61. Sitzung
Berlin, Freitag, den 27. Oktober 2006
Beginn: 9.01 Uhr
* * * * * * * * V O R A B - V E R Ö F F E N T L I C H U N G * * * * * * * *
* * * * * DER NACH § 117 GOBT AUTORISIERTEN FASSUNG * * * * *
* * * * * * * * VOR DER ENDGÜLTIGEN DRUCKLEGUNG * * * * * * * *
Präsident Dr. Norbert Lammert:
Die Sitzung ist eröffnet.
Ich begrüße Sie alle herzlich, liebe Kolleginnen und Kollegen, freue mich über die allgemeine Freude über die heutige Tagesordnung und habe heute auch keine Veränderungen der ausgedruckten Tagesordnung anzukündigen.
Wir können gleich, wie vereinbart, zu den Tagesordnungspunkten 22 a bis 22 f kommen:
a) Erste Beratung des von den Fraktionen der CDU/CSU und der SPD eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Stärkung des Wettbewerbs in der Gesetzlichen Krankenversicherung (GKV-Wettbewerbsstärkungsgesetz - GKV-WSG)
- Drucksache 16/3100 -
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Gesundheit (f)
Innenausschuss
Rechtsausschuss
Finanzausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und
Verbraucherschutz
Ausschuss für Arbeit und Soziales
Verteidigungsausschuss
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung
Haushaltsausschuss
b) Erste Beratung des vom Bundesrat eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Verbesserung von Fusionsprozessen von Krankenkassen
- Drucksache 16/1037 -
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Gesundheit (f)
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
c) Beratung des Antrags der Abgeordneten Frank Spieth, Klaus Ernst, Dr. Martina Bunge, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der LINKEN
Dem Gesundheitswesen eine stabile Finanzgrundlage geben
- Drucksache 16/3096 -
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Gesundheit (f)
Innenausschuss
Rechtsausschuss
Finanzausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und
Verbraucherschutz
Ausschuss für Arbeit und Soziales
Verteidigungsausschuss
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung
Haushaltsausschuss
d) Beratung der Unterrichtung durch die Bundesregierung
Gutachten 2005 des Sachverständigenrates zur Begutachtung der Entwicklung im Gesundheitswesen
Koordination und Qualität im Gesundheitswesen
- Drucksache 15/5670 -
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Gesundheit (f)
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung
e) Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des Vertragsarztrechts und anderer Gesetze (Vertragsarztrechtsänderungsgesetz - VÄndG)
- Drucksache 16/2474 -
Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Gesundheit (14. Ausschuss)
- Drucksache 16/3157 -
Berichterstattung:
Abgeordneter Dr. Harald Terpe
f) Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Gesundheit (14. Ausschuss) zu dem Antrag der Abgeordneten Frank Spieth, Dr. Martina Bunge, Inge Höger-Neuling, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der LINKEN
Erlass der Rechtsverordnung zum morbiditätsorientierten Risikostrukturausgleich gemäß § 268 Abs. 2 SGB V
- Drucksachen 16/1511, 16/3153 -
Berichterstattung:
Abgeordnete Dr. Carola Reimann
Ich weise darauf hin, dass wir später über das Vertragsarztrechtsänderungsgesetz sowie über die Beschlussempfehlung des Ausschusses für Gesundheit zum Antrag der Fraktion Die Linke betreffend Erlass der Rechtsverordnung zum morbiditätsorientierten Risikostrukturausgleich - ich vermute, jeder weiß ganz genau, was damit gemeint ist - namentlich abstimmen werden.
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für die Aussprache zwei Stunden vorgesehen. - Dazu höre ich keinen Widerspruch. Dann ist das so vereinbart.
Ich eröffne die Aussprache und erteile das Wort zunächst der Bundesministerin Ulla Schmidt.
Ulla Schmidt, Bundesministerin für Gesundheit:
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Der Gesetzentwurf zur Stärkung des Wettbewerbs in der gesetzlichen Krankenversicherung ist eine gute Grundlage, die Gesundheitsversorgung in Deutschland auch in Zukunft sicherzustellen.
Der Gesetzentwurf macht deutlich: Die große Koalition beugt sich nicht dem Druck der Lobbygruppen. Wir bringen Reformen auf den Weg, weil wir wissen, dass Gesundheitspolitik immer Politik für 82 Millionen Menschen in diesem Land ist und sich Einzelinteressen, so berechtigt sie im einzelnen Fall sein mögen, dem Gesamtinteresse unterordnen müssen.
Wir haben in Deutschland aus guten Gründen kein staatliches und auch kein rein privates Gesundheitswesen. Der Staat ist jedoch immer gefordert, den Rahmen für einen Wettbewerb um die beste und wirtschaftlichste Versorgung an geänderte Bedingungen anzupassen. Diese Gesundheitsreform kommt in schwierigen ökonomischen Zeiten ohne Leistungseinschränkungen für die Versicherten und ohne höhere Zuzahlungen für die kranken Menschen aus. Im Gegenteil: Wo es notwendig ist, wird der Leistungskatalog erweitert, etwa bei der besseren Versorgung sterbender Menschen, das heißt in der Palliativmedizin. Ich habe kein Verständnis dafür, wenn diese Hilfe für ein Sterben in Würde von manchen Funktionären als überflüssige Leistungsausweitung kritisiert wird.
Der vorliegende Gesetzentwurf beinhaltet mehrere Reformen: eine Strukturreform, eine Finanzreform, eine Organisationsreform und eine Reform der privaten Krankenversicherung.
Bei der Reform der Strukturen des Gesundheitswesens gehen wir den Weg der Modernisierung konsequent weiter. Wir schaffen mehr Wahlmöglichkeiten für die Versicherten: zwischen den Kassen, zwischen unterschiedlichen Tarif- und Versorgungsangeboten sowie zwischen den Leistungserbringern. Wir setzen Anreize zu wirtschaftlichem Verhalten von Patienten und Ärzten. Wir bauen die Möglichkeiten von Krankenkassen und Leistungserbringern aus, Einzelverträge zu schließen und die Grenzen zwischen den verschiedenen Versorgungsbereichen - niedergelassene Praxis und Behandlung im Krankenhaus; Versorgung durch Ärzte und durch Vertreter nicht ärztlicher medizinischer Berufe; Krankenhaus und Rehabilitation - zu überwinden. Dem dienen die erweiterten Möglichkeiten zur integrierten Versorgung, wobei in die integrierte Versorgung in Zukunft auch die Pflege einbezogen werden soll.
Damit die Bürgerinnen und Bürger Nutznießer dieser Veränderungen werden, verpflichten wir die Krankenkassen, ihren Mitgliedern Hausarzttarife anzubieten.
Wir stärken die Rechtsansprüche gesetzlich Krankenversicherter zum Beispiel auf Impfungen oder auf Leistungen der medizinischen Rehabilitation auch im Alter.
Wir wollen nicht, dass die Frage, ob für einen älteren Menschen, der einen Schlaganfall hatte und pflegebedürftig ist, alles getan wird, damit seine Selbstständigkeit so lange wie möglich erhalten bleibt, weiterhin im Ermessen der Krankenkassen liegt. Wir wollen, dass jeder ältere Mensch einen Rechtsanspruch darauf hat, dass alles getan wird, was zur Erhaltung seiner Selbstständigkeit und zur Wahrung seiner Würde notwendig ist.
Damit reagieren wir zugleich auf die demografische Entwicklung der Gesellschaft. Die Menschen leben länger. Wir alle haben die Chance, auch nach dem Eintritt ins Rentenalter noch 20 oder 30 Jahre ganz gut zu leben. Wir wollen, dass die Menschen, so lange es geht, in ihrer gewohnten Umgebung und so selbstständig wie möglich leben können.
Insofern geben wir mit diesem Gesetz eine Antwort auf die Herausforderung des demografischen Wandels.
Wir stellen die Vergütung der niedergelassenen Ärztinnen und Ärzte auf eine neue Grundlage. Auch dies tun wir, weil wir wollen, dass jeder Einzelne in diesem Land eine gute medizinische Versorgung erhält. Deshalb heben wir die geltenden Budgets zum 1. Januar 2009 auf. Wir wollen mit den Zuweisungen aus dem Gesundheitsfonds - er führt zu einer gerechteren Verteilung der Mittel, die in die gesetzliche Krankenkasse fließen - erreichen, dass krankheitsbedingte Mehrlasten nicht mehr zulasten der Ärzte gehen, sondern von der Versichertengemeinschaft getragen werden, damit eine gute Versorgung überall möglich ist.
Außerdem wird die ärztliche Leistung im Rahmen bestimmter Mengen zu Preisen in Euro und Cent vergütet.
Wir wollen, dass junge Ärzte und Ärztinnen planen können, wenn sie eine Praxis eröffnen. Die gut ausgebildeten Menschen in unserem Land sollen auch in die Regionen gehen, wo medizinische Versorgung nachgefragt wird. Wir wollen Anreize dafür setzen, dass die Mediziner und Medizinerinnen nicht nur nach München, Hamburg, Köln oder in andere Großstädte, sondern auch nach Brandenburg, Mecklenburg-Vorpommern, in den Bayerischen Wald, in die Eifel und andere Regionen gehen.
Die Veränderungen im Arzneimittelbereich und bei der Versorgung mit Hilfsmitteln stehen beispielhaft für mehr Wettbewerb. Rabatte und Ausschreibungen helfen, die Kosten zu senken. Auch die neue Kosten-Nutzen-Bewertung vermeidet künftig überflüssige Ausgaben. Es gibt viele Arzneimittel, die sehr viel Geld kosten. Wenn diese Arzneimittel tatsächlich dazu dienen, Krankheiten besser zu behandeln, dann werden die Kassen diese Preise bezahlen. Es gibt aber viele Arzneimittel, deren Wert und Nutzen nicht höher als der von anderen Mitteln ist, die heute auf dem Markt sind. Wir treffen für die Zukunft eine Regelung, nach der nur das, was mehr nutzt, mehr kosten darf. Ein Arzneimittel, das nicht mehr nutzt, darf nicht mehr als andere Mittel, die sich bereits auf dem Markt befinden, kosten. Auch das dient einer guten Versorgung der Patientinnen und Patienten. So setzen wir das Geld der Versicherten im Gesundheitswesen wirklich effizient und effektiv ein.
Wir entscheiden heute in zweiter und dritter Lesung, über Verbesserungen beim Recht der Vertragsärzte. Ärztinnen und Ärzte haben in Zukunft mehr Freiheit, zu entscheiden, wie und wo sie sich niederlassen. In Zukunft wird es möglich sein, dass ein Arzt oder eine Ärztin zum Beispiel eine Teilzulassung für eine Praxis erhält.
Damit werden wir auch beim Arztberuf dem Wunsch gerecht, Familie und Beruf besser vereinbaren zu können, und wir gehen einen Schritt dahin, dass gut ausgebildete Ärztinnen in unserem Lande die Chance haben, Beruf und Kindererziehung miteinander zu vereinbaren. Denn wir wollen Ärztinnen, die in Regionen dieses Landes gehen, in denen wir eine gute Versorgung brauchen. Die Freiheit, die ärztliche Tätigkeit teilweise im Krankenhaus und teilweise in der niedergelassenen Praxis ausüben zu können, eröffnet vielen Berufseinsteigern neue Perspektiven.
In Zukunft werden wir alles, was einer solchen Tätigkeit heute entgegensteht, beseitigen und alles, was hilft, die Grenze zwischen ambulanter und stationärer Tätigkeit zu überwinden, ermöglichen. Mit diesen Veränderungen bringen wir moderne Strukturen auf den Weg und wir werden den Arztberuf damit attraktiver machen.
Ich erlaube mir in diesem Zusammenhang eine Anmerkung zu den Drohungen mancher Funktionäre in diesen Wochen - insbesondere aus den Facharztverbänden -, man werde aus den Kollektivverträgen austreten. Ich rate dazu, sich einen solchen Schritt gut zu überlegen. Es gibt viele, die einen solchen Schritt begrüßen würden. Deshalb sage ich allen, die die Ärzte auf die Straßen schicken wollen: Weisen Sie auch darauf hin, was die Folgen des Austritts der Ärzte aus den Kollektivverträgen sein werden! Das würde sicherlich ein schnelles Ende der im Ausland weitgehend unbekannten doppelten Facharztstruktur bedeuten. Die Kassen würden den Sicherstellungsauftrag durch die Öffnung der Krankenhäuser erfüllen. Und die niedergelassenen Ärztinnen und Ärzte müssten sich dann um Verträge bewerben. Das kann man wollen und das kann man auch alles organisieren. Aber ich bin dafür, den Ärzten, die man auf die Straße schickt, reinen Wein bezüglich der Konsequenzen einzuschenken.
Dann werden wir weitersehen.
Das Kernstück der Reform ist die Neuordnung der Finanzierung mit der Einrichtung eines Gesundheitsfonds, der einen neuen Risikostrukturausgleich erst ermöglicht. Es wird viel von einem bürokratischen Monster geredet.
Dieser Vorwurf ist nicht berechtigt. Schon heute führt das Bundesversicherungsamt einen Finanzkraftausgleich, der unvollständig ist, und einen Risikostrukturausgleich durch, der ebenfalls unvollständig und nicht zielgenau ist. Mit dem Gesundheitsfonds werden wir das verbessern.
Wir organisieren diese Finanzströme so, dass dieselben Mitarbeiter des Bundesversicherungsamtes, die heute den Risikostrukturausgleich und den Finanzkraftausgleich durchführen, in Zukunft die Gelder der Versicherten bündeln und dafür sorgen, dass diese Gelder gerecht verteilt werden, damit überall in Deutschland - auf dem Land, in der Stadt und in jeder Region - eine gute medizinische Versorgung organisiert werden kann.
- Es wundert mich sehr, dass jemand von der Linkspartei
sich dagegen ausspricht, dass wir dafür sorgen, dass in die neuen Bundesländer Geld fließt, um Ärztinnen und Ärzte zur Niederlassung in diesen Regionen zu bewegen, was die Menschen dort brauchen. Darüber sollten Sie einmal nachdenken.
Unterschiedliche Krankheitsrisiken und unterschiedliche Einkommensstrukturen werden so ausgeglichen. Die Kassen erhalten aus dem Fonds das, was sie zur durchschnittlichen Versorgung ihrer Versichertenstruktur benötigen. Dann wird sich zeigen, welche Kasse tatsächlich wirtschaftlich mit dem Geld der Versicherten umgeht.
Ich sage Ihnen ganz deutlich: Wir wollen mehr Transparenz, damit die Versicherten sehr viel besser darüber urteilen können, ob die einzelne Kasse gut wirtschaftet oder nicht, ob eine Kasse sich bemüht, zum Beispiel Zusatzbeiträge zu verhindern, gute Versorgungsangebote zu organisieren, gute Tarife anzubieten und von den neuen Möglichkeiten der Preis- und Rabattverhandlungen Gebrauch zu machen.
Deswegen gehen wir diesen Weg. Viele Kassen werden damit gut zurechtkommen. Es wird viele Kassen geben, die Beiträge zurückerstatten können, und ebenso Kassen, die einen Zusatzbeitrag erheben müssen. Aber weil die Versicherten erstmals Vergleichsmöglichkeiten haben, werden sie wahrscheinlich mehr von ihrem Wechselrecht Gebrauch machen, als das heute der Fall ist. Die Versicherten werden sehen: Überall werden die gleichen Leistungen angeboten und die Risiken für die Kassen werden ausgeglichen. Deshalb können sich die Versicherten entscheiden, ob ihnen ihre Kasse einen Zusatzbeitrag wert ist oder ob sie in eine andere Kasse wechseln, in der sie keinen Zusatzbeitrag zahlen müssen. So funktioniert das. Ich glaube, das ist notwendig, damit von den Versicherten Druck auf die Kassen ausgeübt wird, vernünftig mit den Geldern umzugehen.
Ich sage an dieser Stelle ganz deutlich, dass ich kein Verständnis dafür habe, dass Vorsitzende von großen Kassen sagen, in Zukunft eine Politik machen zu wollen nach dem Motto: Wenn du arm bist, musst du früher sterben. - Sie sollten sich überlegen, ob sie an der Spitze einer Krankenkasse richtig sind, und sollten darüber nachdenken, dass sie ein Vielfaches des Gehalts ihrer Versicherten, die die Beiträge zahlen müssen, erhalten. - Das ist nicht die Krankenkasse, wie wir sie wollen.
Krankenkassen sollen vielmehr Anwälte der Versicherten sein, ihre Vertreter, die Lobby für die versicherten Menschen, die kranken Menschen. Sie müssen sich als Dienstleister in diesem Bereich begreifen. Ich glaube, da ist eine ganze Menge an Veränderungen nötig. Dazu gehört die Entschlackung der Strukturen in den Krankenkassen. Wir brauchen weder 250 Krankenkassen noch sieben Spitzenverbände mit sieben Vorständen. Hier gilt, dass alles so durchforstet und neu organisiert werden muss,
dass dabei möglichst wenig Versichertengelder ausgegeben werden; denn wir brauchen diese Gelder für die Versorgung kranker Menschen.
Der letzte Punkt: Wir reformieren auch die private Krankenversicherung.
Erstmals wird die private Krankenversicherung sich dem Wettbewerb stellen müssen. Man sieht schon jetzt, dass die Unternehmen Furcht davor haben. Die, die immer von Wettbewerb reden, fürchten den Wettbewerb mehr als der Teufel das Weihwasser. Die privat Versicherten erhalten den Rechtsanspruch, ihre Altersrückstellungen mitzunehmen; auch sie müssen das Recht haben, zu fairen Bedingungen von einem Unternehmen in ein anderes zu wechseln.
Wir werden allen nicht versicherten Menschen und allen, die originär zur privaten Krankenversicherung gehören, den Rechtsanspruch geben, ohne Ansehen ihres Krankheitsrisikos zu einem Basistarif versichert zu werden, wie es heute auch bei den gesetzlich Versicherten der Fall ist, und zwar zu bezahlbaren Preisen. Das ist einer der Punkte, über die ich besonders froh bin: dass in Zukunft in Deutschland niemand mehr ohne Krankenversicherungsschutz bleiben muss. Das ist eine der wichtigsten sozialpolitischen Errungenschaften, die wir mit diesem Gesetz auf den Weg bringen.
