73. Sitzung
Berlin, Donnerstag, den 14. Dezember 2006
Beginn: 9.00 Uhr
* * * * * * * * V O R A B - V E R Ö F F E N T L I C H U N G * * * * * * * *
* * * * * DER NACH § 117 GOBT AUTORISIERTEN FASSUNG * * * * *
* * * * * * * * VOR DER ENDGÜLTIGEN DRUCKLEGUNG * * * * * * * *
Präsident Dr. Norbert Lammert:
Die Sitzung ist eröffnet.
Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich begrüße Sie alle herzlich, wünsche Ihnen einen guten Morgen und uns intensive, gute Beratungen.
Vizepräsidentin Dr. Susanne Kastner und der Kollege Erich Fritz haben vor einigen Tagen jeweils ihren 60. Geburtstag gefeiert. Im Namen des ganzen Hauses gratuliere ich dazu nachträglich herzlich und wünsche alles Gute.
Die Kollegin Miriam Gruß hat ihr Amt als Schriftführerin niedergelegt. Das ist kein Anlass zum Jubeln. Als Nachfolger schlägt die Fraktion der FDP den Kollegen Florian Toncar vor. Sind Sie damit einverstanden? - Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.
Die Fraktion Die Linke teilt mit, dass der Kollege Hüseyin-Kenan Aydin aus der Parlamentarischen Versammlung des Europarates ausscheidet. An seiner Stelle soll der Kollege Dr. Hakki Keskin neues ordentliches Mitglied werden. Sind Sie auch damit einverstanden? - Das sieht sehr danach aus. Dann ist der Kollege Dr. Keskin als ordentliches Mitglied in die Parlamentarische Versammlung des Europarates gewählt.
Interfraktionell ist vereinbart worden, die verbundene Tagesordnung um die in der Zusatzpunktliste aufgeführten Punkte zu erweitern:
ZP 1 Aktuelle Stunde auf Verlangen
der Fraktion der FDP:
Rechtsstaatliche Anforderungen an eine
ordnungsgemäße Gesetzgebungsarbeit
ZP 2 Aktuelle Stunde auf Verlangen
der Fraktion des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN
zu den Antworten der Bundesregierung auf die
dringlichen Fragen Nr. 1 und 2 auf Drucksache 16/3790
(siehe 72. Sitzung)
ZP 3 Beratung des Antrags der Abgeordneten Markus Löning, Christian Ahrendt, Michael Link (Heilbronn), weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP
Mehr Ehrgeiz für die deutsche Ratspräsidentschaft - eine EU der Erfolge für die Bürger
- Drucksache 16/3832 -
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
(f)
Auswärtiger Ausschuss
Innenausschuss
Rechtsausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und
Verbraucherschutz
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und
Entwicklung
ZP 4 Weitere Überweisungen im vereinfachten Verfahren
(Ergänzung zu TOP 29)
a) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Übereinkommen vom 20. Oktober 2005 über den Schutz und die Förderung der Vielfalt kultureller Ausdrucksformen
- Drucksache 16/3711 -
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Kultur und Medien (f)
Auswärtiger Ausschuss
b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Katrin Göring-Eckardt, Brigitte Pothmer, Kerstin Andreae, weiterer Abgeordneter und der Fraktion des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN
Vermittlung in Selbstständigkeit durch Bundesagentur für Arbeit ermöglichen - Künstlerdienste sichern
- Drucksache 16/3779 -
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Arbeit und Soziales (f)
Ausschuss für Kultur und Medien
Haushaltsausschuss
ZP 5 Weitere abschließende Beratungen ohne Aussprache
(Ergänzung zu TOP 30)
a) Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses (2. Ausschuss)
Sammelübersicht 153 zu Petitionen
- Drucksache 16/3817 -
b) Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses (2. Ausschuss)
Sammelübersicht 154 zu Petitionen
- Drucksache 16/3818 -
c) Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses (2. Ausschuss)
Sammelübersicht 155 zu Petitionen
- Drucksache 16/3819 -
d) Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses (2. Ausschuss)
Sammelübersicht 156 zu Petitionen
- Drucksache 16/3820 -
e) Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses (2. Ausschuss)
Sammelübersicht 157 zu Petitionen
- Drucksache 16/3821 -
f) Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses (2. Ausschuss)
Sammelübersicht 158 zu Petitionen
- Drucksache 16/3822 -
g) Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses (2. Ausschuss)
Sammelübersicht 159 zu Petitionen
- Drucksache 16/3823 -
h) Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses (2. Ausschuss)
Sammelübersicht 160 zu Petitionen
- Drucksache 16/3824 -
j) Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses (2. Ausschuss)
Sammelübersicht 161 zu Petitionen
- Drucksache 16/3825 -
ZP 6 Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Kultur und Medien (22. Ausschuss)
- zu dem Antrag der Abgeordneten Hans-Joachim Otto (Frankfurt), Christoph Waitz, Dr. Karl Addicks, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP
Keine Rundfunkgebühr für Computer mit Internetanschluss - die Gebührenfinanzierung des öffentlich-rechtlichen Rundfunks grundlegend reformieren
- zu dem Antrag der Abgeordneten Dr. Lothar Bisky, Dr. Lukrezia Jochimsen, Dr. Petra Sitte, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der LINKEN
Moratorium für PC-Gebühren - sofortige Neuverhandlung des Rundfunkgebührenstaatsvertrages
- zu dem Antrag der Abgeordneten Matthias Berninger, Grietje Bettin und der Fraktion des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN
PC-Gebühren-Moratorium verlängern
- Drucksachen 16/2970, 16/3002, 16/2793, 16/3792 -
Berichterstattung:
Abgeordnete Reinhard Grindel
Jörg Tauss
Hans-Joachim Otto (Frankfurt)
Dr. Lukrezia Jochimsen
Grietje Bettin
ZP 7 Beratung des Antrags der Abgeordneten Dr. Michael Meister,
Otto Bernhardt, Eduard Oswald, weiterer Abgeordneter und der
Fraktion der CDU/CSU
sowie der Abgeordneten Reinhard Schultz (Everswinkel), Bernd
Scheelen, Ingrid Arndt-Brauer, weiterer Abgeordneter und der
Fraktion der SPD
Bezeichnungsschutz für Sparkassen gesichert
- Drucksache 16/3805 -
ZP 8 Beratung des Antrags der Abgeordneten Dr. Georg Nüßlein, Dr. Christian Ruck, Dr. Wolf Bauer, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der CDU/CSU sowie der Abgeordneten Dr. Bärbel Kofler, Dr. Sascha Raabe, Gabriele Groneberg, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD
Chancen und Herausforderungen der Osterweiterung der Europäischen Union (EU) für die Entwicklungszusammenarbeit der EU
- Drucksache 16/3807 -
ZP 9 Beratung des Antrags der Abgeordneten Rainder Steenblock, Winfried Hermann, Dr. Anton Hofreiter, weiterer Abgeordneter und der Fraktion des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN
Statt fester Fehmarnbelt-Querung - Für ein ökologisch und finanziell nachhaltiges Verkehrskonzept
- Drucksache 16/3798 -
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung (f)
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
Ausschuss für Tourismus
Haushaltsausschuss
ZP 10 Beratung des Antrags der Abgeordneten Dr. Max Stadler, Gisela Piltz, Ernst Burgbacher, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP
Notwendigkeit einer Defizitanalyse des bestehenden Sicherheitssystems
- Drucksache 16/3809 -
Überweisungsvorschlag:
Innenausschuss
ZP 11 Beratung des Antrags der Abgeordneten Dr. Werner Hoyer, Dr. Rainer Stinner, Birgit Homburger, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP
Für eine Konferenz für Sicherheit und Zusammenarbeit im Nahen Osten (KSZNO)
- Drucksache 16/3816 -
Überweisungsvorschlag:
Auswärtiger Ausschuss
Die zunächst vorgesehenen Aktuellen Stunden auf Verlangen der Fraktion Die Linke zur Armutsstatistik und auf Verlangen der Fraktion des Bündnisses 90/Die Grünen zum Nichtraucherschutz finden entgegen der ursprünglichen Ankündigung nicht statt.
