, auch persönliches Erleben. - Ich denke, dass in diesen Handlungsweisen zum Ausdruck kommt, dass Krieg und Gewalt und das Erleben von Krieg und Gewalt zu Verrohung und Entmenschlichung führen können. Das ist das eigentliche Problem.
Deswegen sage ich ganz ehrlich, Herr Verteidigungsminister: Unsere Weigerung, Auslandseinsätzen zuzustimmen, hat auch etwas damit zu tun, dass wir die Soldatinnen und Soldaten der Bundeswehr vor solchen Prozessen schützen wollen. Wir sind viel solidarischer mit diesen jungen Menschen, als Sie es mit Ihrer Politik sind. Das muss hier ausgesprochen werden.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, der Bundestag ist immer für Kontrastprogramme gut. Letzte Woche - gleicher Wochentag, gleiche Uhrzeit - hatten wir die Debatte über Abrüstung. Jemandem, der für Abrüstung ist, konnte da das Herz aufgehen. Es soll abgerüstet werden. Der Außenminister hat gesagt: Abrüstung kommt auf die Tagesordnung. Diese Woche - gleicher Wochentag, gleiche Uhrzeit - haben wir die Debatte über das Weißbuch. Hier erleben wir das Gegenteil. Das Weißbuch ist ein knallhartes Konzept von Auf- und Umrüstung und weltweiten Militäreinsätzen. Jetzt, liebe Kolleginnen und Kollegen der SPD und der Grünen, muss man sich entscheiden: Will man ein Konzept der Militarisierung oder will man ein Konzept der Abrüstung? Ich habe den Eindruck, letzte Woche haben wir unverbindlich diskutiert, diese Woche werden mit dem Weißbuch knallharte Fakten geschaffen. Dieser Politik des Weißbuches werden wir uns im Parlament und außerhalb des Parlamentes widersetzen. Verwechseln Sie nicht Mehrheiten im Saal mit Mehrheiten im Leben.
Sie haben in der Gesellschaft für die Politik des Weißbuches keine Mehrheit. Dass der Widerstand noch größer wird, dazu werden wir unseren bescheidenen Beitrag leisten.
Sie sprechen im Weißbuch über die neue Rolle der Bundeswehr von einer Nichteinsatzarmee -das war einmal das Verständnis: dass sie nicht eingesetzt werden darf und nicht eingesetzt werden kann - zu einer Einsatzarmee. Ihre Beschreibung der neuen Rolle der Bundeswehr geschieht vor dem Hintergrund - ich hätte mir gewünscht, dass das hier offen ausgesprochen wird, Herr Jung -, dass die Kriege, der militärische Einsatz im Irak und in Afghanistan militärisch nicht mehr gewonnen werden können. Das müssen Sie auch der Bevölkerung sagen.
Das ist der Zustand, mit dem man es zu tun hat.
Ihr Vorgehen sieht jetzt folgendermaßen aus: Sie erweitern den Sicherheitsbegriff - Sicherheit ist weiter zu fassen; das ist richtig - und führen das auf militärische Gründe zurück. Sie sagen: Außenpolitik: auch Aufgabe der Bundeswehr; Europapolitik: auch Aufgabe der Bundeswehr; Entwicklungspolitik: auch Aufgabe der Bundeswehr; Rohstoffsicherheit: auch Aufgabe der Bundeswehr; Energiesicherheit: auch Aufgabe der Bundeswehr; Flüchtlingsfragen, Wanderungsbewegungen: auch Aufgaben der Bundeswehr; Sicherung von Handelswegen: auch Aufgaben der Bundeswehr.
Man kann nicht darüber hinwegsehen: Die im Weißbuch enthaltene Forderung, den verfassungsrechtlichen Rahmen zu erweitern, zielt auf die Schaffung der Möglichkeit, die Bundeswehr im Innern einzusetzen. Dagegen, Kolleginnen und Kollegen der SPD, sind Sie einmal Sturm gelaufen. Bekennen Sie sich einmal!
Wenn in allen gesellschaftlichen Bereichen Militär eingesetzt werden soll, dann nennt man das politisch ?Militarismus“. Im Gegensatz zum Kollegen Kolbow, der davon spricht, dass mit dem Weißbuch das Anliegen der Demilitarisierung verfolgt wird, behaupte ich: Das Weißbuch ist ein Ausdruck von Militarismus; die Bundeswehr soll in allen gesellschaftlichen Bereichen wirksam werden. Das ist nicht ihre Aufgabe. Das steht nicht im Grundgesetz.
Das deformiert die Gesellschaft selbst.
Es soll an der Wehrpflicht festgehalten werden und - was ich besonders pikant finde - auch an der atomaren Teilhabe.
Auch da finde ich die Argumentation ganz spannend: Wir wollen die atomare Teilhabe eigentlich nicht, weil wir eigentlich abrüsten wollen; aber vorsichtshalber halten wir an ihr fest. Das ist doch keine Logik. Auch das führt zu einer weiteren Aufrüstung.
Ich glaube, dass es notwendig ist, hier ein gegenteiliges Konzept vorzulegen. Wenn es nach dem Grundgesetz ginge - bei seiner Schaffung ging man eigentlich von der Verteidigungsaufgabe aus -, könnte man heute hier darüber diskutieren, die Bundeswehr in mittelfristigen Schritten aufzulösen.
Das wäre die politische Alternative. Solchen Debatten stellen Sie sich aber überhaupt nicht, weil Sie davon ausgehen, dass wir Teil des Krieges gegen den weltweiten Terror geworden sind.
Wir haben immer gesagt: Der Kampf gegen den Terror kann gewonnen werden. Ein Krieg gegen den Terror aber führt zu solchen Bildern aus Afghanistan, wie wir sie gesehen haben. Das ist die Katastrophe dieses Krieges.
Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
Präsident Dr. Norbert Lammert:
Nächster Redner ist der Kollege Bernd Siebert, CDU/CSU-Fraktion.
Bernd Siebert (CDU/CSU):
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Herr Minister, ich möchte Sie bitten, Ihren Mitarbeitern, die so schnell - innerhalb von nur 24 Stunden - für Aufklärung gesorgt haben, unseren Dank und unsere Anerkennung zu übermitteln.
Diese abstoßenden Fotos sind nicht nachvollziehbar und widern uns alle an. Für uns Christdemokraten ist diese Totenschändung auf das Äußerste zu kritisieren und mit Abscheu zu behandeln. Diejenigen, die dies zu verantworten haben, sind disziplinarisch und gerichtlich auf das Schärfste zu verurteilen. Für diese Fälle, die drei Jahre zurückliegen, darf es keinen Spielraum und keinen Freiraum geben. Aber wir dürfen bei aller berechtigten Kritik und bei der Darstellung der Abscheu nicht übersehen, dass viele tausend Soldaten in besonderer Weise ihre Aufgaben gut erfüllt haben, gut ausgebildet wurden und sich vorbildlich verhalten haben, als sie für uns im Ausland ihren Einsatz ausgeführt haben.
Sie haben das Ansehen Deutschlands vermehrt. Deswegen will ich an dieser Stelle diesen Soldaten meinen Dank und mein Lob aussprechen.
Wir diskutieren heute über das Weißbuch.
Die Bundesregierung
- so steht es in der Koalitionsvereinbarung -
wird bis Ende 2006 unter Federführung des Bundesministers der Verteidigung ein Weißbuch zur Sicherheitspolitik Deutschlands und zur Zukunft der Bundeswehr vorlegen. Dieses Weißbuch beinhaltet auch eine Festlegung der Aufgaben und der Zusammenarbeit der für Sicherheit verantwortlichen Institutionen innerhalb einer umfassenden nationalen Sicherheitsvorsorge. Auf dieser Grundlage wird die seit der deutschen Einheit kontinuierlich durchgeführte Weiterentwicklung der Bundeswehr so fortgeführt, dass die Streitkräfte ihre Aufgaben im sicherheitspolitischen Umfeld des 21. Jahrhunderts erfolgreich wahrnehmen können.
Vor einem Jahr haben wir genau diese Formulierung in die Koalitionsvereinbarung aufgenommen und stellen heute fest: Diese Bundesregierung hat Wort gehalten und hat in einem Jahr genau das umgesetzt, was sie sich vorgenommen hat. Dafür kann man der Bundesregierung nur in aller Deutlichkeit gratulieren, liebe Frau Bundeskanzlerin.
Das, was wir heute debattieren, ist alles andere als eine Routineveranstaltung. Das letzte Weißbuch einer Bundesregierung stammt vom 5. April 1994 und wurde noch vom damaligen Bundesminister Volker Rühe vorgestellt. Seither hat sich sowohl das sicherheitspolitische Umfeld als auch die Zahl der Einsätze unserer Bundeswehr deutlich erhöht und sich die Lage insgesamt verändert, ohne dass es bisher zur Fortschreibung des Weißbuches gekommen ist. Allein schon aus diesem Grund ist das Weißbuch 2006 auch für diese Koalition ein großer politischer Erfolg. Darauf können die Koalitionsfraktionen, so meine ich, mit Recht stolz sein.
In der Analyse und Bewertung der tief greifenden Veränderungen in den letzten zwölf Jahren hat die Koalition große Einigkeit erzielt und damit politische Handlungsfähigkeit demonstriert. Ich bin über das Einvernehmen zur Bedeutung der nordatlantischen Allianz und der Europäischen Union sowie zum Konzept ?Vernetzte Sicherheit“ und dem damit verbundenen Willen zur Intensivierung der ressortübergreifenden Zusammenarbeit auf nationaler Ebene dankbar.
Ich bin außerdem für das klare Bekenntnis zur Beibehaltung der Wehrpflicht dankbar. Ihre Bedeutung für das innere Gefüge und den Geist der Bundeswehr ist ungebrochen. Unsere Wehrpflichtigen dienen der Demokratie. Sie nehmen dafür Einschnitte in ihre persönliche Lebensplanung in Kauf. Dafür gebührt ihnen die Anerkennung der gesamten Gesellschaft.
Das Weißbuch bekräftigt damit die Aussagen im Koalitionsvertrag. Dort heißt es:
Die Bundesregierung bekennt sich zur Allgemeinen Wehrpflicht. Diese Dienstpflicht ist nach wie vor die beste Wehrform. Sie bestimmt Entwicklung und Selbstverständnis der Bundeswehr und dient der Verklammerung zwischen Streitkräften und Gesellschaft.
Dieses Weißbuch, lieber Herr Nachtwei - das werden wir in kleinen Diskussionskreisen immer wieder deutlich machen; so weit sind Sie gar nicht davon entfernt -, soll eine breite sicherheitspolitische Debatte in unserem Land anstoßen. Es darf nicht nur exklusiven Zirkeln von Experten vorbehalten sein, über die Rolle Deutschlands in einer veränderten Welt und die Aufgaben der Bundeswehr im internationalen Kontext nachzudenken. Wir brauchen einen breiten gesellschaftlichen Konsens über das, was Sicherheit und Verteidigung ausmachen. Mit der Herausgabe des Weißbuchs wird dieser Prozess begonnen.
Liebe Kolleginnen und Kollegen von der FDP, es hätte wenig Sinn gemacht, hier über einen zwischen den beteiligten Ressorts der Bundesregierung noch nicht abgestimmten Entwurf zu diskutieren. Dass die Debatte erst heute, nach Verabschiedung des Weißbuchs, stattfindet, ist deshalb keine Missachtung der parlamentarischen Rechte, sondern inhaltlich und prozedural der einzig richtige Weg. Schließlich handelt es sich bei dem Weißbuch um ein Dokument der Bundesregierung, also der Exekutive. Die Tatsache, dass die Bundeswehr unzweifelhaft eine Parlamentsarmee ist und auch bleiben wird, ändert daran nichts. Wer von einer Missachtung der parlamentarischen Rechte spricht - wie Sie das getan haben -, tut dies wider besseres Wissen; denn auch bei allen neun Vorgängern des neuen Weißbuchs seit 1969 war das jetzt praktizierte Verfahren üblich.
- Das war im Übrigen, Frau Homburger, jahrzehntelang auch die Auffassung der FDP, solange sie in der Regierungsverantwortung war.
Ich danke den Beteiligten, insbesondere dem mit der Federführung beauftragten Bundesminister der Verteidigung, Dr. Franz Josef Jung, dafür, dass der Zeitplan trotz der zuweilen aufgetretenen Nervosität in der politischen Debatte eingehalten werden konnte. Das ist - dies sollte man auch deutlich machen - ein persönlicher Erfolg des Ministers. Dazu gratuliert Ihnen herzlich die CDU/CSU-Fraktion, Herr Minister.
Die Nervosität war bei dem Reizthema Einsatz der Bundeswehr im Innern besonders groß. Es war zu keiner Zeit Absicht der Union, die Bundeswehr zu einer Hilfspolizei zu machen.
Es ging uns immer nur darum, die begrenzten Ressourcen, die in unserem Land in verschiedenen Organisationen vorhanden sind, im Sinne einer ganzheitlichen Betrachtung der Dimension Sicherheit verfügbar zu machen. Dabei sind auch die Fähigkeiten der Bundeswehr einzubeziehen, die sie im Ausland ohne Probleme einsetzen kann.
Die Bundeswehr ist durch Auslandseinsätze und Transformation bereits mehr als genug strapaziert, sodass sie nicht noch zusätzliche Aufgaben wahrnehmen kann. Deshalb begrüße ich, dass aufgrund der mit dem Weißbuch begonnenen Debatte in der Bundesregierung jetzt ohne Reflexe über eine Erweiterung des verfassungsrechtlichen Rahmens gesprochen wird. Ziel dieses Dialogs muss die Erhöhung der Sicherheit unserer Bürgerinnen und Bürger sein. Diesem Ziel sollten wir uns ungeachtet aller politischen Meinungsunterschiede verpflichtet fühlen.
Die Veröffentlichung des Weißbuchs ist auch mit Blick auf die bevorstehende deutsche Ratspräsidentschaft wichtig. Sie ermöglicht der Bundesregierung, auf die politischen Prozesse in NATO und EU gestalterisch Einfluss zu nehmen und zudem die nationalen Interessen wirkungsvoll einzubringen. Das Weißbuch hat damit eine nicht zu unterschätzende außenpolitische Signalwirkung auch weit über die Grenzen unseres Landes hinaus.
Der transatlantische Verbund bleibt für uns eine wesentliche Grundlage für die deutsche und europäische Sicherheit. Er ist der Rahmen für die Verteidigung gemeinsamer Werte unter Beteiligung unserer nordamerikanischen Verbündeten. Darüber hinaus bleiben die europäische Integration und die Fundierung der europäischen Sicherheits- und Verteidigungspolitik wesentliche sicherheitspolitische Ziele.
Ich begrüße ausdrücklich, dass es gelungen ist, die deutschen Sicherheitsinteressen einvernehmlich zu definieren. Es ist weder eine Missachtung multinationaler Organisationen noch ein Widerspruch zu unserem grundsätzlich multilateralen und integrativen sicherheitspolitischen Ansatz, wenn wir dies so tun, wie wir das beschrieben haben. In anderen Ländern steht es völlig außerhalb jeder Diskussion, dass nationale Interessen zur Grundlage des eigenen Handelns gemacht werden. Als vollwertiges Mitglied der internationalen Staatengemeinschaft sollte Deutschland dies ebenfalls mit hinreichendem Selbstbewusstsein angehen können.
Wir können und wollen die Bundeswehr nicht überall in der Welt einsetzen. Allein schon die knappen Ressourcen setzten hier klare Grenzen. Aber wir müssen uns darauf einstellen, dass wir uns Konflikten vermehrt dort stellen, wo sie entstehen. Es ist auch im nationalen Interesse, Krisen frühzeitig zu entschärfen, bevor sie unser Land erreichen und sie weit gravierendere Auswirkungen haben.
Ungeachtet dessen muss die Bundesregierung jeden Auslandseinsatz gut und überzeugend begründen, um größtmögliche Solidarität in unserer Bevölkerung und damit größtmögliche Rückendeckung für unsere Soldatinnen und Soldaten im Einsatz zu erreichen. Das heute debattierte Weißbuch gibt den Angehörigen der Bundeswehr ein Stück weit mehr Rechtssicherheit.
Gerade auch vor dem Hintergrund einer wachsenden Zahl an Auslandseinsätzen ist inzwischen die Erkenntnis weit verbreitet, dass die Bundeswehr hier und dort Probleme hat, den gestiegenen Herausforderungen gerecht zu werden. Nicht jedes Problem ist mit mehr Geld zu lösen, doch mit Moral allein wird es auf Dauer auch nicht gehen. Wir können nicht nur die Messlatte beständig höher legen, sondern müssen auch die Bundeswehr materiell so ausstatten, dass sie nicht dauerhaft von der Hand in den Mund leben muss. Vor allem die Ausstattung der Einsätzkräfte mit geschütztem Transportraum liegt uns besonders am Herzen.
Wir stehen nicht am Ende, sondern am Beginn einer Entwicklung. Die Resonanz und die Ergebnisse der nun einsetzenden Debatte im parlamentarischen, öffentlichen und internationalen Bereich - ich bitte darum, dass sie geführt wird; wir können die öffentliche Debatte mit kontroversen Diskussionen in Gang setzen - werden bei der Weiterführung des Weißbuchprozesses, bei den zukünftigen Entscheidungen im sicherheitspolitischen Bereich selbstverständlich Eingang finden.
Ich bedanke mich für Ihre Aufmerksamkeit.
Präsident Dr. Norbert Lammert:
Das Wort erhält nun die Kollegin Renate Künast, Bündnis 90/Die Grünen.
Renate Künast (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Eines ist in der heutigen Debatte gut: Wir stimmen offensichtlich bei der Bewertung der Bilder, die wir gestern in einer Zeitung gesehen haben und die uns wohl noch einige Zeit beschäftigen werden, überein. Man muss dazu ganz klar sagen: Diese Bilder sind entsetzlich. Die Verhaltensweisen, die man dort erkennt, stehen diametral entgegengesetzt zum Auftrag eines Bundeswehrsoldaten, zu dem, was den Soldaten in der Ausbildung beigebracht wird, und zum Verhalten der allermeisten Soldaten im Auslandseinsatz. Ich glaube, hier besteht Übereinstimmung. Es ist richtig und gut, dass jetzt aufgeklärt wird und Konsequenzen gezogen werden, dass klargestellt wird: Menschen mit solchen Verhaltensweisen gehören nicht in die Bundeswehr.
Mich persönlich beschäftigt hierbei auch folgende Frage: Was denken sich diese Menschen im Hinblick auf ihre Kollegen? Ein solches Verhalten deutet darauf hin, dass man sich gar keine Gedanken darüber macht, was eigentlich den Kollegen passiert. Diese Bilder gehen per Internet in Sekundenschnelle um die Welt und führen faktisch zu einer Steigerung der Gefährdung der Soldaten im Auslandseinsatz. Auch das ist ein Ärgernis.
Wir wollen aus diesen Vorfällen keine Rückschlüsse auf das Ganze ziehen. Allerdings muss man in diesem Zusammenhang die Frage stellen: Welche Anforderungen werden heute an Soldaten im Auslandseinsatz gestellt? Diese Frage beschäftigt uns, wenn wir heute über das Weißbuch diskutieren. Herr Jung, eines ist klar: Das Weißbuch war nach den Bundeswehreinsätzen im Kosovo, im Kongo, in Afghanistan und im Libanon längst überfällig. Die Öffentlichkeit möchte nämlich wissen: Wohin führt uns das? Was bringt uns das? Im Zweifelsfalle fragt sie sich: Wie lösen wir Probleme? Wie kommen wir da wieder raus?
Es war längst überfällig, Antworten auf die zentralen Fragen der Sicherheitspolitik zu bekommen. Das Problem ist nur: Dieses Weißbuch der Bundesregierung gibt keine Antworten auf die Schlüsselfragen.
Was fehlt, ist eine wirklich kritische Bilanz der letzten 15 Jahre. Im Weißbuch werden zwar ständig die neuen Risiken durch internationalen Terrorismus und zerfallende Staaten betont; aber aus den konkreten Erfahrungen der bisherigen Auslandseinsätze werden keine Schlussfolgerungen gezogen oder aufgrund dessen Veränderungen herbeigeführt.
Dieses Weißbuch liefert weder klare Antworten auf die Kernfragen noch Richtungsentscheidungen. Was genau ist denn die Rolle der Bundeswehr angesichts des internationalen Terrorismus? Wie kann der Übergang von einem Stabilisierungseinsatz der Bundeswehr hin zum Peace-Building, zum Nation-Building erfolgen und was ist die Rolle der Bundeswehr dabei? Wie muss eine Armee beschaffen sein, die solche Kriseneinsätze meistern soll? Wie stellt man im Übrigen sicher, dass bei gemeinsamen Einsätzen auch das humanitäre Kriegsvölkerrecht von allen eingehalten wird?
Das sind höchst komplizierte Fragen, die sich gerade im Fall Afghanistan jetzt wieder stellen.
Wir stellen nicht in Abrede, dass der Kampf gegen den internationalen Terrorismus auch mit militärischen Mitteln geführt werden muss; aber wir wissen doch, dass gedanklichen Vorrang immer die zivilen Mittel haben müssen.
Die Einhaltung der Menschenrechte und des humanitären Völkerrechts muss ohne Ausnahme gewährleistet werden. Ich weise nur darauf hin, dass der Military Commissions Act, den der US-Präsident vor wenigen Tagen, im Oktober, unterzeichnet hat, ein massiver Rückschritt im Antiterrorkampf ist; denn er stellt genau dieses menschenrechtliche Vergehen infrage.
Er stellt ein Verhalten von dort eingesetzten Soldaten straffrei, das eigentlich strafbewehrt sein müsste, und er erlaubt Vernehmungsmethoden, die nach unserer Definition Folter sind. Auch damit muss man sich auseinander setzen.
Das werden wir im Zusammenhang mit Enduring Freedom kritisch tun; aber auch im Rahmen eines Weißbuches muss doch die Frage gestellt werden: Halten sich bei solchen internationalen Einsätzen alle Beteiligten an die Regeln, die für uns zwingend und bindend sind?
Meine Damen und Herren, dieses Weißbuch hat Leerstellen. Es geht zwar von einem umfassenden Sicherheitsbegriff aus und proklamiert eine kohärente Strategie, liefert sie aber nicht. Zwar wird der maßgeblich von uns Grünen vorangetriebene Aktionsplan ?Zivile Krisenprävention“ angeführt; aber es gibt an keiner Stelle eine systematische Vernetzung der Ansätze. Es ist klar, dass es Frieden ohne Entwicklung und Entwicklung ohne Sicherheit nicht gibt; das gehört zwingend zusammen. Aber in diesem Weißbuch haben wir nur zusammengeheftete Seiten. Deshalb ist es uns zu wenig.
Zu Ihren Ausführungen zum Thema Innen und Außen, Herr Jung, muss ich sagen: Wie kann es in dieser Bundesregierung passieren, dass Frau Merkel angesichts der entsetzlichen Situation in Darfur im Sudan sofort sagt, dafür hätten wir kein Personal, zeitgleich aber in der Innenpolitik verzweifelt nach neuen und weiteren Aufgaben gesucht wird?
Eigentlich ist das bereits geregelt.
Ich sage auch an die Adresse der SPD: Beteiligen Sie sich nicht an einem Spiel, das in Wahrheit als Türöffner für eine Änderung des Grundgesetzes dient. Schon heute steht in Art. 35 Grundgesetz, dass Amtshilfe möglich ist. Bei schweren Unglücksfällen können die Bundeswehr und ihr besonderes Gerät zur Amtshilfe herangezogen werden. Dazu bedarf es keiner Änderung des Grundgesetzes.
Wir brauchen in diesem Weißbuch vielmehr eine Diskussion über die Beseitigung der Strukturdefizite der Bundeswehr, über eine integrierte Strategie. Wie müssen die Ausstattung und die innere Führung sein, wenn die Bundeswehr bei Friedensmissionen eingesetzt werden soll? An dieser Stelle muss man auch die Debatte über die Wehrpflicht wieder führen. Denn die Frage lautet: Kann ein Wehrpflichtiger diese Aufgaben erfüllen? Meine und unsere Antwort ist Nein.
Selbst die Kanzlerin hat in einem ?Zeit“-Interview gesagt, dass die Strukturen der Bundeswehr nicht mehr zukunftstüchtig seien. Im Weißbuch folgt jedoch nichts an neuer Weichenstellung. Wie muss mit Blick auf zivile Missionen - um nur einen Bereich zu nennen - eigentlich die Kapazität bei der Polizei sein, wenn sie unterstützend wirken soll? Wie steht es um die Prioritätensetzung im Haushalt des Verteidigungsministers? Auch da muss man eigentlich eine neue Schwerpunktsetzung finden, damit nicht Militäreinsätze faktisch immer zum Politikersatz werden.
Mein letzter Kritikpunkt. Ich bin Herrn Steinmeier fast dankbar dafür, dass er offensichtlich die Ausführungen zur deutschen Teilhabe an der Atomstrategie entschärft hat. Richtig wäre es aber gewesen, der Teilhabe Deutschlands an einer Atomstrategie im Weißbuch eine klare Absage zu erteilen.
Wir wollen den Eurofighter nicht zu einem Trägersystem umbauen. Wir wollen immer noch den Abzug sämtlicher US-Atomwaffen aus Deutschland und aus Europa.
Mein Fazit lautet: In diesem Weißbuch werden viele Schlüsselfragen nicht beantwortet. Es handelt sich wieder einmal um den kleinsten gemeinsamen Nenner der so genannten großen Koalition. Dieses Weißbuch beinhaltet nur die Chance, dass es Anlass zur Diskussion gibt, wie in Zukunft integrierte Sicherheitspolitik aussehen muss. Inhaltliches liefert das Weißbuch dazu nichts.
Präsident Dr. Norbert Lammert:
Das Wort hat nun der Kollege Hans-Peter Bartels, SPD-Fraktion.
Dr. Hans-Peter Bartels (SPD):
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Das letzte Weißbuch, erschienen vor zwölf Jahren, war eine Momentaufnahme kurz nach dem Ende des Kalten Krieges. Eine neue Standortbestimmung ist also lange überfällig.