Viele Menschen - mehr, als wir glauben - warten darauf.
Ich bitte Sie, in den kommenden Wochen mit uns dieses Gesetz zu diskutieren. Diese Reform hat ein zentrales Anliegen. Es lautet: eine gute medizinische Versorgung für 82 Millionen Menschen. Dahinter müssen alle Lobbyinteressen zurücktreten. Das ist jedenfalls das Ziel, das sich die große Koalition gesetzt hat.
Vielen Dank.
Präsident Dr. Norbert Lammert:
Ich erteile das Wort dem Kollegen Daniel Bahr für die FDP-Fraktion.
Daniel Bahr (Münster) (FDP):
Herr Präsident! Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Was waren das für große Erwartungen an eine große Gesundheitsreform, die diese Koalition geweckt hat,
und was ist das für eine breite Ablehnungsfront, die dieser Reform entgegenschlägt! 90 Prozent der Bevölkerung lehnen die Reform ab. Sie sollten die Ablehnung nicht einfach ignorieren, meine Damen und Herren. Sie schützen sich, indem Sie die Kritiker als Lobbyisten bezeichnen und ihnen Besitzstandswahrung vorwerfen. Aber es sollte Sie doch beeindrucken, wenn ehemalige Gegner sich gegen diese Reform verbünden: Arbeitgeberverbände und Gewerkschaften,
gesetzliche Krankenkassen und Privatversicherungen, Ärzte und Patientenverbände lehnen in Erklärungen diese Reform gemeinsam ab. Das ist eine Leistung, die wir uns vor einem Jahr noch nicht hätten vorstellen können. Wir hätten uns nicht vorstellen können, dass der DGB und die Arbeitgeberverbände eine gemeinsame Presseerklärung gegen diese Reform der großen Koalition abgeben.
Wenn Sie schon den Betroffenen und Sachverständigen nicht glauben, Frau Schmidt, dann glauben Sie doch wenigstens Ihrem ehemaligen Kanzler. Schröder erklärte, die Gesundheitsreform sei kein großer Wurf. Das Kernstück der Gesundheitsreform, den so genannten Gesundheitsfonds, lehnt Schröder entschieden ab:
Das ist ein bürokratisches Monstrum, das der Programmatik beider Parteien widerspricht und den Versicherten nicht hilft.
Das ist wortwörtlich die Formulierung, die die FDP seit Anfang dieser Reform benutzt.
Frau Schmidt, Sie verhalten sich wie eine Geisterfahrerin, die ihre Mitfahrer damit beruhigen will, dass sie all die Hundert entgegenkommenden Autos als die wahren Geisterfahrer bezeichnet.
Die Bundesregierung geht mit diesem Gesetz den Weg in ein staatliches und zentralistisches Gesundheitswesen. Die Politik mischt sich künftig viel mehr ein und bestimmt, wie viel Geld das Gesundheitswesen bekommt und was gute bzw. schlechte Medizin ist. Die Folgen werden Mangelverwaltung und Wartelisten sein. Die Versorgung jedenfalls wird für die Patienten schlechter. Es wird für die Versicherten und Patienten nur teurer, aber nicht besser.
Das vorliegende Gesetz löst keines der Probleme, vor denen unser Gesundheitswesen steht. Denn die eigentlichen Ziele haben Sie während der monatelangen Verhandlungen aus den Augen verloren. Die Finanzierung des Gesundheitswesens belastet weiterhin den Arbeitsmarkt. Das Problem waren steigende Beitragssätze. Was haben Sie aber für nächstes Jahr angekündigt? - Steigende Beitragssätze. Sie von der Koalition sind dafür verantwortlich, wenn im nächsten Jahr die Krankenkassenbeiträge auf ein Rekordniveau steigen werden.
Heute steht eine namentliche Abstimmung zum Vertragsarztrechtsänderungsgesetz an. Heute stimmen Sie von der Koalition über einen massiven Beitragsanstieg ab. Selbst bei Ausnutzung der maximalen Frist bis 2008 für die Entschuldung der Krankenkassen werden die Allgemeinen Ortskrankenkassen im Westen im Jahr 2007 ihren Beitrag um etwa 1,5 Prozentpunkte erhöhen und die im Osten sogar um 2 Prozentpunkte. Die Versicherten werden nächstes Jahr ein Rekordniveau bei den Beitragssätzen erleben. Das ist die Folge Ihrer Politik.
Diese Reform leistet überhaupt keinen Beitrag zu einer nachhaltigen Finanzierung. Sie erreicht eben nicht die nötige Abkopplung von den Arbeitskosten. Die Probleme einer alternden Bevölkerung und der dadurch steigenden Kosten, die auf das Gesundheitswesen zukommen, ignorieren Sie doch. Wir können darüber streiten, wie die steigenden Kosten verursacht durch eine alternde Gesellschaft zu bewältigen sind. Aber Sie gehen das Problem schlichtweg gar nicht an. Stattdessen werden die Lasten in diesem Umlagesystem weiter auf die Zukunft geschoben.
Jetzt kommt die Forderung aus den Reihen der SPD und der CDU, es müssten mehr Steuergelder in das Gesundheitswesen gesteckt werden. Sie wollen damit nur kurzfristig die Löcher stopfen, die Sie selbst aufgerissen haben. Den Zuschuss aus der Tabaksteuer haben Sie selbst im letzten Jahr gestrichen. Mit der Mehrwertsteuererhöhung belasten Sie die Krankenkassen um 900 Millionen Euro.
Das ist alles andere als planungssicher und nachhaltig. Wenn Frau Merkel jetzt angesichts steigender Steuereinnahmen mehr Geld für die Krankenkassen fordert, aber Herr Steinbrück die Haushaltsrisiken und die Mehrausgaben für Auslandseinsätze und damit keine Möglichkeit für mehr Steuergelder für die Krankenversicherung sieht, dann können wir erkennen, worauf wir uns die nächsten Jahre einstellen müssen. Es wird einen Dauerstreit zwischen Finanzpolitik und Gesundheitspolitik geben. Die Bundesregierung entscheidet dann, wie viel Geld sie für das Gesundheitswesen zur Verfügung stellt. Es hängt vom Gutdünken des Finanzministers und Gesundheitsministers ab. Das ist Gesundheit nach Kassenlage.
Sie nennen das Gesetz Wettbewerbsstärkungsgesetz. Dabei hat das Gesetz genauso wenig mit Wettbewerb zu tun, wie ein Zitronenfalter Zitronen faltet.
Es gibt demnächst einen bundeseinheitlich festgelegten Beitragssatz. Die Bundesregierung entscheidet dann jedes Jahr, wie hoch der Beitragssatz für das nächste Jahr ist. Das ist eben keine Abkopplung von den Arbeitskosten.
Der Faktor Arbeit wird weiter belastet.
Was passiert denn, wenn der Beitragssatz erhöht werden muss? Schauen wir uns doch einmal an, wie die Diskussion aussehen wird. Die Bundesregierung wird sich jedes Jahr Landtagswahlen ausgesetzt sehen. Sie wird also jedes Jahr versprechen, die Beiträge werden sinken. So wird sie unter Druck stehen, die Beiträge nicht zu erhöhen, wenn die Kosten steigen. Das heißt, wir erleben jedes Jahr die Diskussion, wie durch eine kurzfristige Kostendämpfungspolitik oder Leistungskürzungen der Beitragsanstieg verhindert werden kann. Das macht die Finanzierung des Gesundheitswesens überhaupt nicht nachhaltig, sondern vom Gutdünken der Politik abhängig.
Was hat denn ein bundeseinheitlich festgelegter Beitragssatz mit Wettbewerb zu tun?
Dann soll das Geld über einen Gesundheitsfonds den Krankenkassen zugeteilt werden. Der Fonds ist wirklich ein ?Wundermittel“. Er darf 2008 nicht kommen, weil die Unions-Ministerpräsidenten Angst haben, dass dies ihre Landtagswahlkämpfe belastet.
Aber der Gesundheitsfonds soll 2009 kommen, um der Wahlkampfschlager für Ihre Wiederwahl zu sein. Diese Logik ist bestechend.
Dieser Geldtopf ist eine gigantische Geldsammelstelle, die der Umverteilung dient. Die Krankenkassen können zwar einen Zusatzbeitrag verlangen, er ist aber sehr eng begrenzt. Das wird Kassensozialismus.
- Wenn Sie mir das nicht glauben - die Bezeichnung ?Fonds“ hört sich ja so gut an -: Ich habe einmal im ?Duden“ nachgeschaut, was unter ?Fonds“ zu verstehen ist. An und für sich geht man davon aus, dass in einem Fonds Geld für schlechte Zeiten angesammelt wird.
Präsident Dr. Norbert Lammert:
Herr Kollege Bahr, Sie denken daran, dass Sie nur eine begrenzte Redezeit zur Verfügung haben. Sie reicht nicht aus, wenn Sie jetzt mit der Verlesung des Dudens beginnen.
Daniel Bahr (Münster) (FDP):
Ich darf trotzdem aus dem ?Duden“ zitieren? - Welche Definition für ?Fonds“ steht im ?Duden“? Die Gesamtheit der im gesamtwirtschaftlichen Interesse verwendbaren materiellen und finanziellen Mittel eines sozialistischen Betriebes; Definition für die sozialistische Planwirtschaft.
Dieser Fonds ist der Einstieg in die Planwirtschaft.
Zum Zusatzbeitrag. Die Kasse kann einen prozentualen oder pauschalen Zusatzbeitrag verlangen. Die Zusatzbeiträge dürfen aber nicht mehr als 5 Prozent der Gesamtkosten decken. Der Zusatzbeitrag darf nicht mehr als 1 Prozent des Einkommens des Versicherten betragen. Maximal darf der Zusatzbeitrag nur etwa 35 Euro im Monat betragen. Bis zu einem Zusatzbeitrag von 8 Euro wird die Einkommenshöhe nicht überprüft. Bei einem Zusatzbeitrag von 8,10 Euro muss das Einkommen allerdings überprüft werden, sodass die Krankenkassen quasi zu Finanzämtern werden. Ist der Versicherte ein Sozialhilfeempfänger, muss die Kasse auf einen Zusatzbeitrag verzichten. Bei einem Bezieher von Arbeitslosengeld II übernimmt die Arbeitsagentur den Beitrag. Ein Arbeitsloser hingegen muss den Beitrag in voller Höhe selbst bezahlen.
Das wird den Einzug des Zusatzbeitrages so kompliziert machen, dass er überhaupt nicht mehr Wettbewerb und Transparenz schafft, sondern nur für mehr Aufwand und Bürokratie sorgt.
Zu den Leistungserbringern. Den Ärzten wurde angesichts der massiven Proteste die Abschaffung der Budgetierung versprochen.
Präsident Dr. Norbert Lammert:
Herr Kollege Bahr, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Scholz?
Daniel Bahr (Münster) (FDP):
Bitte sehr.
Olaf Scholz (SPD):
Sie haben gesagt, ein Fonds sei Sozialismus. Mich würde interessieren, ob Sie schon einmal von Aktienfonds gehört haben. Ist das auch Sozialismus?
Daniel Bahr (Münster) (FDP):
Herr Kollege Scholz, im ?Duden“ stehen in der Tat zwei Definitionen für ?Fonds“.
Ich würde Ihnen vollkommen zustimmen, wenn Sie den Gesundheitsfonds so anlegen würden, wie wir es vorschlagen, nämlich wie einen Aktienfonds, damit mit dem angelegten Geld die im Alter steigenden Kosten beglichen werden können.
Sie nehmen aber nur eine Umverteilung vor. Sie verschieben die Lasten auf die kommenden Generationen. Sie betreiben doch gar keine Vorsorge für die alternde Bevölkerung. Sie legen doch gar keine Reserven an.
Den Ärzten wurde versprochen - Frau Schmidt hat das eben gesagt -, die Budgetierung abzuschaffen. Was steht aber in diesem über 500 Seiten schweren Gesetzentwurf? Das Geld wird zwar nicht länger budgetiert, aber die Leistung wird budgetiert. Sobald der Arzt mehr Leistung erbringt, als er erbringen darf, greift die Abstaffelung. Die Budgetierung ist de facto also überhaupt nicht abgeschafft. Es bleibt weiterhin bei der Budgetierung.
- Frau Widmann-Mauz, in dem Gesetz schreiben Sie eine kostenneutrale Umsetzung vor. Das heißt de facto, dass Sie bei der Budgetierung bleiben.
- Regen Sie sich nicht so auf. Gehen Sie einmal in ein Krankenhaus in Ihrem Wahlkreis. Reden Sie einmal mit den Verantwortlichen über das, was ihnen bevorsteht. Fragen Sie nach, wie sich das Gesetz auf die Versorgung in den Krankenhäusern in Ihren Wahlkreisen auswirkt. Pauschal kürzen Sie um 500 Millionen Euro. Sie kürzen de facto, indem Sie weniger Geld für hoch spezialisierte Leistungen und für die integrierte Versorgung ausgeben; es fließt möglicherweise später zurück.
Sie belasten die Krankenhäuser durch die Mehrwertsteuererhöhung mit weiteren 500 Millionen Euro. Sie belasten sie dadurch - das wollten wir alle -, dass die Krankenhäuser die neue Arbeitszeitregelung umsetzen müssen, durch die neue Tarifeinigung und durch die Umstellung der Fallpauschalensysteme. Wenn Sie die Krankenhäuser durch weitere Kürzungen belasten, wird die Versorgung in den Wahlkreisen vor Ort - bei Ihnen und bei uns - massiv verschlechtert. Reden Sie mit den Verantwortlichen in den Krankenhäusern. Sie werden Ihnen ihr Leid klagen. Sie werden Ihnen sagen, dass diese Reform die Krankenhäuser massiv belastet. Planungssicherheit bringt sie auf jeden Fall nicht.
Zur privaten Krankenversicherung. Die Union hat es als Erfolg verkauft, dass die private Krankenversicherung nicht abgeschafft wird. Das Ziel der SPD wird mit diesem Gesetz aber schrittweise erreicht: Wir werden private und gesetzliche Krankenversicherungen vereinheitlicht sehen. Die private Krankenversicherung erhält über den zwangsweise verordneten Basistarif wieder das Sachleistungsprinzip. Die private Krankenversicherung wird infolge vieler Teile dieses Gesetzentwurfs quasi zu einer gesetzlichen Krankenkasse. Demnächst muss ein Versicherter erst drei Jahre lang in der gesetzlichen Krankenversicherung gewesen sein und mehr als 4 000 Euro pro Monat verdient haben, bis er in eine private Krankenversicherung wechseln kann. Bedeutet das mehr Freiheit wagen? Führt das zu mehr Wahlfreiheit für die Versicherten? Für die Versicherten hat das zur Folge, dass sie, wenn sie drei Jahre später als bisher in eine private Krankenversicherung einsteigen, um 10 Prozent höhere Prämien zahlen müssen.
Nichtversicherte sollen das Recht auf Rückkehr in die gesetzliche Krankenversicherung bekommen. Ich als junger Mensch würde mir sagen: Ich steige aus der privaten Krankenversicherung aus. Wenn ich aber im Alter Gesundheitskosten verursache, weil ich zum Beispiel eine Krankheit habe, dann steige ich wieder in die private Krankenversicherung ein.
Ist das ein Beitrag zur nachhaltigen Finanzierung der gesetzlichen Krankenversicherung? Es ist alles andere als das.
Die Gesundheitspolitik ist und bleibt die Sollbruchstelle dieser Koalition. Liebe Kolleginnen und Kollegen von den Regierungsfraktionen, geben Sie Ihre Sturheit auf und beenden Sie den Weg in ein staatliches und zentralistisches Gesundheitswesen! Werden Sie einsichtig: Lieber keine Reform als eine solch schlechte Reform.
Vielen Dank.
Präsident Dr. Norbert Lammert:
Nächster Redner ist der Kollege Wolfgang Zöller, CDU/CSU-Fraktion.
Wolfgang Zöller (CDU/CSU):
Grüß Gott, Herr Präsident und liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir beraten heute einen Gesetzentwurf, der wesentlich besser ist, als von vielen behauptet.
Ich möchte nur auf vier wichtige Punkte hinweisen. Erstens. Dieses Gesetz bringt Verbesserungen für Patienten und Versicherte. Zweitens. Es führt zu mehr Wettbewerb zwischen den im Gesundheitswesen Beteiligten. Drittens. Es führt zu einer leistungsgerechteren Vergütung der Ärzte. Viertens. Es wird die Lohnzusatzkosten in Deutschland mittelfristig entlasten.
Lassen Sie mich die einzelnen Punkte erläutern. Erstens. Das Gesetz ist gut für die Patienten. Zum ersten Mal wird es im Rahmen einer Gesundheitsreform nicht zu neuen oder höheren Zuzahlungen kommen.
Zum ersten Mal wird es auch nahezu keine Leistungsausgrenzungen geben. Nur an den Folgekosten von Schönheitsoperationen und ähnlichen Maßnahmen werden sich die Krankenkassen künftig in geringerem Umfang beteiligen. Das ist, wie ich meine, eine vernünftige Regelung. Denn wir können die Solidargemeinschaft nicht mit den Kosten selbst verschuldeter Risiken belasten.
Es gibt also keine Leistungskürzungen. Vielmehr erbringen die gesetzlichen Krankenversicherungen in bestimmten Bereichen künftig mehr Leistungen.
Als Beispiel nenne ich nur die Palliativversorgung, die Mutter/Vater-Kind-Kuren, Impfungen und die Erstattung der Kosten einer geriatrischen Rehabilitation.
Wir setzen damit nicht nur an den gesundheitspolitisch, sondern auch an den gesellschaftspolitisch richtigen Stellen an. Die Verbesserung der Versorgung von Sterbenden nicht nur durch eine Schmerztherapie, sondern auch in Form von Sterbebegleitung ist eine humanere und ethisch vernünftigere Antwort als aktive Sterbehilfe, über die immer wieder diskutiert wird.