Von der Frist für den Beginn der Beratungen soll soweit erforderlich abgewichen werden.
Schließlich mache ich auf zwei nachträgliche Ausschussüberweisungen im Anhang zur Zusatzpunktliste aufmerksam:
Der in der 67. Sitzung des Deutschen Bundestages überwiesene nachfolgende Antrag soll zusätzlich dem Ausschuss für Tourismus (20. Ausschuss) zur Mitberatung überwiesen werden.
Antrag der Abgeordneten Dr. Peter Gauweiler, Monika Grütters, Eckart von Klaeden, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der CDU/CSU sowie der Abgeordneten Monika Griefahn, Petra Hinz (Essen), Lothar Mark, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD
Stärkung des Goethe-Instituts durch neues Konzept
- Drucksache 16/3502 -
Überweisungsvorschlag:
Auswärtiger Ausschuss (f)
Ausschuss für Tourismus
Ausschuss für Kultur und Medien
Haushaltsausschuss
Der in der 71. Sitzung des Deutschen Bundestages überwiesene nachfolgende Antrag soll zusätzlich dem Ausschuss für Wirtschaft und Technologie (9. Ausschuss) zur Mitberatung überwiesen werden.
Antrag der Abgeordneten Dr. Barbara Höll, Kornelia Möller, Cornelia Hirsch, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der LINKEN
Ausbildungsplatzlücke schließen - Vorschlag des DGB aufgreifen
- Drucksache 16/3540 -
überwiesen:
Ausschuss für Arbeit und Soziales (f)
Ausschuss für Wirtschaft und
Technologie
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung
Haushaltsausschuss
Sind Sie mit diesen Vereinbarungen einverstanden? - Ich stelle Einvernehmen fest. Dann ist das so beschlossen.
Wir kommen nun zur Abgabe einer Erklärung durch die Bundeskanzlerin zum Europäischen Rat in Düsseldorf - Entschuldigung, in Brüssel.
- Stellen Sie sich vor, ich hätte dazu Einvernehmen festgestellt. Dann wäre es richtig kompliziert geworden.
Ich rufe nun die Tagesordnungspunkte 4 a bis 4 c sowie den Zusatzpunkt 3 auf:
4. a) Abgabe einer Erklärung durch die Bundeskanzlerin
zum Europäischen Rat in Brüssel am 14./15. Dezember 2006 und den bevorstehenden deutschen Präsidentschaften im Rat der Europäischen Union und in der G 8
b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Michael Stübgen,
Gunther Krichbaum, Thomas Bareiß, weiterer Abgeordneter und
der Fraktion der CDU/CSU
sowie der Abgeordneten Axel Schäfer, Dr. Lale Akgün,
Doris Barnett, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD
Die deutsche Präsidentschaft der Europäischen Union zum Erfolg führen
- Drucksache 16/3808 -
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
(f)
Auswärtiger Ausschuss
Innenausschuss
Sportausschuss
Rechtsausschuss
Finanzausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und
Verbraucherschutz
Ausschuss für Arbeit und Soziales
Verteidigungsausschuss
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für Gesundheit
Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung
Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und
Entwicklung
Ausschuss für Tourismus
Ausschuss für Kultur und Medien
Haushaltsausschuss
c) Beratung der Unterrichtung durch die Bundesregierung
Präsidentschaftsprogramm 1. Januar bis 30. Juni 2007 - Europa gelingt gemeinsam
- Drucksache 16/3680 -
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
(f)
Auswärtiger Ausschuss
Innenausschuss
Sportausschuss
Rechtsausschuss
Finanzausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und
Verbraucherschutz
Ausschuss für Arbeit und Soziales
Verteidigungsausschuss
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für Gesundheit
Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung
Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und
Entwicklung
Ausschuss für Tourismus
Ausschuss für Kultur und Medien
Haushaltsausschuss
ZP 3 Beratung des Antrags der Abgeordneten Markus Löning, Christian Ahrendt, Michael Link (Heilbronn), weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP
Mehr Ehrgeiz für die deutsche Ratspräsidentschaft - eine EU der Erfolge für die Bürger
- Drucksache 16/3832 -
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
(f)
Auswärtiger Ausschuss
Innenausschuss
Rechtsausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und
Verbraucherschutz
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und
Entwicklung
Bevor ich dazu der Bundeskanzlerin das Wort erteile, möchte ich dem Minister Michael Glos zu seinem heutigen Geburtstag herzlich gratulieren.
Zu der Regierungserklärung liegt ein Entschließungsantrag der Fraktion Die Linke vor.