Die Einsicht in die neuen sicherheitspolitischen Rahmenbedingungen bestimmt allerdings schon länger unser Handeln. Mit dem Weißbuch liegt nun - so könnte man sagen - ein regierungsamtlicher intellektueller Überbau vor. Der Bundesregierung, den Ministern Jung und Steinmeier, sei gedankt. Sie haben gute Arbeit abgeliefert.
Vielleicht sollten wir allerdings, wenn wir heute auf die nunmehr zehn vorliegenden Weißbücher blicken, uns für die Zukunft vornehmen, diese sicherheitspolitische Standortbestimmung künftig etwas regelmäßiger vorzunehmen. Nach der ersten Ausgabe 1969 erschienen die Weißbücher zunächst nahezu jährlich. Dann wurden die Abstände Ende der 70er-Jahre größer. Auf Nummer fünf im Jahre 1975 folgte die Neufassung erst vier Jahre später, also 1979. In den 80er-Jahren erschienen zwei Weißbücher. Dann dauerte es weitere neun Jahre bis 1994. Jetzt beträgt der Abstand zwölf Jahre.
Ich will diese Reihe nicht fortsetzen; das ist etwas für Mathematiker.
Ich will auch nicht anregen, dass wir zur jährlichen Erscheinungsweise der Anfangsjahre zurückkehren. Aber ein Weißbuch pro Wahlperiode wäre schon gut und wäre der Bedeutung des Themas angemessen.
Ich hoffe, wir sind uns in diesem Haus einig, so zu verfahren.
Was die Inhalte angeht, haben meine Vorredner schon einiges gesagt. Das Weißbuch ist nicht, wie Renate Künast vorhin gesagt hat und wie sie gemeinsam mit Winfried Nachtwei in einem Beitrag für die ?Welt am Sonntag“ geschrieben hat, ?der kleinste gemeinsame Nenner“. Es ist vielmehr das Dokument eines großen Konsenses.
Positiv hervorzuheben - und vermutlich auch für Grüne zustimmungsfähig, Frau Künast - ist doch zum Beispiel das klare Bekenntnis zu einem umfassenden, nicht aufs Militärische beschränkten Sicherheitsbegriff, der sich wie ein roter, grüner und jetzt auch schwarzer Faden durch den Gesamttext zieht. Das ist doch Kontinuität zur Regierung Schröder/Fischer.
Der gemeinsame Nenner von Rot-Grün wird auch in der neuen Koalition bewahrt.
Unstrittig ist auch das Bekenntnis zu einem aktiven Multilateralismus, zu einer Stärkung des Völkerrechts und zu den Systemen kollektiver Sicherheit: UNO, NATO, EU.
Dabei kommt es nicht auf die Reihenfolge im Weißbuch an. Die NATO, die an erster Stelle steht, ist uns ein alter, lieber Vertrauter. Das neue Kind EU - genauer: die ESVP - braucht da noch mehr Beachtung und Pflege. Wir Sozialdemokraten wollen künftig mehr Europa, mehr gemeinsame Streitkräfteplanung, mehr Arbeitsteilung, bessere Kooperation bei der Ausrüstung und bei der Industriezusammenarbeit.
Ausdrücklich begrüße ich die eindeutige Festlegung auf die Wehrpflichtarmee. ?Die Wehrpflicht“, so heißt es im Weißbuch, ?hat sich auch unter wechselnden sicherheitspolitischen Rahmenbedingungen uneingeschränkt bewährt.“ So ist es. Sie ist eben nicht - wie von Liberalen und Grünen gern suggeriert - die Wehrform für eine bestimmte Konfliktlage, nämlich für den Kalten Krieg gewesen, sondern die Wehrform auch für die Bedrohungslage, in der wir uns heute befinden. Das gilt für die Bundeswehr von heute und für die Bundeswehr der Zukunft.
Besser gelungen, als manche Diskussion im Vorfeld vielleicht vermuten ließ, ist die Definition unserer Interessen. In der Vergangenheit ist immer wieder gefordert worden, Deutschland möge endlich seine nationalen Interessen definieren. Mir persönlich blieb dabei oft unklar, was unsere spezifisch deutschen, nationalen Interessen sein sollen. Rohstoffversorgung? Stabilität im Nahen Osten? Terrorbekämpfung? Verhinderung der Proliferation? Das sind allesamt politische Ziele, die wir mit unseren NATO- und EU-Partnern teilen. Das sind keine spezifisch deutschen Interessen. Wie sollte es auch anders sein? Schließlich sehen sich alle Länder in Europa und darüber hinaus den gleichen Bedrohungen ausgesetzt. Wir sind aufeinander angewiesen, um mögliche Gefahren abwehren zu können.
Was im Weißbuch nun formuliert worden ist, sind im besten Sinne europäische, westlich-demokratische Interessen, sachlich und nüchtern auf den Punkt gebracht, Bezug nehmend auf die Werte des Grundgesetzes, ohne falsches Pathos. Wir leben nicht mehr im 19. Jahrhundert, als die Staaten Europas rivalisierende Interessen gegeneinander, auch mit dem Mittel des Krieges, durchsetzen wollten. Das ist kein ganz kleiner Fortschritt. Es geht nicht darum, uns einen ?Platz an der Sonne“ zu erkämpfen, nicht in Afghanistan, nicht auf dem Balkan, nicht im Kongo. Es geht vielmehr um die Herstellung und den Erhalt des Friedens weltweit.
Dieser Auftrag ergibt sich aus dem Grundgesetz. In Art. 24 - ich empfehle, gelegentlich nachzulesen - ist unsere Verpflichtung zum Frieden und zur Herstellung von Verhältnissen der gerechten Teilhabe aller in dieser Welt verankert. Sehr richtig ist deshalb auch der Hinweis des Weißbuches, dass Interessen im Zeitalter der Globalisierung nicht allein geografisch definiert werden können.
Zum Einsatz der Bundeswehr im Innern. Das ist wohl das im Vorfeld am ausführlichsten diskutierte Thema des Weißbuchs gewesen. Mancher Diskutant hat sich in den zurückliegenden Wochen gerne als Tabubrecher inszeniert, wenn es um Bundeswehr und innere Sicherheit ging. Dabei ist das Thema gar nicht so neu. Vor fast 40 Jahren sind Verfahren gefunden worden, die den Grundsatz der Trennung von Polizei und Militär zwar nicht aufweichen, die den Einsatz der Bundeswehr im Inland aber in bestimmten Worst-Case-Szenarien ermöglichen, wenn nämlich die demokratische Grundordnung oder der Bestand des ganzen Landes in Gefahr ist.
Diese im Grundgesetz vorgesehenen Notstandsregelungen sind geltendes Recht, auch wenn sie glücklicherweise bisher noch nie zur Anwendung gekommen sind. Sie stehen im Grundgesetz.
Die Amtshilfe der Bundeswehr gemäß den Bestimmungen des Art. 35 ist unstrittige, geübte Praxis, die sich bei zahlreichen Ereignissen der vergangenen Jahre bewährt hat. Dass wir eine darüber hinausgehende verfassungsrechtliche Klarstellung brauchen, um terroristischen Bedrohungen aus der Luft und von der See her besser begegnen zu können, hat die SPD nie bestritten.
Wie im Koalitionsvertrag vereinbart, haben wir zunächst das Verfassungsgerichtsurteil abgewartet. Das liegt nun vor. Karlsruhe hat uns für künftige Regelungen enge Grenzen gesetzt. Die im Weißbuch angedeutete Möglichkeit, den Art. 35 zu ändern, ist ein denkbarer Weg, um die notwendigen Neuregelungen im Bereich der Luft- und Seesicherheit im Grundgesetz zu verankern.
Jenseits dieser klar definierten Ausnahmen bleiben die Hürden für einen Einsatz der Bundeswehr im Innern hoch. So sollte es auch sein, sind Polizeiaufgaben doch zu allererst Aufgabe der Polizei und nicht des Militärs.
Zur nuklearen Teilhabe. Es ist bemerkenswert, dass im Weißbuch formuliert wird:
Für die überschaubare Zukunft wird eine glaubhafte Abschreckungsfähigkeit des Bündnisses neben konventioneller weiterhin auch nuklearer Mittel bedürfen.
Das kann man mit guten Gründen anders sehen. Letztlich ist die nukleare Teilhabe ein Kind der Flexible-Response-Strategie der NATO in den späten 60er-Jahren. Das war die Antwort auf einen waffenstarrenden Warschauer Pakt. Der aber ist seit rund anderthalb Jahrzehnten ein Fall für Historiker.
Den neuen Bedrohungen unserer Sicherheit, die in dem Weißbuch sehr richtig beschrieben sind, lässt sich mit Atombomben nicht mehr begegnen. Und doch stehen weiterhin nuklearfähige Tornados der Bundeswehr bereit, US-Atomwaffen ins Ziel zu fliegen. Aber wohin? Die politische Begründung wird zunehmend notleidend. Mit dieser Aussage des Weißbuchs werden wir uns, so denke ich, in der ?überschaubaren Zukunft“ befassen.
Eine letzte Bemerkung zur Parlamentsarmee. Im Weißbuch verpflichtet sich die Regierung, auch künftig ihren Beitrag dazu zu leisten, dass das Parlament umfassend und frühzeitig informiert wird. Im Lichte der aktuellen Diskussion über den Einsatz von Spezialkräften in Afghanistan werden wir die Regierung beim Wort nehmen.
Es ist schon kurios, wenn Mitglieder dieses Hauses - selbst jene, die dem zuständigen Fachausschuss angehören - aus der Presse erfahren müssen, wann und wo unsere KSK-Soldaten im Einsatz waren und dass sie es in den letzten zwölf Monaten unter OEF-Mandat eben nicht waren.
- Das stand in der Zeitung. Ich glaube, in diesem Fall war es der Minister, der dafür sorgte, dass dieses Geheimnis nicht länger ein Geheimnis blieb; das ist auch richtig. - Dennoch muss man feststellen: Diese Information war bis zu diesem Zeitpunkt als ?geheim“ eingestuft. Daher müssen wir über die Frage diskutieren: Welche Informationen sind realistischer- und sinnvollerweise geheim zu halten und welche Informationen gehören in die politische Diskussion?
Unsere Maxime muss dabei lauten - dabei handelt es sich um eine alte Formulierung aus dem Godesberger Programm, allerdings um andere Begriffe -: So viel Geheimhaltung wie nötig, so viel Information wie möglich.
Die Bundeswehr ist nach unserem Grundgesetz eine Parlamentsarmee. Dies ist nicht nur rechtliche Grundlage, sondern mittlerweile auch gute Tradition und geübte Praxis. Die neue Bundeswehr als Armee im Einsatz ist ohne den Parlamentsvorbehalt undenkbar. Wenn wir im Bundestag Einsätze beschließen und damit die volle politische Verantwortung dafür übernehmen, dann muss die Unterrichtung des Parlaments so vollständig wie möglich sein. Je gefährlicher der Einsatz, desto weniger erfahren wir - so kann, so darf es nicht laufen. Wir werden uns hier um Abhilfe bemühen. Das vorgelegte Weißbuch ist eine gute Grundlage für unseren gemeinsamen weiteren Weg.
Ich danke Ihnen.
Präsident Dr. Norbert Lammert:
Das Wort hat nun der Kollege Dr. Werner Hoyer, FDP-Fraktion.
Dr. Werner Hoyer (FDP):
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Der Berg hat gekreißt und mehr als ein Mäuslein geboren. Das muss man wohl zugeben. Es ist in der Tat beachtlich, dass wieder ein Weißbuch vorgelegt wurde
und welche Fakten angesammelt worden sind. Gleichwohl ist das vorgelegte Weißbuch als verpasste Chance zu bewerten, weil sich in ihm nach meiner Auffassung keine Antworten auf die großen Zukunftsfragen, die wir zu beantworten haben, finden lassen.
Ich habe mich sehr darüber gefreut, dass der Kollege Bartels eine Veränderung der Informationspolitik der Bundesregierung angemahnt hat. Das fordern auch wir ein; denn besonders kommunikationsstark ist die Bundesregierung bei diesem Thema weiß Gott nicht.
Das gilt auch im Hinblick auf das Weißbuch. Mir ist völlig klar: Es ist die Prärogative der Regierung, sich zunächst einmal gemeinsam eine Meinung zu bilden und erst dann mit dem Parlament und der Öffentlichkeit darüber zu diskutieren. Aber ich finde, es ist ein Zeichen von Schwäche, dass die Regierung die öffentliche Debatte, auch die mit dem Parlament, im Vorfeld so wenig gesucht hat. Das war nicht sehr souverän.
Gegenwärtig ist übrigens noch ein Bundesminister anwesend; das ist schön, immerhin. Allerdings geht es heute nicht um das Weißbuch des Verteidigungsministeriums, sondern um das Weißbuch der gesamten Bundesregierung. Daher stellt sich die Frage, wie es vor diesem Hintergrund zur erforderlichen und hoffentlich möglichen Vernetzung der Schlussfolgerungen für die Politik kommen soll.
Im vorgelegten Weißbuch wird zu Recht darauf hingewiesen, dass wir im Rahmen der Auslandseinsätze noch viel stärker als bisher die Vernetzung der verschiedenen Politikfelder organisieren müssen und dass die militärische Dimension eine wichtige Voraussetzung für den Erfolg ist. Der Schlüssel zum Erfolg liegt jedoch in anderen Ressorts. Mit der Bundesministerin für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung scheint allerdings gar keine Kommunikation stattzufinden und der Außenminister hatte genug Probleme damit, auf die im Weißbuch getroffenen sicherheitspolitischen Aussagen für die Zukunft überhaupt Einfluss zu nehmen.
Das Kommunikationsproblem der Bundesregierung wird auch bei aktuellen Themen deutlich, damit meine ich nicht die furchtbaren Bilder, über die heute, wie ich denke, schon genug gesagt worden ist. Es ist schon bemerkenswert, dass wir noch vor wenigen Wochen im Bundestag fast ausgelacht worden sind, als wir darauf hingewiesen haben, dass es im Zusammenhang mit dem Libanoneinsatz zu Situationen kommen könnte, in denen es zwischen Israelis und Deutschen, vielleicht aufgrund von Missverständnissen, zu Konfrontationen kommen könnte, und es wenige Wochen später so weit ist. In der gestrigen Sitzung des Auswärtigen Ausschusses ist natürlich kein Wort darüber verloren worden.
Da tröstet mich auch nicht, dass es vielleicht Kommunikationsprobleme zwischen den Israelis und den Deutschen oder gar den Franzosen gegeben hat. Wir müssen das Gesamtbild sehen: Frankreich protestiert in aller Schärfe - übrigens auch Generalmajor Pellegrini, Kofi Annans Mann, der derzeitige Kommandeur von UNIFIL - dagegen, dass die Israelis ständig den libanesischen Luftraum und die libanesischen Gewässer überfliegen. Die Franzosen haben gesagt, dass sie sich das nicht mehr lange ansehen werden, dass sie sich dagegen wehren werden. Das heißt, es gibt eine Zuspitzung, bei der Deutschland plötzlich mittendrin ist. Deswegen muss darüber geredet werden, wenn es so kritisch wird und sich die Bedenken der Opposition zu bestätigen scheinen, auch mit dem zuständigen Ausschuss.
Denn auch das nächste Mandat wird in diesem Deutschen Bundestag auf der Basis einer Beschlussempfehlung des Auswärtigen Ausschusses beschlossen.
Dann ist da die Sache mit der Sechsmeilenzone. Es darf wirklich nicht wahr sein, dass uns hier wiederholt versichert wird, dass die Bundesmarine voll handlungsfähig sei, wir aber dann lesen müssen: volle Zuständigkeit von UNIFIL nur außerhalb der Zwölfmeilenzone, Erlaubnis zu Operationen zwischen 6 und 12 Meilen, Operationen auf Anforderung Libanons zwischen 0 und 6 Meilen sowie Boarding/Beschlagnahme durch libanesische Kräfte oder in deren Beisein. Das war schön verpackt in die reguläre Unterrichtung der Bundesregierung, beschlossen am 12. Oktober. Da kann man das auch prima verstecken, weil der Informationswert und Sexappeal dieses Papiers normalerweise nicht wahnsinnig hoch ist. Diesmal hätte man es in der Tat lesen sollen und frühzeitig Alarm schlagen müssen; denn das ist keine technische Vereinbarung. Das ist eine Aushöhlung des Bundestagsbeschlusses, die die Versicherung der Bundesregierung ad absurdum führt, die Bundesmarine sei in vollem Umfang handlungsfähig.
Schon in der Resolution 1701 ist von einer Entwaffnung der Hisbollah nicht mehr die Rede. Aber auch die Unterbindung eines zukünftigen Waffenzuflusses nach Beirut ist damit nach meiner Auffassung vom Tisch. Hier muss sehr viel bessere Kommunikationsarbeit geleistet werden. Die Karten müssen gegenüber dem Parlament offen gelegt werden.
Wir werden über die Themen, die nach meiner Auffassung nicht hinreichend berücksichtigt sind, noch viel diskutieren müssen. Ich habe die Vernetzung von wirtschaftlicher Zusammenarbeit, Innenpolitik - zum Beispiel bei Polizei und Justiz - und den Streitkräfteaufgaben angesprochen. Wir sehen dieses Problem in Afghanistan und werden sehr bald darüber sprechen müssen. Reden und Handeln müssen in Einklang stehen. Wenn wir sagen, die Polizeiaufgaben seien ein ganz bedeutender Teil der Herausforderungen, denen wir uns in Afghanistan stellen müssen, dann kann es nicht sein, dass der Bundesinnenminister sagt: Nächstes Jahr ist aber Schluss mit dem Einsatz der Polizei dort.
Ich würde auch gerne wissen, wie die Bundesregierung mit Leben ausfüllen will, dass, wie sie sagt, die NATO die wichtigste Bühne des sicherheitspolitischen Dialogs über den Atlantik hinweg ist. Natürlich, das unterschreiben vermutlich fast alle hier. Aber wir müssen uns einmal darüber unterhalten, welche NATO gemeint ist. In Riga werden wir über die globale Partnerschaft mit südostasiatischen Ländern und anderen sprechen. Was das für die Struktur, für die Rechtsgrundlagen der NATO, für Art. 5 bedeutet, darüber findet sich kein Wort im Weißbuch der Bundesregierung. Doch hierüber müssen wir uns eine Meinung bilden. Die Schnittstellen zwischen NATO und EU sind ein weiterer Punkt, der im Weißbuch nach meiner Auffassung nicht hinreichend thematisiert worden ist.
Zum Abschluss möchte ich eine uns intellektuell herausfordernde Frage anreißen. Wir wollen die stärkere Integration der Europäischen Sicherheits- und Verteidigungspolitik und wir wollen auch im Rahmen der NATO militärisch stark integrieren. Die NATO Response Force und vergleichbare EU-Strukturen werden geschaffen. Das muss versöhnt werden mit dem Parlamentsvorbehalt, an dem wir Liberale nicht rütteln werden.
Wo ist die intellektuelle Anstrengung, zu versuchen, beides miteinander zu versöhnen, das heißt, den Parlamentsvorbehalt ohne Wenn und Aber zu wahren, ohne diese NATO- und EU-Strukturen von vornherein handlungsunfähig zu machen?
Das sind doch die interessanten Fragen. Dazu hätte ich mir in diesem Weißbuch mehr gewünscht.
Ich muss leider zum Ende kommen. Ich glaube, wir haben mit dem Weißbuch eine gute Grundlage für die weitere Diskussion. Aber insgesamt, glaube ich, ist eine große Chance verpasst worden.
Präsident Dr. Norbert Lammert:
Ich erteile das Wort dem Kollegen Eckart von Klaeden, CDU/CSU-Fraktion.
Eckart von Klaeden (CDU/CSU):
Herr Präsident! Meine Damen und Herren Kollegen! Es ist von vielen Rednern schon betont worden: Die Vorlage des letzten Weißbuches liegt zwölf Jahre zurück. Dieses Weißbuch stellt den Beginn und nicht den Abschluss einer längst überfälligen strategischen Debatte in Deutschland über unsere Außen- und Sicherheitspolitik dar und ist daher auch kein umfassendes Konzept für eine solche Debatte. Herr Kollege Hoyer, deswegen haben Sie völlig Recht: Es ist in der Tat eine gute Grundlage für eine solche Debatte.
- Doch, er hat von einer guten Grundlage gesprochen, Herr Kollege Gehrcke.
Es ist bedauerlich, dass wir erst jetzt dazu kommen. Die rot-grüne Bundesregierung hat mit ihrer Entscheidung, sich am Kosovokrieg und am Kampf gegen den Terrorismus in Afghanistan zu beteiligen, sowie mit dem Petersbergprozess bemerkenswerte Beiträge zur deutschen Außen- und Sicherheitspolitik geleistet. Umso bedauerlicher ist es, dass es nicht gelungen ist - das hat ihnen nach meinem Eindruck vor allem in den eigenen Reihen besondere Schwierigkeiten gemacht -, diese richtigen Schritte in eine systematische Darstellung der Außen- und Sicherheitspolitik einzubinden.
Diese Aufgabe hat sich die große Koalition jetzt vorgenommen. Das ist ausdrücklich kein parteipolitisches Vorhaben. Die Opposition ist selbstverständlich eingeladen, daran mitzuwirken. Frau Künast, die ich im Augenblick nicht sehe, hat in ihrem Beitrag ja eine Reihe von wichtigen Fragen gestellt, die wir in dieser strategischen Debatte behandeln müssen.
- Nein, Herr Gehrcke, Sie müssen nicht mitmachen. Sie würden sich ja auch untreu werden, wenn Sie hier plötzlich konstruktiv auftreten würden.
Was sind die Elemente dieser strategischen Debatte? Dazu gehört natürlich die Frage nach den nationalen Interessen, die Kollege Bartels angesprochen hat. Hinsichtlich der nationalen Interessen gibt es glücklicherweise eine große Übereinstimmung mit unseren Nachbarn und Bündnispartnern. Aus meiner Sicht muss in der strategischen Debatte die Lageanalyse mit den nationalen Interessen und Prinzipien verbunden werden, um daraus schließlich die Frage abzuleiten, mit welchen Mitteln, mit welchen Instrumenten und in welchen Bündnissen man diese Interessen und Prinzipien durchsetzen möchte. Hier gibt es bemerkenswerte Unterschiede zwischen uns und unseren Bündnispartnern. Zu Frankreich gibt es zum Beispiel bemerkenswerte Unterschiede hinsichtlich der Einschätzung der Rolle von EU und NATO sowie ihres Verhältnisses zueinander. Im Vergleich mit den Vereinigten Staaten gibt es bemerkenswerte Unterschiede hinsichtlich des Kriegsvölkerrechts. Ich finde, es ist unsere Aufgabe, in der strategischen Debatte die Konsequenzen zu ziehen und die Mittel zu definieren, die wir aufgrund der Lageanalyse und der Feststellung unserer Interessen und Prinzipien als notwendig erachten. Dies müssen wir in die Bündnisse einbringen und mit unseren Bündnispartnern besprechen, um zu einer gemeinsamen Politik zu kommen.
Insofern gibt es, wenn man so will, nationale Interessen und Prinzipien, die sich von denen anderer unterscheiden. Sinn der Veranstaltung ist es, die Ergebnisse hinterher zusammenzuführen und zu einer gemeinsamen und kohärenten Politik zu kommen; denn die Lage, in der wir uns befinden, ist dramatisch. Es gibt neue sicherheitspolitische Herausforderungen: Wenn wir uns Nordkorea und den Iran anschauen, dann wissen wir, dass wir möglicherweise am Anfang eines neuen nuklearen Zeitalters stehen. Wir stehen weiterhin vor der Gefahr des vor allem islamistisch motivierten Terrorismus. Wir stehen vor der Gefahr, dass sich Nukleartechnik und Terrorismus zu einer neuen und qualitativ bisher ungeahnten Gefahr verbinden. Schließlich müssen wir die Frage stellen, welche Herausforderungen sich aus diesen asymmetrischen Bedrohungen auch hinsichtlich der Struktur unserer Bundeswehr ergeben.
Ich will hier deutlich sagen: Es ist schon ein Fortschritt, dass jetzt auch die geschätzten Kollegen von der sozialdemokratischen Fraktion zugestehen, dass für ein Luft- und Seesicherheitsgesetz eine Verfassungsänderung notwendig ist. Die bisher im Weißbuch niedergelegte Entscheidung, dass ein terroristischer Angriff - zum Beispiel auch mit schmutzigen Nuklearwaffen - als Unglücksfall definiert wird, wodurch der Einsatz der Bundeswehr zum Schutz unserer Bevölkerung zugelassen wird, ist aus meiner Sicht politisch richtig; denn ich bin in erster Linie am Schutz unserer Bevölkerung interessiert und muss erkennen, dass dazu offensichtlich keine Verfassungsänderung möglich ist. Gleichzeitig will ich aber sagen, dass ich diese Entscheidung verfassungsrechtlich für problematisch halte. Deswegen bleibt es das Interesse unserer Fraktion, auch den Einsatz der Bundeswehr im Inneren in einem solchen Fall verfassungsfest abzusichern.
Es ist schon viel über die Herausforderungen der Außen- und Sicherheitspolitik, über Staatsaufbau und Staatszerfall, internationalen Terrorismus und die Proliferation von Massenvernichtungswaffen gesprochen worden. Ich glaube, dass wir uns als wesentliche Erkenntnis nach dem Ende des Kalten Krieges klar machen müssen, dass auch die Gefahren global sind, dass man die Sicherheit des eigenen Landes und des eigenen Bündnisses nicht mehr allein geografisch definieren kann, dass in Zeiten der Globalisierung jedes Land unser Nachbar sein kann und - wie Henry Kissinger gesagt hat - dass Gefahren für die Sicherheit unseres Landes und unseres Volkes gänzlich innerhalb der Grenzen eines anderen Staates entstehen können. Deswegen liegt es gerade im Interesse unserer Bevölkerung, dass wir bereit sind, uns zu unserer Sicherheit auch in fernen Regionen zu engagieren, was Peter Struck mit dem Satz ?Deutschland wird auch am Hindukusch verteidigt“ gemeint hat.