Eine Verbesserung der Voraussetzungen für die Teilnahme an Mutter/Vater-Kind-Kuren ist ein Beitrag zur Entlastung der Familien und ein wichtiger Bestandteil der aktuellen Diskussion über die Fälle von Vernachlässigung und Misshandlung von Kindern in zerrütteten Familien.
Zweitens. Das Gesetz ist gut für die Versicherten. Künftig werden alle Nichtversicherten von den gesetzlichen oder privaten Krankenversicherungen wieder aufgenommen. Niemand muss ohne Versicherungsschutz bleiben. Ein selbstständiger Handwerker zum Beispiel wird seinen Versicherungsschutz in Zukunft nicht verlieren, nur weil er vorübergehend Liquiditätsprobleme hat.
Darüber hinaus erhalten die Versicherten eine Vielzahl neuer Wahlrechte. In der gesetzlichen Krankenversicherung wird es Tarife mit Kostenerstattung und Selbstbehalten geben. Dadurch können die Versicherten den Umfang ihrer Leistungen stärker als bisher selbst bestimmen. Eine weitere wichtige Wahlmöglichkeit, die geschaffen wird, ist, dass die Patienten ihre Vorsorge- und Rehabilitationseinrichtungen eigenständig auswählen können.
Auch in der privaten Krankenversicherung wird es künftig mehr Wettbewerb und Wahlrechte geben. Nichtversicherte müssen zu einem bezahlbaren Basistarif wieder in die PKV aufgenommen werden. Personen, die bisher wegen Risiken nicht versichert wurden, müssen ebenfalls ohne Zuschläge zum Basistarif versichert werden. Wir werden auch das Recht der Privatversicherten auf einen nachteilsfreien Wechsel des Krankenversicherungsunternehmens verbessern, indem wir die Altersrückstellungen übertragbar machen. All dies wird frischen Wind auch in die PKV bringen, ohne die Beitragszahler zu überfordern oder die PKV als bewährtes System der Vollversicherung zu zerstören.
Unser Gesetz wird die Zusammenarbeit der Leistungserbringer verbessern. Stärker als bisher wird sich die medizinische Versorgung künftig am Bedarf und an den Interessen der Versicherten orientieren. Insbesondere an den Schnittstellen zwischen ambulanter und stationärer Versorgung wird es Verbesserungen geben. Die wichtigste Voraussetzung für Wettbewerb bleibt erhalten: die freie Arzt- und Krankenhauswahl. Ambulanter und stationärer Bereich werden stärker in Wettbewerb treten und sich besser miteinander abstimmen müssen. Alle Beteiligten werden zu einem Versorgungsmanagement verpflichtet. Dem Patienten soll ein reibungsloser Übergang zwischen Akutversorgung, Rehabilitation und Pflege ermöglicht werden - ohne unnötige Wartezeiten und Pausen der Behandlung. Dadurch wird es künftig weniger unnötige Liegezeiten im Krankenhaus geben. Die Patienten werden dort versorgt, wo es ihren Bedürfnissen am besten entspricht.
Unser Gesetz wird zu mehr Wettbewerb führen. Die Krankenkassen erhalten neue Möglichkeiten, mit Arzneimittelherstellern, mit Apothekern Vereinbarungen über Arzneimittelpreise zu treffen. Damit erreichen wir mehr Flexibilität, mehr Effizienz, mehr Qualität. Für neue Arzneimittel sollen die Mehrkosten nicht höher sein als ihr zusätzlicher Nutzen. Daher wird eine Kosten-Nutzen-Bewertung eingeführt. Dabei sollen auch Behandlungsalternativen berücksichtigt werden. Wir haben sichergestellt, dass sich die Kosten-Nutzen-Bewertung an internationalen Standards orientiert und die Hersteller somit nicht überfordert. Insbesondere wird die Kosten-Nutzen-Bewertung keine zusätzliche Voraussetzung für die Zulassung sein. Innovative Arzneimittel, die einen nachweisbaren Zusatznutzen haben, werden keinen Preisminderungen unterliegen. Deshalb wird der Anreiz, in Deutschland innovative Arzneimittel zu entwickeln, so erhalten bleiben.
Die Verordnung von kostenintensiven bzw. speziellen Arzneimitteln muss künftig in Abstimmung mit fachlich besonders ausgewiesenen Ärzten erfolgen. Die verordnenden Ärzte erhalten dadurch nicht nur eine fachliche Bestätigung ihrer Therapieentscheidung, sondern sind bei diesen Verordnungen künftig auch von Wirtschaftlichkeitsprüfungen befreit. Die freie Arztwahl und die freie Wahl der Therapie bleiben also erhalten. Der Vorsitzende des Gemeinsamen Bundesausschusses, Dr. Hess, hat erklärt, er erwartet einen weiteren positiven Effekt. Das Hin- und Hergeschiebe von Patienten zwischen Arztpraxen wird nicht mehr stattfinden.
Unser Gesetz entlastet die Ärzte von Bürokratie und schafft leistungsgerechtere Vergütung.
Wirtschaftlichkeitsprüfungen werden auf besonders eklatante Fälle von Unwirtschaftlichkeit konzentriert. Damit wird nur noch eine ganz eng begrenzte Zahl von Ärzten geprüft werden müssen.
In der ärztlichen Versorgung werden erste Schritte zur Abschaffung der Bedarfszulassung eingeleitet. In der zahnärztlichen Versorgung wird die Bedarfszulassung bereits mit diesem Gesetz abgeschafft.
Wir werden auch die ärztliche Vergütung von Bürokratie entlasten und für die Ärzte kalkulierbarer gestalten. Deshalb wird die bisher von Budgets und sinkenden Punktwerten geprägte Vergütung durch eine Euro-Gebührenordnung abgelöst.
In dieser werden vor allem Pauschalvergütungen vorgesehen. Für die Erbringung besonders qualifizierter Leistungen gibt es Honorarzuschläge.
Wichtig ist: Die bisherige Budgetierung, mit der an die Grundlohnsumme angeknüpft wurde, wird abgeschafft. Die Höhe der finanziellen Mittel hängt künftig von der Morbidität der Versicherten ab. Das heißt, bei einem Anstieg des Behandlungsbedarfs der Versicherten müssen die Krankenkassen mehr Honorar für die Ärzte zur Verfügung stellen.
Mit dem Gesundheitsfonds leisten wir einen Beitrag für eine nachhaltige Finanzierung der gesetzlichen Krankenversicherung.
Die Finanzierungsstrukturen der gesetzlichen Krankenversicherung werden mit diesem Gesetz auf eine neue Grundlage gestellt. Durch den Gesundheitsfonds wird eine wirtschaftliche Verwendung von Beitrags- und Steuermitteln garantiert und der Wettbewerb zwischen den Krankenkassen wird deutlich intensiviert. Die Versicherten verfügen künftig über klare Informationen zur Leistungsfähigkeit ihrer Krankenkasse.
Die Einführung des Gesundheitsfonds führt nicht zu einem bürokratischen Mehraufwand.
Die Beiträge werden weiterhin von den Krankenkassen eingezogen und an den Fonds weitergeleitet. Hierzu werden die bestehenden Strukturen beim Bundesversicherungsamt genutzt. Damit entstehen weder neue Behörden noch verlieren Mitarbeiter der Krankenkassen ihre Stellen.
Die Arbeitgeber haben ab dem Jahr 2011 die Möglichkeit, ihren Verwaltungsaufwand zu reduzieren, indem sie sämtliche Sozialversicherungsbeiträge für ihre Mitarbeiter an eine Stelle ihrer Wahl entrichten können. Die Beiträge der Arbeitgeber und der Mitglieder der Krankenkassen werden per Rechtsverordnung festgelegt. Damit werden die Belastungen der Arbeitgeber durch die GKV-Beiträge besser kalkulierbar. Der Arbeitnehmerbeitrag enthält weiterhin den heutigen Sonderbeitrag von 0,9 Prozent.
Außerdem können die Krankenkassen bei einem zusätzlichen Finanzbedarf von ihren Versicherten Zusatzbeiträge von bis zu 1 Prozent des Einkommens erheben.
Umgekehrt können die Krankenkassen künftig auch Überschüsse an ihre Versicherten auszahlen.
Letztlich wird der Gesundheitsfonds zusätzlich durch Steuermittel finanziert. Damit erfolgt eine teilweise Finanzierung gesamtgesellschaftlicher Aufgaben - insbesondere die beitragsfreie Mitversicherung von Kindern - über Steuermittel.
Mit diesen Elementen, der gesetzlichen Festschreibung der Beiträge, dem zusätzlichen Beitragsanteil der Versicherten und einer neuen Steuerfinanzierung, gelingt ein Einstieg in eine teilweise Entkopplung der Arbeits- von den Gesundheitskosten. Die gesetzliche Krankenversicherung wird auf eine langfristig stabilere, gerechtere und beschäftigungsfördernde Basis gestellt.
Noch ein Hinweis zu der Länderklausel. Um unverhältnismäßige regionale Belastungssprünge zu vermeiden, werden wir eine Konvergenzphase einführen. Unterschiedliche Einnahme- und Ausgabenstrukturen der Kassen werden in Schritten von maximal 100 Millionen Euro angeglichen. Diese Regelung ist wichtig; denn wir können regionale Besonderheiten und gewachsene Strukturen nicht gänzlich außer Acht lassen.
Ich bin deshalb froh, dass wir die Bedenken der Länder mit dieser Regelung zunächst einmal aufgefangen haben.
Meine sehr geehrten Damen und Herren, lassen Sie mich mit einem Zitat von Albert Einstein schließen:
Die reinste Form des Wahnsinns ist es, alles beim Alten zu lassen und gleichzeitig zu hoffen, dass sich etwas ändert.
Vielen Dank.
Präsident Dr. Norbert Lammert:
Das Wort hat nun der Kollege Gregor Gysi, Fraktion Die Linke.
Dr. Gregor Gysi (DIE LINKE):
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich habe Ihnen genau zugehört, Kollege Bahr von der FDP. Wenn Sie ernsthaft versuchen, über den Duden zu begreifen, was Sozialismus ist, dann haben Sie gar keine Chance.
Obwohl ich wenig Zeit habe, biete ich Ihnen an, Sie einmal in Ihrer Fraktion zu besuchen, um Ihnen zu erklären, was demokratischer Sozialismus ist.
Präsident Dr. Norbert Lammert:
Ihr freundliches Angebot setzt aber voraus, dass Sie wissen, was Sozialismus ist.
Dr. Gregor Gysi (DIE LINKE):
Ja, selbstverständlich, Herr Präsident. Das klingt vielleicht ein bisschen anmaßend. Aber ich habe bewusst nicht von Sozialismus gesprochen, sondern ich habe ?demokratischer Sozialismus“ gesagt. Das ist eine wichtige Einschränkung.
Ich hoffe, dass diese Bemerkungen nicht auf meine Redezeit angerechnet werden. Denn eigentlich geht es um die Gesundheitsreform.
Es stimmt: Nur dann, wenn man etwas tut, ändert sich etwas. Insofern hatte Einstein völlig Recht. Aber die von Ihnen vorgesehenen Änderungen wirken sich von sehr wenigen Ausnahmen abgesehen zum Nachteil der Versicherten und im Übrigen auch der Unternehmen sowie der Ärztinnen und Ärzte aus. Oder glauben Sie im Ernst, dass - wenn Sie Recht hätten und die Änderungen tatsächlich positiv wären - sie alle zu dämlich sind, um das zu begreifen? Sie alle stellen sich gegen Ihr Vorhaben, weil sie genau wissen, dass das nicht der Fall ist.
Übrigens ist die Pharmaindustrie die einzige Seite, die keine Kritik übt. Sie sollten einmal darüber nachdenken, welche Gründe das hat. Ich glaube, das hat seine Ursachen.
Sie haben viele Versuche gestartet, zu einer Gesundheitsreform zu kommen. Erst wurde mit Herrn Stoiber etwas verabredet. Am nächsten Tag hat ihm das, was gerade beschlossen worden war, aber nicht mehr gefallen. Dann wurde wieder etwas Neues vereinbart. So folgte Versuch auf Versuch. Herausgekommen ist keine Reform, sondern Gemurkse.
Sie haben allerdings das Denken hinsichtlich der Versicherung verändert. Das macht mir Sorgen; denn solche Veränderungen bleiben. Sie machen aus der Gesundheitsversicherung eine Autoversicherung.
- Ich werde es Ihnen erklären. Beim Auto ist es etwas anderes; da ist die bestehende Versicherungsform gerechtfertigt. Die Gesundheitsversicherung muss aber eine solidarische Versicherung sein.
Lassen Sie mich das an zwei Beispielen verdeutlichen. Zum einen sagen Sie: Wenn ein Versicherter kaum Versicherungsleistungen in Anspruch nimmt, dann kann er im nächsten Jahr Beiträge zurückbekommen. Zum anderen sagen Sie, man könne eine Teilkaskoversicherung abschließen. Das heißt, man zahlt zum Beispiel 500 Euro im Jahr selbst; die Versicherung soll nur die Kosten tragen, die diesen Betrag überschreiten. Auch in dem Fall sind geringere Beiträge zu zahlen.
Die Kosten im Gesundheitswesen nehmen aber nicht ab. Welche Aussage steht hinter Ihrem Vorhaben? Sie sagen: Jung und Gesund soll nicht länger für Alt und Krank haften.
Das ist aber ganz klar die Aufgabe der solidarischen Versicherung. Was glauben Sie denn, was Ihre Änderungen bedeuten? Der Gesunde erhält Beiträge zurück und der Versicherung fehlt dann das Geld zur Finanzierung der Kosten.
Das ist das Prinzip einer Autoversicherung; es ist aber kein geeignetes Prinzip für eine Gesundheitsversicherung. Damit verändern Sie den Geist dieser Versicherung. Das lehnen wir ab.
Sie sehen des Weiteren Strafaktionen vor, die völlig falsch sind. Ich nenne ein Beispiel. Für chronisch Kranke sollen die Zuzahlungen auf 1 Prozent ihres Jahreseinkommens beschränkt werden; für andere Kranke sind es 2 Prozent. Des Weiteren sehen Sie vor, dass jemand, der keine regelmäßige Krebsvorsorge betrieben hat und der an Krebs erkrankt, bestraft werden soll, indem er nicht mehr als chronisch krank anerkannt wird und deshalb Zuzahlungen bis zu 2 Prozent des Jahreseinkommens leisten muss.
Einem Menschen, der so leidet, diese zusätzliche Strafe aufzubürden, ist unmenschlich und indiskutabel.
Deshalb verstehe ich auch nicht, warum die FDP so unzufrieden ist. Eine unsolidarische Versicherung müsste doch eigentlich in Ihrem Sinne sein. Insofern verstehe ich den Ansatz Ihrer Kritik nicht.
- Das kann ich durchaus belegen.
Jetzt komme ich zum Gesundheitsfonds, den Sie zum 1. Januar 2009 einführen wollen. Sie thematisieren aber kaum, Frau Bundesgesundheitsministerin, dass alle gesetzlichen Krankenkassen, die sich diesem Fonds anschließen müssen, entschuldet sein müssen. Es gibt aber Krankenkassen mit erheblichen Altschulden. Wie sollen sie diese Schulden tilgen? Dafür gibt es nur einen Weg: die Erhöhung der Beiträge, und zwar sowohl für die Versicherten als auch für die Unternehmen. Das betrifft die so genannten Lohnnebenkosten, die in Wirklichkeit eine Abgabe der Unternehmen für die sozialen Sicherungssysteme sind.
Bis zum 1. Januar 2009 werden die Versicherungsbeiträge erheblich steigen. Das haben Sie mit keinem Satz erwähnt, Frau Bundesgesundheitsministerin. Das ist nicht in Ordnung; denn diese Belastung kommt auf die Unternehmen und die Versicherten zu.
Des Weiteren frieren Sie die Beiträge der Unternehmen ab 2009 ein, nicht aber die der Versicherten. Nach der von Ihnen geplanten Regelung haben die gesetzlichen Krankenkassen das Recht, von den Versicherten einen Zusatzbeitrag zu fordern, wenn die Mittel aus dem Gesundheitsfonds nicht ausreichen. Hier kommt wieder die alte Kopfpauschale der Union zum Vorschein. Sie haben aber die Menschen mit zwei Regelungen verwirrt. Alle denken, der monatliche Zusatzbeitrag dürfe nur 8 Euro betragen. Das ist aber ein Irrtum. Bei 8 Euro muss lediglich nicht darauf geachtet werden, ob die Grenze von 1 Prozent des Haushaltseinkommens überschritten wird.
Wenn die gesetzlichen Krankenkassen einen höheren Zusatzbeitrag von den Versicherten verlangen, dann muss die Grenze von 1 Prozent des Haushaltseinkommens berücksichtigt werden. Der Zusatzbeitrag kann also sehr viel höher als 8 Euro betragen.
Wenn das alles nicht reicht, dann haben Sie geregelt - Frau Bundesgesundheitsministerin, das haben Sie falsch dargestellt -, dass die Regierung die Beiträge erneut festsetzen darf, und zwar sowohl für die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer als auch für die Arbeitgeber.
Sie sagen, dass das Gesetz nicht zu Leistungseinschränkungen und Beitragserhöhungen führen werde. Entweder haben Sie Ihren eigenen Gesetzentwurf nicht richtig gelesen oder Sie sagen nicht die Wahrheit; denn das Gegenteil ist richtig.
Wenn eine gesetzliche Krankenkasse in Zukunft vor der Entscheidung steht, ob sie die Beiträge für die Versicherten erhöhen soll, dann muss sie dabei berücksichtigen, dass viele Versicherte nach einer angekündigten Erhöhung austreten und zu einer anderen gesetzlichen Krankenkasse wechseln werden. Die Krankenkasse wird deshalb in der Regel aber einen anderen Weg gehen: Sie wird die Leistungen einschränken. So haben Sie dann mit Ihrer Reform einen ständigen Leistungsrückgang bei der medizinischen Versorgung der Bevölkerung organisiert. Damit verschärft sich die Tendenz hin zur Zweiklassenmedizin. Die Kluft zwischen der ersten und der zweiten Klasse wird so nicht geringer, sondern größer werden.