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für die Aussprache im Anschluss an die Regierungserklärung anderthalb Stunden vorgesehen. - Auch dazu höre ich keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.
Das Wort zur Abgabe einer Regierungserklärung hat die Bundeskanzlerin, Frau Dr. Angela Merkel.
Dr. Angela Merkel, Bundeskanzlerin:
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! In rund zwei Wochen beginnt die deutsche Doppelpräsidentschaft: im Rat der Europäischen Union und in der Gruppe der Acht. In wenigen Stunden beginnt der Europäische Rat - wie gesagt - in Brüssel, noch einmal unter finnischem Vorsitz.
Weil sich die finnische EU-Präsidentschaft dem Ende zuneigt, möchte ich ihr an dieser Stelle ein herzliches Dankeschön sagen. Sie hat unter schwierigen Bedingungen vieles erreicht.
Der morgen stattfindende Rat wird sich vor allen Dingen mit dem Thema Erweiterungspolitik befassen. Wenn man sich an die Anfänge der Europäischen Union erinnert - damals waren es sechs Mitgliedstaaten -, so kann man heute sagen: Diese Erweiterungspolitik ist eine Erfolgsgeschichte Europas. Denn heute umfasst die Europäische Union fast das gesamte kontinentale Europa in Demokratie und Freiheit.
Mit Rumänien und Bulgarien werden am 1. Januar 2007 zwei weitere Mitglieder in die Europäische Union kommen. Beide Staaten haben zusätzliche Verpflichtungen zu weiteren Reformen nach dem Beitritt übernommen. Mit Kroatien und mit der Türkei laufen Verhandlungen. Auch die Staaten des westlichen Balkans - Sie wissen das - haben eine Beitrittsperspektive.
Man sieht also: Es ist viel in Bewegung und natürlich kommen die Fragen auf, wohin das führt und wie, also nach welchen Prinzipien die Europäische Union wachsen will. Genau darüber werden wir auf diesem Rat sprechen. Denn der Erfolg der Erweiterungspolitik muss darin liegen, dass die Europäische Union attraktiver und handlungsfähiger wird, und zwar sowohl nach außen als auch nach innen.
Wir alle wissen, dass die Perspektive zum Beitritt noch kein Garantieschein für eine spätere Mitgliedschaft ist. Es müssen die Kriterien eingehalten werden, auf die sich der EU-Vertrag gründet, und es müssen die Beitrittskriterien eingehalten werden, die durch die Beschlüsse der Staats- und Regierungschefs der Europäischen Union festgelegt sind. Dies sage ich nicht als Drohung, sondern ich sage es eher als Ansporn für die Länder, die beitreten wollen, und auch als Ansporn für die Gemeinschaft, die natürlich dafür sorgen muss, dass sie die notwendige Aufnahmefähigkeit hat.
Albanien, Bosnien-Herzegowina, Mazedonien, Montenegro und Serbien haben eine solche Beitrittsperspektive. Aber bei aller Richtigkeit dieser Entscheidung wissen wir, dass die Perspektive eine mittlere ist und dass noch viele Vorbereitungen zu treffen sind, damit aus dieser Perspektive eine Aufnahme werden kann. Ich nehme Kroatien hier ausdrücklich aus. Die EU führt mit diesem Land bereits erfolgreiche Beitrittsverhandlungen. Aber auch hier ist es noch zu früh, um ein Datum für die Aufnahme nennen zu können.
Wir haben uns in diesen Tagen sehr stark mit der Frage der Türkei befasst. Es ging um die Umsetzung des Ankaraprotokolls. Die Vorgeschichte ist bekannt. Die Türkei hatte sich mit ihrer Unterschrift im Juli 2005 verpflichtet, das Ankaraprotokoll umzusetzen. Ich will noch einmal sagen: Es geht hier um keine Kleinigkeit, sondern um die Selbstverständlichkeit, dass Beitrittskandidaten und EU-Mitgliedstaaten einander politisch und diplomatisch anerkennen.
Die finnische Präsidentschaft - das will ich hier ausdrücklich hervorheben - hat bis zur letzten Minute alles unternommen, um der Türkei die Umsetzung des Ankaraprotokolls zu erleichtern. Aber wir müssen heute feststellen: Die Türkei hat das Protokoll nicht umgesetzt. Die EU hat darauf reagiert, und zwar, wie ich meine, gleichermaßen entschlossen wie besonnen. Sie hat besonnen reagiert, indem der Türkei stets deutlich gemacht wird, dass es sich für sie lohnt, weiter an Reformen zu arbeiten. Damit meine ich nicht nur das Ankaraprotokoll, sondern genauso meine ich tief greifende innenpolitische Reformen, bei denen es um Menschenrechte geht, bei denen es um die Freiheit der Bürgerinnen und Bürger geht. Entschlossen hat die Europäische Union reagiert, indem die Europäische Kommission am 29. November dieses Jahres deutlich gemacht hat, dass es ein einfaches ?Weiter so!“ nicht geben kann. Sie hat die Empfehlung abgegeben, acht Verhandlungskapitel auszusetzen und kein Kapitel zu schließen, solange das Ankaraprotokoll nicht umgesetzt ist.
Genau dies haben die Außenminister am Montag dieser Woche als Grundlage für die Beratungen, die heute und morgen stattfinden, vereinbart. Ich bin sehr dankbar, dass es gelungen ist, diese Vereinbarung zu treffen. Die Außenminister haben damit gezeigt, dass auf Worte Taten folgen. Aber ich sage noch einmal: Die EU hat gleichermaßen besonnen und entschlossen reagiert. Das Ganze wird dadurch ergänzt und präzisiert, dass die Kommission dem Rat jährlich, also 2007, 2008 und 2009, berichten wird, ob und inwieweit die Türkei ihren Verpflichtungen nachgekommen ist. Auch diesen Überprüfungsmechanismus begrüße ich sehr. Denn es ist der Rat, der immer wieder einstimmig entscheiden muss, wie es mit den Beitrittsverhandlungen weitergeht.
Meine Damen und Herren, es besteht die Notwendigkeit - das wird auch während unserer Präsidentschaft eine Rolle spielen und an Bedeutung gewinnen -, Staaten enger an die Europäische Union zu binden, ohne ihnen bereits die Vollmitgliedschaft oder überhaupt etwas zusagen zu können. Das gilt im Hinblick auf die Ukraine, die Schwarzmeerregion und andere Regionen. Deshalb brauchen wir eine attraktive und dauerhafte Nachbarschaftspolitik, mit der wir die Länder enger an die Europäische Union heranführen, die selbst nicht Mitglied werden können. Ich bin sehr dankbar für die Initiativen des Auswärtigen Amtes, die sich sehr intensiv mit der Entwicklung einer solchen Nachbarschaftspolitik beschäftigen.