Andere Staaten haben diese Erkenntnis viel selbstverständlicher als wir Deutschen gewonnen. Australien und Neuseeland zum Beispiel engagieren sich in Afghanistan und im Kosovo, weil sie erkannt haben, dass die Entwicklung in diesen Ländern eine unmittelbare Wechselwirkung auf ihre eigene Sicherheitslage beispielsweise gegenüber Indonesien oder Malaysia hat. Ebenso wie sich diese Länder aufgrund ihrer Erkenntnis in dieser Region engagieren, müssen wir erkennen, dass wir zum Beispiel an einer stabilen demokratischen Entwicklung Indonesiens oder Malaysias ein eigenes elementares Sicherheitsinteresse haben. Wenn es etwa gelingt, Indonesien als größtes muslimisches Land zu einem Beispiel für Demokratie und Rechtsstaatlichkeit in einer muslimisch geprägten Kultur zu machen, dann hat das auch Konsequenzen für den Staatsaufbau, um den wir uns beispielsweise in Afghanistan oder im Kosovo bemühen.
Ich halte es auch für wichtig, darauf hinzuweisen, dass ein großer Teil unserer Auslandseinsätze und unseres Engagements vor allem der muslimischen Bevölkerung zugute kommt. In Bosnien-Herzegowina, im Kosovo, in Pakistan und in Aceh geht es entweder um humanitäre Hilfe oder um politische Unterstützung und den Schutz vor allem der muslimischen Bevölkerung. Ich meine, dass wir bzw. die NATO auch in dem Dialog der Kulturen und in der Auseinandersetzung mit dem islamischen Extremismus stärker auf diesen Punkt hinweisen müssen.
Über die Interessen ist schon viel gesprochen worden. Deshalb will ich mit Blick auf die beschränkte Redezeit nicht weiter darauf eingehen. Ich will aber noch etwas zu den Mitteln und zu unserer Politik im Bündnis sagen. Dazu gehört zunächst einmal die Erkenntnis, dass die Freundschaft und Partnerschaft mit den Vereinigten Staaten bei allen bereits erwähnten Differenzen eben keine Konsequenz der Teilung der Welt in Jalta gewesen ist, die man nach der Überwindung der Teilung Europas für obsolet erklären kann, sondern dass uns eine in Jahrhunderten entstandene Koinzidenz gemeinsamer Prinzipien und Wertvorstellungen mit den Vereinigten Staaten verbindet. In diesem Sinne gilt 1776 als Vorbild für 1789 und1848 bzw. für die demokratische Tradition in Europa.
Wir haben es den Amerikanern zu verdanken, dass Europa von der Geißel des Nationalsozialismus befreit wurde, dass der Westen Europas frei geblieben ist und dass wir die Wiedervereinigung nicht nur Deutschlands, sondern Europas in Frieden und Freiheit erreichen konnten. Diese Kooperation mit den Vereinigten Staaten im Rahmen der NATO und in Ergänzung mit der Europäischen Union in Mittel- und Osteuropa ist auch ein Paradebeispiel und ein gutes Modell für die Fortsetzung der Zusammenarbeit und der Stabilisierung von Staaten beim Nation-Building und dem Aufbau von Demokratie.
Wir müssen uns aber auch klar machen, dass wir für unseren Einsatz deutlich mehr Mittel einsetzen müssen als bisher. Es ist notwendig, dass Anspruch und Wirklichkeit übereinstimmen. Rot-Grün hat sich dafür eingesetzt, dass Deutschland ständiges Mitglied im Weltsicherheitsrat wird. Gleichzeitig bleiben aber unsere Ausgaben für Auswärtiges, Entwicklungshilfe und die Bundeswehr weit hinter dem internationalen Standard zurück. Wir würden mit unseren heutigen Verteidigungsausgaben noch nicht einmal NATO-Mitglied werden. Wir geben für unseren diplomatischen Dienst halb so viel aus wie die Briten oder die Franzosen. Aber nicht nur bei den Mitteln, sondern auch bei der Abstimmung unserer Entwicklungszusammenarbeit ist noch sehr viel zu tun.
Ein wesentlicher Punkt der von uns zu führenden strategischen Debatte wird ein neues außen- und sicherheitspolitisches Denken sein, in dessen Mittelpunkt die Einsicht stehen muss, dass Anspruch und Wirklichkeit in Einklang zu bringen sind, dass für die Durchsetzung unserer Ansprüche, Interessen und Prinzipien entsprechende Mittel erforderlich sind und dass unsere Glaubwürdigkeit auch von den Mitteln abhängt, die wir bereit sind einzusetzen. Diese Debatte ist mit dem nun vorliegenden Weißbuch sicherlich nicht abgeschlossen, sie beginnt erst.
Vielen Dank.
Präsident Dr. Norbert Lammert:
Paul Schäfer ist der nächste Redner für die Fraktion Die Linke.
Paul Schäfer (Köln) (DIE LINKE):
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Erforderlich wäre ein Weißbuch gewesen, das nicht dekretiert, sondern eine offenere sicherheitspolitische Debatte ermöglicht und das einen neuen Denkansatz zu den sicherheitspolitischen Entwicklungen enthält, also ein Weißbuch, das innovativ ist und mit der Politik des ?Weiter so“ Schluss macht. Aber Sie halten an der ungerechten Wehrpflicht, der nuklearen Teilhabe, die niemand mehr braucht, und an einem Mehr an Auslandseinsätzen fest, deren Ende nicht mehr absehbar ist. Auch die Entgrenzung des Militärischen nach innen ist keine neue Idee. Das ist seit jeher falsch. Offensichtlich ist ein grundlegender Politikwechsel in der Außen- und Sicherheitspolitik vonnöten. Aber das geht mit dem vorgelegten Weißbuch nicht.
Im Weißbuch steht: Der internationale Terrorismus ist die zentrale Herausforderung. - Vor kurzem wurde nach fünf Jahren Antiterrorkrieg Bilanz in der Öffentlichkeit gezogen. Der Tenor ist einheitlich: Die Welt ist durch den Antiterrorkrieg nicht sicherer, sondern unsicherer geworden. Es gibt nicht weniger Gewalt, sondern mehr Gewalt.
Das ist Fakt. Das bezieht sich in sehr starkem Maße auf den Irakkrieg, dessen Auswirkungen auf Afghanistan, den Iran und die ganze Region Sie noch immer systematisch verdrängen. Sie sagen - die einen sagen das überzeugter als die anderen -: Wir haben nicht mitgemacht. Aber das stimmt nicht. Deutschland war eine wichtige Drehscheibe, als es darum ging, diesen Krieg zu führen. Wir haben Kompensationsleistungen erbracht, um die USA zu entlasten, damit sie diesen Krieg führen können.
Unser Ausgangspunkt für eine Neubestimmung der deutschen Sicherheitspolitik ist daher: Keine Beteiligung an völkerrechtswidrigen Angriffskriegen, weder unmittelbar noch mittelbar!
Unser Schluss aus dem einheitlichen Tenor ist, dass wir aus dem militärisch geführten ?war on terrorism“ endlich aussteigen müssen, uns davon abkoppeln müssen. Wenn ich an die KSK-Einsätze denke, dann komme ich zu dem Schluss, dass wir darin offenkundig mehr verstrickt waren als bislang bekannt. Nun droht in Afghanistan eine weitere Verstrickung. Es ist deshalb an der Zeit, die deutsche Beteiligung an ?Enduring Freedom“ und ?Active Endeavour“ aufzukündigen, wenn wir mehr für unsere Sicherheit tun wollen. Wir müssen uns endlich darauf konzentrieren, den Nährboden des Terrorismus trocken zu legen. Erst dann reden wir beispielsweise über Armutsbekämpfung und eine friedliche Lösung des Palästinakonflikts.
Ein weiterer Punkt des Weißbuchs ist: Die NATO ist der stärkste Anker der deutschen Sicherheits- und Verteidigungspolitik, also NATO first.
Reden wir doch nicht darum herum: Mag es auch Vorstöße wie den von der Kanzlerin in München geben, die NATO bleibt primär ein militärisches Bündnis, das von den USA dominiert wird. Sicherlich kann man der Auffassung sein, dass sie als Verteidigungsgemeinschaft gebraucht wird. Dann hätte sie erhebliches Abrüstungspotenzial. Aber als Weltpolizist wird sie nicht gebraucht. Für uns gilt: UNO first!
Die UNO ist für den Weltfrieden und die internationale Sicherheit zuständig und muss vor allem internationale Entwicklungszusammenarbeit leisten. Wir wollen sie daher stärken.
Mit der wachsenden terroristischen Bedrohung wird begründet, warum die Bundeswehr neue Aufgaben im Innern übernehmen soll. Aber statt fatalistisch von einer wachsenden Bedrohung zu reden, muss sich die Außen- und Sicherheitspolitik daran orientieren, die Gefahren und Risiken dort zu minimieren, wo sie entstehen. Darauf haben Sie in Ihrer Rede ebenfalls hingewiesen, Herr Minister Jung. Aber Ihr nächster Satz lautete - ich bitte, das nachzulesen -: Deswegen sind die Militäreinsätze so wichtig. Das ist doch genau das Denken, das in die falsche Richtung führt. Wir sagen: Wir brauchen ein Umdenken. Hier muss über verstärkte Entwicklungszusammenarbeit geredet werden, über eine gerechtere Ressourcenverteilung und über den Stopp von Rüstungsexporten, weil auch die diese Konflikte anheizen. Das wäre sinnvoller.
Was das Luftsicherheitsgesetz und die Änderung des Grundgesetzes angeht, die Sie in Aussicht nehmen, gilt das Urteil des Bundesverfassungsgerichts: Leben-gegen-Leben-Abwägung ist nicht statthaft. Es bleibt in der Verantwortung des Einzelnen, der in der Notwehrsituation ist, zu handeln. Die kann ihm niemand abnehmen. Deshalb werden wir diese Änderung nicht mittragen.
Noch ein Punkt zu Terror- und Massenvernichtungswaffen. Eine Expertengruppe unter dem renommierten Diplomaten Hans Blix hat von Weapons of Terror, Terrorwaffen, gesprochen. Atombomben sind Terrorwaffen. Wenn man also den Terrorismus bekämpfen will, dann muss man endlich alles tun, um die Terrorwaffen loszuwerden. Was macht die Bundesregierung? Sie hält an der nuklearen Teilhabe fest. Es wäre an der Zeit, dass Sie die USA zum raschen Abzug dieser Atombomben aus der Bundesrepublik Deutschland drängen, dass Sie sich für eine atomwaffenfreie Zone in Europa stark machen und dass Sie die Tornadostaffel, die diese Atomwaffen transportieren soll, endlich auflösen.
Ein letzter Gedanke: Sie sagen, die erweiterte Sicherheit, die Sie proklamieren, sei eine Form der Entmilitarisierung. Wenn man das Weißbuch liest, dann stellt man fest, dass es eine Generalklausel geworden ist, um umfassende Gestaltungsansprüche mithilfe von Streitkräften durchsetzen zu können. Deshalb sagen Sie auch an erster Stelle: Streitkräfte sind zur Sicherung unserer außenpolitischen Handlungsfähigkeit nötig. - Das steht da so. Wir haben an der Stelle ein ganz anderes Konzept. Wir wollen eine friedlich ausgerichtete Außenpolitik, die tatsächlich auf Entmilitarisierung und Zivilisierung der internationalen Beziehungen setzt.
Danke für Ihre Aufmerksamkeit.
Präsident Dr. Norbert Lammert:
Nächster Redner ist der Kollege Winfried Nachtwei, Bündnis 90/Die Grünen.
Winfried Nachtwei (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Auch wenn es schon ziemlich oft gesagt wurde und vielleicht schon ermüdend wirkt: Dass dieses Weißbuch nach zwölf Jahren erscheint, ist eindeutig ein Fortschritt. Also danke, dass es zustande gekommen ist. Dass im Weißbuch die Bindung deutscher Politik an das Völkerrecht, gemeinsame, umfassende und vorbeugende Sicherheitspolitik und ausdrücklich der ressortübergreifende Ansatz betont werden, ist auch richtig. Aber ich will die ermüdende Tendenz dieser Debatte, die durch so viel Zustimmung gefördert wird, nicht noch weiter auf die Spitze treiben und deshalb die Dissenspunkte beim Namen nennen.
Zunächst zu den Widersprüchen, die schon öfter angesprochen wurden und von denen ich weiß, dass Kolleginnen und Kollegen aus der Koalition ähnlich über sie denken, ihre Meinung aber unter dem Harmoniedruck einer Koalition nicht öffentlich sagen können. Zu Recht bekennt sich die Bundesregierung zur nuklearen Abrüstung insgesamt. Aber dieses Bekenntnis wird deutlich dadurch entwertet, dass de facto gesagt wird: Bitte nicht vor der eigenen Haustür. - Dass nämlich Tornadojagdbomber der Bundeswehr nicht nur weiter für Atombombeneinsätze zur Verfügung stehen, sondern die Mannschaften den Einsatz auch üben müssen, ist, so finde ich, nicht nur ein sicherheitspolitischer Schwachsinn, sondern für die Soldaten schlichtweg ethisch unzumutbar.
Das war nur ein Beispiel für die Widersprüche.
Nun aber zu den Lücken. Ein Herzstück des Weißbuchs ist, so finde ich, das Kapitel ?Die Bundeswehr im Einsatz“. Hier finden wir eine Skizze der bisherigen Bundeswehreinsätze, auch - wenn man etwas genauer hinschaut, sieht man es - mit einigen Unschärfen und sachlichen Unrichtigkeiten. Aber darauf will ich jetzt gar nicht eingehen. Es wird in diesem Kapitel vor allem die zentrale Chance vertan, aus mehr als zehn Jahren Erfahrungen mit Auslandseinsätzen im Kontext von deutschem und internationalem Krisenengagement Lehren und Schlussfolgerungen zu ziehen. Die allgemeine Schlussfolgerung ist bekannt: Transformation der Bundeswehr. Nur, nachvollziehbare Lehren existieren nicht. Denn im Weißbuch werden keine Antworten zum Beispiel auf folgende Fragen gegeben - gerade diese stellen sich die Bürgerinnen und Bürger, die uns zuhören, sicher -: Warum dauern die Einsätze viel länger, als man es in der Regel erwartet? Warum ist ein Ausstieg so schwierig ist? Was bringen diese Auslandseinsätze?
Im Weißbuch werden die bekannten Risiken und Bedrohungen benannt. Es wird aber offen gelassen, bei welchen dieser Risiken und Bedrohungen das Militär bzw. die Bundeswehr überhaupt etwas ausrichten kann und wo nichts. Herr Minister, Sie haben vorhin ein Beispiel gebracht, das zeigt, wie völlig vage die Zuordnung ist. Was kann die Bundeswehr gegen die Weiterverbreitung von Massenvernichtungswaffen tun? Höchstens kann das im Rahmen der Abrüstungskontrolle geschehen. Aber ansonsten? Meinen Sie etwa eine Vorstellung, wie die Amerikaner sie zum Teil haben? Da sage ich: Bloß nicht. Was kann die Bundeswehr zur Bekämpfung des Terrorismus beitragen? Nur nachgeordnet, aber in keiner Weise primär.
Wenn wir uns die Realität der Bundeswehr und die Trends weltweit anschauen, stellt sich die Frage, was vor allem gefragt ist. Beiträge zur Stabilisierung stehen im Mittelpunkt; das ist in der Tat eine prioritäre Aufgabe. Dann stellen sich wiederum ganz konkrete Fragen, auf die ein Weißbuch Antworten geben muss: Was ist die angemessene Zielebene bei der Stabilisierung bestimmter Staaten, beim so genannten Nation- und State-Building? Wir merken es an dem Beispiel Afghanistan. Das Ziel, den Rechtsstaat und die Demokratie zu fördern, ist zum Teil sehr weit von der Realität entfernt. Da brauchen wir ein angemessenes Niveau. Oder wie sieht es konkret mit der kohärenten Politik aus? Wie sieht es schließlich mit dem enormen Rückstand der politischen, zivilen und polizeilichen Instrumente bei solchen Stabilisierungseinsätzen aus? Dazu gibt es keine Antwort.
Deshalb müssen wir sagen: Gerade auf diese Schlüsselfragen aus der Praxis, die die Menschen und die Soldaten vor Ort besonders bedrängen, gibt es im Weißbuch keine Antworten. Da wird man allein gelassen. Das ist ein zentraler Mangel dieses Weißbuchs.
Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner:
Herr Kollege, beachten Sie bitte Ihre Redezeit.
Winfried Nachtwei (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Ich komme zum Schluss.
Wir haben aber nicht nur Fragen und Kritik zum Weißbuch, sondern uns gleichzeitig um Antworten in diesem Bereich bemüht, damit wir in dieser Debatte weiterkommen; das Weißbuch soll ja ein Anstoß sein.
Deshalb, Herr Minister, kann ich mir erlauben, Ihnen die Dokumentation unserer Tagung zum Weißbuch und unserer Kontroverse darüber, in der einige Antworten enthalten sind, direkt zu übergeben.
Danke schön.
Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner:
Nächster Redner ist der Kollege Rainer Arnold, SPD-Fraktion.
Rainer Arnold (SPD):
Frau Präsidentin! Werte Kolleginnen und Kollegen! Gerne nutze ich die mir überraschend zur Verfügung stehende Redezeit, um noch ein paar Aspekte zu beleuchten. Es wurde schon gesagt: Wir begrüßen dieses Weißbuch, in dem unsere Position und Konzeption in der Außen- und Sicherheitspolitik beschrieben werden. Der Wert des Weißbuches ist nicht in erster Linie am gedruckten Exemplar zu messen. Sein Wert stellt sich vielmehr in einer breiten gesellschaftlichen Debatte und der Aufmerksamkeit dar, die die deutsche Gesellschaft auf die Bundeswehr und die nationale Sicherheitspolitik richten sollte. Wir haben eine große Verantwortung, diesen Prozess zu initiieren.
Auch bei uns innerhalb der Koalition gab es natürlich im Vorfeld Diskussionen. Herr Hoyer, es lohnt sich, noch einmal daran zu denken - Sie haben diesen Punkt angesprochen -, wie es vor zwölf Jahren bei der Erstellung des letzten Weißbuches war. Wenn ich mich richtig erinnere, waren Sie damals Staatsminister im Auswärtigen Amt, also in Regierungsverantwortung. Siehe da: Damals gab es im Vorfeld überhaupt keine Debatte. Ich sage: Diese Debatte innerhalb der Koalition hat sich letztlich gelohnt.
Was unter Federführung des Verteidigungsministers und in Abstimmung mit anderen Ressorts, mit dem Auswärtigen Amt sowie den Ministerien des Innern und der Justiz und dem Ministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit, vorgelegt wurde, ist am Ende ist eine wirklich gute Basis für die weitere Arbeit. Im Weißbuch wird der Transformationsprozess der Bundeswehr, der bereits von der letzten Regierung, von Peter Struck, eingeleitet wurde, in seiner Kontinuität beschrieben.
Wir sollten ehrlich miteinander umgehen. Ich bin ziemlich sicher: Auch wenn wir hier Konstellationen hätten, in denen die Grünen oder die FDP an der Regierung beteiligt wären, dieses Weißbuch und die Außen- und Sicherheitspolitik würden in Wirklichkeit nicht anders aussehen, als es heute der Fall ist.
Zu dieser Diskussion gehört natürlich die Frage: Wie gehen wir mit der neuen Gefährdung durch den Terrorismus im Inneren um? Herr von Klaeden hat ein paar Sätze dazu gesagt. Natürlich müssen wir weitere Diskussionen darüber führen. Ich sage hier nochmals: Es ist keine neue Entwicklung, dass wir die Frage der Luft- und Seesicherheit auch in der Verfassung klären wollen. Das haben wir bereits in der Koalitionsvereinbarung so dargelegt; darin sind wir uns einig.
In Bezug darauf, ob darüber hinaus etwas geschehen muss, müssen wir kritisch hinterfragen, ob die Debatte, die ja von allen Sicherheitspolitikern in der ganzen Welt geführt wird, immer ganz richtig geführt wird. Ich höre nämlich keine Rede, bei der nicht an irgendeiner Stelle gesagt wird, dass der neue Terrorismus dazu führt, dass jetzt alles miteinander vernetzt ist, dass Äußeres und Inneres verwischt werden. Ich glaube, dass das falsch ist. Die Gefährdungen und Dimensionen von Attentaten können denen kriegerischer Auseinandersetzungen ähneln. Darüber, ob die Antworten darauf in erster Linie auch vernetzte militärische sein müssen, habe ich ganz erhebliche Zweifel.
Das Weißbuch klärt dies, glaube ich, ziemlich gut, indem es einen erweiterten Sicherheitsbegriff - an die Linke sage ich: Es ist kein erweiterter Verteidigungsbegriff, sondern genau das Gegenteil von dem, was Sie behaupten - zugrunde legt. Ich weiß nicht, ob Sie das überhaupt gelesen haben. Es werden diese Fragen geradezu entmilitarisiert. Denn es ist von einer vernetzten Politik aller Akteure und aller Instrumente die Rede, selbstverständlich einschließlich der Diplomatie, der wirtschaftlichen Zusammenarbeit, der Polizei, der Nachrichtendienste und des Militärs.
Vernetzung bedeutet am Ende aber nicht Verwischung der Zuständigkeiten. Das würde für uns die Sicherheit nicht erhöhen. Wir brauchen vielmehr rechtsstaatliche Regeln, die gewahrt bleiben müssen. Wir brauchen für uns alle aber auch Transparenz. Deshalb dürfen die Dinge nicht verwischt werden, sondern müssen vernetzt werden und die Kommunikation muss gestärkt werden.
Es ist der richtige Ansatz, den das Weißbuch formuliert.
Herr von Klaeden, wir wünschen uns, alles zu tun, um für die Menschen in Deutschland Sicherheit zu gewährleisten. Sie haben das Beispiel ABC angesprochen. Ich bleibe bei der Auffassung, dass es jetzt auch schon möglich ist, dass die Bundeswehr mit ihren Fähigkeiten beim ABC-Schutz Amtshilfe leistet. Das hat sie übrigens auch schon getan. Nur, hilft uns dies wirklich, wenn es ein ernstes Problem gibt? Wenn die ABC-Fähigkeiten nur an zwei Standorten der Bundeswehr in Deutschland angesiedelt sind und wir sie möglicherweise zum Schutz der Soldaten im Einsatz brauchen, können wir dann wirklich die Bevölkerung in Deutschland schützen, wenn es ernst wird? Deshalb, glaube ich, müssen wir uns dem Thema anders zuwenden. Ich glaube, wir brauchen gerade in dieser Frage eine sehr stark regionalisierte Verantwortung, möglicherweise auch eine regionalisierte Verantwortung der Bundespolizei, die dann bestimmte Fähigkeiten haben sollte. Natürlich wird die Bundeswehr Amtshilfe leisten, wenn sie es denn kann. Aber zuerst muss auch die Polizei diese Fähigkeiten erhalten. Hierbei haben wir möglicherweise Diskussionsbedarf, aber das ist auch nicht schlimm, weil wir das gemeinsame Ziel des Schutzes der Bevölkerung haben.
Das Weißbuch beschreibt auch die Verantwortung der Bundeswehr in der Welt. Natürlich werden dafür Maßstäbe, nicht Regeln, formuliert. Ich fand es ganz spannend, was Herr Gehrcke von den Linken heute gesagt hat. Damit hat er nämlich klar gemacht hat, dass die Linke die Bundeswehr eigentlich abschaffen will.
Wenn eine Linke, die in ihrer Tradition eigentlich für die Internationalisierung der Solidarität eintreten und Verantwortung für die Menschen in aller Welt übernehmen müsste, die Schutz und Hilfe brauchen, sagt, Deutschland soll einen eigenen nationalen Weg gehen, dann würde sie dieses Land in eine völlige Isolation führen.
Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner:
Herr Kollege Arnold.
Rainer Arnold (SPD):
Ich komme zum Ende. - Mit links und verantwortungsbewusst hat das selbstverständlich gar nichts zu tun.
Als Letztes noch einen Satz: Dieses Weißbuch ist eine Beschreibung unseres jetzigen Status; wir wollen aber zügig darangehen, in zwei Bereichen Fortschritte zu machen.
Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner:
Herr Kollege, das waren jetzt drei Sätze.
Rainer Arnold (SPD):
Ich komme zum Ende. - Es würde sich auch schon in dieser Legislaturperiode lohnen, an einem Modul zu arbeiten, das die Evaluation der internationalen Krisenbewältigung stärker erfasst.
Herzlichen Dank.
Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner:
Das Wort hat der Kollege Winkelmeier.
Gert Winkelmeier (fraktionslos):
Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen und Herren! Wir sprechen heute über das neue Weißbuch zur Sicherheit Deutschlands und zur Zukunft der Bundeswehr. Herr Minister, zu Ihrer Informationspolitik stelle ich fest: Dieses Werk wurde zwar erst gestern Nachmittag verteilt, aber bereits heute muss eine detaillierte Meinung zu diesem 176-seitigen Buch formuliert werden.
Inoffiziell konnte man sich die jetzige Version von der Homepage der Zeitschrift ?Die Zeit“ herunterladen, deren Beschäftigten ich auf diesem Wege recht herzlich danken möchte. Dem Verteidigungsminister muss ich leider sagen, dass seine Informationspolitik schlecht ist. Er teilt Abgeordnete in zwei Gruppen ein: in Koalitionsabgeordnete, die den Entwurf frühzeitig erhalten haben, und Oppositionsabgeordnete, die diesen Entwurf nicht frühzeitig erhalten haben.
Das ist inakzeptabel und widerspricht der Würde dieses Hauses.
Ein nicht mehr hinterfragter Satz im Weißbuch lautet, dass dem vereinigten Deutschland eine wichtige Rolle für die Gestaltung Europas und darüber hinaus zufällt. Die Antworten, die dann gegeben werden, sind ausschließlich militärischer Art. Anfang der 90er-Jahre wurde noch von der Friedensdividende, also von Abrüstung, gesprochen. Seit diesem Jahrzehnt wird gegen den internationalen Terrorismus gekämpft. Die Ausgangsbehauptung ist, dass sich Deutschland im permanenten weltweiten Verteidigungsfall befindet. Die Ökonomen wissen, dass gerade die Rüstungskonzerne diese Bedrohung so dringend brauchen wie Vampire das Blut anderer Menschen; denn nur die Bedrohung bringt ständig neue Rüstungsaufträge. Laut Weißbuch strebt die Bundeswehr eine Kompatibilität mit der US-Armee an, damit eine weltweite Führungsrolle auch weiterhin gesichert wird. Gute Geschäfte für die Rüstungsindustrie sind dadurch vorprogrammiert.