- Sicher, manches schon, vieles nicht.
- Die Gesundheitszentren sind nichts anderes als ein schlechtes Plagiat der Polikliniken; die Idee haben Sie geklaut.
Der Vorteil der Poliklinik bestand darin, dass hier alle Fachärzte zusammen waren und die Patienten die Möglichkeit hatten, in einem Haus komplett versorgt zu werden. Sie behaupten nun, drei Ärzte seien ein Gesundheitszentrum. Sie sollten sich das Modell der Poliklinik einmal genau anschauen. Dann käme auch etwas Vernünftiges heraus.
Andere Sachen in der DDR waren viel schlechter. Ich bin ja nicht so beschränkt, dass ich immer nur in eine Richtung denken kann; ich kann differenzieren. Das ist ein großer Vorteil meines Werdeganges.
Lassen Sie uns doch eine vernünftige Gesundheitsreform machen! Man kann durchaus etwas verändern. Wir fordern in unserem Antrag eine Bürgerinnen- und Bürgerversicherung, die auf zwei Grundsätzen basiert. Der erste Grundsatz ist: Die Beitragsbemessungsgrenze darf nicht bei 3 652,50 Euro festgelegt werden. Wer mehr verdient, muss auch höhere Beiträge zahlen. Wäre es denn so katastrophal, wenn wir die Beitragsbemessungsgrenze schrittweise erhöhten?
Der zweite Grundsatz ist: Alle Einkommen müssen zur Beitragserhebung herangezogen werden. Alle, wir, die Abgeordneten sowie Anwälte und Ärzte, müssen in die gesetzliche Krankenversicherung einzahlen. Dann wäre das Ganze leicht zu finanzieren; denn dann hätte es so gut wie keine Auswirkungen mehr, wenn die Zahl der abhängig Beschäftigten abnähme und die Zahl der Selbstständigen zunähme. Alle müssen in die gesetzliche Krankenversicherung einzahlen, unabhängig von der Einkommensart. Dann hätten wir genügend Geld.
Wenn wir zudem die Lohnnebenkosten durch eine Wertschöpfungsabgabe für die Unternehmen ersetzten, dann sind wir deutlich weiter. Lassen Sie mich ein Beispiel nennen. Ein Gemüsehändler beschäftigt zwei Verkäuferinnen. Die Stadt reißt die Straße vor seinem Laden auf. Sein Umsatz halbiert sich. Solange er keine Verkäuferin entlässt, bleiben die zu entrichtenden Lohnnebenkosten unverändert. Nach unserem Vorschlag sinken seine Abgaben aber, weil seine Wertschöpfung abnimmt.
Präsident Dr. Norbert Lammert:
Herr Kollege, kommen Sie bitte zum Schluss.
Dr. Gregor Gysi (DIE LINKE):
Ich bin sofort fertig, Herr Präsident.
Wenn die Deutsche Bank aber einen riesengroßen Gewinn macht und 8 000 Leute entlässt und damit 8 000-mal Lohn spart, aber noch immer die gleiche Wertschöpfung hat, dann muss sie nach unserem Modell genauso viel in die sozialen Sicherungssysteme einzahlen wie zuvor. Das wäre sinnvoll.
Man kann das Gesundheitswesen solidarisch organisieren. Wir brauchen eine Bürgerversicherung. Ihre Reform wird aber leider dazu führen, dass der Grundsatz ?Arm stirbt früher“ zur Realität wird.
Präsident Dr. Norbert Lammert:
Nächste Rednerin ist die Kollegin Renate Künast, Fraktion des Bündnisses 90/Die Grünen.
Renate Künast (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Diese Gesundheitsreform verdient schon deshalb den Namen ?Gesundheitsreform“ nicht, weil sich mindestens die halbe Republik krank fühlte, als sie anschauen musste, wie Sie diese Reform verhandeln. Das Gezerre zwischen Bund und Ländern und die nächtlichen Verhandlungen machten schon beim Zuschauen krank. Herr Zöller heischte auf dem außerordentlichen Ärztetag auch noch um Mitleid, als er sagte: Letzte Nacht waren wir schon wieder bis 3 Uhr zugange. Ich kann Ihnen sagen: Alle Anwesenden hatten Mitleid mit ihm, sie hatten aber auch Mitleid mit der Republik; denn es wäre besser gewesen, Sie hätten nächtens nicht noch einmal Hand angelegt.
Es fiel einmal der Satz vom klaren Durchregieren. Die Ministerpräsidenten der Bundesländer, zum Beispiel Herr Stoiber und andere, waren ja gar nicht an der Geschichte beteiligt?
Hier hat uns die so genannte große Koalition ein so genanntes Reformwerk vorgelegt. Ich kann Ihnen sagen: Die Formel von der großen Koalition als großer Reformkraft geht an dieser Stelle definitiv wieder nicht auf. Das Gegenteil ist der Fall. Ihnen fehlt es an der Kraft zu mutigen und stimmigen Gesamtkonzepten.
Schauen wir uns einmal an, was Sie angeboten haben! Sie haben gesagt, es solle ein Konzept für nachhaltige und gerechte Finanzierung geben, der Wettbewerb solle intensiviert und die Lohnnebenkosten sollten dauerhaft auf unter 40 Prozent gesenkt werden. Herausgekommen ist wieder nur Merkel-Murks. Dieses Wort kann man jedes Mal benutzen.
Schauen wir uns die Finanzierung an! Sie haben sich nicht an die Kernprobleme herangetraut. Draußen verändert sich die Welt, es verändert sich das Erwerbsleben und es gibt unstete Lebensläufe. Es gibt genug Menschen, deren Einnahmen nicht aus dem klassischen Erwerbseinkommen stammen, sondern aus Aktienfonds, was auch die FDP heute endlich gelernt hat, aus Mieteinnahmen usw. Sie aber ändern nichts an der erwerbsorientierten Finanzierung der GKV. Das heißt, dass dieses definitiv keine große Reform ist. Das wäre vielleicht eine Reform für das letzte Jahrhundert gewesen, aber angesichts der heutigen Lebensläufe und Einkommenssituationen keine für das 21. Jahrhundert.
Die Privatversicherten bleiben weiter unter sich. Wir werden künftig nicht mehr, sondern weniger Solidarität haben.
Herr Zöller, was mich bei Ihnen verwundert hat, ist der Satz, es könne doch nicht sein, dass man in der Krankenkasse bei selbst verschuldeten Krankheiten solidarisch sein müsse. Ich wäre noch bereit, mich diesem Gedanken zu nähern, wenn Sie ihn logisch zu Ende denken würden. Wenn Sie schon sagen, jeder müsse beispielsweise Krebsvorsorgeuntersuchungen durchführen lassen, um nachher nicht finanziell belastet zu werden, dann denken Sie das als Gesundheitspolitiker einmal zu Ende. Dann müssen Sie dafür sorgen, dass zum Beispiel die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter in Gaststätten und Restaurants nicht zwangsweise passiv rauchen müssen.
Wir sehen, wie damit umgegangen wird. Dann müssten Sie aus Fürsorge gegenüber den Mitarbeitern sagen, dass Sie nicht mit dem Zentimeterband messen, wie groß die Kneipen sind, und dann müssten Sie klare Maßnahmen zum Arbeitsschutz ergreifen. Prävention gehört auch zur Gesundheitsreform.
- Frau Widmann-Mauz, Sie krähen fröhlich dazwischen. Ich weiß, wie Sie gekräht haben, als wir die Inhaltsstoffe von Tabak öffentlich gemacht haben. Ich weiß auch, wie Sie gekräht haben, als wir über das Tabakwerbeverbot geredet haben und es endlich umsetzen wollten.
Aber Sie haben die Chance, eine konsistente Politik zu machen.
Sie haben angekündigt, den Anstieg des steuerfinanzierten Anteils des Gesundheitsfonds zum 1. Januar 2010 zu regeln, weil Sie sich erst einmal bis 2009 retten wollen. Das glaubt Ihnen ehrlich gesagt kein Mensch. Was Sie heute, anderthalb Jahre vor den Landtagswahlen, nicht regeln, werden Sie drei Monate vor der Bundestagswahl definitiv auch nicht regeln. Das werden zumindest Herr Stoiber oder die Mitglieder des Andenpaktes zu verhindern wissen. Damit betuppen Sie uns und die Republik schon wieder. Warum? Weil Sie es logischerweise nicht schaffen werden - Sie schaffen es ja schon jetzt nicht -, kurz vor dem Jahr 2010 die beitragsfreie Mitversicherung von Kindern für die Jahre 2010 und danach zu regeln. Kein Mensch glaubt dies.
- Herzlichen Glückwunsch zu Ihrem Beitrag! Ich weiß, dass Sie alle neuerdings gemeinsam hier Ihre Nächte verbringen. Vielleicht wussten Sie damals, als die entsprechende Entscheidung anstand, wo der Bundesrat tagt. Ich habe das dumpfe Gefühl, dass ich damals auch Sie gesehen habe.
Meine These ist: Sie gehörten im Zweifelsfalle schon bei den Bundesratsverhandlungen zu denjenigen, die gebremst haben, Herr Zöller.
Ändern wird sich die Art und Weise der Beitragsfestsetzung. Künftig machen das nicht mehr die Krankenkassen, sondern der Staat. Damit haben Sie die Möglichkeit, Beitragssatzanhebungen administrativ zu verhindern. Auch ich meine, dass die Bundesministerin einige Reformmöglichkeiten hat - das ist richtig -, und zwar in Bezug auf die Höhe der Overheadkosten, die man sich leistet. Trotzdem haben Sie die Ausgabenentwicklung nicht im Griff. Der Umfang des Gesundheitsfonds wird - vorausgesetzt, er wird eingerichtet - nicht ausreichen. Ich glaube nicht daran, dass dieses bürokratische Monster kommen wird. Auch die Einrichtung dieses Fonds werden Sie noch vertagen.
Die logische Lösung wird am Ende darin liegen, dass eine immer stärkere Privatisierung der Gesundheitsrisiken erfolgt. Es wird also nicht mehr Solidarität, sondern mehr Privatisierung geben. Am Ende werden nur die Versicherten und nicht mehr die Arbeitgeber, nur diejenigen mit einem Erwerbseinkommen und nicht diejenigen, die über andere Einkommen verfügen, hinzuzahlen müssen. Das halten wir definitiv für keine solidarische Entwicklung.
Sie haben wie bei der Mehrwertsteuer zu dem Lösungstrick gegriffen, dass Sie sagen: Wenn wir als große Koalition es selber nicht wissen und auf dem kleinsten gemeinsamen Nenner nicht weiterkommen, dann fassen wir lieber dem kleinen Mann in die Tasche. - Das wurde bei der Mehrwertsteuer so gemacht und nun bei der so genannten Gesundheitsreform schon wieder.
Sie haben das Ganze ?Wettbewerbsstärkungsgesetz“ genannt. Ich sage Ihnen dazu ganz ehrlich: Ich traue zwar Ulla Schmidt zu, dass sie das einmal wollte. Aber das Ziel, die Stärkung des Wettbewerbs, ist Ihnen mittlerweile im wahrsten Sinne des Wortes abhanden gekommen. Was ist denn das für ein Wettbewerb, dem sich zum Beispiel die AOK Berlin, bei der viele Arbeitslose und chronisch Kranke versichert sind, demnächst aussetzen muss? Sie lassen die Krankenkassen und die Versicherten allein.
Wechseln werden diejenigen, die Geld haben.
Frau Merkel, diese Reform dient am Ende nicht den Bürgerinnen und Bürgern sowie den Patientinnen und Patienten. Sie ist nur Ausdruck eines starken Lobbyismus und der Macht der Landesfürsten. Die Beantwortung der Steuerfrage, der Frage, wie wir die beitragsfreie Mitversicherung von Kindern finanzieren - diesen Aspekt werden wir nicht vergessen -, haben Sie in Wahrheit auf den Sankt-Nimmerleins-Tag verschoben. An dieser Stelle hat die Gesundheitsreform versagt. An dieser Stelle hat Frau Merkel verloren, weil sie ihre Macht an Herrn Stoiber und andere in der Nacht abgegeben hat, als sie einknickte.
Dass dies am Ende bei den meisten Verbänden einen Boykott ausgelöst hat, verstehe ich. Denn Sie können niemandem ernsthaft zumuten, etwas, woran Sie nächte- und monatelang gearbeitet haben, in zwei, drei Tagen durchzurechnen. Niemand glaubt daran, dass dies eine gute Gesundheitsreform ist. Ich habe keinen gehört, der für diese Geldsammelstelle, für dieses bürokratische Monster, das Sie einrichten wollen,
ein gutes Wort einlegt. Das ist eine Reformattrappe, ein bürokratisches Monster. Jeder Handwerksbetrieb, bei dem so viele Fehler geschehen sind und so viele Nachbesserungen notwendig werden wie bei Ihnen, wäre längst insolvent. Sie sollten bei der Gesundheitsreform zurück auf null gehen und noch einmal neu anfangen.
Präsident Dr. Norbert Lammert:
Carola Reimann ist die nächste Rednerin für die SPD-Fraktion.
Dr. Carola Reimann (SPD):
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Nach den nicht immer einfachen Verhandlungen zu den Eckpunkten liegt nun der Gesetzentwurf zur Gesundheitsreform zur ersten Lesung hier im Bundestag vor. In den nun folgenden Ausschusssitzungen und vielfältigen Anhörungen werden wir uns als Fachpolitiker nicht nur mit den großen Linien beschäftigen, sondern auch in die Details gehen. Dann werden neben Fonds und möglichen Zusatzbeiträgen andere wichtige Inhalte dieser Reform stärker im Vordergrund stehen, nämlich die Maßnahmen, die vor allem die Versicherten betreffen und die bislang viel zu selten Erwähnung gefunden haben - zu Unrecht, wie ich finde; denn wir machen Reformen in erster Linie für die Versicherten, nicht für die Akteure und Interessengruppen im Gesundheitssystem.
Lassen Sie mich kurz auf einige dieser Punkte eingehen. Da ist zunächst und in allererster Linie der Umfang des Leistungskatalogs zu nennen. Man kann es gar nicht oft genug sagen: Dies ist seit langem die erste Reform, bei der der Leistungskatalog ausgebaut wird. Aufgenommen werden als Pflichtleistungen die Palliativmedizin - Herr Kollege Zöller hat das ausgeführt -, die geriatrische Reha, eine spezialisierte Rehabilitation, die es älteren Patienten ermöglicht, ihre Selbstständigkeit nach einer schweren Erkrankung zurückzuerhalten. Außerdem werden wir die empfohlenen Schutzimpfungen sowie Mutter/Vater-Kind-Kuren von Satzungs- und Ermessensleistungen zu Pflichtleistungen der Krankenkassen machen. Das alles sind ganz konkrete Maßnahmen, die sich für die Versicherten positiv auswirken.
Ausgebaut werden auch die Wahlmöglichkeiten für die Versicherten. Sie können künftig zwischen mehr Versorgungsformen wählen, aber auch zwischen mehr Versicherungs-, Selbstbehalt- und Kostenerstattungstarifen.
Ich möchte an dieser Stelle, weil das hier angesprochen wurde, noch kurz auf die Debatte zu den Vorsorgeuntersuchungen eingehen. Zur Klarstellung: Ziel der Regelung ist es, die Bereitschaft zur Wahrnehmung von Vorsorgeuntersuchungen auch durch finanzielle Anreize zu erhöhen. Wir wollen, dass Krankheiten frühzeitig erkannt und behandelt werden können. Das ist auch im Interesse der Versicherten. Wir wollen nicht, dass Menschen zusätzlich belastet werden, die bereits jetzt krank sind oder die die Vorsorgeuntersuchungen aufgrund ihres Alters nicht mehr in Anspruch nehmen können, Herr Gysi.
Es wird niemand rückwirkend verantwortlich gemacht. Dafür sieht der Gesetzentwurf klare Altersgrenzen vor.
Von einigen Stellen wurde hier dennoch wider besseres Wissen der Eindruck erweckt, es sollten Menschen bestraft werden, die durch ihre Krebserkrankung ohnehin schon schwer getroffen sind.
Natürlich hat jeder das Recht zur Kritik an unserem Entwurf. Ich verstehe auch, dass versucht wird, die eigenen Interessen so gut es geht - auch mithilfe öffentlichen Drucks - durchzusetzen. Dafür aber mit den Ängsten der Menschen zu spielen und gezielt Verunsicherung zu streuen, halte ich für verantwortungslos; dafür habe ich kein Verständnis.
Darüber hinaus werden die Patientinnen und Patienten von den Strukturreformen profitieren, beispielsweise von der besseren Verzahnung von ambulanter und stationärer Versorgung. Hier ist vor allen Dingen die Öffnung der Krankenhäuser für die spezialärztliche Behandlung im ambulanten Bereich zu nennen. Das hilft vor allem Menschen mit schweren oder seltenen Erkrankungen, für die eine gute Versorgung ganz besonders wichtig ist.
Weitere wichtige Maßnahmen im Strukturbereich sind die Erweiterung der integrierten Versorgung - wir werden die Pflege darin aufnehmen; diese Maßnahme wird von allen Seiten begrüßt -, die Weiterentwicklung der Programme für chronisch kranke Menschen, eine Kosten-Nutzen-Bewertung für Arzneimittel und vieles mehr. Besonders hervorheben möchte ich die erweiterten Vertragsmöglichkeiten, die für die Krankenkassen geschaffen werden. Dazu gehört zum Beispiel die Ausschreibung von Arzneimittelwirkstoffen und von Hilfsmitteln. Die Krankenkassen erhalten damit mehr Möglichkeiten, durch Verträge mit Leistungserbringern die Versorgung ihrer Versicherten optimal zu gestalten. Dazu gehören auch Preisverhandlungen mit der Pharmaindustrie.