Wir werden auf dem Rat auch über die Innen- und Justizpolitik sprechen, vor allen Dingen über das Thema Migration. Wir alle kennen die Bilder verzweifelter Menschen und afrikanischer Flüchtlinge auf brüchigen Booten. Wir können dem nicht einfach zusehen, sondern wir müssen ein kohärentes und gemeinsames Handeln der Europäischen Union hinbekommen. Das bedeutet, dass wir auf der einen Seite mit Entschiedenheit gegen illegale Migration vorgehen müssen, dass wir aber auf der anderen Seite auch die Ursachen der illegalen Migration bekämpfen und uns mit der Situation in den afrikanischen Ländern auseinander setzen müssen. Beides gehört zusammen und bei beidem liegt noch sehr viel Arbeit vor uns.
Wir haben heute nicht nur über den aktuell stattfindenden Rat zu sprechen, der heute und morgen zusammentritt, sondern auch darüber, dass Deutschland in gut zwei Wochen die EU-Ratspräsidentschaft übernimmt. Wir haben unsere Präsidentschaft unter das Motto ?Europa gelingt gemeinsam“ gestellt, aber man könnte auch sagen: Europa gelingt nur gemeinsam. Wir haben es erlebt: Ein gespaltenes, ein uneiniges Europa - sei es in außenpolitischen Fragen, sei es in innenpolitischen Fragen - macht die Stärke der Europäischen Union nicht deutlich. Deshalb gilt für die Außenpolitik wie für die innere Politik der Europäischen Union: Europa gelingt nur gemeinsam.
Das sage ich vor allen Dingen mit Bezug auf das, was ich das Zukunftsmodell der Europäischen Union nennen würde: das europäische Wirtschafts- und Sozialmodell. Die Bundesregierung fühlt sich der Weiterentwicklung des europäischen Wirtschafts- und Sozialmodells verpflichtet. Denn wenn wir wirtschaftlich nicht stark sind, wenn wir den Menschen keine Perspektive geben können, dann wird Europa, dann wird die Europäische Union nach außen hin nicht stark auftreten können.
Wir brauchen eine erfolgreiche Politik in Brüssel. Das bedeutet aber - das möchte ich an dieser Stelle nur kurz einschieben -, dass auch die Mitgliedstaaten stark sein müssen. Die Bundesregierung wird den Weg der Reformen während ihrer EU-Ratspräsidentschaft entschieden weitergehen. Die Dinge gehören zusammen: Einfluss auf die Entwicklung der Europäischen Union haben wir nur dann, wenn bei uns die Arbeitslosigkeit sinkt, wenn wir auf dem Pfad des Wirtschaftswachstums bleiben und wenn unsere Unternehmen prosperieren. Innen- und Außenpolitik gehören an dieser Stelle sehr eng zusammen.
Wenn wir vorausschauend auf unsere Präsidentschaft blicken, müssen wir uns bewusst sein, dass in dieser Zeit unerwartete Ereignisse eintreten können. Alle vergangenen Präsidentschaften haben das erlebt. Selbstverständlich haben wir für unsere Präsidentschaft dennoch Schwerpunkte gesetzt. So wollen wir insbesondere die wirtschafts- und sozialpolitische Zukunft Europas in den Mittelpunkt unserer Präsidentschaft rücken. Auf dem Frühjahrsgipfel im März 2007 wollen wir deshalb besondere Impulse in den Bereichen geben, die für die Wettbewerbsfähigkeit der Unternehmen, für die Beschäftigung der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer und für die Entwicklung unseres Wohlstands wichtig sind. Wir wissen, dass die Bürgerinnen und Bürger Europas natürlich nicht den Sonntagsreden trauen, sondern dass sie sich fragen: Bringt mir diese Europäische Union für mein eigenes Leben ein Stück Sicherheit, ein Stück Wohlstand? Deshalb müssen wir genau die Dinge, die damit zusammenhängen, weiterentwickeln oder neu angehen.
Da nenne ich das Thema Bürokratieabbau - oder ?bessere Rechtsetzung“, wie das in der europäischen Sprache heißt. Hier gibt es in der letzten Zeit einen Mentalitätswandel und wir wollen ihn fördern. Ein Mehr an Richtlinien bedeutet nicht in jedem Fall ein Mehr an wirtschaftlicher Prosperität für die Europäische Union.
Deshalb werden wir den deutschen Kommissar, Herrn Verheugen, bei diesen Dingen unterstützen.
Wir werden auch eine Diskussion über die Frage der Einführung eines Diskontinuitätsprinzips in der Europäischen Union führen. Das hat etwas zu tun mit dem Verhältnis der Institutionen in Europa: Kommission, Parlament und Rat. Für uns, in einem nationalen Parlament, ist es selbstverständlich, dass mit dem Ende einer Legislaturperiode Gesetzentwürfe verfallen. Auf europäischer Ebene gibt es so etwas nicht. Wir sollten darüber reden, dass es doch nicht sein kann, dass ein neues Parlament gewählt wird, eine neue Kommission bestellt wird, aber das Einzige, was konstant bleibt, die nicht bearbeitete Richtlinie ist. Das wird ein langer Prozess, das wird nicht schnell gehen; ich weiß, welches dicke Brett wir da bohren. Aber wir sollten darüber sprechen, weil es für das Selbstverständnis von Parlament, Kommission und Rat ganz wichtig ist.
Die Vollendung des Binnenmarktes wird ein weiterer Schwerpunkt sein. Wir müssen uns noch einmal vergegenwärtigen - ich glaube, die Zahlen der Kommission sind da sehr eindrücklich -, dass der Binnenmarkt seit Anfang der 90er-Jahre ein Mehr von über 2,5 Millionen Arbeitsplätzen gebracht hat. Das muss man den Menschen immer und immer wieder sagen: Freiheitliche Regeln im einheitlichen Binnenmarkt in der Europäischen Union und gemeinsame Standards bringen ein Mehr an Beschäftigung und machen uns insgesamt stärker.