Entsprechend wird die Sprache gestaltet - Zitat -:
Die Struktur der Bundeswehr wird konsequent auf Einsätze ausgerichtet.
Daher wird die Bundeswehr in drei Gruppen eingeteilt: in Eingreif-, Stabilisierungs- und Unterstützungskräfte. Früher, als die Sprache noch klarer war, hätte man von Kampftruppen, Besatzungstruppen und Hilfs- und Heimattruppen gesprochen. Überhaupt fällt auf, dass das Wort ?Krieg“ in diesem Buch nicht vorkommt. Durchgängig wird von Frieden gesprochen. Es geht um friedenserzwingende Maßnahmen und friedensstabilisierende Operationen, um Transformationen ganzer Staaten, entweder mit oder gegen deren Willen. Wir wissen aber sehr genau, dass bereits ein robustes Mandat für einen Kriegseinsatz steht. Es gibt in diesem Buch also durchgängig eine verschleiernde Sprache.
Im Weißbuch wird richtig festgestellt, dass die Weiterverbreitung von Massenvernichtungswaffen und ihrer Trägermittel die größte Bedrohung der globalen Sicherheit darstellt. Die Konsequenz, die daraus gezogen wird, ist aber nicht, weltweit politisch für atomwaffenfreie Zonen einzutreten. Nein, es werden mehr Finanzen für Rüstungsgüter gefordert und es müssen Waffen sein, die das logistische Problem und die Kampfkraft der Bundeswehr in den Einsatzgebieten erhöhen. Deshalb wird eine nationale Zielvorgabe formuliert, dass gleichzeitig bis zu 14 000 Soldaten in bis zu fünf Einsatzgebieten kämpfen können. Die internationale Gemeinschaft wird die Bundeswehr verstärkt als kämpfende Armee erleben. Das wird unser Ansehen in der Welt nicht erhöhen; denn mit Krieg werden keine Probleme gelöst, sondern es werden immer neue geschaffen.
Nehmen wir Afghanistan. Nach über fünf Jahren Einsatz muss die Regierung heute feststellen, dass keines ihrer beiden Kriegsziele, nämlich den Terrorismus im Lande auszurotten und den Menschen eine bessere wirtschaftliche Perspektive zu geben, erreicht worden ist. Stattdessen gibt es dort eine immer bedrohlichere Lage. Deutsche Soldaten werden als Besatzungstruppen empfunden - seit gestern auch als Leichenschänder, was wir alle verurteilen. Das Talibanregime erhält großen Zulauf und die Drogenanbaufläche wächst auf Rekordniveau.
Diese Bilanz lässt die Regierung nicht darüber nachdenken, den Schwerpunkt auf zivile Konfliktlösung zu setzen. Nein, das Verhaltensstrickmuster des Weißbuches gibt vor, dass die Luftwaffe ihre Fähigkeiten in und aus der Luft zur Wirkung bringen soll. Dabei wird ausdrücklich betont, dass dies auch den Weltraum einschließt. Mit dieser auf Seite 127 formulierten Forderung handelt die Regierung gegen alle UN-Resolutionen, die sich mit der Verhütung eines Wettrüstens im Weltraum beschäftigt haben. Diesen Resolutionen hat auch die Bundesregierung zugestimmt.
Als Fazit der Lektüre des Weißbuches kann ich nur sagen: Es ist ein Irrweg für Deutschland, die militärische Verantwortung für die ganze Welt zu formulieren.
Vielen Dank.
Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner:
Letzter Redner in dieser Debatte ist der Kollege Dr. Christian Ruck, CDU/CSU-Fraktion.
Dr. Christian Ruck (CDU/CSU):
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Als letzter Redner in dieser Debatte sei auch mir gestattet, die drei Besonderheiten dieses Weißbuchs noch einmal zusammenzufassen:
Erstens. Nach vielen Jahren der Abstinenz wurde die Arbeit gleich im ersten Jahr von der neuen Koalition angepackt und erledigt.
Zweitens. Im Vergleich zum letzten Weißbuch vom Anfang der 90er-Jahre haben wir es mit einem völlig anderen sicherheitspolitischen Umfeld zu tun.
Drittens. Es wurde zum ersten Mal der Versuch unternommen, einen umfassenden Sicherheitsbegriff in einem Weißbuch festzuschreiben, und zwar vor dem Hintergrund der eigenen deutschen Interessen.
Ich kann die Einlassungen mancher Vorredner nicht verstehen, die offensichtlich ein fix und fertiges Lexikon zur neuen Sicherheitslage erwartet haben. Nein, das Weißbuch soll Anstöße für Diskussionen auch im Parlament geben. Herr Hoyer, wir werden eine Chance verpassen, wenn wir diese Anstöße nicht aufnehmen und wenn wir die Arbeit, zu der im Weißbuch angeregt wird, in der Diskussion nicht fortführen. Die Bundeswehr ist ja eine Parlamentsarmee.
Lassen Sie mich in den paar Minuten Redezeit, die mir zur Verfügung stehen, auf den Aspekt der Vernetzung und Verzahnung eingehen, der zum Teil schon angesprochen wurde. Es ist zu Recht schon ausgeführt worden, dass der Ost-West-Konflikt für uns keine Bedrohung mehr darstellt, aber eine Vielzahl von Konflikten und Spannungen aus anderen Ländern und Kontinenten, die früher weit weg zu sein schienen, unser Land bedrohen, dass die Abhängigkeiten Deutschlands von Problemen und Konflikten in Entwicklungs-, Schwellen- und Transformationsländern viel größer geworden sind und dass gleichzeitig die Abschirmungsmöglichkeiten durch rein militärische Maßnahmen im eigenen Land geringer geworden sind.
Kriegs- und Krisenschauplätze im Nahen und Mittleren Osten, in Asien, auf dem Balkan, in Afrika und ebenso in Lateinamerika bringen es mit sich, dass die dortigen Probleme immer stärker auch auf uns in Form von Flüchtlingsströmen, Kriminalität, Drogen, der Bedrohung der Rohstoffversorgung, aber auch in Form von einer möglicherweise verheerenden Kombination aus Terrorismus und Massenvernichtung durchschlagen. Das sind eben nicht nur die Konflikte dieser Länder, sondern sie gefährden auch unsere eigene Sicherheit und Stabilität. Das beschreibt das Weißbuch als Maßstab für unser Handeln in sehr eindringlicher Weise.
Die Antwort ist völlig zu Recht ein umfassender Sicherheitsbegriff, der in bisher noch nie gekannter Art und Weise die enge Zusammenarbeit aller sicherheitsrelevanten Bereiche der Politik notwendig macht. Natürlich geht es auch um die Frage einer besseren Befähigung der Bundeswehr in finanzieller, organisatorischer und technischer Hinsicht. Das ist ein ganz entscheidender Punkt. Ein anderer entscheidender Punkt für mich ist, dass die allgemeine Wehrpflicht betont und herausgestellt wird. Gleiches gilt für die völlig neue Verzahnung von innerer und äußerer Sicherheit.
Mir geht es besonders um die ebenfalls angesprochene neue Verzahnung von Außen-, Sicherheits- und Entwicklungspolitik. Auf dem Balkan, in Afghanistan, im Kongo und im Libanon hat die Bundeswehr zusammen mit ihren Partnern dazu beigetragen, dass es eine Chance auf dauerhaften Frieden gibt, was auch im deutschen Interesse liegt. Ob diese Chance genutzt werden kann, hängt in hohem Maße davon ab, ob die außenpolitischen Rahmenbedingungen richtig gesetzt sind und ob es gelingt, mit entwicklungspolitischen Maßnahmen Staaten wiederaufzubauen, zu stabilisieren oder auch durch Modernisierung weniger gefährlich zu machen.
Diese Verzahnung enger und lückenloser zu machen, ist eine Aufgabe, die sich aus dem Weißbuch ergibt. Die Bundeswehr soll an keinem Ort außerhalb Deutschlands für immer bleiben. Es ist wichtig, dass der politische Zweck und das politische Ziel eines Bundeswehreinsatzes so rasch und so treffsicher wie möglich erreicht werden. Zweck ist immer die Stabilisierung einer friedlichen Entwicklung des betreffenden Landes. Die beste Exit-Strategie für die Bundeswehr besteht deswegen aus tragfähigen außenpolitischen Konzepten, die in sich nicht den Keim für Zerfall und neuen Bürgerkrieg tragen, sowie einer raschen und treffsicheren Umsetzung des entwicklungspolitischen Anschlussauftrags. Das ist etwas, um das wir uns täglich und auch in der Zukunft bemühen müssen. Ich denke zum Beispiel an eine Verbesserung und eventuelle Neujustierung des Daytonabkommens für den Balkan.
Ein wichtiger Teilbereich - das hat unser Ausschuss in dieser Woche in einer Anhörung auch besprochen - ist natürlich die zivil-militärische Zusammenarbeit im engeren Sinne, der nahtlose Übergang zwischen
Frieden schaffenden militärischen Maßnahmen und dem raschen Aufbau bzw. Wiederaufbau staatlicher Strukturen, dem Durchsetzen des staatlichen Gewaltmonopols, der Demobilisierung von Milizen und der raschen Errichtung von Zivilbauten. Wir haben dazu, aus der Not geboren, erste Erfahrungen mit dem Schnittstellenmanagement - zivile und militärische Akteure handeln hier - bei den Provincial-Reconstruction-Teams in Afghanistan gemacht. Das ist ein Experiment. Da gibt es natürlich noch das eine oder andere zu verbessern - das ist völlig klar -, aber ich glaube, dass gerade die Art und Weise, in der Deutschland dieses Experiment angegangen ist, zum Erfolg führt, was auch dadurch zum Ausdruck kommt, dass zum Beispiel die bedrängten Kanadier uns bitten, unsere Art und Weise, mit den Problemen umzugehen, auch in Kandahar fortzuführen, zumindest Rat zu geben.
Ich halte allerdings Folgendes für richtig: Bei einer solch komplizierten multidimensionalen Lage wie in Afghanistan sollte man möglichst dazu kommen, dass bei den Provincial-Reconstruction-Teams alle Beteiligten nach der grundlegend gleichen Philosophie vorgehen; sonst wird der Erfolg unserer Arbeit gefährdet.
Ich möchte aufgrund der fortgeschrittenen Zeit nur noch zwei andere Baustellen ansprechen, die mir ebenfalls wichtig sind. Die eine Baustelle ist: Verbesserung der Frieden sichernden und Frieden schaffenden UNO-Einsätze allgemein. Wir sind einer der größten Zahler dieser Einsätze und haben schon aus diesem Grund ein erhebliches Eigeninteresse daran, dass diese UN-Missionen treffsicherer und professioneller als bisher durchgeführt werden. Das hat übrigens auch etwas mit unserer eigenen Personalpolitik an dieser Stelle zu tun.
Wir müssen in unserem eigenen Interesse auch einen wichtigen Beitrag dazu leisten, dass die Bemühungen zum Beispiel der Afrikaner oder von Teilen Afrikas, eigene Friedensmissionen aufzustellen und zum Erfolg zu führen - ich denke etwa an Darfur -, gelingen, indem wir da logistisch, personell und vielleicht auch mit Bewaffnung unterstützen.
Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner:
Herr Kollege, Sie müssen Ihre zweite Baustelle jetzt beenden.
Dr. Christian Ruck (CDU/CSU):
Jawohl. - Damit bin ich zu meinem letzten Satz gezwungen, der noch einmal zur Entwicklungspolitik zurückführt. In der heutigen Debatte wurde von verschiedenen Rednern angesprochen - dafür bin ich dankbar -, dass eine der wichtigsten sicherheitspolitischen Maßnahmen im Vorfeld eine treffsichere und international besser abgestimmte Politik der Entwicklung ist, die dann, genau wie die anderen außenpolitischen Bereiche, quantitativ und qualitativ besser ausgestattet werden muss.
Vielen Dank.
Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner:
Ich schließe die Aussprache.
Ich rufe die Tagesordnungspunkte 5 a und 5 b auf:
5. a) Beratung des Antrags der Abgeordneten Dr. Thea Dückert, Brigitte Pothmer, Volker Beck (Köln), Fritz Kuhn und der Fraktion des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN
Zukunft der Arbeit gestalten statt Arbeitslosigkeit verwalten
- Drucksache 16/2792 -
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Arbeit Arbeit und Soziales (f)
Ausschuss für Arbeit Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Arbeit Familie, Senioren, Frauen und
Jugend
Ausschuss für Arbeit Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung
Haushaltsausschuss
b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Dirk Niebel, Dr. Heinrich L. Kolb, Jens Ackermann, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP
Überschüsse der Bundesagentur für Arbeit für weitere Beitragssenkungen verwenden
- Drucksache 16/3091 -
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Arbeit Arbeit und Soziales (f)
Ausschuss für Arbeit Wirtschaft und Technologie
Haushaltsausschuss
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für die Aussprache eineinhalb Stunden vorgesehen. - Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat die Kollegin Dr. Thea Dückert, Bündnis 90/Die Grünen.
Dr. Thea Dückert (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die große Koalition ist auf dem besten Wege, zukünftige Beschäftigungschancen für Deutschland zu vertun.
Keines unserer Nachbarländer hat eine so hohe Arbeitslosenquote wie wir.
Keines unserer Nachbarländer hat eine so niedrige Erwerbsquote von Frauen wie Deutschland.
Keines unserer Nachbarländer vertut die Beschäftigungschancen, die zum Beispiel von einer höheren Erwerbsquote von Frauen ausgehen, so wie Deutschland. In keinem unserer Nachbarländer ist die durchschnittliche Dauer der Arbeitslosigkeit so hoch wie in Deutschland.
Das Schlimmste ist die hohe Langzeitarbeitslosigkeit in Deutschland, weil sie der Stoff ist, aus dem Angst und die Ausgrenzung, die Exklusion, weiter Bevölkerungsschichten gemacht sind. Wir haben unseren Antrag eingebracht, um diesem strukturellen Problem am Arbeitsmarkt zu Leibe zu rücken.
Fakt ist, dass wir positive Wachstumsraten haben. Und das ist gut so. Fakt ist aber auch, dass bei sinkender Arbeitslosigkeit die Zahl der Langzeitarbeitslosen in Deutschland gestiegen ist. Wir haben im September dieses Jahres im Vergleich zum Vorjahr 100 000 Langzeitarbeitslose mehr. Auch im Wachstum besteht eine Beschäftigungsbarriere.
In dieser Situation hat die Bundesregierung nichts Besseres zu tun, als eine Mehrwertsteuererhöhung um drei Prozentpunkte zum 1. Januar 2007 anzukündigen.
Alle Wirtschaftsinstitute haben bestätigt, dass das Wachstum dadurch gefährdet wird und von 2,4 Prozent auf 1,4 Prozent sinken kann. Sie sprechen - gestern im Wirtschaftsausschuss war das auch der Fall - von einer Delle, die zu erwarten sei. Ich sage Ihnen: Das ist keine Delle, sondern eine Katastrophe für diejenigen, die schon bei dem Wachstum, das wir heute haben, nicht in den Arbeitsmarkt kommen.
Diese Mehrwertsteuererhöhung ist Gift für den Arbeitsmarkt. Ich sage Ihnen: Nehmen Sie sie zurück!
Die Steuereinnahmen sprudeln.
Nehmen Sie also die Steuererhöhung zurück oder nehmen Sie sie zumindest in Schritten vor, sodass sie nicht konjunkturgefährdend ist.
Tun Sie alles, was möglich ist, um die Lohnnebenkosten zu senken; denn - Sie wissen das selbst - sie stellen eine erhebliche Beschäftigungsbarriere in Deutschland dar. Gestalten Sie es so aus, dass die Lohnnebenkosten dort am stärksten sinken, wo es besonders beschäftigungswirksam ist, nämlich bei den kleineren Einkommen, bei den Geringqualifizierten. Das schlagen wir Ihnen in unserem Antrag vor.
Wir haben ein Progressivmodell entwickelt, das eine ganz einfache Logik hat: bei kleinen Einkommen kleine Abgaben, bei großen Einkommen höhere Abgaben. In Deutschland sind nämlich nicht die Lohnkosten, sondern die Lohnnebenkosten das Problem.
Es gibt erhebliche Beschäftigungslücken, zum Beispiel im Dienstleistungsbereich. Die anderen Länder sind da weiter. Wir haben Lücken im Bereich der Gesundheitswirtschaft. Prognos bestätigt uns, dass dort 660 000 zusätzliche Arbeitsplätze geschaffen werden können. Es gibt Beschäftigungslücken in den Bereichen Wellness, Fitness und im Gesundheitswesen, aber auch bei den hoch qualifizierten Dienstleistungen. Da schlummern Beschäftigungspotenziale von bis zu 2 Millionen Arbeitsplätzen. Was machen Sie? Sie bauen Barrieren für Hochqualifizierte auf, obwohl ein Facharbeitermangel bevorsteht. In Deutschland gibt es einen Braindrain: Die qualifizierten jungen Menschen wandern ab. Sie aber ziehen die Barrieren noch höher.
So kann das nicht weitergehen. Ich frage Sie: Wo sind Ihre Konzepte, wie für Geringqualifizierte, Hochqualifizierte und Frauen in Deutschland eine höhere Beschäftigung erreicht werden kann? Ich sehe keine Konzepte. Sie haben Arbeitsgruppen, aber Ihnen fehlt die gemeinsame Linie. Das ist ungefähr wie in einem Hühnerstall; da ist die Geschlossenheit allerdings größer.
Für mehr Arbeit zu sorgen, ist machbar, wenn die Rahmenbedingungen stimmen. Wir müssen gleichzeitig Brücken für diejenigen, die außerhalb des Arbeitsmarktes stehen, bauen; wir müssen Eigeninitiative fördern.
Wir haben es in der letzten Zeit gehört: Kurt Beck beklagt den fehlenden Aufstiegswillen. Gut. Aber was machen Sie gleichzeitig? Sie kürzen und streichen Möglichkeiten, zum Beispiel bei der Förderung von Existenzgründerinnen und -gründern. Ich will Ihnen ein Beispiel nennen: Im letzten Monat des Bestehens der alten Regelung zur Ich-AG sind noch 26 000 neue Existenzgründungen in Eigeninitiative aus der Arbeitslosigkeit heraus erfolgt. Nach dem Streichen der Ich-AG im ersten Monat der neuen Regelung waren es noch 3 700. Meine Damen und Herren, Sie behindern die Eigeninitiative von Langzeitarbeitslosen, von Arbeitslosen, die in den Arbeitsmarkt hineinwollen, besonders von Frauen und vielen Arbeitslosen im Osten Deutschlands.
Sie sagen, Arbeit soll belohnt werden. Gut! Aber wen meinen Sie damit? Ich habe den Eindruck, dass Herr Beck, der in den letzten Tagen wieder stark mit der FDP liebäugelt, Arbeit für Gutverdienende meint. Denn sonst erklären Sie, beispielsweise Herr Brandner, mir einmal, wie es kommen kann, dass Sie die Zuverdienstmöglichkeiten für diejenigen, die kleine Einkommen haben, so gnadenlos wegrasieren wollen, wie Sie es in Ihrer Konzeption geplant haben. Diejenigen, die versuchen, aus eigener Kraft Schritt für Schritt in den Arbeitsmarkt hineinzukommen, müssen bei Ihnen mit Sanktionen und der Streichung von Möglichkeiten rechnen.
Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner:
Frau Kollegin, Sie reden jetzt auf Kosten Ihrer nachfolgenden Kollegen.
Dr. Thea Dückert (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Ich komme deswegen zum Schluss. - Die Liste der Verfehlungen der Bundesregierung in diesem Bereich ist lang. Ich sage Ihnen noch einmal: Nehmen Sie die geplante Erhöhung der Mehrwertsteuer zurück und senken Sie die Lohnnebenkosten bei kleinen Einkommen! Bauen Sie die Barrieren für Hochqualifizierte ab! Setzen Sie auf Selbstständigkeit! Wenn Sie das nicht machen, meine Damen und Herren, wird Deutschland im europäischen Kontext weiterhin Schlusslicht bleiben. Das haben die Arbeitslosen hier nicht verdient.
Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner:
Das Wort zur Geschäftsordnung gebe ich dem Kollegen Beck.
Volker Beck (Köln) (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Meine Damen und Herren, ich hatte bereits die Koalition gebeten, dafür zu sorgen, dass der Arbeitsminister bei einer solchen Debatte anwesend ist. Jetzt besetzen die Staatssekretäre, die auch Mitglieder des Hauses sind, die leeren Reihen der Koalition. Trotzdem glaube ich, dass die Opposition gegenwärtig über eine Mehrheit verfügt. Wir stellen den Antrag, den Wirtschafts- und den Arbeitsminister herbeizuzitieren, damit diese Debatte die Bedeutung erhält, die sie verdient.
Petra Ernstberger (SPD):
Herr Kollege Beck, das ist wieder eines Ihrer Spiele,
mit denen Sie versuchen, die Arbeit im Parlament aufzuhalten. Der Staatssekretär des Arbeitsministeriums ist anwesend.
Außerdem sind die Mehrheiten in diesem Hause eindeutig; das bestätigen auch die Schriftführer. Die Mehrheiten sind so, wie sie dem Parlament entsprechen.
- Dann machen wir einen Hammelsprung.
Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner:
Herr Kollege Röttgen, bitte.
Dr. Norbert Röttgen (CDU/CSU):
Ich möchte für unsere Fraktion zu dem Antrag sprechen und ihm widersprechen. Wir sind in einer Debatte und wir wollen zu dem Thema der Debatte Stellung beziehen. Die Bundesregierung ist vertreten; der zuständige Parlamentarische Staatssekretär ist bei dieser Debatte anwesend,
ebenso andere Mitglieder der Bundesregierung.
Wir sollten dieses Thema in angemessener Weise behandeln. In diesem Zusammenhang möchte ich einen Hinweis geben. Es geht auch darum, wie wir Parlamentarier uns bei den Debatten benehmen. Angesichts der Tatsache, dass es um ein Kernthema dieser Gesellschaft geht - wir reden jetzt darüber, wie die Bedingungen für die Schaffung von Arbeitsplätzen aussehen -,
stellt sich die Frage, ob die Opposition aus Mangel an politischen Inhalten zunehmend zu einer Klamauk- und Taktikopposition wird
oder ob sie etwas zur Sache beizutragen hat. Wer zur Sache etwas beizutragen hat, braucht keinen taktischen Geschäftsordnungsklamauk zu veranstalten.
Da Ihre Fraktionsvorsitzende Künast erst jetzt wieder in den Saal getreten ist, möchte ich Folgendes beanstanden:
Wir haben erlebt, dass die Fraktionsvorsitzende der Grünen heute Morgen einen Debattenbeitrag ebenfalls zu einem Kernthema, nämlich zur Verteidigungspolitik, gemacht hat und anschließend den Saal verlassen hat.
Sie war also nicht bereit, an der Debatte weiter teilzunehmen. Dieses parlamentarische Verhalten können wir nicht akzeptieren.
Benehmen Sie sich im Parlament erst einmal demokratisch! Dann können Sie solche Anträge stellen.
Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner:
Wir kommen zur Abstimmung über den Geschäftsordnungsantrag des Kollegen Beck. Wer diesem Antrag folgen möchte, den bitte ich um das Handzeichen. - Gegenprobe! - Letzteres war die Mehrheit. Deshalb ist der Geschäftsordnungsantrag abgelehnt.
Ich gebe das Wort dem Kollegen Wolfgang Meckelburg, CDU/CSU-Fraktion.
Wolfgang Meckelburg (CDU/CSU):
Meine sehr verehrten Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Der Heckmeck, den Herr Beck hier gerade veranstaltet hat, ist nicht unbedingt dazu geeignet, zu einer sachlichen Debatte zu kommen.
- Vielleicht beruhigen Sie von den Grünen sich etwas. Diejenigen von Ihnen, die hierher gekommen sind, um für eine Mehrheit zu sorgen, können wieder gehen. Sie haben verloren.
Wir reden heute über den Antrag der Grünen und der FDP zur Arbeitsmarktpolitik. Frau Dückert, die von Ihnen vorgetragenen Zahlen beim Vergleich mit den Nachbarländern stimmen. Aber dass Sie so tun, als wären Sie die letzten 18 Jahre in der Opposition gewesen, ist nicht nachvollziehbar. Sie waren - und das bis zum letzten Jahr - über sieben Jahre an der Regierung beteiligt. Einen Teil der jetzigen Probleme Deutschlands haben Sie mit verschuldet. Das ist die Wahrheit. Auch darüber muss man an dieser Stelle reden.
Sie reden in Ihrem Antrag von Stillstand und fordern die Bundesregierung auf, umgehend gesetzgeberische Maßnahmen zu ergreifen. Das ist angesichts der veränderten Lage in Deutschland, der positiven Trendwende, an Dreistigkeit kaum noch zu überbieten.
Lassen Sie mich die positive Entwicklung darstellen. Auch das gehört dazu. Auf dem Arbeitsmarkt und beim Wirtschaftswachstum gibt es positive Tendenzen. Die Trendwende ist gelungen. Die Arbeitslosigkeit sinkt seit einem Jahr. Im Vergleich zum Vorjahr haben wir 400 000 Arbeitslose weniger. Das hat auch etwas mit der neuen Regierung zu tun. Die Zahl der sozialversicherungspflichtig Beschäftigten ist im Vergleich zum Vorjahr um fast 200 000 angestiegen.
- Vielleicht sollte die Sitzung unterbrochen werden, bis Sie sich beruhigt haben. Frau Dückert, ich wollte über Ihren Antrag reden. Wir sollten zu einer gemeinschaftlichen Debatte zurückkehren.
- Ich bin nicht zickig. Aber wer so profiliert wie Sie, Frau Künast, gerade hier aufgetreten ist, der muss sich auch Kritik gefallen lassen. Auch das gehört zum Parlamentarismus.