Mit den Strukturreformen, den erweiterten Wahlmöglichkeiten und der Ausweitung des Leistungskataloges sind nur einige Inhalte dieser Reform genannt, von denen die Versicherten und Patienten konkret profitieren werden. Natürlich will ich an dieser Stelle nicht unerwähnt lassen, dass das nicht zum Nulltarif zu haben ist. Leistungskürzungen sind jedoch keine Lösung, weil sie vor allem die Schwachen und die Kranken treffen. Deshalb kommen sie für uns Sozialdemokraten nicht infrage.
Das haben wir bei dieser Reform durchgesetzt. Daran werden wir auch in Zukunft festhalten.
Betrachtet man aber die Finanzsituation der gesetzlichen Krankenversicherung, so fällt auf, dass die Probleme in erster Linie nicht nur auf der Ausgabenseite zu suchen sind. Die gesetzliche Krankenversicherung leidet vielmehr auch unter einem Einnahmeproblem. Das liegt nicht nur an sinkenden Beitragseinnahmen aufgrund von Arbeitslosigkeit, sondern auch am unterproportionalen Wachstum der Löhne und Gehälter und an der Erosion der normalen Arbeitsverhältnisse. Aus genau diesem Grund wollen wir Sozialdemokraten die Finanzen der gesetzlichen Krankenversicherung durch eine stärkere Steuerfinanzierung auf eine solidere und gerechter finanzierte Basis stellen. Die mit der Reform vorgesehene Steuerfinanzierung kann nur ein Einstieg sein. Sie ist bei weitem nicht so umfassend, wie wir uns das vorgestellt hatten; hier besteht nach wie vor Handlungsbedarf. Ich bin der Meinung, dass wir dieses Thema auch vor dem Hintergrund der positiven Prognose für die Steuereinnahmen möglichst bald wieder aufgreifen sollten.
Lassen Sie mich kurz auf die Situation der Ärzteschaft zu sprechen kommen. Entgegen dem Eindruck, der in den letzten Tagen durch einige Ärztefunktionäre erweckt wurde, enthält der vorliegende Gesetzentwurf für Medizinerinnen und Mediziner in unserem Gesundheitssystem Verbesserungen. Leider bleibt zurzeit wenig Raum für eine sachliche Auseinandersetzung, sodass ich hier die Gelegenheit nutzen will, einige der neuen Regelungen anzusprechen.
Wir werden mit der Reform das vor allem von den Ärzten so oft kritisierte Honorarsystem in der ambulanten Versorgung von Punktwerten auf Euro- und Centbeträge umstellen. Damit weiß in Zukunft jeder Mediziner, wie viel seine Leistung wert ist. Das entspricht einem seit langem vorgetragenen Wunsch der Ärztinnen und Ärzte im ambulanten Bereich.
Auch die Qualität erhält eine größere Bedeutung. So sind für die Erbringung besonders qualifizierter Leistungen in der Euro-Gebührenordnung Honorarzuschläge vorgesehen. Zukünftig werden die gesetzlichen Krankenkassen und nicht mehr die Ärzte das Risiko zunehmender Behandlungsbedürftigkeit der Patienten tragen. Weiterhin werden wir die Leistungserbringer von unnötiger Bürokratie entlasten. So werden überflüssige Kontrollen entfallen, Abrechnungsverfahren und Prüfverfahren vereinfacht und entschlackt. Das sind im Übrigen alles Vorschläge, die Ärztinnen und Ärzte in einer Arbeitsgruppe des Ministeriums selbst erarbeitet haben und die wir aufgreifen und umsetzen.
Die jüngsten Forderungen aus der Ärzteschaft nach höheren Honoraren halte ich jedoch für unrealistisch. Es geht nicht an, dass aus den Reihen der Ärzteschaft selbst kritisiert wird, die Reform löse auf der einen Seite die Finanzierungsprobleme nicht, auf der anderen Seite aber für die eigene Berufsgruppe munter höhere Honorare gefordert werden. Dann müssen die Ärztevertreter auch ehrlich sagen, welche Konsequenzen ihre Forderungen haben. Wir reden hier von Mehrbelastungen in einer Höhe von 7 Milliarden Euro. Diese 7 Milliarden Euro müssten die Versicherten bezahlen. Das geht nicht.
Ich appelliere an dieser Stelle nachdrücklich an alle, auch an die Ärztevertreter, zu einer sachlichen Debatte zurückzukehren. Wir sind nach wie vor zu einem sachlichen Dialog mit allen verantwortungsbewussten Ärztinnen und Ärzten und ihren Vertretern bereit.
Zusammen mit dem GKV-Wettbewerbsstärkungsgesetz beraten wir heute abschließend das Vertragsarztrechtsänderungsgesetz. Dies flexibilisiert das Arztrecht so, dass die Situation der Ärzte im niedergelassenen Bereich verbessert wird. Nehmen Sie deshalb bitte zur Kenntnis, dass es uns mit der Verbesserung der Situation der Ärzte entgegen aller Polemik sehr ernst ist. Mit dem Vertragsarztrechtsänderungsgesetz werden wir die gesetzlichen Rahmenbedingungen für die vertragsärztliche und die vertragszahnärztliche Leistungserbringung flexibilisieren und liberalisieren. Unseren Vorstellungen entsprechend soll ein Arzt bzw. eine Ärztin mehr Entscheidungsfreiheit darüber haben, wie er bzw. sie sich niederlässt und Leistungen anbietet. So wird es künftig möglich sein, wenn man beispielhaft von Berlin ausgeht, über die KV-Grenzen hinweg in Brandenburg eine Praxiszweigstelle einzurichten. Die Anstellungsmöglichkeiten von Ärzten und Zahnärzten werden erleichtert. Wir werden es ermöglichen, dass Vertragsärzte gleichzeitig auch als angestellte Ärzte in Krankenhäusern arbeiten können. Wir heben die Altersgrenze von 55 Jahren für den Zugang generell auf, in unterversorgten Gebieten auch die Altersgrenze von 68 Jahren für das Ende der vertragsärztlichen Tätigkeit. Damit ermöglichen wir den älteren Arztkolleginnen und Arztkollegen länger den Zugang in die Niederlassung und wir schaffen Entlastung für die unterversorgten Gebiete. Mit dem Gesetz eröffnen wir darüber hinaus zusätzlich finanzielle Anreize für Ärzte, sich in solchen unterversorgten Gebieten niederzulassen.
Kolleginnen und Kollegen, ich kann Sie alle deshalb nur aufrufen, dem Gesetzentwurf zur Änderung des Vertragsarztrechts zuzustimmen und in eine konstruktive und sachliche Beratung der Gesundheitsreform einzutreten.
Herzlichen Dank.
Präsident Dr. Norbert Lammert:
Das Wort erhält nun der Kollege Heinz Lanfermann für die FDP-Fraktion.
Heinz Lanfermann (FDP):
Sehr geehrter Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Man könnte ja über manche Regelung im Vertragsarztrechtsänderungsgesetz reden, wenn Sie dieses Gesetz nicht durch einen Zusatz vergiftet hätten, den Sie noch hineingebracht haben und der die Entschuldung der Krankenkassen betrifft.
Weil Sie in den nächsten Wochen das Vergnügen haben werden, dies Ihren Wählern in den Wahlkreisen zu erklären, will ich jetzt wenigstens einen kleinen Beitrag dazu leisten, dass Sie wissen, worüber Sie gleich, in etwa einer Dreiviertelstunde, abstimmen werden.
Krankenkassen dürfen grundsätzlich keine Schulden machen - das ist bekannt -, haben sie aber getan, und zwar im Umfang von mehreren Milliarden Euro, was die Aufsichtsbehörden pflichtwidrig zugelassen haben.
Die Kassen schieben den Schuldenberg vor sich her. Jetzt ist die Gemeinschaftspraxis ?Schmidt und Merkel“ auf die Schnapsidee gekommen, diesen Gesundheitsfonds einzurichten, der voraussetzt, dass die Kassen schuldenfrei sind. Also soll in maximal zwei Jahren eine Entschuldung im Umfang von 3,5 Milliarden Euro durchgeführt werden, was seriös nicht möglich ist.
Die scheinbare Lösung dieses Problems hat uns die Koalition im Hauruckverfahren auf den Tisch des Gesundheitsausschusses gelegt. Im Gesetz ist zusätzlich eine Neufassung des § 265 a SGB V - das ist in Art. 1 des Gesetzentwurfs - vorgesehen; das müssen Sie sich merken. In diesem Paragrafen ist bisher ein freiwilliges Verfahren dafür vorgesehen, wie sich Kassen in Notlagen gegenseitig helfen können.
Man hat die erste Lesung im Plenum umgangen, weil man die öffentliche Debatte scheute.
Die Neufassung des Paragrafen wird am Mittwochmorgen vorgelegt. Dann wird die Anhörung am Montag durchgesetzt.
Am Mittwoch wird beraten oder auch nicht. Heute, am Freitag, wird verabschiedet - mit Ihren Stimmen. Neun Tage für ein Gesetzgebungsverfahren, mit dem 3,5 Milliarden Euro verschoben werden! Was die Anhörung betrifft, so hatten die Betroffenen und Sachverständigen gerade mal knapp zwei Werktage Zeit für die Erarbeitung ihrer Stellungnahmen. So viel, Frau Merkel, zu Ihrem Motto: Gründlichkeit vor Schnelligkeit.
In Wahrheit ist das eine Zumutung für alle Beteiligten und eine Blamage für das Parlament, verursacht durch die rot-schwarze Gesundheitskoalition.
Der Inhalt des Paragrafen ist ebenso unseriös wie das Verfahren. Mehrere Milliarden Euro werden per Gesetz verschoben mit dem schlichten Hinweis auf die notwendige Solidarität. Dabei spielt bei den Kassen, die Geld, zum Teil viel Geld, erhalten sollen, rechtlich keine Rolle, ob sie jahrelang schlecht gewirtschaftet, Beitragssatzerhöhungen bewusst unterlassen, zu viel Personal beschäftigt oder - das soll ja auch vorkommen - zu hohe Vorstandsgehälter gezahlt haben. Bei den Kassen, die verpflichtet werden, zu zahlen, wird nach Abs. 3 dieses Paragrafen die unterschiedliche Leistungsfähigkeit berücksichtigt; das betrifft insbesondere Beitragssatz und Höhe der Finanzreserven. Das sind Augenblicksaufnahmen aus 2007. Nicht erwähnt und damit auch nicht der gesetzliche Maßstab ist die Vorgeschichte, also das Finanzverhalten in den letzten Jahren. Das heißt konkret: Auch oder gerade Kassen, die genauso verschuldet waren, aber die Zeit seit 2003 genutzt haben, ihre Schulden abzubauen - durch Beitragssatzerhöhungen, schmerzliche Einschnitte beim Personal, bei den Gehältern oder bei den Leistungen für die Versicherten -,
die jetzt also ordentlich dastehen, werden zu Zahlungen verpflichtet. Sie zahlen also im Prinzip doppelt - und Sie erklären das mit ?Solidarität“.
Man kann über Solidarität reden, wenn es darum geht, freiwillige Hilfen zu organisieren. Wenn man als Gesetzgeber aber sagt: ?Ihr müsst zahlen und fremde Schulden tilgen“, dann braucht es schon einen Rechtsgrund und der muss ein wenig konkret sein. Dass man sich einfach da bedient, wo noch etwas zu holen ist, finden wir zwar in bestimmten Parteiprogrammen, aber vor der Verfassung hat das noch keinen Bestand.
Dieser Paragraf ist eine Zumutung und die Begründung ist eine Anhäufung von Worthülsen. Dem Bundestag wird zugemutet, ein Gesetz zu erlassen, das es ohne konkrete Vorgaben den Bundesverbänden erlaubt, Kassen mit Sonderopfern - da geht es um mehrere Milliarden Euro - zu belegen. Mit einer untauglichen Vorschrift - schauen Sie einmal in Abs. 6 nach! - wird versucht, den gerichtlichen Rechtsschutz auszuhebeln.
Zudem wird ein fragwürdiges Verfahren der Abstimmung eingeführt. Als noch über die freiwillige Hilfe abgestimmt wurde, hing das Gewicht eines Verbandes bei der Mehrheitsbildung von der Höhe seiner Mitgliederzahl ab. Jetzt genügt eine Mehrheit der anwesenden Verbände - unabhängig von der Größe -, um mit einfacher Mehrheit Beschlüsse zu fassen. Wenn also die Vertreter einiger Verbände im Stau stehen, ist es möglich, dass Saarland, Hamburg, Bremen und Mecklenburg-Vorpommern beschließen, dass Niedersachsen, Baden-Württemberg und Bayern ihnen Geld zu zahlen haben. Gemäß diesem Paragrafen ist ein solcher Beschluss rechtswirksam. So machen Sie Gesetze.
Es wird auch nicht beachtet, welche Selbsthilfemöglichkeiten es eigentlich gibt. Vielleicht lesen Sie einmal das Urteil aus Karlsruhe zu den Berliner Finanzen. Muss man sich nicht zunächst selbst helfen - Immobilien veräußern, Vorstandsgehälter senken -, bevor man auf die Hilfe anderer zugreift?
Das Schlimmste ist: Wir wissen nicht einmal, wie viele Schulden die einzelnen Kassen haben. Man sagt, es handele sich hierbei um geschützte Sozialdaten. Uns liegen nur generelle Auskünfte vor. Anderen erlauben Sie aber, Geld hin- und herzuschieben. Es gibt einen Bestimmtheitsgrundsatz und Wesentlichkeitsgrundsatz. Ein Parlament muss schon selbst Regelungen treffen können. Man kann das nicht auf die Verbände abwälzen. Im Übrigen führt das nach aller Erfahrung dazu, dass Frau Schmidt nachher sagt: Ihr hättet das besser regeln können. Es ist eure Schuld, wenn das nicht läuft.
Dieses Gesetzgebungsverfahren und der neue § 265 a SGB V sind wirklich eine Blamage für dieses Parlament. Wenn ich mir die Gespräche der letzten Wochen vor Augen führe, stelle ich fest, dass sich die Abgeordneten der FDP und der CDU/CSU vollkommen einig darüber sind, dass die ganze Reform Murks ist und die Regelungen abzulehnen sind. Der einzige Unterschied ist: Wir sagen es öffentlich. - Durch Ihren Umgang mit diesem Thema laufen Sie, die CDU/CSU-Fraktion, wirklich Gefahr, sich wie Lemminge zu verhalten. Sie sollten stattdessen einmal offen Ihre Meinung sagen. Denken Sie an Leipzig; stoppen Sie dieses Gesetz!
Danke schön.
Präsident Dr. Norbert Lammert:
Das Wort erhält nun die Kollegin Annette Widmann-Mauz, CDU/CSU-Fraktion.
Annette Widmann-Mauz (CDU/CSU):
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen! Wenn ich mir heute anhöre, was die FDP von sich gibt,
und verfolge, was Ihr Partner in der Opposition, die PDS - Sie stimmen mittlerweile oft gemeinschaftlich ab -, zu erkennen gibt,
kann ich nur sagen: Es sollte eigentlich Ihren Wählern zu denken geben, in was für einer Koalition Sie sich in der Opposition befinden. Ich möchte Ihnen folgende Auskunft nicht ersparen - Sie sollten sie an Ihre Wählerinnen und Wähler weitergeben -: Die Umsetzung der Vorschläge, die Sie, Herr Bahr, heute im Rahmen dieser Reform unterbreitet haben - mit Mehrausgaben für die Honorierung der Ärzte und für die Umsetzung der Beschlüsse des Marburger Bundes in Bezug auf die Krankenhäuser -, würde zu einer Mehrbelastung der gesetzlichen Krankenversicherung führen, die eine Erhöhung der Beiträge um mehr als einen Prozentpunkt nötig machen würde. So viel zum Thema der Beitragssatzerhöhungen, zur Senkung der Lohnnebenkosten und zur FDP.
Präsident Dr. Norbert Lammert:
Frau Kollegin Widmann-Mauz, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Westerwelle?
Annette Widmann-Mauz (CDU/CSU):
Ja, natürlich.
Dr. Guido Westerwelle (FDP):
Frau Kollegin, da Sie wiederholt - nun auch coram publico im Hohen Hause - davon gesprochen haben, es gebe in der Opposition eine Koalition zwischen FDP und PDS, erlauben Sie mir folgende Frage: Ist Ihnen bekannt, dass in diesem Hause nur eine einzige Partei - Ihr Koalitionspartner, die SPD - vertreten ist, die sich in einer Koalition mit der Linkspartei befindet?
Annette Widmann-Mauz (CDU/CSU):
Sehr geehrter Herr Westerwelle, ich kenne die Parteienlandschaft in Deutschland. Mir ist bewusst, welche Landesregierungen in rot-roter Hand sind. Wir sind uns auch einig, dass wir nicht mit der Linkspartei koalieren wollen.
Bezogen auf Ihre Frage können wir uns aber auch anschauen, was dort, wo die FDP bis vor wenigen Monaten mit der SPD koaliert hat - in Rheinland-Pfalz -, bei der Schuldenaufsicht in Bezug auf die Beiträge der AOK gemacht wurde.
Sie sollten einmal vor der eigenen Haustüre kehren und mit Ihren Koalitionspartnern gute Politik machen. Dann wären wir schon ein gutes Stück weiter.
Diese Gesundheitsreform ist eine gute Investition; denn sie ist eine Investition in die Zukunftsfähigkeit unseres Gesundheitswesens. Das hat auch sehr viel mit Gerechtigkeit zu tun. Ich spreche von der Gerechtigkeit, die noch immer die besten Zinsen bringt, der Generationengerechtigkeit. Das heißt nichts anderes, als dass wir die Zukunft nicht im Heute verbrauchen dürfen. Das gilt für die Umweltpolitik und für die Staatsfinanzen, das heißt für den Bundeshaushalt. Es gilt aber eben auch für die Sozialhaushalte und für die gesetzliche Krankenversicherung; denn die Schulden in den gesetzlichen Krankenversicherungen sind die Beitragssatzerhöhungen von morgen.
Die Schulden in der gesetzlichen Krankenversicherung sind auch Maastricht-relevant. Deshalb ist es unsere Pflicht, die Schulden der Krankenkassen endlich abzubauen und die Bürden daraus nicht den späteren Generationen aufzuerlegen. Wir müssen den Schuldenabbau zielstrebig zu Ende bringen. Es gab nie Kritik daran, dass wir das bis zum Ende des nächsten Jahres schaffen wollen.