Wir werden einen Schwerpunkt setzen bei Forschung und Bildung. Das 7. Forschungsrahmenprogramm wird während unserer Präsidentschaft starten. Das, was uns der Bundespräsident immer wieder gesagt hat - wir müssen so viel besser sein, wie wir teurer sind -, müssen wir dadurch umsetzen, dass wir innovativ sind, dass wir forschungsstark sind, dass Europa an der Spitze ist. Das muss das Credo sein, das sich auch sich hinter dem trockenen Ziel des Lissabonprozesses verbirgt.
Ein weiterer Schwerpunkt wird die Energiepolitik sein. Die Kommission wird hier eine Reihe von Mitteilungen machen. Deshalb wollen wir beim Frühjahrsgipfel einen Aktionsplan für eine Energiepolitik für Europa verabschieden. Wir brauchen einen echten Binnenmarkt für Strom und Gas. Wir wollen natürlich die Klimaschutzziele erfüllen und müssen deshalb der Energieeffizienz eine besondere Bedeutung beimessen. Wir wollen die erneuerbaren Energien ausbauen. Wir wollen die Energieforschung entwickeln. Wenn wir als Europa beim Klimaschutz weiter eine Vorreiterrolle spielen wollen, müssen wir auch Ziele für die Zeit nach 2012, also nach dem Auslaufen des Kiotoprotokolls, festlegen. Eine gemeinsame Verhandlungslinie der Europäischen Union wäre sehr gut, gerade mit Blick auf unsere G-8-Präsidentschaft.
Natürlich möchten wir, dass der 50. Jahrestag der Unterzeichnung der Römischen Verträge am 25. März zu einem Höhepunkt unseres Ratsvorsitzes wird. Es ist historisch beachtlich - um es ganz vorsichtig zu sagen -, dass es 50 Jahre nach der Unterzeichnung der Römischen Verträge möglich ist, in einem wiedervereinigten Deutschland, in einer nicht mehr geteilten Stadt Berlin ein Europa zu feiern, das auch die mittel- und osteuropäischen Länder umfasst. Dafür kann man gar nicht dankbar genug sein.
Dieser 50. Jahrestag der Unterzeichnung der Römischen Verträge und die Verabschiedung einer Berliner Erklärung werden uns noch einmal daran erinnern, dass wir natürlich ein gemeinsames Selbstverständnis und ein gemeinsames Werteverständnis brauchen. Europa gründet sich auf geschichtliche Erfahrungen, die wir zusammen gemacht haben; häufig waren dies sehr leidvolle Erfahrungen. Europa gründet sich auf dem Willen, die Zukunft gemeinsam besser zu gestalten. Europa gründet sich aber vor allem auf Werten, die wir alle teilen: Freiheit und Gerechtigkeit, Demokratie, Rechtsstaatlichkeit und Achtung der Menschenrechte.
Nur auf der Grundlage dieser Wertegemeinschaft konnte nach dem Zweiten Weltkrieg ein historisch neues Miteinander von größeren und kleineren Mitgliedstaaten entstehen. Das heißt, europäische Integration muss auch in Zukunft wertegebunden sein.
Das führt unweigerlich zum Verfassungsvertrag. Die Verantwortung, die wir haben, ist uns klar. Ich will aber an dieser Stelle auch deutlich sagen: Das wird ein Prozess sein, der während unserer Präsidentschaft nicht beendet werden wird. Wir wissen: Nizza ist nicht genug. Wir brauchen einen Verfassungsvertrag.
Aber wir haben die Aufgabe, zum Ende unserer Ratspräsidentschaft hin einen Fahrplan vorzulegen, wie es weitergehen kann. Ich hielte es für ein historisches Versäumnis - das will ich hier ganz klar sagen -, wenn wir es nicht schaffen würden, bis zur nächsten Europawahl mit der Substanz dieses Verfassungsvertrages so umzugehen, dass wir wirklich ein Ergebnis abliefern können. Ich werde mich während unserer Präsidentschaft jedenfalls intensiv dafür einsetzen - das gilt auch für die gesamte Bundesregierung -, dass auf Grundlage der Gemeinsamkeit unserer Werte ein solcher Verfassungsvertrag zustande kommt.
In den Außenbeziehungen der Europäischen Union wird uns - das spüren wir alle - immer mehr Gemeinsamkeit abverlangt. Wir sind als Mitgliedstaat alleine gar nicht in der Lage, den Bedrohungen durch Massenvernichtungswaffen und internationalen Terrorismus zu begegnen. Deshalb tun wir das im Verbund mit unseren Partnern in der Europäischen Union und in der NATO. Wir müssen in unserer Präsidentschaft natürlich dafür sorgen, dass in all den aktuellen Fällen mit einer und mit einer starken Stimme gesprochen wird.
Ich glaube, sagen zu können, dass es in den letzten Jahren große Fortschritte bei der europäischen Außen- und Sicherheitspolitik gegeben hat. Die Europäische Union hat - wenn wir uns das einmal vergegenwärtigen - erfolgreich dazu beigetragen, die Krise in Mazedonien zu entschärfen, in Indonesien einen Friedensprozess einzuleiten und im Kongo einer neuen Krise vorzubeugen.
Was haben wir nicht gerade im Zusammenhang mit dem Einsatz im Kongo über hohe Risiken diskutiert. Ich glaube aber, dass es besser ist, über die Risiken vorher zu diskutieren, damit sie einen nicht unerwartet treffen. Aber ich finde, die Europäische Union hat ihren Auftrag an dieser Stelle großartig erfüllt.
Ich bin froh, dass unsere Soldatinnen und Soldaten nach Hause kommen können. Der Prozess im Kongo im Zusammenhang mit der Wahl hat das Land ein Stück weiter gebracht. Das heißt aber nicht, dass unser Engagement für den Kongo jetzt aufhört. Wir werden dort weiterhin Polizisten ausbilden. Die UNO wird sich weiterhin engagieren. Wir haben in Bosnien-Herzegowina Verantwortung übernommen und sind auch im Gazastreifen aktiv tätig.