Wie gesagt: Die Zahl der sozialversicherungspflichtig Beschäftigten ist um 200 000 gestiegen. In diesem Bereich sind unter Ihrer Mitwirkung in den letzten Jahren Ihrer Regierung, Frau Dückert, täglich 1 000 sozialversicherungspflichtige Arbeitsplätze verloren gegangen. Die heutige positive Entwicklung bedeutet nicht nur, dass Menschen aus der Arbeitslosigkeit herauskommen, sondern auch, dass wir eine Trendwende bei den Steuereinnahmen und Sozialabgaben erreicht haben. Auch das sind, gerade im ersten Arbeitsmarkt, wichtige Beiträge.
Wir haben 105 000 offene Stellen. Auch das ist ein Anzeichen für eine Trendwende. All das hat - sicherlich nicht nur, aber auch - mit der neuen Bundesregierung zu tun.
- Herr Niebel, wenn Sie beteiligt wären,
würden Sie das anders sehen. Ich weiß, wie Sie reden können.
Zum Herbstgutachten. In den letzten Tagen, sechs Monate nach Vorlage des Frühjahrsgutachtens, haben die Wirtschaftsweisen ihre Prognose für das Wirtschaftswachstum 2006 um 0,5 Prozentpunkte auf 2,3 Prozent erhöht. Für 2007 - Sie, Frau Dückert, sprachen von einer Delle - wird jetzt ein Wirtschaftswachstum von immerhin 1,4 Prozent prognostiziert. Es besteht Hoffnung, dass 2007 tatsächlich nur eine Delle sein wird und dass das Wirtschaftswachstum eine durchtragende Wirkung hat. Auch das zeigt, dass wir auf einem guten Weg sind.
- Nein, das ist das Wirtschaftsgutachten.
Laut Gutachten wird die Arbeitslosenquote im Vergleich zwischen 2005 und 2007 von 11,2 Prozent auf 9,9 Prozent sinken. Jetzt liegt sie bei 10,2 Prozent. Auch das ist eine positive Tendenz, die darauf schließen lässt, dass es in diesem Bereich vorangehen wird.
Meine Damen und Herren von den Grünen, Sie wissen, dass wir zurzeit in einer Arbeitsgruppe der Koalition über Arbeitsmarktpolitik reden.
Die Arbeitsgruppe ist ergebnisoffen. Wir haben Experten angehört. Wir befinden uns noch im Entscheidungsfindungsprozess. Wir werden über die Aussagen der Experten debattieren und zu Entscheidungen kommen. Darauf können Sie sich verlassen. Wir reden zum Beispiel über die Themen, die hier angesprochen wurden: Mindestlohn, Kombilohn, Effizienz von Maßnahmen nach dem SGB II, dritter Arbeitsmarkt.
- Nein, wir werden zu Taten kommen. Darin unterscheiden wir uns vielleicht von Ihnen. Ein paar gute Taten habe ich Ihnen eben schon genannt. - Bei der Arbeitsmarktpolitik sind wir voll im Plan. Unsere Absicht, die unwahrscheinlich vielen Maßnahmen zur Eingliederung zu bündeln, wird im Rahmen der Evaluierung verwirklicht.
Heute stehen vor allem zwei Themenfelder im Vordergrund - an diesen Punkten müssen wir noch richtig viel arbeiten -: die hohe Arbeitslosigkeit von Geringqualifizierten und die Langzeitarbeitslosigkeit. Frau Dückert, ein Vergleich mit dem Ausland reicht nicht aus. Ich darf daran erinnern, dass der Ausschuss in der Zeit vor der Hartz-Gesetzgebung, die Sie in Ihrer Regierungszeit vollzogen haben, England besucht hat. Dort haben wir uns über die dortigen Methoden informieren lassen. Sie haben ein bisschen Ähnlichkeit mit der Hartz-Gesetzgebung. England hat nur deswegen 5 Prozent Arbeitslose - das zur Argumentation mit Vergleichen -, weil man eine Kehrtwendung vollzogen hat: Man hat diejenigen, die nicht oder nur ganz schwer vermittelbar sind, aus dieser Statistik herausgenommen, sie sozusagen unter ständige Abwesenheit vom Arbeitsmarkt gestellt. In England sind das inzwischen über 2 Millionen Menschen. Es ist klar, dass die Arbeitslosenquote in England geringer ist, weil die Langzeitarbeitslosen nicht mitgezählt werden.
Ich will ein paar Worte über den Antrag der FDP verlieren.
- Das ist der ?eingesprungene doppelte Niebel“. Wir debattieren heute zum x-ten Mal darüber. - Sie versuchen, die Mehrwertsteuer wieder zum Thema zu machen, sie populistisch zu nutzen. Der Ansatz Ihrer Forderung ist im Grunde völlig klar.
Diese Koalition hat beschlossen,
den Arbeitslosenversicherungsbeitrag um 2 Prozentpunkte, von 6,5 auf 4,5 Prozent, abzusenken. Einen solchen Durchbruch hat es in der ganzen Zeit zuvor nicht gegeben.
Die Bundesagentur für Arbeit hat einen höheren Überschuss als erwartet erwirtschaftet. Daher diskutieren wir aktuell über die Frage, ob es möglich ist, den Beitrag über die 4,5 Prozent hinaus vielleicht auf 4,2 Prozent oder mehr zu senken. Wir werden das nicht mit Ihrem Antrag umsetzen,
weil er zwei Fehler hat:
- Das gar nicht mal. - Erstens. Aus meiner Sicht kommt er heute ein paar Tage zu früh, weil man einige Zahlen abwarten sollte.
Ich möchte wirklich - damit das klar ist -, dass wir zu einer Absenkung kommen. Ich möchte auch, dass wir jede Chance nutzen, den Beitrag darüber hinaus weiter zu senken. Ich möchte aber vermeiden, dass wir in den nächsten Monaten und Jahren einen Zickzackkurs fahren.
- Das ist klar. Das ist leicht begründbar.
Sie machen noch einen zweiten Fehler. Herr Niebel, da Sie gleich im Anschluss sprechen, bitte ich Sie: Erklären Sie mir einmal, wie die FDP eine Senkung des Beitragssatzes zur Arbeitslosenversicherung um 2 Prozentpunkte oder sogar in noch größerem Umfang realisieren will,
ohne die Einnahmen aus 1 Prozentpunkt der Mehrwertsteuererhöhung zu verwenden.
- Sie wollen eine Senkung des Beitragssatzes zur Arbeitslosenversicherung um 2 Prozentpunkte und mehr. Eine Senkung des Beitragssatzes um 2 Prozentpunkte entspricht einem Betrag von 14,4 Milliarden Euro.
Wir wissen, dass der Überschuss der Bundesagentur für Arbeit zurzeit 9,6 Milliarden Euro beträgt. Vielleicht werden es sogar 12 Milliarden Euro.
Erklären Sie mir, wie Sie einen Betrag von 14,4 Milliarden Euro decken wollen, ohne die Einnahmen aus der Erhöhung der Mehrwertsteuer anzutasten, wenn die Überschüsse der Bundesagentur für Arbeit - das ist eine optimistische Schätzung - lediglich 12 Milliarden Euro betragen. Sie müssen berücksichtigen - das wissen Sie -, dass im Überschuss der Bundesagentur in diesem Jahr einmalig ein Betrag von 3 Milliarden Euro enthalten ist, der auf die 13. Sozialversicherungsbeitragszahlung zurückzuführen ist.
Sie wollen Korrekturen bei der Bundesagentur für Arbeit; das können Sie gerne fordern, Herr Niebel.
So steht es in einem Ihrer Anträge, der durch die Reihen geistert und in dem Sie sich sozusagen als Rächer der Enterbten darstellen. Man hat den Eindruck, dass jemand, der früher einmal bei der Bundesagentur gearbeitet hat, nun Rache nehmen will, indem er sich darum bemüht, dass die Agentur aufgelöst wird.
Dass es möglich ist, dadurch schnell einige Milliarden Euro einzusparen, möchte ich stark bezweifeln. Sie haben Ihren Antrag nicht richtig durchgerechnet. Er enthält zwar ein paar Hinweise darauf, an welchen Stellen gespart werden könnte. Aber Sie nennen keine konkreten, messbaren Zahlen.
Wir gehen einen anderen Weg: Wir wollen eine Senkung des Beitragssatzes zur Arbeitslosenversicherung um mindestens 2 Prozentpunkte. Die Einnahmen, die wir erzielen, wollen wir nutzen, um den Beitragssatz möglichst noch weiter zu senken. Das wollen wir zeitnah zur Jahreswende tun, und zwar auf der Grundlage eines gesicherten Ansatzes.
Ich habe die Bitte, dass wir diesen Abschlag Romer-Abschlag nennen. Denn der Kollege Franz Romer - ich glaube, es war im April oder Mai dieses Jahres - war der erste aus unserer Fraktion, der darauf hingewiesen hat, dass hier mehr Luft vorhanden ist. Ich freue mich darüber, dass das wirklich zutrifft.
Meine Redezeit ist gleich abgelaufen. Herr Niebel, ich bin gespannt, was Sie dazu sagen, wie Sie Deutschland retten wollen. Ich höre von Ihnen immer, wir könnten noch radikaler kürzen und hier und dort noch weitere Milliarden Euro einsparen. Dadurch versuchen Sie den Glauben zu verfestigen, dass wir ohne Mehrwertsteuererhöhung auskämen.
Meine letzte rhetorische Frage, die ich an Sie richten möchte, lautet: Glauben Sie selbst eigentlich wirklich, dass es keine Mehrwertsteuererhöhung in Deutschland gegeben hätte, wenn die Schwarzen und die Gelben eine Koalition eingegangen wären?
Die Antwort lautet eindeutig: nein. Diese Schlacht hätten Sie verloren.
Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner:
Das Wort hat der Kollege Dirk Niebel, FDP-Fraktion.
Dirk Niebel (FDP):
Vielen Dank. - Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Es tut einem schon fast weh zu sehen, wie der arme Kollege Meckelburg herumeiern muss,
um deutlich zu machen, weshalb die Bundesregierung unbedingt an der arbeitsplatzfeindlichen Mehrwertsteuererhöhung festhalten muss, obwohl alle Zahlen etwas anderes nahe legen.
Die Kollegen von der Sozialdemokratie müssten nach dem letzten Wahlkampf eigentlich innerlich quietschen, weil sie völlig zu Recht darauf hingewiesen haben, dass die Mehrwertsteuererhöhung Arbeitsplätze kostet. Dennoch mussten sie sich von der CDU/CSU auf eine Erhöhung der Mehrwertsteuer um 3 Prozentpunkte hochhandeln lassen. Diese vermeintliche große Koalition ist ein großes Problem für die Bundesrepublik Deutschland.
- Herr Brandner, wenn man den Begriff ?große Koalition“ hört, denkt man nicht nur an Größe. Das hat auch einen qualitativen Gesichtspunkt.
Aber diese Regierung aus schwarzen und roten Sozialdemokraten ist nicht einmal in der Lage, einen Irrtum einzugestehen. Sie könnten nach wie vor sagen: Wir kehren um. Diesen Schritt könnten Sie sogar noch positiv verkaufen. Denn es war schließlich so, dass die Angst vor der Mehrwertsteuererhöhung den Konsum gestärkt hat. Wenn Sie die angekündigte Mehrwertsteuererhöhung jetzt zurücknehmen würden, könnten Sie diese positiven Impulse dennoch mitnehmen. All das könnte man rhetorisch so verpacken, dass man als Sieger dasteht. Nein, Ihnen geht es ganz klar um etwas anderes: Sie wollen auf Ihrem Abkassierkurs bleiben und den Menschen immer mehr Geld wegnehmen. Sie machen sich einen schlanken Fuß und wollen die Aufgaben des Staates nicht angehen.
Natürlich ist der Faktor Arbeitskosten ganz entscheidend, wenn es um die Fragestellung geht, ob neue Beschäftigungsverhältnisse entstehen bzw. ob die bestehenden Beschäftigungsverhältnisse erhalten bleiben. Deswegen ist die Senkung der Lohnnebenkosten im Hinblick auf die Arbeitslosenversicherung richtig; hier unterstützen wir Sie ausdrücklich. Es ist bloß falsch, dass Sie diesen Schritt durch eine Erhöhung der Rentenversicherungsbeiträge und der Krankenversicherungsbeiträge kompensieren. Über die Pflegeversicherung trauen Sie sich nicht einmal mehr zu reden, obwohl in diesem Bereich noch viel größere Belastungen auf die Bürger zukommen, als sie zurzeit ahnen mögen.
Sie wollen die Einnahmen aus 1 Prozentpunkt der Mehrwertsteuererhöhung zwingend dafür verwenden, die Beitragssätze zu senken. Mit den Einnahmen aus den übrigen 2 Prozentpunkten der Mehrwertsteuererhöhung sollen die Haushaltslöcher von Bund und Ländern gestopft werden. In letzter Zeit habe ich in vielen Zeitungen gelesen - in diesem Zusammenhang wundere ich mich wirklich über die Terminologie und die Sichtweise -, die Bundesagentur für Arbeit habe Überschüsse erwirtschaftet. Lieber Wolfgang Meckelburg, die Bundesagentur für Arbeit mag vieles können. Aber eines kann sie mit Sicherheit nicht: etwas erwirtschaften.
Alles, was die Bundesagentur an Geld zu viel hat, hat sie vorher Arbeitnehmern und Arbeitgebern zu viel weggenommen. Deshalb muss sie es genau diesen zurückgeben.
Wenn Sie tatsächlich an dieser arbeitsplatzfeindlichen Mehrwertsteuererhöhung festhalten wollen und Sie sich davon - wider besseres Wissen! - nicht abbringen lassen wollen, müssen Sie die zusätzlichen Spielräume nutzen, um den Faktor Arbeit billiger zu machen; das ist doch ganz einfach. Herr Beck kehrt auch um: Noch im Juli dieses Jahres wollte Herr Beck zusammen mit dem Finanzminister in Manier moderner Raubritter dieses Geld für den Haushalt des Finanzministers kassieren,
es den Arbeitnehmern wegnehmen. Jetzt kehren Sie um und überlegen, mehr damit zu machen.
Unser Antrag dient dazu, das parlamentarisch auf den Weg zu bringen. Die Regierung ist frei, per Rechtsverordnung den Beitragssatz der Arbeitslosenversicherung festzulegen. Wir wollen, dass das Parlament Ihnen zeigt, dass wir dafür sind. Deswegen stellen wir diesen Antrag heute.
Wir haben ganz bewusst nicht gesagt, ob man den Beitragssatz mit der Mehrwertsteuererhöhung - die nach wie vor falsch ist - vielleicht auf 4 Prozent oder 3,5 Prozent senken kann, weil das Jahr noch nicht zu Ende ist. Doch dieser zusätzliche Spielraum für mehr Beschäftigung in Deutschland muss genutzt werden. Man muss kein Professor für Volkswirtschaftslehre sein, um festzustellen, dass ich Recht habe. Aber es hilft natürlich, wenn ein Professor für Volkswirtschaftslehre wie Friedrich Schneider von der Universität Linz, ein anerkannter Fachmann für Schwarzarbeit, deutlich sagt: Eine Mehrwertsteuererhöhung ist das beste Programm für Schwarzarbeit. Das weiß jeder und so haben Sie doch im Wahlkampf auch argumentiert. Gerade im personalintensiven Dienstleistungsbereich, im Handwerk, in der Gastronomie, im Handel, bei den Reinigungskräften, können Sie die Steuererhöhung nicht übertragen auf die Preise, das führt gnadenlos in die Schwarzarbeit. Jetzt sagen Sie vielleicht: Ist ja prima, die Schwarzarbeit ist die Stütze des Wohlstands in Deutschland; denn das sind alles Tätigkeiten, die normalerweise nicht ausgeübt werden, weil der Staat zu viel abkassiert. Sie müssen sich entscheiden: Wollen Sie die sozialen Sicherungssysteme auf stabile Grundlagen stellen? Dann müssen Sie dafür sorgen, dass legale Arbeit in Deutschland günstiger wird. Oder wollen Sie Kaufkraft generieren, am Staat vorbei? Dann müssen Sie die Mehrwertsteuer auf 20 oder 25 Prozent erhöhen, weil dann erst recht alles direkt in den Konsum geht.
Denn der Schwarzarbeiter bringt das Geld nicht aufs Sparbuch, er gibt es aus. Also: Wenn Sie ein Förderprogramm für Schwarzarbeit wollen, dann sagen Sie das! Ich halte es für falsch.
Herr Brandner, ?Merkelsteuer, das wird teuer“ - ich weiß, es ist völlig unfair, Sie an Ihre Wahlversprechen zu erinnern.
Kein Wunder, dass die Leute in Deutschland frustriert sind von der Politik.
Nein, es gibt jetzt die Möglichkeit, umzukehren, diesen Unsinn zu lassen. Man würde Sie ein, zwei Tage mit Häme überziehen - ich natürlich auch -; aber dann wären die Menschen zufrieden, weil sie etwas davon hätten. Sie können in diesem Punkt noch eine gute Regierung werden, wenn Sie sich bemühen. Wenn Sie von der Mehrwertsteuererhöhung nicht ablassen wollen, nutzen Sie das Geld, das den Menschen zu viel abkassiert worden ist, um die Arbeitskosten in Deutschland zu senken - so viel wie irgend möglich. Selbst wenn nur durch den einen zusätzlichen Beitrag, der dieses Jahr eingezogen wird, mehr Geld da wäre, würde es sich lohnen, den Beitragssatz zu senken, und sei es nur zeitweise. Wenn das Geld nicht mehr reicht, muss man ihn halt wieder erhöhen. Aber man hat wenigstens etwas Luft gewonnen für mehr Beschäftigung und Arbeit in Deutschland.
Herr Clever, Ihr CDU-Parteifreund im Verwaltungsrat der Bundesagentur für Arbeit, hat gestern den Medien gegenüber erklärt, man müsse davon ausgehen, dass eventuell - wenn die Konjunktur stabil bleibe - die Mehreinnahmen noch 2009 tragen würden. Das Jahr 2008 hat er schon abgehakt, er rechnet dafür schon fest mit Mehreinnahmen, mit vermeintlichen Überschüssen, also mit mehr Abkassieren. Nutzen Sie doch die Möglichkeiten, sich bis zum voraussichtlichen Bundestagswahljahr 2008 - mit Hängen und Würgen vielleicht auch 2009 - einen positiven Stand bei den Bürgerinnen und Bürgern zu verschaffen! Ich wundere mich, dass überhaupt noch 60 Prozent der Menschen in diesem Land zu CDU/CSU und SPD stehen. Sie haben die Chance, die Menschen an sich zu binden. Das ist eigentlich die letzte Rettung, die Sie in dieser vermeintlich großen Koalition noch haben. Die Menschen brauchen diese Rettung; denn sie wollen mitmachen in diesem Land, sie wollen nicht in die Illegalität getrieben werden durch Ihre falsche Politik. Jetzt haben Sie die Chance, nutzen Sie sie!
Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner:
Das Wort hat der Kollege Klaus Brandner, SPD-Fraktion.
Klaus Brandner (SPD):
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Lassen Sie mich zu allererst ein Wort zur Inszenierung der Fraktion des Bündnisses 90/Die Grünen sagen. Mit dieser Inszenierung haben Sie der Ernsthaftigkeit Ihres Antrags einen Bärendienst erwiesen. Denn wer ernsthaft über das Thema diskutieren will, führt am Anfang keine solche Inszenierung auf. Schließlich wissen Sie, dass der Bundesminister heute zu gleicher Zeit in Sachen Arbeitsmarkt eine Konferenz abhält - die fünfte Anhörung der Arbeitsgruppe des BMAS -, auf der es exakt darum geht, wie die Effizienz im Bereich des SGB II gesteigert werden kann. Jetzt, genau zu diesem Zeitpunkt, sind Fachleute zusammen, um über dieses Thema zu beraten. Ich bitte einfach, das zu berücksichtigen.
Da Staatssekretär Thönnes von dem zuständigen Ministerium anwesend ist, ist die Bundesregierung vertreten. Es gibt bei uns keine halben, sondern nur ganze Staatssekretäre. Herr Thönnes wird das, was beraten wird, letztlich auch übertragen.
Lassen Sie mich nun zu den heute zur Debatte stehenden Anträgen von Bündnis 90/Die Grünen und FDP kommen. Ich möchte etwas ausgesprochen Positives ansprechen, nämlich die Früchte unserer Politik. Die SPD-Politik und teilweise auch die Politik von Bündnis 90/Die Grünen
der vergangenen Jahre und unsere heutige Politik zeigen ihre Wirkungen in einer Wachstumsdynamik, von der in diesem Land nahezu alle überrascht sind.
Natürlich wurden durch die gemeinsame rot-grüne Politik und durch die Agenda 2010 die Grundlagen hierfür geschaffen. Diese haben wir mit der CDU/CSU jedoch fortgesetzt und weiterentwickelt.
Von einem Reformstillstand, den Sie in Ihrem Antrag erwähnen, kann deshalb überhaupt keine Rede sein.
Ich könnte Ihnen die Stichworte für das, was nicht nur angepackt, sondern auch zu Ende gebracht wurde - zum Beispiel die Föderalismusreform -, in einer ellenlangen Breite vortragen.
Im Bereich des Arbeitsmarktes geht es von der Saisonkurzarbeit über die Unternehmensteuerreform und die Erbschaftsteuerreform, die jetzt auf der Tagesordnung steht,
bis zu der Regelung der Mitbestimmung in Europa. All diese wichtigen Dinge berühren die Arbeitnehmer und den Arbeitsmarkt. Wenn Sie die Augen aufmachen, dann erkennen Sie auch, dass wir in diesem Land Positives erleben. Positives macht im Übrigen auch mehr Spaß, als dauernd nur in der Ecke zu stehen und herumzunörgeln. Damit kann man das Land nicht nach vorne bringen.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, der Aufschwung ist ausgesprochen robust. Trotz eines Energiepreises, der, wie wir alle wissen, exorbitant hoch ist - er ist auf einem historischen Höchststand - und durch den den Verbrauchern ein nicht nur unwesentlicher Teil ihres Einkommens aus der Tasche gezogen wird, erwarten wir ein Wachstum von etwa 2,5 Prozent. Es ist ein positives Zeichen, dass die konjunkturelle Lage im Land trotz dieser Situation günstig ist. Deshalb stimme ich den Optimisten ausdrücklich zu, die trotz der Mehrwertsteueranhebung im nächsten Jahr in dem Herbstgutachten von einem robusten Aufschwung ausgehen.
Sie sagen: Er wird nur leicht beeinträchtigt sein; der Trend bleibt. - Deshalb ist es auch richtig, dass die Mehrwertsteuererhöhung für die Senkung der Lohnnebenkosten genutzt wird. Genau das hat Frau Dückert in ihrer Rede eben gefordert.
Ich glaube, das, was wir heute gehört haben, zeigt, dass Sie nicht auf der Höhe der Zeit sind. Heute titeln die Tageszeitungen: Keine Angst vor der Mehrwertsteuererhöhung. Insofern sind Sie nicht aktuell. Sie sollten sich die aktuelle Situation vor Augen führen. Dann wären Sie auch wieder mitten im Geschäft. Das will ich an diesem Punkt nur einmal ganz deutlich sagen.
Ich bin davon überzeugt, dass das, was wir momentan erleben, positiv ist. Thea Dückert, sowohl bei der Wachstums- als auch bei der Beschäftigungsentwicklung in diesem Land zeigt der Daumen nach oben. Eines steht fest: Nach vier wachstumsschwachen Jahren macht sich die verbesserte Konjunktur immer stärker auf dem Arbeitsmarkt bemerkbar. Die Forschungsinstitute rechnen in diesem Jahr mit durchschnittlich 320 000 Arbeitslosen weniger.
- Keine Sorge, ich komme noch zu den Langzeitarbeitslosen.
Im nächsten Jahr werden es durchschnittlich mindestens 200 000 Arbeitslose weniger sein. Ich will ganz deutlich sagen: 2007 haben wir die Chance, die psychologisch wichtige historische Marke von 4 Millionen Arbeitslosen einige Monate lang zu unterschreiten. Ich glaube, diesem Ziel sollten wir uns alle gemeinsam verpflichtet fühlen.
Ich finde, das ist eine gute Entwicklung. Die Menschen erhalten Arbeit und die Sozialkassen werden entlastet. Das ist Ergebnis unserer Politik, also sowohl das Ergebnis der Grundlagen, die in der Vergangenheit gelegt wurden, als auch dessen, was wir jetzt systematisch und, wie man sieht, in einem guten Klima mit dem Koalitionspartner CDU/CSU fortsetzen.
Deshalb will ich ganz klar sagen: Thea Dückert, ich freue mich, dass wir schon bis September dieses Jahres eine Reduzierung der Zahl der Langzeitarbeitslosen um 150 000 erreicht haben.
Fest steht: Die Auswirkungen des Rückgangs der Zahl der Langzeitarbeitslosen kommen logischerweise immer etwas zeitversetzt an. Der konjunkturelle Aufschwung zeigt zuerst bei den übrigen Arbeitslosen Wirkung. Das haben auch die Grünen anerkannt. Derzeit erleben wir mit einer kleinen zeitlichen Verzögerung und bei einem durch die Änderung der Bezugsdauer des Arbeitslosengeldes verursachten stärkeren Zugang einen deutlichen Rückgang der Zahl der Langzeitarbeitslosen.
Die Zahlen sind aus meiner Sicht nicht zufriedenstellend, wenn man - wie die SPD - am Ziel der Vollbeschäftigung festhält. Wir halten daran fest. Wir fühlen uns diesem Ziel verpflichtet und treten offensiv und engagiert dafür ein.
Die Vergleichszahlen im Rahmen der OECD stimmen - um das klar zu sagen - bezüglich der Langzeitarbeitslosigkeit nicht immer optimistisch. Das ist völlig richtig. Aber die Redlichkeit verlangt, dass man auch sieht - das machen die Angaben zur Erwerbsfähigkeitsdefinition deutlich -, dass in Deutschland 3,1 Prozent, in England 6,5 Prozent und in Holland 8,5 Prozent der Menschen erwerbsunfähig sind.
Wir haben mit Hartz IV die Menschen aus der Sozialhilfe geholt. Wir haben sie erfasst und uns zum Ziel gesetzt, allen, die einigermaßen zu fördern sind, eine Chance zu bieten, wieder in den Arbeitsmarkt einzutreten. Das ist ein ehrgeiziges Ziel, das kaum irgendwo so konsequent angegangen worden ist. Insofern erfordert die Redlichkeit, dass bei einem Vergleich der Arbeitslosenzahlen auch diese Fakten berücksichtigt werden.
Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner:
Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage der Kollegin Dückert?
Klaus Brandner (SPD):
Ja bitte.
Dr. Thea Dückert (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Herr Kollege Brandner, können Sie dem staunenden Publikum und mir erklären, wie die Arbeitslosenzahlen, die belegen, dass im September 2005 37,4 Prozent und im September 2006 42,4 Prozent der Arbeitslosen langzeitarbeitslos waren, als eine Kürzung der Zahl der Langzeitarbeitslosen in diesem Lande interpretierbar sind?
Klaus Brandner (SPD):
Kollegin Dückert, ich habe Ihnen gerade die Entwicklung der Zahlen erläutert. Wir haben eine positive Entwicklung, die jetzt konjunkturverzögert wirksam wird. Sie wählen einen Langzeitvergleich, was insofern nicht seriös ist.
Ich habe deutlich gemacht, dass die Zahl der Langzeitarbeitslosen von Januar bis September deutlich reduziert worden ist. Diese Entwicklung ist wichtig und wir müssen sie systematisch fortsetzen. Sie steht zum einen mit der gesamtkonjunkturellen Entwicklung und zum anderen mit der Änderung der Bezugsdauer des Arbeitslosengeldes im Zusammenhang, durch die der Zugang in die Langzeitarbeitslosigkeit formal bzw. statistisch zugenommen hat.
Dieser Weg ist richtig und zeigt den positiven Trend auf. Deshalb wären Sie gut beraten, diesen positiven Weg mit zu unterstützen.
Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner:
Herr Kollege, gestatten Sie eine weitere Zwischenfrage des Kollegen Brauksiepe?
Klaus Brandner (SPD):
Bitte.
Dr. Ralf Brauksiepe (CDU/CSU):
Herr Kollege Brandner, sind Sie bereit, der Kollegin Dückert zu erklären, dass sich bei einem Abbau der Arbeitslosigkeit, der sich in erster Linie auf ALG-I-Empfänger konzentriert, sich darüber hinaus aber auch bei ALG-II-Empfängern erfolgreich auswirkt, automatisch der Prozentsatz der ALG-II-Empfänger erhöhen muss, wenn man bei den ALG-I-Empfängern noch erfolgreicher ist als bei den ALG-II-Empfängern? Wenn die Kurzzeitarbeitslosigkeit stärker zurückgeht als die Langzeitarbeitslosigkeit, ergibt sich dieser Effekt nämlich automatisch.
Klaus Brandner (SPD):
Herr Brauksiepe, Sie haben mit Ihrem interessanten und positiven Beitrag Frau Dückert schon den Sachverhalt erklärt. Ich glaube, sie braucht keinen weiteren mathematischen Nachhilfeunterricht. Insofern ist ein weiteres Argument dafür angeführt geworden, dass der Kurs, den wir zurzeit verfolgen, positiv ist. Ich danke Ihnen.
Ich will aber den Kernpunkt der Debatte noch einmal aufgreifen. Die Langzeitarbeitslosigkeit hat nachhaltige Ursachen, die wir angehen müssen. Diese Ursachen liegen in fehlender Ganztagsbetreuung, schlechten Ausbildungssystemen und nicht genügender Qualifizierung. Wir machen uns deshalb auf den steinigen Weg, bei den Ursachen der Langzeitarbeitslosigkeit anzusetzen, indem wir mehr Geld für Forschung und Entwicklung sowie insbesondere für Bildung und Ganztagsbetreuung zur Verfügung stellen. Dieser Weg ist der einzige, der nachhaltig aus der Langzeitarbeitslosigkeit herausführen kann; denn wir wissen, dass zunehmend mehr Langzeitarbeitslose zu geringe berufliche Kenntnisse, zu große Vermittlungshemmnisse haben und deshalb auf dem Arbeitsmarkt regelrecht eingemauert wären, wenn es uns nicht gäbe, die wir diesen Trend erkannt haben und ihn systematisch bekämpfen.
Die Arbeitsmarktpolitik allein kann aber nur wenige Arbeitsplätze schaffen. Wir haben sie daher in ein Gesamtkonzept integriert. Dieses ist erfolgreich, insbesondere wenn es um zukünftige Investitionen geht. Die Entwicklung der Steuereinnahmen verläuft weitaus günstiger. Die bislang bekannten Daten zeigen, dass Bund, Länder und Kommunen 2006 insgesamt 30 Milliarden Euro Steuermehreinnahmen im Vergleich zum Vorjahr haben werden. Das ist ein deutliches Zeichen, dass mehr finanzielle Ressourcen zur Verfügung stehen. Es kann den Arbeitsmarkt in Schwung bringen, wenn diese finanziellen Ressourcen für Investitionen genutzt werden.
Was wollen wir? Wir wollen in der Arbeitsmarktpolitik die Sicherheit erhalten. Meine Damen und Herren von den Grünen, Sie fordern in Ihrem Antrag die Einführung eines branchen- und regionalspezifischen Mindestlohns. Dieses Anliegen ist aus unserer Sicht ernst zu nehmen. In diesem Zusammenhang muss man aber bedenken, was sich in diesem Land verändert hat. Rund 2,5 Millionen Menschen arbeiten in Deutschland für Löhne, die geringer sind als die Hälfte des Durchschnittseinkommens. Die Tarifbindung hat sich zudem drastisch verschlechtert. Sie beträgt in Westdeutschland nur noch 59 Prozent und in Ostdeutschland 42 Prozent. So genannte Armutslöhne werden auch ausweislich vieler Tarifverträge gezahlt. Da wir aber solche Niedriglöhne als ein Risiko für eine sich in Deutschland verfestigende Armut ansehen, wollen wir sie nicht hinnehmen.
Wir wollen, dass die Menschen von ihrem Einkommen leben können. Wir wollen gerechte Löhne für gute Arbeit. Unsere Forderungen sind klar:
Erstens. Wir wollen, dass die Tarifpartner so stark sind, dass sie in der Lage sind, zu verhindern, dass Armutslöhne akzeptiert werden müssen.
Zweitens. Wir wollen eine Ausweitung des Arbeitnehmer-Entsendegesetzes auf möglichst viele Branchen. Die Bundesregierung hat damit bereits beim Gebäudereinigerhandwerk begonnen. Hierzu ist die Beschlusslage klar. Auch die Zeitarbeit bietet aus unserer Sicht hierfür ein Potenzial.
Drittens. Wir wollen, dass in denjenigen Branchen, in denen es keinen Tarifvertrag gibt oder das Lohnniveau sehr niedrig ist, gesetzliche Mindestlöhne eingeführt werden. Dieses Ziel verfolgen wir Sozialdemokraten systematisch. Wir wollen damit für mehr Sicherheit in diesem Land sorgen; denn wir wollen soziales Unrecht nicht akzeptieren.
Nun erleben wir zurzeit eine Debatte über den Beitragssatz in der Arbeitslosenversicherung. Wir freuen uns sicherlich über die hervorragende Entwicklung. Wir wollen aber keine Stop-and-go-Politik. Vielmehr wollen wir - das mahne ich deutlich an -, dass die für Weiterbildung und Qualifizierung vorgesehenen Mittel in vollem Umfang zur Verfügung gestellt werden. Die Situation ist: Im ersten Halbjahr dieses Jahres wurden 520 Millionen Euro aus dem Eingliederungstitel nicht ausgegeben. Hier sind Chancen nicht genutzt worden. Das ist sicherlich keine positive Entwicklung. Aber insgesamt ist der Einnahmenüberschusses der BA ein Ergebnis des Umbaus der Bundesagentur für Arbeit zu einem modernen Dienstleister. Wir danken den dort Beschäftigten, dass sie an diesem Umbauprozess aktiv mitgearbeitet und ihn erfolgreich gestaltet haben. Wir wollen aber, dass für das Fördern eine ausreichende Zahl an Instrumenten zur Verfügung steht, und zwar auf einem qualitativ hoch stehenden Niveau.
Ich will zum Schluss eine kritische Anmerkung machen. Heute ist in den Tageszeitungen zu lesen, dass bestimmte Ministerpräsidenten und Minister wiederholt die Verlängerung der Bezugsdauer des Arbeitslosengeldes verlangen. Diese Herren haben am Tisch gesessen, als die Koalitionsvereinbarung gestrickt worden ist.
Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner:
Herr Kollege, ich wäre dankbar, wenn Sie das kurz und knapp erklären würden.
Klaus Brandner (SPD):
Der Kernpunkt ist, dass hier etwas ausgelöst worden ist, das bei konsequenter Fortführung die sozialen Sicherungssysteme grundsätzlich sprengen würde. Hier wird das Motto vorgelebt, dass jeder, der sich privat versichert, und jeder, der viel einzahlt, viel Geld zurück bekommt. Das widerspricht dem Solidargedanken in einem sozialen Sicherungssystem fundamental. Deshalb sage ich ganz deutlich: Man muss sich sehr überlegen, ob man hier zündeln will. Denn man kann nicht auf der einen Seite im Bereich der Hartz-IV-Empfänger die Treppe vom Arbeitslosengeld I in das Arbeitslosengeld II wollen, auf der anderen Seite aber regelmäßig von Generalrevision und Kürzungen sprechen und durch solche Forderungen ein solidarisches Versicherungssystem infrage stellen.
Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner:
Herr Kollege, Sie sprechen auf Kosten des nachfolgenden Redners.
Klaus Brandner (SPD):
Es ist kein positives Zeichen, das einige Ministerpräsidenten in diesem Land zurzeit aus Egoismus setzen. Das verurteile ich aufs Schärfste.
Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner:
Das Wort hat die Kollegin Kornelia Möller, Fraktion Die Linke.
Kornelia Möller (DIE LINKE):
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Herr Brandner, Ihre Koalitionsrhetorik in allen Ehren, aber wenn Worten keine wirklichen Taten folgen, dann bleibt es dabei, dass es Worte aus dem Reich der Mythen und der Märchen sind.
Schauen wir uns die Realität an: Ungefähr 40 000 Jugendliche in diesem Land haben keine Lehrstelle. Das feiern Sie als Erfolg des Ausbildungspakts. Unglaublich! Die Notlage der Jugendlichen scheinen Sie dabei zu vergessen. Es sind Jugendliche, die mit Hartz IV aufwachsen und zur Schule gehen, um anschließend in der Arbeitslosigkeit zu landen, es sind Menschen, die von Geburt an in eine Rolle gedrängt werden, aus der sie nicht mehr herauskommen. Ganz junge Menschen, die doch noch voller Hoffnung sein sollten, resignieren und sagen: Ich bin Hartz IV. - Deshalb werde ich nicht müde, dieser Resignation zu begegnen und Sie, meine Damen und Herren, zu erinnern, dass Hartz IV sowohl handwerklich als auch sozial ein schlechtes Gesetz ist, einer demokratischen Gesellschaft unwürdig.
Dem grundsätzlichen Motto Ihres Antrags, meine Damen und Herren vom Bündnis 90/Die Grünen, können wir durchaus zustimmen, wird doch einmal mehr deutlich, dass sich die Opposition im Bundestag mehr Gedanken zum Abbau der Arbeitslosigkeit macht als die Bundesregierung; denn die hat sich im ersten Jahr ihrer Arbeit vorrangig damit beschäftigt, wie geplante Gelder für aktive Arbeitsmarktpolitik eingespart und gesperrt werden können.
Allerdings versprechen Sie mit der Überschrift viel mehr, als Sie dann im Antrag halten. In grundsätzlichen Fragen, aber auch im Detail gibt es in einer Reihe von Punkten deutliche Unterschiede zu unseren Positionen. Das, was Sie bereits während Ihrer siebenjährigen Regierungsbeteiligung versäumt haben, spielt für Sie auch heute keine Rolle: die nötige Wende hin zu einer nachhaltigen Beschäftigungspolitik. Das aber ist der Schlüssel zum Abbau der Massenarbeitslosigkeit. Hier müssen die entscheidenden Weichen für die Zukunft der Arbeit gestellt werden, nicht auf Nebenschauplätzen oder durch einen Katalog von Einzelmaßnahmen.
Wenn das Prinzip ?Fördern und Fordern“ Veränderungen bewirken soll, dann gehört zum Fördern, das sowohl unter Rot-Grün als auch jetzt unter Schwarz-Rot äußerst stiefmütterlich behandelt wurde, zumindest eine Politik zur Schaffung neuer Arbeitsplätze. Man kann nicht ständig von arbeitslosen Menschen fordern, während das, was gefördert wird, einzig die Arbeitslosigkeit ist.
Den Rückgang der Arbeitslosigkeit, den wir gegenwärtig erleben und den alle, die einen Arbeitsplatz erhalten, sicher begrüßen, können Sie in keiner Weise als Resultat rot-grüner Regierungspolitik verkaufen. Es ist aber auch kein Resultat schwarz-roter Regierungspolitik, auch wenn Herr Brandner das gern in beiden Fällen so darstellen möchte. Dies ist nichts anderes als das zeitweilige positive Durchschlagen weltwirtschaftlicher konjunktureller Entwicklungen auf den deutschen Arbeitsmarkt. Leider ist die große Koalition dabei, die positiven Ansätze durch ihr Festhalten an der Erhöhung der Mehrwertsteuer wieder zu gefährden, auch wenn ein Teil der Medien heute etwas anderes berichtet.
Wir sind also weit von gestaltender Politik entfernt. Eine die Zukunft der Arbeit gestaltende Politik bedeutet, makroökonomische Entscheidungen auf Beschäftigungseffekte auszurichten. Deshalb fordert die Fraktion Die Linke unter anderem ein öffentliches Investitionsprogramm, das diesen Namen auch verdient, eine Verkürzung der Arbeitszeit, die Ausweitung öffentlich finanzierter Beschäftigung und politische Weichenstellungen, um die Binnennachfrage zu fördern.
Nur so erreichen wir eine Verbesserung der Beschäftigungssituation auch und vor allem für ältere Menschen.
Auf dieser Grundlage können wir den Vorschlägen des Bündnisses 90/Die Grünen im vorliegenden Antrag zustimmen. Zustimmen können wir auch dem Vorschlag, im Rahmen des SGB II langfristig und sozialversicherungspflichtig, das heißt, öffentlich finanziert, Arbeitsplätze im dritten Sektor einzurichten. Die Fraktion Die Linke will dies bekanntlich auf der Grundlage eines Mindestlohns von 8 Euro pro Stunde und hat einen eigenen Antrag eingebracht. Öffentlich finanzierte Beschäftigung würde einem erheblichen Teil der Langzeitarbeitslosen, die sonst dauerhaft von Erwerbsarbeit ausgeschlossen sind, wieder eine Zukunft geben. Nach unseren Vorstellungen könnte bis 2009 eine halbe Million sozialversicherungspflichtiger Arbeitsplätze entstehen.
Ähnliche Überlegungen liegen den Vorschlägen der Diakonie, der Arbeiterwohlfahrt sowie des DGBs, einiger seiner Einzelgewerkschaften und vieler weiterer gesellschaftlicher Kräfte zugrunde, mit denen die Fraktion Die Linke im Grundsatz übereinstimmt. Gerade die großen Sozialverbände sind stark daran interessiert, auf diesem Weg jene Aufgaben anzupacken, die im Bereich der kommunalen, sozialen und Bildungsinfrastruktur im Moment weitgehend unerledigt bleiben und zu sozialen Problemen führen können. Es handelt sich vielfach um Aufgaben, die überwiegend nicht dem Bereich gering qualifizierter Tätigkeiten zuzuordnen sind, wie das auch die Erfahrungen in Mecklenburg-Vorpommern bestätigen. Insofern und auch aus prinzipiellen Erwägungen heraus wollen wir Beschäftigungsverhältnisse, die tariflich bzw. in Anlehnung an branchen- oder ortsübliche Entgelte, zumindest aber auf der Grundlage eines monatlichen Arbeitnehmerbruttoeinkommens von 1 400 Euro entlohnt werden.
Es ist völlig klar, dass es dafür zusätzlich zu den gebündelten Mitteln aktiver und passiver Leistungen, die ohnehin ausgegeben würden, eines geringen Teils an Geldern bedarf. Deshalb setzen wir uns dafür ein, einen Teil der Überschüsse der BA dafür zu verwenden. Dies sind eingezahlte und zweckbestimmte Mittel aus dem Beitragsaufkommen der Arbeitslosenversicherung. Sie sollten deshalb zweckgebunden für den Abbau der Arbeitslosigkeit und insbesondere der Langzeitarbeitslosigkeit eingesetzt werden und nicht, wie von der FDP gefordert, an die Beitragszahler zurückfließen.
Der momentane leichte Aufschwung geht an den langzeitarbeitslosen Menschen vorbei. Waren es vor einem Jahr - wir haben es bereits gehört - noch 37,6 Prozent, so sind heute bereits 42,4 Prozent aller Erwerbslosen langzeitarbeitslos.
Die falschen Weichenstellungen durch Rot-Grün und jetzt Schwarz-Rot haben wesentlich zur Verfestigung der Langzeitarbeitslosigkeit beigetragen, auch wenn Sie das nicht wahrhaben wollen, Herr Kollege.
Ich erinnere nur an die einseitig Kosten optimierenden Handlungsprogramme der Bundesagentur, ausgedacht von Unternehmensberatern und unter anderem vom Bundesrechnungshof kritisiert, bei denen Millionen von Betroffenen rechtswidrig aussortiert und Vermittlungsbemühungen auf Alibiveranstaltungen reduziert werden. Auch die diesjährige Sperrung von Integrationsmitteln durch die große Koalition gehört zu den Faktoren, die die Langzeitarbeitslosigkeit verschärfen. Das sind die aktuellen schweren Sünden der Politik gegenüber langzeitarbeitslosen Menschen.
Noch schwerer wiegen allerdings jene bereits weiter zurückliegenden Fehler im Zusammenhang mit den Hartz-Gesetzen, die die Beschäftigungssituation äußerst negativ beeinflussten. Ein gut funktionierendes System von Arbeitsmarktinstrumenten wurde finanziell völlig heruntergefahren.
Das trifft genauso auf die Entwicklung der beruflichen Qualifizierung und Weiterbildung zu wie für deren Institutionen, die sich auf einem Tiefpunkt ihrer Entwicklung und Wirksamkeit befinden.
Wenn wir über die Zukunft der Arbeit sprechen - und das wollen wir -, dann müssen wir darüber reden, wie diese Auswirkungen falscher Reformpolitik schnellstens korrigiert werden können, weil sie nach wie vor wirken und die sozialen Widersprüche in unserem Land weiter verschärfen. Während wir alle Vorschläge in Ihrem Antrag unterstützen, meine Damen und Herren von Bündnis 90/Die Grünen, die zur Korrektur der genannten Fehler beitragen, für die Sie selbst ja auch ein erhebliches Maß an Regierungsverantwortung tragen, möchten wir aber auch jene Punkte benennen, die nicht unsere Zustimmung finden.
Wir halten Ihr Progressivmodell für eine Fehlorientierung. Es fußt auf der fehlerhaften Annahme, dass der Mangel an existenzsichernden Arbeitsplätzen mit einfachen Qualifikationsanforderungen aus zu hohen Sozialversicherungsabgaben resultiert und nicht aus gesamtwirtschaftlichen Ursachen. Die Umsetzung Ihres Modells führt lediglich zu einer verstärkten Subventionierung von Niedriglohnbeschäftigung und gleichzeitig zu weiterer Aushöhlung der Finanzierungsbasis der Sozialversicherungen. Vieles spricht dafür, dass Verdrängungseffekte auftreten und Vollzeit- in Teilzeitarbeitsplätze umgewandelt werden. Minijobs - maßgeblich am Prozess der Prekarisierung beteiligt - würden durch die Neuregelung noch attraktiver gemacht. Hierbei befinden Sie sich weiterhin in neoliberalem Fahrwasser. Wir aber brauchen eine Wende in der Beschäftigungs- und Arbeitsmarktpolitik, damit die Menschen in diesem Land wieder eine Zukunft haben.
Ich danke Ihnen.
Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner:
Das Wort hat der Kollege Stefan Müller, CDU/CSU-Fraktion.
Stefan Müller (Erlangen) (CDU/CSU):
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir diskutieren heute unter anderem einen Antrag der Grünen mit dem Titel ?Zukunft der Arbeit gestalten statt Arbeitslosigkeit verwalten“. Das reimt sich ein bisschen. Der Antrag trägt einen gewissermaßen philosophischen Titel.
Eigentlich ist das ja eher etwas für die Grundsatzprogramme der Parteien. Ich hätte eigentlich erwartet, dass Sie dann auch eine Aussage dazu treffen, wie denn die Arbeitswelt in der Zukunft aussieht. Davon ist im Antrag aber keine Rede, zumindest habe ich nichts dazu gefunden. Sie sagen nicht, unter welchen Vorzeichen die Arbeitsmarktpolitik Ihrer Meinung nach in der Zukunft steht oder wie zukunftsfähige Politik für Sie aussieht. Ich kann mir nicht vorstellen, dass zukunftsfähige Arbeitsmarktpolitik der Grünen sich allein darauf beschränkt, ein Progressivmodell vorzulegen, einen Mindestlohn zu fordern oder einen dritten Arbeitsmarkt einzuführen.
Aber Sie sprechen überhaupt nicht von den Herausforderungen, die uns in den nächsten 20 bis 30 Jahren begegnen werden. Aber sei es, wie es sei. Eines jedenfalls ist mir aufgefallen: Sie verstricken sich in einen Widerspruch. Sie rühmen auf der einen Seite rot-grüne Arbeitsmarktpolitik und gestehen gleichzeitig deren Wirkungslosigkeit ein. Wer sich Ihren Antrag sorgfältig durchliest, muss zu diesem Ergebnis kommen.
Im ersten Absatz schreiben Sie:
Die von der rot-grünen Bundesregierung in der 15. Wahlperiode umgesetzten strukturellen Reformen und die aktuelle konjunkturelle Belebung sorgen für ein günstiges wirtschaftliches Klima, das auch den Arbeitsmarkt entlastet.
Im nächsten Absatz heißt es dann:
Arbeitslose mit geringen Qualifikationen und Langzeitarbeitslose profitieren von der aktuellen Entwicklung nicht.
So viel Ehrlichkeit hätte ich Ihnen gar nicht zugetraut. Sie haben viele Gesetze gemacht, aber geholfen hat es nichts. Das ist doch der Punkt, den Sie damit noch einmal zugeben.
Sie sprechen die Beschäftigungssituation der Älteren an. Sie erheben den Vorwurf, dass die Initiative ?50 plus“ nichts Neues wäre. Ihre Vorschläge, die Sie hier vorgelegt haben, sind jedoch auch nicht gerade innovativ. Sie sprechen über die Ausweitung der beruflichen Weiterbildung. - Einverstanden! Sicherlich haben wir da einen gewissen Nachholbedarf.
- Warten Sie doch ab! Wir sind in der Koalition noch nicht am Ende der Beratungen, auch nicht bezüglich der Beschäftigungssituation der Älteren.
Wenn Sie aber einen sachlichen Beitrag leisten wollen, muss das ein bisschen über das hinausgehen, was Sie in Ihrem Antrag schreiben. Sie fordern eine ?Änderung der Personalpolitik in den Unternehmen“ sowie ?ein gesellschaftliches Leitbild, das eine ?Kultur des beruflichen Neuanfangs im Alter’ befördert“. Das ist natürlich vom Staat nicht zu verantworten und daher nur sehr schwer umzusetzen bzw. gesetzgeberisch auf den Weg zu bringen. Angesichts solcher Forderungen würden wir von Ihnen an dieser Stelle schon ein bisschen mehr Fantasie erwarten.
Es ist kein Widerspruch: Wir brauchen ein Umdenken in der Wirtschaft. Es darf nicht mehr so sein, dass man glaubt, über 50-Jährige gehörten zum alten Eisen. Wie schon mehrfach gesagt worden ist, ist es nicht nachvollziehbar, dass wir bei Menschen, die älter als 50 sind, von ?älteren Arbeitnehmern“ sprechen.
Insofern muss sicherlich etwas passieren. Die Politik allein kann dagegen nichts machen. Wir brauchen vielmehr einen gesellschaftlichen Konsens.
Sie haben die Lohnnebenkosten angesprochen. Wir sind im Grundsatz einer Meinung: Die Höhe der Sozialabgaben in Deutschland ist ein wesentliches Einstellungshemmnis; eine Senkung der Lohnnebenkosten trägt dazu bei, den Arbeitsmarkt zu aktivieren und Neueinstellungen zu erleichtern. Ich gehe davon aus, dass es Ihrer Aufmerksamkeit nicht entgangen ist - so habe ich die Reden heute Morgen verstanden -, dass wir den Beitrag zur Arbeitslosenversicherung um 2 Prozentpunkte senken werden.
Wir haben auch festgelegt, dass noch weitere Schritte folgen. Selbst wenn es zu den in der Diskussion stehenden Beitragserhöhungen kommt, bleibt unter dem Strich eine Senkung der Lohnnebenkosten. Ich bitte Sie, auch das einfach einmal zur Kenntnis zu nehmen.
Eine Umfrage des Bayerischen Industrie- und Handelskammertages besagt - das beschäftigt mich schon -, dass die Senkung der Lohnzusatzkosten allein nicht dazu führen wird, dass neue Arbeitsplätze in einem erheblichen Ausmaß geschaffen werden, dass es insbesondere nicht zu zahlreichen Neueinstellungen von Ungelernten und Hilfskräften kommt.
Andere Themen sind angesichts dessen sicherlich ebenfalls zu behandeln. Ich glaube, dass Ihr Progressivmodell - jedenfalls so - nicht funktionieren wird. Wir können dieses Modell heute nicht diskutieren. Ich glaube, dass wir mit dem, was Sie vorgelegt haben, auch nicht weiterkommen.
Eine Klarstellung in Richtung der FDP - Gott sei Dank redet noch der Kollege Haustein; vielleicht kommt von ihm etwas Konzeptionelles -: Es wurde schon angekündigt, Sie machten neue arbeitsmarktpolitische Vorschläge. Jetzt sehe ich, dass es einen Antrag zur Auflösung der BA gibt. Herr Kollege Niebel, auch das ist nichts wesentlich Neues und nicht wirklich innovativ.
- ?Fortgeschrieben“. Wir werden auch das noch beraten.