Dass es einzelne Kassen dabei nicht immer leicht haben werden, darauf werde ich noch eingehen.
Frau Kollegin Künast, Sie waren als ehemaliges Regierungsmitglied
mit verantwortlich für die Kabinettsbeschlüsse in rot-grünen Zeiten. Sie haben den Kassen verboten, die Beitragssätze anzuheben, obwohl das richtig gewesen wäre.
Sie haben sie in die Schulden getrieben. Heute aber lenken Sie in jeder Hinsicht von Ihren Versäumnissen ab und arbeiten nur mit bösartigen Unterstellungen. Das ist unseriös, bestätigt aber das, was Sie in der Vergangenheit in der Regierung getan haben.
Der Schuldenabbau ist nicht einfacher geworden, seitdem der Steuerzufluss aus dem Bundeshaushalt ebenfalls rückläufig ist. Das Stichwort Tabaksteuer ist bereits gefallen. Es muss deshalb klar sein, dass wir uns in dem Moment, in dem wir Spielraum im Bundeshaushalt haben, um die gesetzliche Krankenversicherung kümmern müssen, insbesondere um gesamtgesellschaftliche Aufgaben wie die beitragsfreie Versicherung der Kinder. Das ist richtig und notwendig.
Aber allein diese Erkenntnis entbindet uns nicht von der Verantwortung dafür, den Schuldenabbau voranzubringen. Deshalb werden wir den Verschuldungszeitraum für die Kassen strecken, die das in einem Kassenverband in der kurzen Zeit bis Ende 2007 alleine nicht schaffen können. Das geht aber nur, wenn ein schlüssiges Entschuldungskonzept vorgelegt wird.
Bei aller Generationengerechtigkeit - da stimme ich den Kollegen zu - darf natürlich die Leistungsgerechtigkeit nicht auf der Strecke bleiben. Warum sollten Kassen, die in der Vergangenheit die Beiträge angehoben haben, weil sie ihre Verschuldung abbauen mussten, jetzt anderen Kassen, die diesen Verpflichtungen nicht nachgekommen sind, helfen müssen, wenn sie dadurch selbst in eine Notlage kommen könnten? Deshalb muss trotz aller Solidarität im Rahmen der Entschuldungsaktionen die Wettbewerbsfähigkeit der einzelnen Zahlerkasse erhalten bleiben. Klar ist, dass eine Kasse die Entschuldung in zwei Jahren aus eigener Kraft eher schafft, als wenn wir den Zeitraum so kurz bemessen, wie es von uns ursprünglich angedacht war.
Ich habe Verständnis für jede Krankenkasse, die sich in der nächsten Zeit solidarisch zeigen muss. Ich denke da zum Beispiel an die Situation der AOK in Sachsen. Aber die gesetzliche Krankenversicherung ist eine Solidargemeinschaft. Das galt und gilt in Gesamtdeutschland seit der Einführung des Risikostrukturausgleichs und seit den milliardenschweren Zahlungen im Rahmen der West-Ost-Transfers. Jetzt muss das auch für den Schuldenabbau gelten, und zwar auch, wenn es in der Bundesrepublik einmal in die andere Richtung geht; denn Solidarität ist keine Einbahnstraße.
Was für die Schulden der Krankenkassen gilt, gilt an anderer Stelle auch für die Honorarsituation bei der Ärzteschaft. Ich habe großes Verständnis, wenn die niedergelassenen Ärztinnen und Ärzte nach 15 Jahren Budgetierung endlich eine verlässliche und leistungsgerechte Vergütung in Euro und Cent erhalten wollen. Wie sonst soll das Problem, in Ostdeutschland bzw. allgemein in unterversorgten Gebieten, sei es in ländlichen Gebieten, sei es in Gebieten mit Überalterung und hoher Arbeitslosigkeit, Menschen für den Arztberuf überhaupt noch zu motivieren und zu begeistern, auf Dauer gelöst werden? Deshalb beenden wir die Budgetierung und führen ein neues Vergütungssystem ein. In Zukunft wird es eine bundeseinheitliche vertragliche Gebührenordnung in Euro und Cent geben.
Was heißt das? Es heißt, Leistung in Mecklenburg-Vorpommern wird in Zukunft genauso vergütet wie in Stuttgart oder München. Schauen Sie sich doch an, wie stark heute die rechnerischen Werte für die Punkte - man bezahlt die Ärzte ja bisher in Punkten - in Deutschland differieren: zwischen 36 Cent in Sachsen und 44 Cent pro Punkt in der KV Trier. Diese Schwankungsbreite ist überhaupt nicht darstellbar. Sie resultiert aus der unterschiedlichen Finanzkraft in den Bundesländern; je nach Kassenart und Honorarverteilung ist sie in Wirklichkeit manchmal noch größer. Das ist ungerecht und diese Ungerechtigkeit müssen wir beseitigen.
Wir wollen, dass der Arzt in Brandenburg für den Ultraschall in Zukunft genauso viel Geld bekommt wie sein Kollege in Rheinhessen.
Deshalb habe ich auch nur wenig Verständnis für manche Aussagen, die ich derzeit auf Ärztetagen und Ärztedemos höre,
nach dem Motto: ?Was geht mich mein Kollege in Mecklenburg-Vorpommern an? Der Bundesdurchschnitt ist für mich zu wenig.“ - Dazu fällt mir eigentlich nur ein Zitat unseres ehemaligen Bundeskanzlers Konrad Adenauer ein:
Wir leben alle unter dem gleichen Himmel, aber nicht jeder hat den gleichen Horizont.
Erstens verkennen all diese Stimmen, dass auch für andere freie Heilberufe wie zum Beispiel Apotheker seit langem ein gleiches, bundeseinheitliches Honorar gilt, egal ob die Apotheke auf dem Kudamm oder in meinem Heimatdorf liegt. Zweitens nehmen wir insbesondere auf die unterschiedliche Kostensituation Rücksicht. Ärzte in besonders teuren Regionen wie München, Hamburg, Frankfurt oder Stuttgart mit hohen Mieten und höheren Personalkosten erhalten in Zukunft Zuschläge. Übrigens wird es auch Zuschläge für Ärzte in unterversorgten Gegenden geben. Drittens wird es über eine Konvergenzländerklausel zusätzliche Anpassungsregeln geben, um Sprünge zu vermeiden. Dass die FDP das neue Honorarsystem noch nicht ganz verstanden hat, mag vielleicht auch daran liegen, dass es zugegebenermaßen ein anspruchsvoller Text ist.
Meine Damen, meine Herren, es geht uns um neue Perspektiven für die Ärzteschaft und für ihre wirtschaftliche Existenz. Die Budgets müssen ein Ende haben. Aber wir müssen realistisch bleiben; denn die finanziellen Dimensionen und die Möglichkeiten, die wir haben, sind nun einmal begrenzt. Solidarität innerhalb der Ärzteschaft ist etwas, worauf auch wir bauen und was wir brauchen. Die Honorierung des Arztes - und damit die Sicherheit der Versorgung, die Sicherheit, dass sich überhaupt noch ein Arzt findet, der bereit ist, Leistungen in unattraktiven Gebieten anzubieten - darf in Zukunft nicht vom Anteil der privat Versicherten und der Gutverdiener in einer Region abhängen, sondern muss bundeseinheitlich geregelt sein.
Jetzt komme ich zu einem Punkt, der mich wirklich sehr beschäftigt. Wenn ich sehe, womit die Menschen derzeit konfrontiert werden, nämlich mit Information und am heutigen Morgen auch mit einem hohen Maß an Desinformation, dann kann ich manche Ängste in der Bevölkerung durchaus verstehen. Ich dachte, der Ausfall des DAK-Chefs in der letzten Woche, der zur Verunsicherung von Krebspatienten geführt hat, sei der einzige dieser Art. Aber Sie, Herr Gysi, haben das heute Morgen noch gesteigert. Da muss ich wirklich sagen: Nicht die Regelung ist unverantwortlich oder zynisch; im Gegenteil: Wir wollen, dass Menschen früher zur Früherkennung gehen, damit sie überhaupt nicht schwer an Krebs erkranken.
Nein, Ihre Polemik ist unverantwortlich und zynisch.
Sie verunsichern damit die Menschen, die Patientinnen und Patienten in unserem Land.
Die Menschen haben Sorge, ob die medizinische Versorgung in Zukunft bezahlbar bleibt, ob die Qualität gesichert ist und ob medizinischer Fortschritt auch in Zukunft allen zur Verfügung steht.
Die Reform eröffnet erstens neue Leistungen. Die Kollegen sind darauf eingegangen. Die Stichworte Palliativversorgung, Impfungen, Mutter-und-Kind-Kuren und geriatrische Rehabilitation sind schon gefallen. Es gibt zweitens keine Leistungsausgrenzung, mit Ausnahme der Folgekosten von Schönheits-OPs und Piercings. Ich denke, wir sind uns in diesem Haus einig, dass dieses in Zukunft von der Solidargemeinschaft nicht mehr finanziert werden soll.
Wir werden drittens die Unterversorgung durch einheitliche Beitragszuweisungen aus dem Fonds, durch ein neues Honorarsystem und durch die Flexibilisierung des Arztrechtes abbauen. Wir werden viertens darüber hinaus die Wahlmöglichkeiten für die Versicherten erweitern. Ich nenne hier spezifische Versorgungstarife in der hausärztlichen Versorgung, für chronisch Kranke, Tarife mit Selbstbehalten und Kostenerstattung.
Wir werden vor allen Dingen fünftens die Vergleichbarkeit der Kassen untereinander verbessern. Denn das ist das eigentlich Wichtige an dieser Reform. Der künftige Beitrag besteht eben nicht nur aus dem bundeseinheitlichen Beitrag, der vom beitragspflichtigen Einkommen erhoben wird. Er besteht aus zwei Bestandteilen: dem gerade genannten prozentualen Beitrag und dem Zusatzbeitrag, der in der Regel eine Pauschale sein wird. Jetzt werden die Menschen in Zukunft leichter durch Vergleichen erkennen können, ob die Leistung der Kasse den Preis in Euro und Cent auch wert ist.
Ich gebe durchaus zu, ich hätte mir die Preissignale durch diesen Zusatzbeitrag noch stärker gewünscht. Denn sozial Schwache sind ja von der Zahlung ausgenommen. Die Träger werden ihren Beitrag übernehmen. Ich kann verstehen, dass die Kassen vor so viel Transparenz Angst haben. Früher konnten sie hinter ihren Beitragssätzen viel verstecken, etwa solche Dinge wie eine Präventionswoche in einem Viersternehotel. Das wird in Zukunft nicht mehr finanzierbar sein. Dies ist richtig und gut. Denn wir brauchen das Geld für die notwendige gute medizinische Versorgung.
Erlauben Sie mir zum Schluss noch ein persönliches Wort. Verehrte Kolleginnen und Kollegen der SPD, schwere Wochen und Monate liegen hinter uns. Es gab harte Verhandlungen, in der keine Seite der anderen etwas geschenkt hat. Unter dem Strich hat die Koalition ihre Arbeit gemacht. Es hat sich gelohnt. Wir sind gemeinsam mehr aufgestanden, als man uns umwerfen wollte.
Wir legen heute ein gutes Reformwerk vor. Es lohnt sich, dass man es gründlich betrachtet und darüber diskutiert. Das werden wir tun.
Am Ende will ich nur noch sagen: Der einzige Mist, auf dem nichts wächst, ist der Pessimist. Wir gehen zuversichtlich in die konkreten Beratungen im Ausschuss. Darauf freuen wir uns.
Herzlichen Dank.
Präsident Dr. Norbert Lammert:
Ich erteile das Wort dem Kollegen Frank Spieth, Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.
- Entschuldigung, Fraktion Die Linke.
Frank Spieth (DIE LINKE):
Da war wohl der Wunsch Vater des Gedankens.
Präsident Dr. Norbert Lammert:
Da bin ich mir nicht so sicher.
Wir haben es ja rechtzeitig für das Protokoll korrigiert.
Frank Spieth (DIE LINKE):
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! In der Tat haben Sie sich in der großen Koalition nichts geschenkt. Aber vor allen Dingen werden Sie den Menschen, den Versicherten und den Patienten in diesem Land nichts schenken.
Mit dem heute hier zu behandelnden Vertragsarztrechtsänderungsgesetz will die Regierung unter anderem dem Ärztemangel, der sich insbesondere in großen Teilen der neuen Bundesländer weiter zu verschlimmern droht, begegnen und gleichzeitig bessere Voraussetzungen für die Gründung medizinischer Versorgungszentren schaffen. Diese Ziele und die dafür vorgeschlagenen Instrumente werden von uns in weiten Teilen begrüßt, wobei ich nicht verhehle, dass wir uns gewünscht hätten, wenn Sie unseren Änderungsanträgen im Ausschuss zugestimmt hätten.
Die von Ihnen jetzt vorgeschlagene Flexibilisierung und Liberalisierung bei der Zulassung von Ärzten ergibt nach unserer Auffassung doch nur als Ausnahmeregelung für unterversorgte Gebiete einen Sinn. Bei Ihrem Vorschlag besteht die Gefahr, dass dort, wo viele Ärzte sind, noch mehr Ärzte hinzukommen, aber dort, wo Ärzte fehlen, keine wesentliche Verbesserung erreicht wird und die Wege- und Wartezeiten der Patienten zum bzw. beim Arzt noch länger werden.
Deshalb wünschte ich mir, Sie hätten der von uns vorgeschlagenen Begrenzung auf die unterversorgten Gebiete zugestimmt.
Leider konnten Sie unserem Vorschlag nicht folgen.
Trotz der geäußerten Bedenken hätten wir gerne zugestimmt, und zwar gerade wegen der wichtigen berufsrechtlichen Verbesserungen für Ärzte, der Verlängerung der integrierten Versorgung sowie der Absicht, weitere medizinische Versorgungszentren zu errichten. Sie haben uns diese Zustimmung unmöglich gemacht, weil Sie am vergangenen Mittwoch im Hauruckverfahren Änderungsanträge zur Entschuldung der Krankenkassen eingebracht haben, die mit dem Inhalt des vorgelegten Gesetzes überhaupt nichts zu tun haben.
Es drängt sich der Verdacht auf, dass Sie diese brisante Angelegenheit mit möglichst wenigen Debatten durchpeitschen wollen,
damit Sie Ihren Gesundheitsfonds am 1. Januar 2009 starten können.
Sie wollen die Entschuldung der Krankenkassen innerhalb eines Jahres erreichen. Wir von der Opposition konnten auf der von uns durchgesetzten Anhörung am Montag gemeinsam mit den Krankenkassen und den Verbänden deutlich machen, dass dadurch bei einzelnen AOK - beispielsweise bei der AOK in Berlin oder bei der AOK im Saarland - Beitragssätze von über 21 Prozent erforderlich würden. In Mecklenburg-Vorpommern und in Rheinland-Pfalz würden Beitragssätze von knapp 18 Prozent erforderlich. Diese Beitragssätze würden das sofortige Aus der jeweiligen AOK bedeuten; denn jeder Versicherte, der die Grundrechenarten beherrscht, würde sofort zu einer anderen Krankenkasse wechseln.
Sie wollen die extremen Beitragssprünge dadurch vermeiden, dass Sie die Entschuldungszeit in Ausnahmefällen bis 2008 strecken und gleichzeitig Umlagen in der jeweiligen Kassenart erheben. Dieses Verfahren ist schon im jetzigen Recht vorgesehen, aber nur in Ausnahmefällen zur Anwendung gekommen. Jetzt wird es zur Regel; mit der Folge, dass alle AOK die Beitragssätze um 1 bis 2,5 Prozent erhöhen. Wenn Sie wollen, dass AOK geschlossen werden, dann sagen Sie das den Menschen offen.
Wenn eine Reduktion der Kassen Ziel Ihrer Politik ist, dann sollten Sie es hier, im deutschen Parlament, auch sagen.
Sie haben die Absicht, 2008 die Insolvenzfähigkeit von Krankenkassen einzuführen. Die dramatischen Konsequenzen dieser Regelung sind Ihnen offenkundig überhaupt nicht klar. Allein durch die Altersversorgungszusagen entstehen milliardenschwere Forderungen. Diese müssten in Zukunft in der Bilanz einer Krankenkasse ausgewiesen werden. Für den Großteil der Versorgerkassen würde das die sofortige Zahlungsunfähigkeit bedeuten. Das würde bei den betroffenen Kassen und bei allen anderen Beteiligten zu einer Katastrophe führen. Ich frage Sie: Wer zahlt im Konkursfall die verbleibenden Rechnungen von Ärzten, Apothekern, Orthopädieschuhmachermeistern und anderen Leistungserbringern? Wollen Sie alle Beteiligten mit in diesen Konkursstrudel reißen? Die Versicherten und Patienten können zwar in anderen Krankenkassen untergebracht werden; welche Folgen mit diesem Gesetz verbunden sind, scheint Ihnen aber vollkommen egal zu sein.
Ich halte diese Form der Entschuldung für unverantwortlich. Ich bin dafür, dass wir konsequent auf eine Entschuldung der Krankenkassen hinarbeiten; aber mit einem Entschuldungskonzept, in das Anstrengungen der Krankenkassen, der Kassenart, aber auch Leistungen des Bundes einbezogen werden.
Die Verschuldung der Kassen ist doch nicht auf deren unwirtschaftliches Verhalten zurückzuführen, sondern durch politische Vorgaben mitverursacht. Sie haben 1996 den Risikostrukturausgleich eingeführt. Dadurch werden aber nicht alle Belastungen ausgeglichen. Die Mitglieder einiger AOK machen 35 Prozent der Bevölkerung eines Bundeslandes aus; diese Kassen tragen aber 60 Prozent der Krankenhauskosten. Dafür kann man die Kassen doch nicht verantwortlich machen. Wie sollen sie aus der Schuldenfalle herauskommen?