Die Europäische Union ist sich ihrer wachsenden Verantwortung also nicht nur bewusst, sondern sie nimmt sie auch wahr. Aber sie weiß auch: Sie ist nur Teil der Zusammenarbeit mit der NATO und in den Vereinten Nationen. Die Handlungsfähigkeit der Europäer muss sich in jedem einzelnen Fall, in jeder Krise wieder neu bewähren. Die Stabilisierung des westlichen Balkans wird dabei in den kommenden Monaten mit Sicherheit ein Schwerpunkt unserer Arbeit sein. In Serbien wird es Wahlen geben. Wir werden danach vom Sondergesandten Ahtisaari einen Vorschlag bekommen, wie es mit dem Kosovo weitergeht. Wir wissen schon heute, dass dann die größte zivile Mission im Rahmen der Europäischen Sicherheits- und Verteidigungspolitik die Entwicklung im Kosovo begleiten muss und dass es dort zu einer völlig neuen Qualität bei der Zusammenarbeit von Europäischer Union und NATO kommen muss.
Wir sind parallel zur Stabilisierung des Balkans natürlich mit Afghanistan beschäftigt, mit dem Nachbarkontinent Afrika und dessen Konflikten und vor allen Dingen mit dem Nuklearprogramm des Irans. Wir wissen: Deutschland und auch die Europäische Union dürfen und werden sich nicht überheben. Deutschland kennt seine Möglichkeiten, aber auch seine Grenzen. Wir sollten jedoch nicht übersehen, dass wir durch die Doppelpräsidentschaft natürlich ein zusätzliches Maß an Verantwortung tragen.
Ich habe in den letzten Tagen mit Präsident Mubarak und Ministerpräsident Olmert gesprochen; denn wir wissen, dass wir gerade im Nahen Osten vor riesigen Problemen stehen. Bei der Verabschiedung des Libanonmandats waren wir uns alle hier einig: Die militärische Option, die Präsenz unserer Soldaten vor der libanesischen Küste, ist nur eine Facette des notwendigen politischen Prozesses. So schwierig dies ist, so einig ist sich die Bundesregierung darin, dass der Weg über eine Belebung des Nahostquartetts führen muss. Dazu gehören immer wieder auch ungewöhnliche Schritte, wie zum Beispiel die Reise des Außenministers nach Syrien.
Ich sage ganz deutlich: Diese Reise war ein Risiko - kein Zweifel. Wir wissen auch, dass durch diese Reise Widerspruch ausgelöst wurde. Kurzfristig hat sie auch noch nicht den Erfolg gebracht, den wir uns wünschen. Ich sage aber auch: Diese Reise steht geradezu symbolisch für das Verständnis der Außenpolitik der gesamten Bundesregierung.
Dieses Verständnis beinhaltet Dialogbereitschaft auch dort, wo sie nicht selbstverständlich ist - aber immer auf der Grundlage klarer Prinzipien und Werte. Dialogbereitschaft und klare Prinzipien und Werte - das gehört für uns zusammen und das wird auch weiterhin so sein.
Dies werden wir auch im Zusammenhang mit Syrien, mit dem Iran und mit den Konflikten in allen anderen Ländern so handhaben.
Meine Damen und Herren, eine sechsmonatige Präsidentschaft beinhaltet immer die Gefahr einer gewissen Kurzatmigkeit bei der Bewältigung riesiger Aufgaben. Deshalb finde ich es richtig, dass sich die Europäische Union zu Dreierpräsidentschaften entschlossen hat. Das heißt, gemeinsam mit Portugal und Slowenien werden wir auch über die Zeit unserer Präsidentschaft hinausreichende Dinge planen, um eine gewisse Kontinuität zu erreichen. Dazu wird zum Beispiel die Vorbereitung eines EU-Afrika-Gipfels im zweiten Halbjahr des Jahres 2007 gehören, bei dem wir Portugal unterstützen werden.
Wir sind natürlich gut beraten, über das halbe Jahr hinaus zu denken und über den Tellerrand Europas hinaus zu schauen. Deshalb werden die Programme, die wir während der EU-Präsidentschaft durchführen, und die Arbeiten im Rahmen unserer G-8-Präsidentschaft natürlich verknüpft. Das bedeutet ganz elementar, dass wir unsere Partnerschaft mit den östlichen Nachbarn der EU, zum Beispiel mit Russland, und unser Verhältnis zu Zentralasien sowie zu China und Indien entwickeln. Ich begrüße es außerordentlich, dass der Bundesaußenminister die zentralasiatische Region und auch die nordafrikanische Region besucht hat. Ich glaube, wir müssen verstehen, dass diese Regionen auch für die Zukunft der Europäischen Union von zentralem Interesse sind. Wenn man sich einmal anschaut, mit welcher Vehemenz Länder wie China heute eine sehr bewusste Außenpolitik betreiben, dann wird klar, dass die EU gut beraten ist, auch diese Regionen immer wieder im Blickfeld zu haben und sich um sie zu kümmern.
Meine Damen und Herren, auch während unserer G-8-Präsidentschaft setzen wir einen Schwerpunkt: Wir wollen zeigen, dass es in unserer Bundesregierung den unbedingten Willen zur politischen Gestaltung der Globalisierung gibt. Die Globalisierung muss fairen Regeln verpflichtet sein. Ich sage das ausdrücklich: Dazu gehören auch Sozial- und Umweltstandards.
Natürlich - das ist vielleicht unser größtes Problem - bezweifeln viele Menschen heute, dass das überhaupt noch gelingen kann. Ich glaube aber, wir dürfen diesen Anspruch nie aufgeben. In der Globalisierung bedeutet das natürlich eine Gemeinsamkeit mit vielen Partnern auf der Welt und zum Teil auch das Bohren sehr dicker Bretter: Wir müssen Barrieren für internationale Investitionen abbauen, wir müssen die Kapitalmärkte transparenter machen, wir wollen das geistige Eigentum effektiver schützen, wir wollen die Produktpiraterie bekämpfen und wir müssen vor allen Dingen - dazu ist die G-8-Präsidentschaft auch geeignet - im Klimaschutz weiterkommen, nämlich durch eine Verbesserung der Energieeffizienz und durch eine erhöhte Sicherheit hinsichtlich der Energieversorgung. Schließlich wollen wir während unserer G-8-Präsidentschaft auch Afrika eine Perspektive geben, was wir zu einem besonderen Schwerpunkt machen werden.
Meine Damen und Herren, die Doppelpräsidentschaft im Rat der EU und in der G 8 wird uns alle fordern. Deshalb bitte ich bei der Umsetzung auch um die Unterstützung aller. Die Regierung alleine kann das nicht schaffen. Es kommt deshalb auf die Zusammenarbeit von Bundesregierung, Bundestag, sowohl mit den Koalitionsfraktionen als auch mit den Oppositionsfraktionen, und auf die Zusammenarbeit mit den Ländern an. Machen wir diese Präsidentschaften zu einem gemeinsamen nationalen Anliegen.