Ich will für die Union nur klarstellen: Uns geht es natürlich darum, dass die Überschüsse denjenigen zurückgegeben werden, die sie erwirtschaftet haben, nämlich den Beitragszahlern. Das machen wir. Die Senkung der Beiträge um 2 Prozentpunkte ist schon beschlossen.
Über einen weiteren halben Prozentpunkt reden wir. Eine weitere Senkung wird sicherlich kommen.
Klar ist jedenfalls: Wenn Überschüsse denjenigen zurückgegeben werden sollen, die Beiträge gezahlt haben, dann werden keine neuen Arbeitsmarktprogramme aufgelegt und dann wird dieses Geld auch nicht im Haushalt versenkt - keine Frage!
Liebe Kolleginnen und Kollegen von der FDP, Ihre Nachhilfe brauchen wir dazu nicht. Der Antrag, den Sie heute vorgelegt haben, war einfach nur eine Wortmeldung, weil Sie sich in der ganzen Debatte - jedenfalls hier, im parlamentarischen Raum - überhaupt nicht zu Wort gemeldet haben.
Ich komme zum dritten Arbeitsmarkt. Die Grünen schlagen vor, einen dritten Arbeitsmarkt einzurichten. Der Vollständigkeit halber will ich nur darauf hinweisen, dass eine Arbeitsgruppe der Bundesregierung gerade zum Thema ?dritter Arbeitsmarkt“ eine Anhörung durchgeführt hat und dass es dazu weitere Beratungen gibt.
In der Tat, es gibt Menschen in Deutschland - wir gehen von einer hohen Zahl aus -, die vermutlich keine Chance mehr auf eine Vermittlung in den ersten Arbeitsmarkt haben werden. Die Bundesagentur spricht von etwa 400 000 Personen.
Es gibt dabei ganz unterschiedliche Zielgruppen: Menschen, die schon lange nicht mehr gearbeitet haben, und Menschen, die vielleicht noch nie gearbeitet haben. Hinzu kommen Menschen, die kurz vor der Rente stehen. Demzufolge muss man sich die Sinnhaftigkeit von einzelnen Arbeitsmarktförderungsmaßnahmen natürlich ansehen. Bei all diesen Menschen gehen wir davon aus, dass auch die Anwendung des gesamten Instrumentariums der BA nicht mehr dazu führen wird, dass sie in den ersten Arbeitsmarkt integriert werden.
Wir haben in der Tat nur zwei Alternativen. Die eine ist, diesen Menschen ihre staatliche Fürsorgeleistung zu geben und sie ansonsten allein zu lassen. Die andere ist, ihnen eine Chance auf eine sinnvolle Beschäftigung zu geben und auch das Gefühl, dass sie wieder gebraucht werden. Wir sind uns darüber einig, dass Arbeit nicht nur die finanzielle und materielle Existenz absichert, sondern dass Arbeit auch ein bisschen mehr bedeutet, vor allem gesellschaftliche Teilhabe.
In diesem Sinne ist die Überlegung so verkehrt nicht.
Nur, Sie lassen die Ausgestaltung offen. Ich würde von Ihnen schon ganz gern wissen, welche Vorschläge Sie dazu haben: Um welche Tätigkeiten geht es? Sollen es nur gemeinnützige Tätigkeiten sein? Wie soll es vergütet werden? Wie sind Verdrängungseffekte zu vermeiden? Besonders spannend ist: Wollen Sie die Menschen dazu verpflichten, eine solche Beschäftigung anzunehmen, oder nicht? Das würde mich sehr interessieren. Ich kann mich an einige Wortmeldungen aus Ihren Reihen erinnern, als es darum gegangen ist, festzustellen, dass derjenige, der eine staatliche Leistung bekommt, dafür eine Gegenleistung zu erbringen hat. Wir sind also für Ihre Vorschläge völlig offen.
Ihren Hinweis, dass es sich bei diesen Tätigkeiten um sozialversicherungspflichtige Beschäftigungsverhältnisse handeln soll, finde ich ebenfalls sehr interessant. Das würde letztendlich bedeuten, dass die Personen, die einer sozialversicherungspflichtigen Beschäftigung nachgehen, aus der Statistik herausfallen würden. Wenn wir das machen würden, dann möchte ich erleben, was Sie uns vorhalten würden, wenn die Statistik auf einmal deutlich besser aussieht, als die Lage ist.
Wenn wir das machen, brauchen wir dafür die Akzeptanz für einfache Tätigkeiten. Bevor man aber zu der Schlussfolgerung kommt, die Sie hier vortragen, muss es eine gesellschaftliche Akzeptanz für einen öffentlich geförderten Beschäftigungssektor geben.
Ich komme zu einem weiteren Thema, das Sie ansprechen, nämlich der stärkeren Förderung von Existenzgründern. Dazu haben wir schon verschiedene Debatten geführt. Ihre Wehmut hinsichtlich der bisherigen Ich-AG ist zwar verständlich, aber sachlich nicht gerechtfertigt. Wenngleich zumindest ich davon ausgegangen bin, dass wir dieses Thema schon abgeschlossen haben, so lohnt es sich doch, den Zwischenbericht zur Evaluation durchzulesen. Dort heißt es, dass qualitative Untersuchungen Hinweise darauf gegeben haben, dass die Gründung einer Ich-AG weniger aus echter Überzeugung als vielmehr aus einem Mangel an Alternativen vorgenommen worden ist. Gerade von den betroffenen Existenzgründern ist geäußert worden, dass das Konzept der Ich-AG zu Mitnahmeeffekten und Missbrauch verleitet. Auch in dem Zwischenbericht kommt man zu dem Ergebnis, dass eine Zusammenführung von Überbrückungsgeld und der Förderung für die Ich-AG notwendig ist. Diese Empfehlung haben wir umgesetzt und die Ich-AG und das Überbrückungsgeld zu dem neuen Gründungszuschuss zusammengefasst.
- Es ist doch nicht allein entscheidend, wie viel Geld jemand von der Bundesagentur bekommt. In einer Gründungsberatung muss geklärt werden: Welche persönlichen Voraussetzungen liegen vor? Wie ist die Motivation? Bedarf es begleitender Unterstützungsmaßnahmen, die der Gründer nicht nur am Anfang, sondern auch während der Gründungsphase bekommen muss? Ist ein Zugang zu Finanzierungsmitteln - das greifen Sie richtigerweise auf - gegeben?
Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner:
Herr Kollege, bitte kommen Sie zum Schluss.
Stefan Müller (Erlangen) (CDU/CSU):
Ich komme gleich zum Schluss. - Ich möchte Sie nur darauf hinweisen, dass hier einiges passiert ist und die KfW ihre Modelle entsprechend umgestellt hat. Daher bin ich der Auffassung, dass wir mit dem neuen Gründungszuschuss und den begleitenden Maßnahmen das Richtige auf den Weg gebracht haben, um die Zahl der Existenzgründungen in diesem Land zu erhöhen.
Gestatten Sie mir abschließend noch den Hinweis, dass in Ihrem Antrag - darüber habe ich mich doch sehr gewundert - über die Beschäftigungsperspektiven von jungen Menschen kein Wort verloren wird.
Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner:
Herr Kollege, darf ich Sie darauf hinweisen, dass Sie auf Kosten der Redezeit des Kollegen Rauen sprechen?
Stefan Müller (Erlangen) (CDU/CSU):
Sie reden über die Zukunft der Arbeit und sprechen die Probleme der jungen Menschen überhaupt nicht an. Ich finde es sehr bedauerlich, dass Ihnen das Schicksal der jungen Menschen völlig gleichgültig ist.
Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner:
Nächste Rednerin ist die Kollegin Brigitte Pothmer, Bündnis 90/Die Grünen.
Brigitte Pothmer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Lieber Herr Müller, das Drama Ihres Lebens ist, dass Sie offensichtlich nur bedingt an arbeitsmarktpolitischen Debatten teilnehmen. Wenn es anders wäre und Sie sich mit diesem Thema kontinuierlich befassen würden, dann wüssten Sie, dass wir in diesem Monat in einem umfänglichen Antrag ein Konzept für Langzeitarbeitslose mit Vermittlungshemmnissen eingebracht haben.
Zu Ihrer Frage, welche Vorstellungen die Grünen zum Thema Ausbildungsplätze und Angebote für junge Menschen haben, kann ich nur sagen: Auch dazu haben wir im letzten Plenum einen sehr umfangreichen Antrag eingebracht.
Herr Müller, machen Sie endlich einmal Ihre Hausaufgaben und melden Sie sich erst dann wieder zu Wort.
Ich möchte jetzt gerne etwas zu Herrn Meckelburg und Herrn Brandner sagen.
Es bestreitet hier niemand, dass die konjunkturelle Entwicklung nun auch auf dem Arbeitsmarkt positive Effekte zeigt.
Die Frage an Herrn Brandner und an Herrn Meckelburg ist: Was ist denn Ihr Verdienst dabei? Sie sind doch konjunkturelle Trittbrettfahrer.
Jetzt sind Sie gerade dabei, mit der Mehrwertsteuererhöhung diesen konjunkturellen Aufschwung wieder kaputtzumachen.
Herr Brandner, großartig fand ich ja Folgendes: Nachdem Sie im Wahlkampf gesagt haben, die Mehrwertsteuererhöhung sei des Teufels, aber dann eine Erhöhung um 3 Prozentpunkte beschlossen haben, standen Sie in der heutigen Rede kurz davor, die Mehrwertsteuererhöhung als Konjunkturmotor zu empfehlen. So weit zu der wundersamen Wandlung des Herrn Brandner!
Nach Ihrer Philosophie ist es ganz offensichtlich so, dass die Menschen mehr einkaufen, wenn es teurer wird, und dass es dann zu einer positiven konjunkturellen Entwicklung kommt.
Aber eigentlich geht es hier um etwas anderes.
Eigentlich geht es hier um die Frage: Wie gehen wir mit den Langzeitarbeitslosen um, die eben nicht von dieser konjunkturellen Entwicklung profitieren? Dazu fordern wir Konzepte der großen Koalition ein.
Sie von der SPD haben vor wenigen Tagen eine Debatte über Armut losgetreten. Ich will Ihnen einmal Folgendes sagen: Zwei Drittel derjenigen, die sich in der Untersuchung der Friedrich-Ebert-Stiftung selbst als abgehängt beschrieben haben, sind Langzeitarbeitslose, Herr Brandner, und die Frage an Sie ist: Was ist Ihre Antwort für diese Menschen?
Wir haben es weniger mit einer prekären Schicht als mit einer prekären Politik der großen Koalition zu tun.
In der Vergangenheit ist im Wesentlichen Folgendes passiert: Hartz IV, das aus zwei Elementen bestand - Fordern und Fördern -, haben Sie umgestaltet hin zu einem Strafgesetzbuch. Gleichzeitig haben Sie 2006 die Mittel für die Integration gekürzt. Sie haben das auch im Haushalt 2007 schon so angelegt.
In der CDU/CSU geht es nach dem Motto: Wir beschließen Sanktionen. Bevor die überhaupt in Kraft getreten sind und wir deren Wirkung irgendwie überprüfen können, bereiten wir schon die nächsten Sanktionen vor. - Das Problem ist: So entstehen keine Arbeitsplätze.
So werden Sie für die langzeitarbeitslosen Menschen kein Angebot machen.
Herr Müller, jetzt noch einmal zur Ich-AG. Die Ich-AGen sind ein extrem erfolgreiches Instrument für Langzeitarbeitslose, um sich neue Perspektiven zu eröffnen.
Die Umgestaltung bei den Ich-AGs hat dazu geführt - Frau Dückert hat darauf hingewiesen -, dass die Förderungen bei den Ich-AGs um zwei Drittel eingebrochen sind.
Zwei Drittel weniger Menschen haben jetzt die Möglichkeit, sich eine Perspektive zu schaffen. Sie haben der Existenzgründung aus Arbeitslosigkeit die Existenzgrundlage entzogen. Das ist eine Politik, die tatsächlich die Schaffung von Arbeitsplätzen verhindert.
Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner:
Frau Kollegin, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Meckelburg?
Brigitte Pothmer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Ja, bitte.
Wolfgang Meckelburg (CDU/CSU):
Frau Kollegin, sind Sie in der Lage, mir zu bestätigen, dass alle, die Existenzgründungszuschüsse beantragen wollen, dies nach wie vor tun können? Wenn zwei Drittel wegfallen, ist doch die Frage zu stellen, warum die wohl wegfallen, möglicherweise ja deshalb, weil es den Betreffenden sehr schwer fällt, nachzuweisen, dass man mit einer gewissen Berechtigung davon ausgehen kann, dass diese Existenzgründung wirklich hält. Ich finde das, was wir gemacht haben, sehr vernünftig.
Brigitte Pothmer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Herr Meckelburg, es stellen jetzt weniger Menschen Anträge auf Existenzgründungszuschüsse, weil die Rahmenbedingungen so verändert sind,
dass insbesondere Frauen und Menschen mit geringem Einkommen nur noch eine so geringe Förderung erhalten, dass auf dieser Grundlage eine Existenzgründung nicht möglich ist.
Das IAB hat sowohl im Zwischenbericht als auch im Endbericht darauf hingewiesen, dass dieses sehr differenzierte Instrumentarium überaus erfolgreich gewirkt hat. Aus rein ideologischen Gründen, weil Sie das im Wahlkampf so versprochen haben, haben Sie die Existenzgründungsförderung weggehauen. Das ist das Problem. Das muss man auch einmal benennen.
Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner:
Frau Kollegin, gestatten Sie eine weitere Zwischenfrage, und zwar des Kollegen Brandner?
Brigitte Pothmer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Ja, bitte. - Kommen Sie aber jetzt nicht wieder mit der Arbeitsgruppe!
Klaus Brandner (SPD):
Frau Pothmer, Sie haben gerade gesagt, die schwarz-rote Koalition habe mit der Neuregelung der Existenzgründungsförderung die Möglichkeiten der Frauen zur Existenzgründung weggehauen. Können Sie uns Einblick in die Rechtsgrundlage für diese Behauptung verschaffen?
Wir haben ein Gesetz geschaffen, das ausdrücklich einen Rechtsanspruch auf eine Existenzgründung vorsieht, wenn entsprechende Voraussetzungen vorliegen. Bevor die Existenzgründungsförderung gewährt wird, muss eine Gründungsberatung stattfindet, das heißt, die Sicherheit und Tragfähigkeit einer solchen Existenzgründung wird dank eines Beratungsumfeldes für Männer und Frauen gewährleistet. Können Sie sagen, wie Sie zu dem Ergebnis kommen, dass die Möglichkeiten der Frauen zur Existenzgründung weggehauen wurden und sie keinen Anspruch mehr haben?
Brigitte Pothmer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Herr Brandner, das will ich Ihnen gerne erklären: Es liegt nicht an der Beratung, sondern daran, dass Sie den Förderungszeitraum und das Förderungsvolumen gekürzt haben, sodass für Menschen, die vorher ein geringes Erwerbseinkommen hatten, jetzt die Existenzgründungsunterstützung einfach nicht mehr hinreicht, um auf der einen Seite die Existenzgründung voranzutreiben und auf der anderen Seite den Lebensunterhalt sicherzustellen. Nicht ohne Grund hatten SPD und Grüne gemeinsam die Ich-AGs so ausgestattet und darüber hinaus noch Überbrückungsgeld zur Verfügung gestellt. Wir wussten, dass wir für unterschiedliche Personengruppen ein differenziertes Angebot brauchen. Das berücksichtigen Sie nun leider nicht mehr.
Das hat genau den Effekt, den wir vorher prognostiziert haben und den das IAB in seinem Bericht deutlich beschrieben hat.
Ich möchte kurz etwas zur Zeitschiene sagen. Sie haben uns bereits im Koalitionsvertrag versprochen, ein Konzept für Langzeitarbeitslose mit Vermittlungshemmnissen vorzulegen. Bis jetzt haben wir davon nichts gesehen. Dann haben Sie gesagt, das Konzept solle nach der Sommerpause kommen, danach wurde es für den Herbst angekündigt, jetzt lese ich, dass vielleicht im Frühjahr etwas daraus wird. Beim Mindestlohn ist es genau das Gleiche.
Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner:
Frau Kollegin, Ihre Redezeit ist überschritten.
Brigitte Pothmer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Nein, sie ist noch nicht überschritten. Ich möchte noch kurz zusammenfassen.
Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner:
Frau Kollegin, Ihre Redezeit war um 20 Sekunden überschritten. Nun ist sie bereits um mehr als eine halbe Minute überschritten.
Brigitte Pothmer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Frau Präsidentin, ich komme zum Schluss. - Dieses Jahr rot-schwarzer Arbeitsmarktpolitik kann man in einer Formel zusammenfassen: Drangsalierung mal Unfug ergibt Murks hoch drei. Das ist eine gute Beschreibung Ihrer Arbeitsmarktpolitik.
Ich danke Ihnen.
Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner:
Das Wort hat der Kollege Wolfgang Grotthaus, SPD-Fraktion.
Wolfgang Grotthaus (SPD):
Herr Niebel, ich bin Ihnen dankbar, dass Sie so gut aufpassen. - Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Lassen Sie mich eingangs einige Bemerkungen an Frau Pothmer richten. Frau Pothmer, wenn ich Ihre Ausführungen richtig verfolgt habe, sind Sie der Meinung, alles in dieser Republik sei negativ. Wir - damit meine ich die vorherige Koalition und die jetzige Koalition - waren demzufolge nicht daran beteiligt, dass sich die wirtschaftliche Situation verändert hat. Ich weiß nicht, wie Sie dann in Ihrem Antrag eingangs zu folgenden Äußerungen kommen:
Die von der rot-grünen Bundesregierung in der 15. Wahlperiode umgesetzten strukturellen Reformen und die aktuelle konjunkturelle Belebung sorgen für ein günstiges wirtschaftliches Klima, das auch den Arbeitsmarkt entlastet. Die Arbeitslosenquote sank im August 2006 um rund einen Prozentpunkt gegenüber dem Vorjahr.
Ich sage Ihnen: Diese Sätze in Ihrem Antrag sind richtig. Richtig ist, dass Rot-Grün die Basis für die wirtschaftliche Belebung geschaffen hat. Es stimmt aber auch, dass die große Koalition dies weitergeführt hat
und damit eine Kontinuität der von uns gemeinsam angestoßenen Arbeitsmarktpolitik entwickelt hat.
Das Problem für mich ist nur, dass wir hier über Verdienste diskutieren, die wir uns gegenseitig madig machen. Keiner der betroffenen Menschen draußen, die in Arbeitslosigkeit verharren, kann davon profitieren.
Deswegen sage ich Ihnen: Lassen Sie uns nicht darüber diskutieren, wer die größten Erfolge hat, sondern darüber, wer die Gewinner dieser Maßnahmen sind und wie wir noch mehr Gewinner erzeugen können.
Gewinner dieser Maßnahmen sind mehr als 400 000 Menschen, die noch vor einem Jahr arbeitslos waren und nun für sich und ihre Familien eine größere soziale Sicherheit haben. Darin enthalten sind 150 000 ehemalige Arbeitslosengeld-II-Empfänger - der Kollege Brandner hat die Zahl schon genannt; sie entspricht einer deutschen mittleren Großstadt -, die aus der Langzeitarbeitslosigkeit in Arbeit wechseln konnten.
Ich gebe der Opposition Recht: Natürlich könnten es mehr sein. Aber wer als Überschrift seines Antrags formuliert: ?Zukunft der Arbeit gestalten statt Arbeitslosigkeit verwalten“, dem muss man diese Zahlen noch einmal in Erinnerung rufen.
Auch den von Ihnen, Frau Pothmer, festgestellten Reformstillstand gibt es nicht. In den letzten Wochen gab es, die heutige mit eingerechnet, fünf Anhörungen durch das BMAS, die sich mit den Themen Kombilohn, Mindestlohn, Hinzuverdienst, dritter Arbeitsmarkt und Effizienz des SGB II beschäftigt haben. Hier wurden und werden Fachleute gehört, deren Meinung in eine weitere Gesetzgebung zu den gerade genannten Themen und damit zur weiteren Belebung des Arbeitsmarktes einfließen soll.
- Wenn Sie von Wirtschaftsgutachten sprechen, dann müssen Sie auch sagen, auf welches Sie sich beziehen.
Diese Wirtschaftsgutachten von München bis Flensburg sind so unterschiedlich, dass man sich immer, je nach politischer Ausrichtung, das genehmste heraussuchen kann.
Lassen Sie mich festhalten, dass wir auch die Qualifizierung älterer Arbeitnehmer weiter voranbringen werden. Die Basis der förderungswürdigen Betriebe, die älteren Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern mit staatlichen Zuschüssen eine Qualifikation bieten können, wird ausgeweitet: Konnten diese Hilfen bisher nur Betrieben mit bis zu 100 Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern zukommen, so ist dies demnächst für Betriebe mit bis zu 250 Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern möglich.
Wir werden bei der Frage initiativ werden, wie wir die Gruppe der Langzeitarbeitslosen in einen durch die öffentliche Hand geförderten dritten Arbeitsmarkt integrieren können, und wir werden über Kombilohn und Mindestlohn in Verbindung mit dem Entsendegesetz und der allgemeinen Verbindlichkeitserklärung diskutieren - diskutieren müssen; denn hier besteht Handlungsbedarf für dieses Haus.
Dem Antragsteller sei also ins Stammbuch geschrieben, meine lieben Kolleginnen und Kollegen: Von bloßer Verwaltung für die vor uns liegende Zeit kann keine Rede sein. Für die abgelaufene Zeit - das ist ja gerade ein Jahr her - lassen Sie mich noch einmal in Erinnerung rufen, dass wir das Entsendegesetz nunmehr auch auf die Gebäudereiniger anwenden können und dass wir ein Saisonkurzarbeitergeld für Dachdecker eingeführt haben. Das mag für Sie ein Randbereich sein; aber für die Menschen, die im Winter nicht in die Arbeitslosigkeit gehen müssen, ist das von gravierender Bedeutung.
Deswegen will ich nicht immer nur über programmatische Aussagen diskutieren, sondern auch darüber reden, wie Menschen, die zum Teil seit Jahren in Arbeitslosigkeit verharren, auch durch kleine Maßnahmen, die Sie bewusst nicht wahrnehmen, in Arbeit gebracht werden können.
Wir werden 15 000 zusätzliche Plätze zur Qualifizierung von Jugendlichen anbieten. Damit fördern wir statt 25 000 nun 40 000 junge Menschen. Die Vermittlungsquote in diesem Bereich - auch das muss ich anmerken - liegt bei 70 Prozent. Wenn wir 40 000 jungen Menschen zusätzlich eine Qualifizierung anbieten, können wir also davon ausgehen, dass wir 28 000 junge Menschen zusätzlich in Arbeit bringen. Die Bundesagentur für Arbeit wird Anfang des Jahres darüber hinaus noch 7 500 Ausbildungsplätze für Jugendliche mit Migrationshintergrund zur Verfügung stellen.
Sie werden sagen, das reicht nicht. Auch da stimme ich Ihnen zu. Aber es gilt, dass die Menschen, die von diesen Maßnahmen positiv betroffen sind, sich erst einmal abgesichert fühlen. Dies sollte uns ermuntern, weitere Initiativen anzugehen und in den parlamentarischen Gang zu bringen. Dabei ist besonders darauf zu achten - das haben Sie in den Anhörungen vernommen -, dass sie nicht mit heißer Nadel gestrickt werden. Ich habe das Empfinden, Sie wollten jetzt unbedingt einen Antrag formulieren, damit Sie sich in drei, vier Monaten, wenn unsere Initiativen in einen fundierten Antrag geflossen sind, darauf beziehen können. Ich hoffe, dass wir dann mit unserem Antrag auf Ihre Akzeptanz stoßen werden und dass wir gemeinsam diesen Antrag verabschieden können.
Heute lehnen wir Ihren Antrag aber ab.
Gestatten Sie mir noch eine kurze Anmerkung zum FDP-Antrag, der sich mit der Verwendung der Überschüsse der BA beschäftigt. Die Richtung, die die FDP in ihrem Antrag vorschlägt, ist richtig,
nämlich dem Beitragszahler diese Überschüsse zukommen zu lassen. Dazu muss aber gewährleistet sein, dass die Überschüsse in dieser Höhe kontinuierlich anfallen und durch eine weitere Senkung der Beiträge zur Arbeitslosenversicherung über 2 Prozent hinaus keine neuen Defizite bei der Bundesagentur für Arbeit anfallen.
Gleichzeitig sagen wir aber auch deutlich - das hat für uns eine genauso große Bedeutung -, dass die nötigen Mittel zur Vermeidung von Arbeitslosigkeit durch aktive Arbeitsmarktpolitik erhalten bleiben müssen. Es wäre kontraproduktiv, wenn wir aufgrund eines einmaligen hohen Überschusses der BA die Beiträge so weit senken würden, dass hinterher keine Qualifizierung zur Verhinderung von Arbeitslosigkeit mehr möglich wäre.
Also auch hier Ablehnung des Antrags, verbunden mit der Zusage, eine weitere Absenkung dann in Angriff zu nehmen, wenn die Überschüsse der BA nachhaltig gesichert sind und das Niveau der beruflichen Qualifizierung nicht unter einer Absenkung leidet.
Ich danke Ihnen recht herzlich für Ihre Aufmerksamkeit.
Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner:
Nächster Redner ist der Kollege Heinz-Peter Haustein, FDP-Fraktion.
Heinz-Peter Haustein (FDP):
Verehrte Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! ?Zukunft der Arbeit gestalten statt Arbeitslosigkeit verwalten“ -
das ist ein wohlklingender und sprachlich gelungener Titel für einen Antrag,
so könnte man denken. Gestalten statt verwalten, agieren statt nur zu reagieren: Da ist jeder geneigt, den Antrag gleich zu unterschreiben.
Doch der Inhalt klingt nicht mehr nach Zukunft. Denn Sie wollen wieder einmal nur den Vater Staat gestalten lassen und führen die alten Mindestlohndebatten fort. Sie wollen sogar den öffentlichen Beschäftigungssektor ausweiten. Das war nie erfolgreich und kann es auch nicht sein, weil man damit nicht dort ansetzt, wo das Problem liegt.