Frau Ministerin Schmidt, Sie haben diese Entwicklung sehenden Auges zugelassen. Sie haben den im Jahr 2004 im Bundestag beschlossenen krankheitsorientierten Risikostrukturausgleich dadurch, dass Sie die betreffende Rechtsverordnung nicht erlassen haben, nicht in Kraft gesetzt. Damit tragen Sie einen ganz erheblichen Teil der politischen Verantwortung.
Sie haben der Öffentlichkeit noch im März dieses Jahres suggeriert, dass die Verschuldungsprobleme in der GKV gelöst seien. Sie sagten wörtlich:
Die gesetzliche Krankenversicherung hat einen Überschuss von rd. 1,78 Mrd. Euro erzielt. Das sind 800 Mio. Euro mehr, als nach voreiligen Spekulationen in der vergangenen Woche vermutet wurde. Damit konnte die Nettoverschuldung des Gesamtsystems der gesetzlichen Krankenversicherung bis Ende 2005 vollständig abgebaut werden.
Diesen Unsinn kann man kaum noch überbieten. Es ist unverantwortlich, die Öffentlichkeit auf diese Art zu täuschen.
Ich meine, das geht weit über die berühmte Hutschnur hinaus. Sie sollten endlich selbigen Hut nehmen. Das wäre eine vernünftige Lösung für dieses Land.
Präsident Dr. Norbert Lammert:
Herr Kollege, das wäre ein guter Schlusssatz gewesen.
Frank Spieth (DIE LINKE):
Herr Präsident, ich komme zum Schluss.
Wir schlagen dem Deutschen Bundestag vor, die Entschuldung unter anderem über Steuern vorzunehmen. Die Mittel dafür sind vorhanden. Im Jahre 2007 wollen Sie den Krankenkassen den Zuschuss aus den Einnahmen aus der Tabaksteuer in Höhe von 2,7 Milliarden Euro wegnehmen. Zur Entschuldung wäre dieser Betrag völlig ausreichend.
Schönen Dank.
Präsident Dr. Norbert Lammert:
Nächste Rednerin ist die Kollegin Birgitt Bender, Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.
Birgitt Bender (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die Koalition wirft Nebelkerzen. Sie loben sich für die Verbesserung einzelner Leistungen, die Sie in Ihrem Gesetzentwurf vorsehen und die man durchaus begrüßen kann. Aber über den Gesamtkontext der Reform reden Sie gar nicht, weil er Ihnen selbst peinlich ist.
Deswegen kann man nur sagen: Gehen Sie zurück auf Los, ziehen Sie kein Geld ein und fangen Sie von vorne an! Denn es ist doch so: Die Koalition ist gescheitert, sogar an ihren selbst gesetzten Zielen.
Wie hießen sie noch? Erstens war von der Abkopplung der Beiträge vom Faktor Arbeit die Rede.
Was geschieht jetzt?
Jedes Jahr wird von der Bundesregierung ein staatlicher Einheitsbeitrag festgesetzt. Das ist keine Abkopplung. Das ist Abhängigkeit vom Faktor Arbeit.
Den Faktor Ärger, den Sie sich dadurch jeden Herbst mit den Gewerkschaften auf der einen Seite und mit den Arbeitgebern auf der anderen Seite einhandeln, unterschätzen Sie, wie ich glaube, erheblich.
Zweitens hatten Sie versprochen, die Beitragssätze zu stabilisieren oder sie sogar zu senken. Stattdessen ist festzustellen: Noch nie waren die Beitragssätze so hoch wie im nächsten und übernächsten Jahr. Auch was die Erreichung dieses Ziels betrifft, gilt: Fehlanzeige.
Drittens wurde von beiden Seiten der Koalition eine verstärkte Steuerfinanzierung versprochen. Stattdessen werden sich die Zuschüsse an die Kassen nicht erhöhen, sondern sich sogar verringern. Sie reißen ein Milliardenloch in die Finanzen der gesetzlichen Krankenversicherungen. Ihre Luftbuchung im Zusammenhang mit dem Versprechen, in der nächsten Legislaturperiode mehr Steuereinnahmen dafür bereitzustellen, rettet Sie nicht.
Viertens hatte zumindest eine Seite der Koalition versprochen, die Solidarität zu stärken. Da war von der Bürgerversicherung die Rede. Was haben wir jetzt? Die privat Versicherten bleiben unter sich. Eine Stärkung der Solidarität findet nicht statt. Vielmehr werden die gesetzlich Versicherten noch mehr belastet, und zwar nur sie. Es gibt also weniger Solidarität als vorher. Auch dieses Ziel haben Sie also nicht erreicht.
Sie haben bereits einige Teilrückzüge angetreten: Der staatliche Einheitsverband der Krankenkassen soll nicht mehr auf Landesebene, sondern nur noch auf Bundesebene installiert werden.
Der Gesundheitsfonds soll keine Riesenbehörde mehr sein,
die die Beiträge einzieht, sondern nur noch eine Geldsammelstelle.
Aber davon wird es nicht besser.
Denn was soll der Fonds bewirken? Er soll vor allem dazu dienen, die Krankenkassen auf finanzielle Hungerkur zu setzen.
Sie wollen, dass die Krankenkassen von dem Geld, das sie eingenommen und an den Fonds bezahlt haben, weniger zurückbekommen, als sie zur Deckung ihrer Ausgaben brauchen. Den Rest sollen sie sich bei ihren Versicherten holen, und zwar über den Zusatzbeitrag, die Kopfpauschale.
Die Kopfpauschale ist für die Versicherten, insbesondere für die gering Verdienenden, eine soziale Drohung.
Für die Krankenkassen ist sie genau deshalb ein Folterinstrument. Das nennen Sie Wettbewerb. Es ist aber kein Wettbewerb, wenn man den Kassen zu wenig Geld in die Hand gibt.
Was wird passieren? Die Krankenkassen werden zunächst einmal alles tun, um die Erhebung des Zusatzbeitrags zu vermeiden: zum einen aufgrund des damit verbundenen Verwaltungsaufwandes, zum anderen, weil keine Krankenkasse ihre Versicherten in die Flucht schlagen will.
Wo werden sich die Krankenkassen das Geld, das ihnen fehlt, holen? Sie werden freiwillige Leistungen streichen und versuchen, bei der Versorgung Kranker zu sparen. Hier wird der Weg in die Rationierung gegangen.
Das geht zulasten der Patienten.
Sie loben sich immer dafür, diesmal habe es keine zusätzlichen Belastungen der Patienten gegeben.
Das ist doch nicht wahr! Die Versorgung wird sich verschlechtern.
Was Sie hier mit dem Fonds und dem Zusatzbeitrag machen, das ist kein Wettbewerb, das ist Wettlauf mit Fußfesseln. Wenn das Ziel nicht erreicht wird, dann sind die Patienten die Gekniffenen. Das muss man Ihnen vorwerfen.
Sie haben sich eine Hintertür offen gelassen - auch dieses ein Teilrückzug -:
Der Fonds soll nicht sofort kommen, sondern erst zum 1. Januar 2009. Es glaubt niemand hier im Haus - Sie selber eingeschlossen -,
dass Sie zu diesem Zeitpunkt die Chuzpe haben werden, eine solche Reformattrappe tatsächlich in Kraft zu setzen. Nur, bis dahin vergehen zwei Jahre, bis dahin vergeht wertvolle Zeit für eine echte Reform, die wir bräuchten. Stattdessen werden die Beiträge steigen und eine echte Reform wird es nicht geben.
Das ist Politikversagen.
Deswegen kann ich nur wiederholen: Gehen Sie zurück auf Los, fangen Sie von vorne an!
Präsident Dr. Norbert Lammert:
Für die CDU/CSU-Fraktion hat nun das Wort der Kollege Hans Georg Faust.
Dr. Hans Georg Faust (CDU/CSU):
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Ein Blick ins Gesetz erleichtert nicht nur die Rechtsfindung, sondern hilft auch in der politischen Diskussion, besonders wenn die Wogen der Kritik hochgehen und die Gischt die Ziele von Reformen zu vernebeln droht. Daher zitiere ich aus § 12 SGB V:
Die Leistungen müssen ausreichend, zweckmäßig und wirtschaftlich sein; sie dürfen das Maß des Notwendigen nicht überschreiten.
Des Weiteren ist § 72 SGB V zu entnehmen - das ist besonders im Zusammenhang mit den Ärzteprotesten hervorzuheben -, dass die ärztlichen Leistungen ?angemessen vergütet“ werden sollen. Damit sind die wesentlichen Rahmenbedingungen, nach denen Patienten Leistungen beanspruchen können und in denen Ärzte arbeiten, dargelegt. Die gefühlte Wirklichkeit scheint, was Patienten und Ärzte betrifft, eine vollkommen andere zu sein.
Im Mittelpunkt unserer politischen Bemühungen steht auch jetzt der kranke Mensch, der sich in seiner Not an seinen Arzt wendet. Also ist die Arzt-Patienten-Beziehung die wichtigste Beziehung in unserem Gesundheitssystem. Sie verdient allen Schutz, sie darf aber auch nicht missbraucht werden, um einseitige Interessenlagen unangemessen - ich betone: unangemessen - durchzusetzen. Wir ringen gemeinsam um eine Neuordnung des Systems, das diese sensible Arzt-Patienten-Beziehung trägt und bewahrt. Allen, die sich darum bemühen, den politischen Parteien, den Krankenkassen, den Leistungserbringern, der Gemeinschaft der Versicherten - dazu zähle ich auch und gerade die in einer privaten Krankenkasse Versicherten -, all denen darf man den ehrlichen Willen, zu einem guten Ergebnis zu kommen, nicht absprechen. 82 Millionen Menschen in Deutschland brauchen jetzt, bei einer immer älter werdenden Bevölkerung und rasantem medizinischen Fortschritt, zukunftsfähige Lösungen.
Ob der heute in erster Lesung eingebrachte Entwurf eines GKV-Wettbewerbsstärkungsgesetzes in all seinen Einzelheiten wesentliche Änderungen erfahren wird, wie er am Ende verabschiedet wird, wird der Verlauf des Gesetzgebungsverfahrens zeigen. Aber auch als Arzt halte ich es nach reiflicher Überlegung und vielen Gesprächen mit Betroffenen für richtig, mit dem parlamentarischen Verfahren zu beginnen. Den Gesetzentwurf jetzt in die Hand des Parlaments zu geben, war richtig. Richtig sind vor allem die Ziele dieser Gesundheitsreform: Die Entkopplung der Arbeitskosten von den Gesundheitskosten, die Stärkung des Wettbewerbs zwischen den Krankenversicherungen, die Stärkung der Eigenverantwortung und der Wahlmöglichkeiten der Versicherten und der Erhalt eines differenzierten Versicherungssystems.
Noch einmal: Die Leistungserbringung soll ausreichend, zweckmäßig und wirtschaftlich sein sowie das Maß des Notwendigen nicht überschreiten. Die Leistungserbringung soll aber auch unter Berücksichtigung des allgemein anerkannten Standes der medizinischen Erkenntnisse erfolgen. Das ist allen Unkenrufen zum Trotz in Deutschland immer noch so. Das gilt auch im Verhältnis zu den Leistungen, die Privatpatienten bekommen.
Ja, es gibt Unterschiede bei den Wartezeiten, die auf dem Problem der alten Budgets beruhen. Ja, es gibt Leistungen, die im Rahmen der individuellen Gesundheitsleistungen vom Patienten bezahlt werden müssen. Ja, es gibt in den Krankenhäusern neben Dreibettzimmern auch noch Einbettzimmer als Wahlleistung. Dass Kassenpatienten bei der medizinischen Versorgung im Vergleich zu den Privatpatienten generell benachteiligt werden, stimmt aber einfach nicht.
Dass das so ist, ist ein Verdienst der Ärzte in den Praxen und Krankenhäusern. Dafür haben sie eine angemessene Vergütung verdient und sie brauchen flexiblere und modernere Arbeitsbedingungen.
Ich weiß, dass den Kolleginnen und Kollegen das Wohl der Patienten am Herzen liegt. Es ist durchaus nachvollziehbar, dass den Ärztinnen und Ärzten Überlegungen zur Finanzierung des Gesundheitssystems in der akuten Behandlungssituation nachrangig erscheinen. Forderungen nach einer maximalen Gesundheitsversorgung können aber leider nicht erfüllt werden. Auch die Illusion unbegrenzter Ressourcen gehört einer anderen, einer heileren Welt an.
Es ist kein Zufall, dass neben der ersten Lesung des GKV-Wettbewerbsstärkungsgesetzes heute auch die abschließende Lesung des Vertragsarztrechtsänderungsgesetzes erfolgt. Mit diesem Gesetz schaffen wir Hand in Hand mit der Ärzteschaft die erforderlichen berufsrechtlichen Rahmenbedingungen. So werden Ärzte ohne Begrenzung andere Ärzte anstellen und neben ihrer Vertragsarzttätigkeit auch als angestellte Ärzte im Krankenhaus arbeiten können. Darüber hinaus wird es Ärzten nun erlaubt sein, auch an weiteren Orten außerhalb ihres Sitzes vertragsärztlich tätig zu sein. Ich bin davon überzeugt, dass wir mit diesem Gesetz einen richtigen Weg beschreiten.
Mit dem GKV-Wettbewerbsstärkungsgesetz lassen wir die Versicherten entscheiden, welche unterschiedlichen, auf sie zugeschnittenen Versorgungsformen sie wählen wollen. Neben den Wahltarifen gibt es in Zukunft die hausarztzentrierte Versorgung, die besondere ambulante ärztliche Versorgung oder die Möglichkeit, sich in integrierten Versorgungsformen behandeln zu lassen. Wettbewerb bedeutet aber auch, dass auf der Seite der Krankenkassen und insbesondere auf der Seite der Ärzte alle Leistungsfähigen und -willigen - einzeln oder gemeinsam, organisiert in Hausarztverbänden oder in Kassenärztlichen Vereinigungen - die gleichen Chancen bekommen.
Meine Damen und Herren, die Gesundheitspolitik ist selten vor Aufgaben in dieser Dimension gestellt worden. Am Ende unserer Operation müssen sich Finanzierung und Struktur unseres Gesundheitssystems aber auf dem Weg der Genesung befinden.
Noch ein Satz zu Ihnen, Frau Bender. Zur Ehrlichkeit gehört auch, zu sagen, dass die jetzt notwendigen Beitragssatzerhöhungen
- Frau Bender, ich habe Sie gerade angesprochen - mit unserer Reform nichts zu tun haben. Das wissen Sie auch.
- Zu diesen Beitragssatzerhöhungen wäre es auch so gekommen. Sie sind Folge Ihrer sieben Jahre langen gemeinsamen Gesundheitspolitik in einer anderen Koalition.
Es ist einfach unehrlich, die jetzt anstehenden Beitragssatzerhöhungen mit der Reform zu verbinden.
Das bringt uns in der Diskussion, mit der wir hier gemeinsam um das Ziel ringen, nicht weiter.
Präsident Dr. Norbert Lammert:
Ich bitte um Nachsicht, aber nach Überschreiten der Redezeit kann ich keine Zwischenfrage mehr zulassen, weil die Redezeit dadurch verlängert würde.
Das Wort hat jetzt die Kollegin Elke Ferner für die SPD-Fraktion.
Elke Ferner (SPD):
Herr Präsident! Liebe Kollegen und Kolleginnen! Die Einwürfe, die heute von der FDP gekommen sind, waren irgendwie nicht neu.
- Es ist merkwürdig: Immer dann, wenn ich rede, werden Sie ganz aufgeregt.
Ich möchte ein paar Zitate nennen:
Es war von wachsenden planwirtschaftlichen und dirigistischen Eingriffen im Gesundheitswesen die Rede.
- Das war 1992, als die FDP in der Regierung war! Ich könnte noch mehr Zitate anführen. Von vielen Akteuren im Gesundheitswesen wurden immer wieder - auch in Ihrer Regierungszeit - ähnliche Behauptungen wie heute vorgebracht. Aber siehe da: Das Gesundheitswesen funktioniert immer noch. Es ist entgegen Ihren Unkenrufen immer wieder deutlich geworden, dass es nicht um Staatsmedizin oder Gängelung geht. Was Ihnen seinerzeit in Ihrer Regierungszeit vorgehalten worden ist, wird nicht dadurch besser, dass Sie es jetzt wiederholen.
Aus meiner Sicht gibt es keine Alternative zur solidarischen Krankenversicherung. Über 70 Millionen Menschen sind bei den gesetzlichen Krankenkassen, über 8 Millionen Menschen bei den privaten Krankenkassen versichert. Ich halte die gesetzliche Krankenversicherung für das beste soziale System, das wir haben, weil in diesem System so solidarisch wie möglich geregelt wurde, wer für wen einsteht: die Jungen für die Alten, die Gesunden für die Kranken und die Einkommensstärkeren für die Einkommensschwächeren.
Das wird auch in Zukunft so bleiben, auch wenn insbesondere die FDP die Totalprivatisierung des Gesundheitswesens und damit auch der Risiken vorziehen würde.
Ich möchte hinzufügen, dass es sich im Deutschen Bundestag ähnlich verhält wie bei den Akteuren im Gesundheitswesen: Die Opposition ist sich einig in dem, was sie nicht will. Das gilt auch für die Kritik, die derzeit von zahlreichen Verbänden im Gesundheitswesen vorgebracht wird.
Aber weder aufseiten der Oppositionsfraktionen noch bei den Akteuren im Gesundheitswesen besteht Einigkeit darüber, was sie wollen.
- Zu Ihnen komme ich noch, Herr Lanfermann.
Inwieweit Sie sich zur Sache geäußert haben, ist eine andere Frage.
Zu den Zielen der Gesundheitsreform gehört, dass in Zukunft alle Menschen Versicherungsschutz haben und - unabhängig davon, wo sie versichert sind - Zugang zu medizinisch notwendigen Behandlungen und zum medizinischen Fortschritt erhalten sollen, dass die Effizienzreserven, die im System ohne Zweifel noch vorhanden sind, endlich gehoben werden - das hätten wir in großen Teilen schon mit dem Gesundheitsmodernisierungsgesetz erreichen können -, dass die Institutionen reformiert werden und der Bürokratieabbau fortgesetzt wird. Vor diesem Hintergrund frage ich mich, warum Sie sich nicht auch an den Bemühungen beteiligen, dies alles zu verbessern, statt das Vorhaben generell abzulehnen.