In diesem Jahr war die Welt für einige wunderbare Wochen im Sommer in unserem Land wahrlich zu Gast bei Freunden. Nächstes Jahr können wir ganz anders, aber jeder an seinem Platz dazu beitragen, das Wachstum und die Verantwortung in der Welt zu fördern und Europa gemeinsam gelingen zu lassen. Denn ich glaube, eines ist gewiss: Europa war und Europa bleibt die Friedensidee des 20. Jahrhunderts und Europa bleibt die Zukunftsidee des 21. Jahrhunderts. Dafür lohnt sich die Mühe, dafür lohnt sich auch die Arbeit an Kompromissen. Lassen Sie uns das gemeinsam anpacken. Dann können wir etwas schaffen.
Herzlichen Dank.
Präsident Dr. Norbert Lammert:
Das Wort erhält zunächst der Kollege Dr. Guido Westerwelle für die FDP-Fraktion.
Dr. Guido Westerwelle (FDP):
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Frau Bundeskanzlerin, Sie haben um die Unterstützung für die wichtige EU-Ratspräsidentschaft aus dem ganzen Hohen Haus gebeten. Sie haben ausdrücklich nicht nur um die Unterstützung der Koalitionsfraktionen gebeten, sondern sich auch an die Opposition gewandt. Ich kann Ihnen jedenfalls für die liberale Opposition in diesem Hause sagen: Wir werden Sie bei Ihrem wichtigen Anliegen, die EU-Ratspräsidentschaft zu einem Erfolg im Interesse unseres Landes zu führen, mit Sicherheit unterstützen. Darauf können Sie sich verlassen. Wir werden mit Sicherheit Ihre Arbeit begleiten, auch kritisch, aber es gibt überhaupt keinen Zweifel daran: Hier geht es um deutsches Interesse und nicht um Opposition oder Koalition, meine sehr geehrten Damen und Herren.
Wir haben mit dieser EU-Ratspräsidentschaft eine herausragende Chance für Deutschland. Wir haben eine herausragende Chance für Europa. Ich bin deswegen übrigens auch ein wenig verwundert, wie wenig ausgeprägt das Interesse seitens der Kolleginnen und Kollegen gegenüber dieser ersten Regierungserklärung der Bundesregierung zur EU-Ratspräsidentschaft ist.
Aber, meine Damen und Herren, wir alle wollen den Erfolg Ihrer Präsidentschaft. Deswegen will ich zu Beginn erst einmal darauf aufmerksam machen, dass die bisherige Außen- und Europapolitik Ihrer Regierung in einem wesentlichen Punkt eine wohltuende Korrektur gegenüber der rot-grünen Regierungszeit erfahren hat.
Meine Damen und Herren in der Bundesregierung, Sie haben gegenüber der Vorgängerregierung zwei Dinge korrigiert, nicht laut angekündigt, aber doch spürbar. Es ist nicht mehr die Rede von der Achsenbildung, es ist nicht mehr die Rede von einer Achse Paris-Berlin, gar Moskau. Vor allen Dingen hat die Ignoranz in der Europapolitik gegenüber den kleineren und mittleren Staaten der Europäischen Union weitestgehend ein Ende gefunden. Das begrüßen wir ausdrücklich. Es war immer beste Tradition deutscher Außen- und Europapolitik, nicht nur die Großen in Europa zu sehen, sondern auch die kleinen und mittleren Völker in Europa als Verbündete zu betrachten.
Wir erinnern uns noch, wie die Regierung Schröder/Fischer zu Beginn ihrer Amtszeit sogar mit Sanktionen gegen unser Nachbarland Österreich arbeitete, weil dort eine Regierungsbildung zustande kam, die aus Sicht der rot-grünen Bundesregierung nicht gewünscht war. Deswegen ist es wohltuend, dass die Regierung Merkel/Steinmeier dies offensichtlich korrigiert.
Wir alle werden als Volksvertreter immer wieder in unseren Veranstaltungen gefragt, was uns Europa bringt. Ich kann nur das aufgreifen, was die Bundeskanzlerin im Kern als ihre Begründung genannt hat. Selbst wenn uns Europa nicht mehr gebracht hätte als jahrzehntelangen Frieden für unser Land und in Europa selbst, dann hätte sich der europäische Integrationsprozess längst gelohnt.
Deswegen ist es richtig, dass die europäische Erweiterung und die Erweiterung des Integrationsprozesses - dazu zählt auch die Aufnahme von Bulgarien und Rumänien - zunächst als Friedenschance gesehen wird. Wann hat es das jemals in unserer Geschichte gegeben, dass wir Deutschen gewissermaßen von Freunden und Verbündeten umzingelt waren? Das sollten wir uns sehr genau einprägen. Es ist ohne jeden Zweifel eine wunderbare Entwicklung.
Andere fürchten sich vor dem Wettbewerb, der mit dem Beitritt der ost- und südosteuropäischen Länder einhergeht. Wer sich vor dem Wettbewerb aus Rumänien und Bulgarien fürchtet, den müssen wir realistischerweise darauf hinweisen, dass das erst der Anfang ist. Es ist die Ouvertüre. Der eigentliche Wettbewerb kommt noch auf uns zu, und zwar durch China, Indien und den unterschätzten südamerikanischen Kontinent. Wer meint, er könne den Wettbewerb schon innerhalb Europas nicht bestehen, der ist augenscheinlich auch mental nicht hinreichend für die Herausforderungen der weltweiten Globalisierung gewappnet.
In Wahrheit ist die Globalisierung eine sichere Entwicklung. Die beste Antwort auf die Globalisierung ist die Schaffung eines großen europäischen Binnenmarktes und eine koordinierte europäische Außen- und Wirtschaftspolitik. Europa ist keine weitere Bedrohung für Deutschland, sondern unsere Antwort auf den weltweiten Wettbewerb. Es ist in erster Linie kein Risiko, sondern eine Chance für unser Land.
Deswegen stellt der Binnenmarkt gewissermaßen ein Fitnessprogramm für diese Herausforderungen dar. Wir werden uns daran gewöhnen müssen, in Deutschland mehr über neue Chancen zu reden statt nur über Risiken. Warum überlassen wir es zum Beispiel Österreich, eine Investitionsbrücke nach Osteuropa zu bauen?