Ihre Analyse des Arbeitsmarktes ist zutreffend. Der Anteil gering qualifizierter Arbeitsloser und Langzeitarbeitsloser steigt kontinuierlich; im letzten Jahr von 37,4 auf 42,4 Prozent. Die Betroffenen haben zunehmend weniger Chancen, eine neue Anstellung zu finden.
Im internationalen Vergleich hat Deutschland einen der höchsten Anteile von Langzeitarbeitslosen.
Im Übrigen gehört das Problem der wachsenden Armut in Deutschland auch dazu, und keineswegs erst, seit sich der SPD-Vorsitzende dazu geäußert hat.
Wer darüber etwas wissen wollte, der brauchte seit Jahren nur in den Armuts- und Reichtumsberichten nachzulesen. Den Bürgermeistern in diesem Land sind diese Probleme längst bekannt.
Meine Heimatregion, das Erzgebirge, ist trauriger Spitzenreiter mit dem bundesweit höchsten Anteil von 23 Prozent an vollbeschäftigten ALG-II-Empfängern. Das sind Menschen, die Vollzeit arbeiten gehen und trotzdem ergänzendes ALG II, sprich Sozialhilfe, bekommen.
Ich hätte mir angesichts der Aussage in der Überschrift des Antrags ?Zukunft der Arbeit gestalten“ etwas mehr erhofft. Wenn man darüber redet, muss man auch über Globalisierung sprechen. Solange täglich Arbeitsplätze ins Ausland abwandern, kann die deutsche Antwort auf diese Situation nicht der Mindestlohn sein.
Dann muss man über Flexibilisierungen im Tarif- und Arbeitsrecht reden, die es Unternehmern erlauben - ich wiederhole: den Unternehmern -, sich auf eine sich verändernde Arbeitswelt schnell einzustellen. Die Krux liegt schon beim Verständnis: Wer davon spricht, die Zukunft der Arbeit zu gestalten, der kann ja nur meinen, die entsprechenden Rahmenbedingungen zu setzen.
Arbeitsplätze können nur die Unternehmen schaffen. Sie schaffen sie in Deutschland aber nur, wenn die Bedingungen hier attraktiver als woanders sind. Nur so entstehen hier und nicht im Ausland Arbeitsplätze.
Dass wir an diesen Bedingungen arbeiten müssen, zeigen uns die täglichen Abwanderungen von Unternehmen ins Ausland und viele Firmenpleiten. Warum gibt es nicht genug Menschen in Deutschland, die bereit sind, unternehmerische Risiken auf sich zu nehmen, 60 Stunden in der Woche zu arbeiten, auf Urlaub zu verzichten sowie Haus und Hof der Bank zu verpfänden?
Weil die Anreize fehlen! Wir brauchen mehr Unternehmer, die bereit sind, Verantwortung zu tragen sowie Arbeits- und Ausbildungsplätze zu schaffen.
Arbeitsplätze zu schaffen, ist das Sozialste, was man in diesem Land machen kann. Das ist Fakt - und ein Kernsatz im Konzept der FDP. Deshalb ist die FDP eine sehr soziale Partei.
Weit über den Broterwerb hinaus ist ein Arbeitsplatz Mitte sozialer Integration. Er gibt den Menschen das wichtige Selbstwertgefühl, das sie brauchen, und Würde.
Von den Grünen kommt immer wieder der Ruf nach Staatsbeschäftigung.
Eine Ausweitung der öffentlichen Beschäftigung kann und wird niemals die Lösung des Arbeitsmarktproblems sein. Es handelt sich um Ersatzmaßnahmen, die am wirklichen Ziel vorbeilaufen und die Probleme verwischen.
Unsere Vorschläge liegen seit langem auf dem Tisch. Wir brauchen einen Politikwechsel. Leistung muss sich bei Bildung, Arbeit und Forschung wieder lohnen. Es muss Anreize geben, Ideen zu entwickeln und sie umzusetzen. Es muss sich rentieren, besser zu sein als andere und dafür zu kämpfen. Wir brauchen einen Paradigmenwechsel hin zur Leistungsgesellschaft, ohne die Schwächeren zurückzulassen.
Unternehmer können heute überall in der Welt produzieren lassen. Arbeit ist fast immer der entscheidende Kostenfaktor, nach dem Standortentscheidungen rational getroffen werden. Ein Unternehmer muss rational denken; denn sonst geht er Pleite und die Arbeitsplätze sind komplett weg.
Wir werden hier in Deutschland niemals zu den Preisen produzieren können, zu denen man in China produzieren kann.
Dass wir immer noch gut sind, zeigt die Tatsache, dass wir Exportweltmeister sind. Wir sollten uns aber nicht darauf ausruhen; denn der Bessere ist der Feind des Guten. Die Stellschrauben, an denen die Politik drehen kann, sollten wir in die richtige Richtung drehen.
Voraussetzung für die Senkung der Lohnnebenkosten ist ein Systemwechsel bei den sozialen Sicherungssystemen; ein Murks wie bei der Gesundheitsreform hilft nicht weiter.
Wir brauchen einen radikalen Abbau der bürokratischen Zwangsjacke, die die Unternehmen ständig gängelt, eine umfassende Unternehmen- und Einkommensteuerreform anstatt eine unsoziale Erhöhung der Mehrwertsteuer.
Nun zur BA. Das ist eine zentralistische Mammutbehörde mit über 100 000 Beschäftigten und einem Etat von 51 Milliarden Euro. Sie ist verantwortlich für die Verwaltung von 4,2 Millionen Arbeitslosen.
Arbeitsplätze schafft die BA aber nicht. Das können nur Unternehmer. Die BA kann nur vermitteln.
Dabei gibt sie sich zwar große Mühe - ich kenne viele gute Leute bei der BA -, Fakt ist aber, dass der Zentralismus nicht funktioniert. Lösen wir das Problem dezentral: Geben wir die Vermittlung in die Hand der Kommunen und Landkreise. Das ist effektiver. Sie wissen besser Bescheid, was los ist.
Wenn es uns gelingt, mehr Arbeitsplätze zu schaffen - das sollte unser Ziel sein; wir dürfen uns nicht damit abfinden, immer Arbeitslose zu haben -, brauchen wir die BA irgendwann nicht mehr, weil wir keine Arbeitslosen mehr haben. Das muss unser Ziel sein. Dafür müssen wir kämpfen.
Ein herzliches Glückauf aus dem Erzgebirge!
Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner:
Nächster Redner ist der Kollege Peter Rauen, CDU/CSU-Fraktion.
Peter Rauen (CDU/CSU):
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Der Antrag der Grünen schlägt im Kern weitere Instrumente vor, die Arbeit in Deutschland mit staatlichen Mitteln zu bewirtschaften. Diese Arbeitsbewirtschaftungsmaßnahmen sind allesamt gut gemeint. Gut gemeint ist nach aller Lebenserfahrung aber oft das Gegenteil von gut.
Alle Maßnahmen haben einen Nachteil: Sie müssen bezahlt werden,
und zwar von denjenigen, die Tag für Tag arbeiten gehen, die sich selbst und ihre Familien ernähren können und darüber hinaus Steuern und Abgaben zahlen, damit der Sozialstaat funktioniert. Viele von denen, die arbeiten, haben netto, nach Abzug von Steuern und Abgaben, weniger als Menschen, die von staatlichen Transferleistungen leben. Die circa 1 Million ?Aufstocker“, also jene, die ergänzendes Arbeitslosengeld II erhalten, stimmen mich sehr nachdenklich. Derjenige, der arbeitet, muss in jedem Fall mehr haben, als derjenige, der nicht arbeitet. Das schreiben die Grünen zu Recht in ihrem Antrag. Ich unterstreiche diesen Satz dreimal.
Leider ist die Lebenswirklichkeit eine andere. Um die Probleme auf dem Arbeitsmarkt wirklich zu lösen, müssen wir tiefer schürfen, als ständig nur über neue Instrumente der Arbeitsbewirtschaftung nachzudenken und zu diskutieren.
Mittlerweile stehen wir alle zu den Grundsätzen der sozialen Marktwirtschaft. Diese Marktordnung ist eng mit dem Namen Ludwig Erhard verbunden. Schon 1956 warnte Ludwig Erhard vor der wachsenden Sozialisierung der Einkommensverwendung und der zunehmenden Abhängigkeit vom Staat.
Am Ende dieser Entwicklung, so prophezeite Erhard damals, stünde der soziale Untertan und die Lähmung des wirtschaftlichen Fortschritts.
SPD-Chef Kurt Beck sprach vor kurzem aus, was Ludwig Erhard prophezeit hatte. Er sagte, was im Grunde alle wissen: Es gibt Armut und Perspektivlosigkeit in Deutschland. - Das Wort ?Unterschicht“ machte die Runde. Auf einmal waren alle betroffen und zeigten Abscheu vor diesem Begriff.
Man kann über die Begrifflichkeit streiten. In der Analyse jedoch hat Kurt Beck Recht. In den letzten 35 Jahren haben wir geglaubt, die Arbeitslosigkeit in Deutschland durch immer neue und immer teurere Arbeitsbewirtschaftungsmaßnahmen bekämpfen zu können. Das traurige Ergebnis dieses Irrtums müssen wir endlich korrigieren.
Das Schlimmste aber: Unter dem Druck steigender Arbeitslosenzahlen und sinkender Wachstumsraten verfehlt der Umverteilungsstaat letztlich seine eigene Zielsetzung. Ungleichheit und Armut nehmen zu. So kletterte die so genannte Armutsquote von 1992 bis heute von damals 13 Prozent auf 16 Prozent.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, obwohl Hartz IV die Ausgaben für Sozialleistungen um 10 Milliarden Euro in die Höhe getrieben hat, wird diese Reform von den Menschen als Kürzungsorgie empfunden. Ein Blick auf die Realität wirkt ernüchternd: Armut und Ausgrenzung können nicht verhindert werden, selbst wenn der Staat noch mehr Geld umverteilt. Im Gegenteil, der Umverteilungsstaat ist längst ein Teil des Problems geworden.
Die Kosten der Arbeitsmarktpolitik sind von 1998 bis 2005 von 68 Milliarden Euro auf 83 Milliarden Euro gestiegen.
Es kam also in nur wenigen Jahren zu einer Steigerung um 15 Milliarden Euro.
Trotzdem ist die Arbeitslosigkeit gestiegen.
Noch schlimmer ist: Die Zahl der sozialversicherungspflichtig Beschäftigten ist in diesem Zeitraum dramatisch zurückgegangen.
In Deutschland sind zurzeit circa 36 Millionen Menschen auf dem ersten Arbeitsmarkt erwerbstätig. Da Deutschland insgesamt 82 Millionen Einwohner hat, bedeutet das im Umkehrschluss, dass 46 Millionen Menschen auf Einkommen ohne Arbeit angewiesen sind. Dieses Missverhältnis muss dringend korrigiert werden.
Insbesondere in unserem Land, in dem die sozialen Sicherungssysteme überwiegend an den Faktor Lohn gekoppelt sind, muss diese Fehlentwicklung korrigiert werden.
Wir brauchen dringend mehr Beschäftigung und weniger staatliche Transfers.
Manche glauben, dass keine Chancen bestehen, mehr Beschäftigungsverhältnisse zu schaffen. Ich teile diese Auffassung überhaupt nicht.
Ich bin vom Gegenteil überzeugt: Wir haben in Deutschland genügend Arbeit, aber nicht mehr genügend Arbeit zu bezahlbaren Preisen. Die Menschen, die in Deutschland arbeiten, verdienen mit ihrer Arbeit netto zu wenig. Gleichzeitig sind jedoch die Arbeitskosten zu hoch.
In Deutschland ist die Schwarzarbeit in den letzten 25 Jahren von 7 Prozent auf heute 17 Prozent des Bruttoinlandsprodukts gestiegen. Sie hat ein Volumen von 370 Milliarden Euro pro Jahr erreicht. Ich will keine bestimmte Partei dafür verantwortlich machen. Aber ich möchte deutlich machen: Allein dieser Zuwachs entspricht einem Arbeitskräftepotenzial von 5 Millionen Menschen.
Warum es zu dieser Entwicklung gekommen ist, liegt für mich auf der Hand. Als gelernter Maurer und Ingenieur habe ich mich 1966 selbstständig gemacht. Damals musste ein Maurer 1,65 Stunden arbeiten, um sich von seinem Nettoertrag eine Arbeitsstunde eines anderen Handwerkers mit gleichem Stundenlohn leisten zu können. Heute muss derselbe Maurer, wenn er in Steuerklasse I ist, dafür 5,6 Stunden arbeiten, und wenn er verheiratet ist und Steuerklasse III hat, 4,4 Stunden.
Die Arbeitsteilung in Deutschland funktioniert nicht mehr. Wenn sich der Einzelne legale Arbeit nicht mehr leisten kann, kehren die Leute zum Tauschhandel zurück: Dann tauscht der Maurer mit dem Schreiner, der Schreiner mit dem Schlosser und der Schlosser mit dem Anstreicher seine Stunden, und der Staat geht dabei leer aus.
Wenn wir wirklich mehr ordentliche Arbeit in Deutschland haben wollen, gibt es zur Senkung der Lohnzusatzkosten keine Alternative.
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms:
Herr Kollege Rauen, erlauben Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Dirk Niebel?
Peter Rauen (CDU/CSU):
Bitte schön.
Dirk Niebel (FDP):
Herr Kollege Rauen, ich stimme Ihnen in allem, was Sie bisher gesagt haben, in der Analyse zu hundert Prozent zu.
Nur eins verstehe ich nicht und ich möchte Sie fragen, ob Sie mir das erklären können. Ich verstehe nicht, dass vor dem Hintergrund all des Richtigen, was Sie eben gesagt haben, und der Notwendigkeit, dringend Veränderungen für mehr Arbeit in Deutschland durchzusetzen,
diese Bundesregierung an der arbeitsplatzfeindlichen Mehrwertsteuererhöhung festhält,
die gerade in dem von Ihnen angesprochenen personalintensiven Dienstleistungsbereich, im Handwerk, im Einzelhandel, in der Gastronomie, nicht auf die Preise übertragen werden kann, weil Sie völlig Recht haben, dass Arbeit zu teuer geworden ist und man zum Tauschhandel zurückkehrt.
Wäre es vor dem Hintergrund sprudelnder Mehreinnahmen, über die wir uns ja alle freuen, nicht sinnvoll, zu sagen: ?Wir haben geirrt“, und auf den rechten Weg zurückzukehren?
Peter Rauen (CDU/CSU):
Herr Niebel, ich schätze Sie viel zu sehr, um Ihnen zu unterstellen, dass Sie um die Bedeutung solider Staatsfinanzen nicht wüssten. Wir haben in den Haushalten strukturelle Defizite von fast 60 Milliarden Euro. Um die Haushalte von Bund und Ländern zu stabilisieren und die Stabilitätskriterien wieder einzuhalten,
hat die Union bereits im Wahlkampf erklärt, die Mehrwertsteuer zu erhöhen - aber zugleich versprochen, dass von der Kaufkraft her im gleichen Volumen die Beiträge gesenkt werden. Dazu steht die Union. Es wurde von den Kollegen bereits gesagt, dass wir alles daransetzen, Überschüsse, wann immer möglich, für weitere Senkungen der Beiträge zu verwenden, über diese 2 Prozentpunkte hinaus.
Herr Niebel, wenn wir den Beitragssatz um 2,5 Prozentpunkte senken können und gleichzeitig, wie Sie wissen, der Rentenversicherungsbeitrag um 0,4 Prozentpunkte erhöht wird, bleibt unter dem Strich eine Senkung von 2,1 Prozentpunkten.
Das bedeutet im Umkehrschluss, dass zwei Drittel der Kaufkraft, die durch die Mehrwertsteuererhöhung entzogen wird, den Menschen sofort zurückgegeben wird, und zwar denen, die es brauchen: denen, die arbeiten, sowie den Firmen, die diese Menschen beschäftigen.
Mir persönlich wäre es lieber, wenn es dieser Mehrwertsteuererhöhung nicht bedurft hätte;
das gebe ich ganz ehrlich zu. Ich sehe auch die Probleme, die die Erhöhung im nächsten Jahr für die Konjunktur mit sich bringt. Deshalb bin ich mit unseren Freunden der Auffassung, dass alles, was an weiterem Spielraum gegeben ist, zur Senkung der Beiträge zur Arbeitslosenversicherung verwendet werden muss.
- Voll und ganz. - Das haben die Kollegen heute aber auch gesagt, das ist gar nicht strittig.
Sie sprechen von 9,6 Milliarden Euro, die übrig sind.
- Wahrscheinlich werden es 12 Milliarden Euro. Aber Sie müssen seriöserweise auf jeden Fall die 3,5 Milliarden Euro abziehen, die durch den Einmaleffekt entstanden sind, die Beiträge künftig eher einzuziehen.
1 Prozentpunkt der Mehrwertsteuererhöhung ist bereits vorgesehen, um die Senkung des Beitrags zur Arbeitslosenversicherung zu finanzieren. Die Differenz, die bleibt, kann in weitere Senkungen gesteckt werden. Noch einmal: Für mich ist es überhaupt keine Frage, dass die Überschüsse der Bundesagentur für Arbeit aus den genannten Gründen komplett an die Arbeitnehmer und die Firmen, die sie beschäftigen, zurückgegeben werden müssen.
Ich habe jetzt nicht mehr die Zeit, zur Langzeitarbeitslosigkeit und zur Neustrukturierung des Niedriglohnsektors Ausführungen zu machen. Ich will abschließend nur feststellen - daran arbeitet die Koalition und da werden wir Ergebnisse vorlegen -: Es wird sich orientieren an den Grundsätzen: Erstens. Wer arbeitet, muss mehr haben als derjenige, der nicht arbeitet. Und es gilt zweitens, das Prinzip des Forderns und Förderns durchzusetzen. Wir brauchen dies dringend. Wie wollen Sie einem jungen Menschen die Wichtigkeit einer Ausbildung begreifbar machen, wenn er als ausgelernter Facharbeiter womöglich nicht mehr in der Tasche hat als sein arbeitsloser Nachbar, der nichts gelernt hat? Ich glaube, in unserem Handeln müssen wir uns auch hinsichtlich des Forderns von folgenden Grundsätzen leiten lassen: Wer nichts leistet, obwohl er leisten könnte, handelt unsozial. Wer leistet, muss in jedem Fall besser gestellt sein als derjenige, der nicht leistet.
Schönen Dank.
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms:
Als letzte Rednerin zu diesem Tagesordnungspunkt hat die Kollegin Katja Mast von der SPD-Fraktion das Wort.
Katja Mast (SPD):
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Kolleginnen und Kollegen! Wenn ich mir den Antrag der Grünen durchlese, dann frage ich mich, was eigentlich neu daran ist.
Ich weiß ja nicht, wie es meinen Kolleginnen und Kollegen ging, aber mich hat dieser Antrag an den Film ?Und täglich grüßt das Murmeltier“ erinnert.
Hier könnten wir den Film ?Das Gleiche in Grün - alle zwei Wochen“ drehen.
Einige Punkte in dem Antrag sind überlegenswert, vieles ist nur halb richtig und anderes kann und soll aus meiner Sicht nicht gesetzlich geregelt werden. Immerhin geben Sie mir die Gelegenheit, noch einmal deutlich zu machen, wo die Unterschiede in der Arbeitsmarktpolitik liegen. Damit sich das nicht wie ein arbeitsmarktpolitischer Bauchladen anhört, konzentriere ich mich auf zwei zentrale Themenfelder, nämlich auf die Fragen, wie wir mehr ältere Arbeitslose wieder in Jobs bekommen und wie wir Existenzgründungen aus der Arbeitslosigkeit ermöglichen.
Zuerst komme ich aber noch einmal zu unseren in den letzten sieben Jahren gemeinsam erarbeiteten Grundsätzen in der Arbeitsmarktpolitik. Gemeinsam mit Ihnen von den Grünen haben wir die bedeutendste Arbeitsmarktreform in der Geschichte Deutschlands auf den Weg gebracht.
Für die heutige Debatte scheint mir aber ein anderer Grundsatz unserer gemeinsamen Arbeitsmarktpolitik wichtig: Wir waren uns einig, dass unsere Reform nur zielführend sein kann, wenn wir ihre Wirkung überprüfen.
Das haben wir mit der wissenschaftlichen Evaluierung des Hartz-I-, des Hartz-II- und des Hartz-III-Gesetzes getan.
Das ist in der bundesdeutschen Gesetzgebungsgeschichte bisher einmalig.
Wieso muss ich diese so selbstverständlich klingenden Grundsätze heute erklären? Gerade im Hinblick auf die Instrumente, durch die ältere Arbeitslose wieder in Beschäftigung gebracht werden sollen, verwundert mich Ihr Antrag. Ich zitiere:
Die mit der Initiative 50plus präsentierten Vorschläge für ältere Arbeitnehmer beinhalten im Wesentlichen lediglich bereits bestehende Instrumente...
Liebe Abgeordnete der ehemaligen Regierungskoalition, das ist richtig, aber das ist auch so gewollt.
Entwickeln, bewerten, verbessern - das war doch der Dreischritt unserer gemeinsamen Arbeitsmarktpolitik, nicht die ständige Neukonzeption von Instrumenten, die nur dazu führt, dass niemand mehr durchblickt, was es am Arbeitsmarkt eigentlich gibt.
Zurück zur Evaluierung bzw. wissenschaftlichen Bewertung der Instrumente für ältere Arbeitslose. Der Evaluierungsbericht ist eindeutig: In ihm wird aufgezeigt, dass die Mittel für Beitragsbonus, Eingliederungszuschuss und Weiterbildungsförderung nicht umfangreich genutzt wurden. Es wird aber auch der Grund dafür genannt: Die Fördermöglichkeiten sind weder den Betroffenen noch den Arbeitgebern noch den Beratern der Bundesagentur für Arbeit bekannt. Es ist also falsch, zu meinen, dass wir neue Maßnahmen brauchen, um Ältere in den Arbeitsmarkt zu bringen. Es muss uns darum gehen, gemeinsam dafür zu werben, dass die bestehenden Möglichkeiten für Ältere angewendet werden.
Hierfür ist die Initiative ?50plus“ die ideale Plattform. Das Kleinreden der Instrumente hilft nicht weiter.
Sie fordern weiter, die Regierung solle Gesetze formulieren, um - hier bin ich meinem Kollegen, Herrn Müller, für seine Ausführungen dankbar - das gesellschaftliche Leitbild vom Altern und die Personalpolitik in den Unternehmen zu verändern. Wir brauchen in der Tat ein anderes Leitbild und eine andere Personalpolitik, aber nicht per Gesetz. Als ehemalige Referentin für Personalstrategie
bin ich mir sicher, dass es kein deutsches Unternehmen gibt, das auf ein Bundesgesetz wartet, in dem eine Änderung der Personalpolitik geregelt wird. Ein solches Gesetz würde nichts bewirken. Denn einen Mentalitätswandel erreichen wir nicht durch Gesetze, sondern durch Dialog und Vorbilder.
Mit der Initiative Neue Qualität der Arbeit entwickeln wir solche Vorbilder und machen sie bekannt. Die öffentliche Hand, die Sozialpartner und die Betriebe suchen gemeinsam nach Antworten auf die Frage, wie die Beschäftigten fit und gesund im Erwerbsleben bleiben. Dazu brauchen wir Ihren Antrag nicht.
Doch nun zu meinem zweiten Thema Existenzgründungen aus der Arbeitslosigkeit. Bei der Förderung von Existenzgründungen aus der Arbeitslosigkeit handelt es sich um eines der erfolgreichsten Mittel der aktiven Arbeitsmarktpolitik, die für uns von der SPD beim Fördern der Eigeninitiative ansetzt. Auch hierzu wird in der Evaluierung der Hartz-Gesetze einiges ausgeführt. Ich will nicht auf die einzelnen Punkte eingehen; es wurde aber deutlich, dass selbst die Gründerinnen und Gründer Veränderungen - insbesondere bei der Ich-AG - wünschten.
Wir haben nun mit unserem Instrument des Gründerzuschusses das Positive des früheren Überbrückungsgeldes mit dem Positiven der Ich-AG verbunden. Damit haben wir Transparenz der Förderinstrumente am Arbeitsmarkt erhöht.
Außerdem haben wir den Gründerzuschuss zielgerichteter gestaltet.
In der Diskussion wird immer wieder angeführt, dass Teilzeitgründungen nicht mehr möglich seien. Das stimmt aber nicht.
Denn unabhängig davon, wie die Gründung gestaltet wird, bekommt jeder Gründer aus der Arbeitslosigkeit pauschal über maximal 15 Monate 300 Euro, um sich sozial abzusichern. Das haben wir von der Ich-AG übernommen. Neun Monate lang wird eine Leistung in Höhe des erhaltenen Arbeitslosengeldes gewährt. Damit wurde ein Baustein des früheren Überbrückungsgeldes übernommen.
Die Geschäftsidee wird zweimal geprüft: am Anfang und nach neun Monaten. Damit ist es uns gelungen, die sensible Einstiegsphase der Jungunternehmer abzusichern.
Abschließend will ich Folgendes zusammenfassen: Erstens. Anträge - auch der Opposition - sind gut; denn sie ermöglichen die sachliche Auseinandersetzung in der Öffentlichkeit. Zweitens. Der Ruf nach neuen Gesetzen ist nicht das Allheilmittel, insbesondere wenn der Dialog zielführender ist und die Koalitionspartner die notwendigen Schritte bereits auf den Weg gebracht haben.
Drittens. Bei von uns gemeinsam entwickelten Gesetzen geht es darum, auch unseren Grundsätzen treu zu bleiben: entwickeln, bewerten, verbessern.
Vielen Dank.
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms:
Ich schließe die Aussprache.
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf Drucksache 16/2792 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Die Vorlage auf Drucksache 16/3091 soll zur federführenden Beratung an den Ausschuss für Arbeit und Soziales und zur Mitberatung an den Ausschuss für Wirtschaft und Technologie sowie an den Haushaltsausschuss überwiesen werden. Gibt es anderweitige Vorschläge? - Das ist nicht der Fall. Dann sind die Überweisungen so beschlossen.
[Der folgende Berichtsteil - und damit der gesamte Stenografische Bericht der 60. Sitzung - wird morgen,
Freitag, den 27. Oktober 2006,
an dieser Stelle veröffentlicht.]