Herr Gysi hat den vorgesehenen Selbstbehalt als die schlechteste Lösung bezeichnet. Dabei hilft ein Blick in den Gesetzentwurf. Ihnen als Jurist sollte das nicht schwer fallen, Herr Gysi. Der Gesetzentwurf sieht vor, dass die Kassen Tarife mit Selbstbehalt anbieten können.
Die Versicherten können sich dafür entscheiden.
Des Weiteren sieht der Gesetzentwurf vor, dass keine Quersubventionierung zulässig ist und dass der GKV keine Mittel entzogen werden dürfen.
Die Tarife müssen entsprechend ausgestaltet werden.
Das entspricht unserer Auffassung: Wir haben bewusst darauf geachtet, dass sich Junge und Gesunde der Solidargemeinschaft nicht entziehen können.
Ein weiterer Punkt, den Herr Lanfermann angesprochen hat, betrifft die Entschuldung der Kassen. Angenommen, die gegenwärtige Regelung würde unverändert bleiben. Dann müssten die Kassen nach geltender Rechtslage bis zum Ende des nächsten Jahres schuldenfrei sein.
Mit den Regelungen, die wir nun beschließen wollen, werden die Kassen zwölf Monate mehr Zeit haben. Das betrifft insbesondere diejenigen, die die Entschuldung nicht aus eigener Kraft schaffen. In dem Zusammenhang möchte ich etwas anmerken. Heute Morgen war in den Tickermeldungen zu lesen, dass sächsische Unionsabgeordnete dem Gesetzentwurf nicht zustimmen wollen; denn wenn es zum Auffangen von schwächeren AOKen durch den AOK-Bundesverband kommen sollte, wäre die AOK Sachsen möglicherweise nicht bereit, dazu ihren Beitrag zu leisten.
Wenn wir ständig nach dem Motto ?Sachsen zuerst“ oder ?Bayern zuerst“ verfahren, dann hat das mit Solidarität nichts zu tun.
Solidarität bedeutet, dass man sich nicht nur beim Nehmen, sondern auch beim Geben solidarisch verhält. Es verwundert mich, eine solche Forderung gerade aus den Reihen der ostdeutschen Abgeordneten zu vernehmen. Schließlich hat die Bevölkerung im Westen Deutschlands seit der Wiedervereinigung sehr viel Solidarität gegenüber der Bevölkerung im Osten geleistet, und zwar nicht nur in den Sozialversicherungssystemen, sondern auch über den Solidaritätszuschlag; das muss so bleiben. Aber man muss auch bereit sein, etwas zurückzugeben, und darf nicht die Position vertreten: Wir nehmen nur und geben nichts.
Ich möchte jetzt auf die private Krankenversicherung eingehen; das ist ein beliebtes Thema. Ich habe heute Morgen den Tickermeldungen entnehmen dürfen, dass der Verband der privaten Krankenversicherung befürchtet, dass die Versicherten aufgrund der Tatsache, dass es nur das Recht gibt, in den Basistarif einzusteigen, nicht aber eine entsprechende Pflicht, erst dann wechseln, wenn sie krank sind. Wir haben nichts dagegen, eine Versicherungspflicht - ähnlich der für die gesetzlich Krankenversicherten - für diejenigen zu formulieren, die dem Rechtskreis der privaten Krankenversicherung zugehören. Es ist sicherlich nicht in Ordnung, wenn man nur bei Bedarf eine Krankenkasse wählt und sonst Beiträge spart. Aber es lag nicht an uns. Meine Damen und Herren von der Union, ich erneuere das Angebot, das wir bereits in den vorangegangenen Verhandlungen gemacht haben: Wenn Sie möchten, können wir das gerne machen. Dann gäbe es zumindest eine Versicherungspflicht für alle, egal ob gesetzlich oder privat krankenversichert.
Was in diesem Zusammenhang kolportiert wird, ist zum Teil nicht nachzuvollziehen. Die privaten Krankenversicherer behaupten, die Prämien müssten angehoben werden, weil die Altersrückstellungen im System portabel gemacht würden. Ich frage mich, womit sie rechnen. Warum sollen die Prämien steigen, wenn das Geld doch im System bleibt? Oder wird hier vielleicht eine ohnehin notwendige Anhebung in den nächsten Jahren vorbereitet - man muss sich nur die Ausgabensituation und insbesondere die Ausgabensteigerungen in der privaten Krankenversicherung anschauen -, um sie anschließend auf eine Reform zu schieben, die damit gar nichts zu tun hat?
Ich möchte noch in einem weiteren Punkt Sachaufklärung betreiben. Der Vorstandsvorsitzende der Kassenärztlichen Bundesvereinigung behauptet, durch den Basistarif gingen den Ärzten Honorare der privaten Krankenversicherung in Höhe von 2 Milliarden Euro verloren. Wenn man sieht, dass die Gesamtausgaben der privaten Krankenversicherung inklusive der Kosten für Krankenhausbehandlungen im Jahr 2004 gerade einmal 16,4 Milliarden Euro betragen haben, dann muss man annehmen, dass 50 Prozent der PKV-Versicherten in den Basistarif wechseln. Das ist aber absurd.
Ich bitte deshalb wirklich, uns keine Briefe mehr zu schicken - ob mit oder ohne Unterschrift -, in denen so getan wird, als ob man im Namen der Menschen spräche, sondern endlich zu einer sachlichen Diskussion zurückzukehren.
Des Weiteren wird behauptet, dass wir auf dem Weg in die Staatsmedizin seien. Bislang konnte mir aber niemand erklären, warum es zu mehr Regulierung führt, wenn zukünftig ein Spitzenverband weniger Aufgaben wahrnimmt als bislang die sieben Spitzenverbände. Die geplante Umschichtung der Aufgaben von oben nach unten, also die Übertragung von Aufgaben an die Krankenkassen, führt eigentlich nicht zu weniger, sondern zu mehr Wettbewerb. Offensichtlich ist aber niemand bereit, die Gesetzentwürfe richtig zu lesen.
Ich möchte auf den Wettbewerb und die dafür notwendigen Rahmenbedingungen zurückkommen. Wir werden mit Start des Fonds nicht nur die gesetzlichen Krankenkassen entschuldet haben. Vielmehr muss zeitgleich auch ein zielgenauer Risikostrukturausgleich eingeführt werden. Das ist die zwingende Voraussetzung dafür, dass es funktioniert. Es ist auch sichergestellt, dass der Fonds am Anfang zu 100 Prozent die Ausgaben der Kassen deckt.
Leider ist nicht gelungen - das sage ich auch ganz kritisch -, beim Zusatzbeitrag, soweit er erforderlich ist, einen Grundlohnausgleich einzuführen. Das konnten wir leider nicht vereinbaren. Ich bitte die Union, noch einmal darüber nachzudenken, ob man wirklich will, dass ausgerechnet die Kassen mit den einkommensschwachen Mitgliedern einen höheren prozentualen Zusatzbeitrag von ihren Mitgliedern erheben müssen als die grundlohnstarken Kassen. Das drückt nicht die unterschiedliche Wettbewerbsfähigkeit aus, sondern die unterschiedliche Einkommenssituation der Mitglieder. Das kann nicht im Interesse der Union sein.
Auch möchte ich noch einmal deutlich machen, dass der Zusatzbeitrag auf 1 Prozent des beitragspflichtigen Einkommens gedeckelt ist. Was die Frage betrifft, wie das bei denen gehandhabt wird, die Transferleistungen in Anspruch nehmen, so ist zu sagen, dass bei Leistungsempfängern nach SGB XII der Grundleistungsträger die Zusatzbeiträge übernimmt.
Im Rahmen des SGB II ist eine entsprechende Regelung vorgesehen.
Letzter Punkt. Wir als SPD hätten uns gewünscht, in eine wirklich nachhaltige Finanzierungsreform einsteigen zu können. Es hat nicht an uns gelegen, dass jetzt die Beitragssätze angehoben werden. Die Anhebung wäre aber ohne die Reform deutlich höher ausgefallen als jetzt. Auch das muss man dazu sagen. Wir werden nicht aufhören, dafür zu kämpfen, dass die Finanzierungsbasis der gesetzlichen Krankenversicherung auf breitere Schultern und eine gerechtere Basis gestellt wird, als das heute der Fall ist.
In diesem Sinne freue ich mich schon auf die Beratungen, die in den kommenden Wochen vor uns liegen. Ich möchte mich ausdrücklich bei den Mitarbeitern und Mitarbeiterinnen des Gesundheitsministeriums bedanken, die wirklich über das Maß dessen, was einem eigentlich zuzumuten ist, die Abgeordneten in den Verhandlungen unterstützt haben. Diese Unterstützung ist für das Haus auch jetzt noch nicht beendet.
Herzlichen Dank.
Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner:
Letzter Redner in dieser Debatte ist der Kollege Jens Spahn.
Jens Spahn (CDU/CSU):
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wer die öffentliche Debatte verfolgt und den Gesetzentwurf nicht gelesen hat - man gewinnt an der einen oder anderen Stelle den Eindruck, dass es auch hier einige an der Debatte Beteiligte gibt, die ihn noch nicht gelesen haben -, der könnte einen falschen Eindruck von diesem Gesetz bekommen, weil fast nur über Überschriften diskutiert wird, aber weniger über Inhalte, auf die viele der Vorredner, was Wettbewerb, Effizienz und auch eine bessere Versorgung angeht, schon hingewiesen haben.
Deswegen, liebe Kolleginnen und Kollegen von der FDP, möchte ich kurz auf das eine oder andere eingehen, was Sie gesagt haben. Sie haben schön öfter den Anspruch formuliert, eine kritische, aber konstruktive Opposition zu sein. Dazu würde auch gehören, die Bestandteile des Gesetzes anzuerkennen, die in die Richtung gehen, die Sie doch eigentlich wollen und immer gefordert haben, zum Beispiel Wahltarife, Selbstbehalttarife, Kostenerstattungstarife oder auch spezielle Versorgungstarife. Das anzuerkennen und mit zu diskutieren, gehörte hier dazu, nicht einfach nur pauschal Kritik zu üben.
Das Gleiche gilt für die Frage der Entschuldung. Sie sind doch eine der Parteien, die immer für Generationengerechtigkeit kämpfen. Dann müssten Sie eigentlich auch eine Partei sein, die nicht bereit ist, zu akzeptieren, dass die gesetzlichen Krankenkassen widerrechtlich Milliardenschulden aufgetürmt haben. Jetzt weigern Sie sich, einem Gesetz zuzustimmen, das genau diesem Schuldenmachen ein Ende setzt. Das ist heuchlerisch.
Daher kann ich - zumindest was diesen Bereich angeht - nur feststellen, dass die FDP nicht konstruktiv ist, sondern dass sie, was die platten Überschriften und den Populismus angeht, in einen Duktus fällt, den wir eigentlich von der anderen Seite gewohnt sind. Sie machen mit den Kollegen mit, wenn es um Praxisgebühr und die Rente ab 67 geht. Auch jetzt bei den Überschriften zur allgemeinen Gesundheitsreform ist es das Gleiche wie bei den linken Kollegen hier im Parlament.
Lieber Herr Gysi, ich muss ganz ehrlich sagen, wenn ich mir von jemandem nicht Zweiklassenmedizin vorwerfen lassen möchte, dann von einem Mitglied Ihrer Partei, die die direkte Nachfolgepartei der SED ist.
- Sie als PDS sind Rechtsnachfolgerin der SED. - Angesichts dessen, dass in der DDR nicht einmal 50 Prozent der Dialysepatienten vernünftig versorgt worden sind, weil die entsprechenden Medikamente nicht vorhanden waren, und es eine Nomenklatura, einen Kader, gab - das müssten Sie doch wissen -, die für sich westliche Medizin vorgesehen hat und für den Rest nicht, können Sie hier nicht von einer Zweiklassenmedizin reden.
Frau Kollegin Künast - ich weiß nicht, ob sie noch anwesend ist -, Sie haben für den kleinen Mann und wahlweise für die kleine Frau in einer Art und Weise und mit einem Geschrei gekämpft, wie wir es eher von der populistischen Linkspartei gewohnt sind, haben sich aber nur bedingt fachlich-konstruktiv in die Debatte eingebracht.
Ich wünsche mir für den parlamentarischen Prozess, den wir heute beginnen und den wir mit Anhörungen in großem Umfang und Beratungen im Gesundheitsausschuss begleiten werden, schlicht und ergreifend, dass die Opposition diesen Entwurf kritisch - das ist ihr gutes Recht -, aber konstruktiv mitgestaltet. Ich habe zum Beispiel nicht besonders viele Gegenvorschläge zu den Regelungen gehört, die wir angesichts der Beitragssatzentwicklung, die nun einmal so ist, wie sie ist, vorschlagen.
Ich kann Sie nur einladen, mitzudiskutieren.
Angesichts dessen, was wir aus den Beratungen und den Anhörungen mitnehmen, werden wir darüber nachdenken, an der einen oder anderen Stelle Formulierungen oder Vorhaben zu ändern. Aber eines ist klar: Die Ziele und die Richtung des Weges, den wir beschreiten, sind korrekt. Wir können jetzt konstruktiv-kritisch darüber reden, wie man das alles auf richtige Art und Weise umsetzen kann.
Danke schön.
Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner:
Ich schließe die Aussprache.
Interfraktionell wird vorgeschlagen, die Vorlagen auf den Drucksachen 16/3100 und 16/3096 zur federführenden Beratung an den Ausschuss für Gesundheit und zur Mitberatung an den Innenausschuss, den Rechtsausschuss, den Finanzausschuss, den Ausschuss für Wirtschaft und Technologie, den Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz, den Ausschuss für Arbeit und Soziales, den Verteidigungsausschuss, den Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend, den Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung sowie - betreffend die Drucksache 16/3096 - an den Haushaltsausschuss zu überweisen. Der Gesetzentwurf auf Drucksache 16/3100 soll ausschließlich gemäß § 96 der Geschäftsordnung an den Haushaltsausschuss überwiesen werden. Die Vorlagen auf den Drucksachen 16/1037 und 15/5670 sollen an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse überwiesen werden. Gibt es dazu anderweitige Vorschläge? - Das ist nicht der Fall. Dann sind die Überweisungen so beschlossen.
Tagesordnungspunkt 22 e. Bevor wir zur Abstimmung kommen, weise ich darauf hin, dass etliche Kolleginnen und Kollegen zu diesem Tagesordnungspunkt eine persönliche Erklärung nach § 31 der Geschäftsordnung schriftlich abgegeben haben.
Wir kommen zur Abstimmung über den von der Bundesregierung eingebrachten Entwurf eines Vertragsarztrechtsänderungsgesetzes, Drucksache 16/2474. Der Ausschuss für Gesundheit empfiehlt unter Ziffer I seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 16/3157, den Gesetzentwurf in der Ausschussfassung anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf in der Ausschussfassung zustimmen wollen, um das Handzeichen. - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist damit in zweiter Beratung mit den Stimmen der Koalition bei Gegenstimmen der FDP-Fraktion und der Fraktion Die Linke und bei Enthaltung der Fraktion des Bündnisses 90/Die Grünen angenommen.
und Schlussabstimmung. Die Fraktion Die Linke verlangt namentliche Abstimmung. Ich weise darauf hin, dass es im Anschluss daran noch eine namentliche Abstimmung gibt. Ich bitte die Schriftführerinnen und Schriftführer, die vorgesehenen Plätze einzunehmen. Sind die Plätze an den Urnen besetzt? - Das ist der Fall. Ich eröffne die Abstimmung.
Ist noch ein Mitglied des Hauses anwesend, das seine Stimme nicht abgegeben hat? - Dann schließe ich die Abstimmung und bitte die Schriftführerinnen und Schriftführer, mit der Auszählung zu beginnen. Das Ergebnis der Abstimmung wird Ihnen später bekannt gegeben.
Wir möchten gerne die Abstimmungen fortsetzen. Ich bitte die Kolleginnen und Kollegen, die Plätze einzunehmen. Ich möchte die Abstimmungsergebnisse überblicken können. Deswegen wäre es auch hilfreich, wenn die Minister zur Regierungsbank gehen würden.
Wir setzen die Abstimmungen fort. Wir kommen nun zur Ziffer II der Beschlussempfehlung des Ausschusses für Gesundheit auf Drucksache 16/3157. Der Ausschuss empfiehlt, eine Entschließung anzunehmen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung ist mit den Stimmen der Koalition bei Gegenstimmen der Opposition angenommen.
Tagesordnungspunkt 22 f. Abstimmung über die Beschlussempfehlung des Ausschusses für Gesundheit auf Drucksache 16/3153 zu dem Antrag der Fraktion Die Linke mit dem Titel ?Erlass der Rechtsverordnung zum morbiditätsorientierten Risikostrukturausgleich gemäß § 268 Abs. 2 SGB V“. Der Ausschuss empfiehlt, den Antrag auf Drucksache 16/1511 abzulehnen. Die Fraktion Die Linke verlangt namentliche Abstimmung. Ich bitte die Schriftführerinnen und Schriftführer, die vorgesehenen Plätze einzunehmen. Sind die Plätze an den Urnen besetzt? - Das ist der Fall. Ich eröffne die Abstimmung.
Ist ein Mitglied des Hauses anwesend, das seine Stimme noch nicht abgegeben hat? - Ich frage vorsichtshalber noch einmal: Haben alle Kolleginnen und Kollegen ihre Stimme abgegeben? - Das ist der Fall. Ich schließe die Abstimmung und bitte die Schriftführerinnen und Schriftführer, mit der Auszählung zu beginnen. Das Ergebnis der Abstimmung wird Ihnen später bekannt gegeben. Wir setzen unsere Beratungen fort.
[Der folgende Berichtsteil - und damit der gesamte Stenografische Bericht der 61. Sitzung - wird am
Montag, den 30. Oktober 2006,
an dieser Stelle veröffentlicht.]