Das könnte doch auch unser nationales Projekt in Deutschland sein.
Wenn wir über die Osterweiterung bzw. über die Erweiterung insgesamt reden, dann ist neben all dem, was im Zusammenhang mit Zahlungen und Finanzschlüsseln im Laufe der nächsten Monaten ohnehin zu beraten und vielleicht auch kontrovers zu diskutieren sein wird, eine kritische Anmerkung zu einem von Ihnen bereits angesprochenen Punkt erforderlich. Das Allermindeste, was der Deutsche Bundestag hinsichtlich der EU-Ratspräsidentschaft von der Bundesregierung erwarten kann, ist, dass sie sich in wesentlichen Fragen der Europapolitik - etwa in der Türkeifrage - innerhalb der Regierung einig ist.
Es bleibt ein einmaliger Vorgang, dass der deutsche Außenminister die eigene Bundeskanzlerin in der Türkeipolitik öffentlich per Interview zur Ordnung ruft und anschließend der Vorsitzende der Unionsfraktion wiederum Herrn Steinmeier kritisiert. So etwas verletzt die goldene Regel der deutschen Europa- und Außenpolitik.
In Wahrheit sind Sie sich nicht einig. Dabei sollte man von Ihnen Einigkeit erwarten können. Sie schwächen mit der Uneinigkeit in der Türkeifrage auch die europäische Verhandlungsposition gegenüber der Türkei.
Denn es ist völlig klar, dass das Ankaraprotokoll umgesetzt werden muss. Klar ist auch, dass niemand Mitglied der Europäischen Union werden kann, der nicht wenigstens alle Mitgliedstaaten der Europäischen Union vorher anerkannt hat. Das kann nicht anders gesehen werden.
Sie haben darauf aufmerksam gemacht, dass man Europa nur glaubwürdig führen kann, wenn man selber führend ist. Ich kann bei all dem, was Sie sich in Europa - zu Recht - vornehmen, nur an Sie appellieren, Ihre Hausaufgaben in der Innenpolitik nicht zu vernachlässigen. Die Tatsache, dass wir nun eine konjunkturelle Aufhellung erleben, darf Sie nicht dazu bewegen, vom Kurs der strukturellen Reformen in Deutschland abzugehen; denn in Wahrheit ist die Lage im Vergleich zu anderen europäischen Ländern noch immer nicht komfortabel, was allein ein Blick auf die Arbeitslosenstatistik und das Wirtschaftswachstum zeigt.
Sie haben die Energiepolitik in den Mittelpunkt gestellt. Das ist klug; denn die Energiepolitik ist eine Schicksalsfrage nicht nur für Deutschland, sondern gerade für das hoch entwickelte Europa insgesamt. Aber dann muss man von Ihnen erwarten, dass Sie in der Energiepolitik auch gegenüber solchen Ländern in Europa gesprächsbereit sind, die nicht den törichten Ausstiegskurs bei der Kernenergie mitmachen wollen.
Weil in Ihrer letzten Regierungserklärung zu Recht von den Herausforderungen die Rede war, die durch den Klimawandel auf uns zukommen: Es ist ein Fehler, wenn sich Deutschland in der Energiepolitik verhält wie der berühmte Geisterfahrer auf der Autobahn. Alle anderen Länder investieren in die nukleare Kerntechnologie und entwickeln sie weiter, während wir aussteigen wollen. Das ist die falsche Antwort. Wir müssen vielmehr bei den Energietechnologien durch einen Mix aus regenerativen und konventionellen Energien sowie der Kernenergie Spitze sein. Wer das ignoriert, der schadet dem Klima; denn die CO2-Emissionen können in erster Linie durch den Einsatz der Kernenergie reduziert werden.
Frau Bundeskanzlerin, im Forschungsbereich, insbesondere bei der Bio- und der Gentechnologie, ist es nicht klug - Sie haben in der begrenzten Zeit Ihrer Regierungserklärung dazu nicht so viel ausführen können; das ist verständlich -, wenn wir Deutschen beispielsweise bei der Stammzellforschung in Europa auf der Bremse stehen, anstatt die Chancen für neue Medikamente und neue Technologien für unser Land zu begreifen. Es ist nicht etwa das böse Europa, das uns in der Energiepolitik oder in der Forschungspolitik behindert. In Wahrheit stehen wir in Deutschland auf der Bremse. Wir sind diejenigen, die den europäischen Fortschritt behindern. Deswegen sage ich zu denjenigen, die immer davon reden, dass uns Europa nur Bürokratie bringt: In Wahrheit hat die Bundesregierung - beispielsweise beim Antidiskriminierungsgesetz - bei dem, was aus Europa gekommen ist, noch eines draufgesetzt.
Klagen wir also nicht über Europa, sondern machen wir unsere Arbeit in Deutschland!
Sie haben mit der bevorstehenden Präsidentschaft im Rat der Europäischen Union eine große Chance. Es ist eine Chance nicht nur für die Regierung, sondern für unser Land. Weil wir uns alle für unser Land verantwortlich fühlen, werden wir, die Opposition, Sie bei der EU-Ratspräsidentschaft nach besten Kräften und im Rahmen unserer Möglichkeiten unterstützen.
Vielen Dank.
Präsident Dr. Norbert Lammert:
Ich erteile das Wort dem Kollegen Hans Eichel, SPD-Fraktion.
Hans Eichel (SPD):
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! EU-Ratspräsidentschaft und G-8-Präsidentschaft im nächsten Jahr sind eine große Herausforderung. Dabei ist die Regierung gerade ein Jahr im Amt. Ich erinnere mich, dass das bei Rot-Grün noch ein bisschen knapper war. Die Regierung war erst ein Vierteljahr im Amt, als sie diese Doppelpräsidentschaft zu schultern hatte. Frau Bundeskanzlerin, das geschieht in einer Zeit, in der die europäische Lage - das kann Vorteile, aber auch Nachteile haben - durchaus unübersichtlicher ist. Es ist nicht erkennbar, wer von den großen Staaten von sich aus eine Führungsrolle in der Europäischen Union übernehmen könnte. Es ist erfreulich, dass Italien nach einer Reihe von Jahren unter Berlusconi, als es europäisch eine Nullnummer war, in die Mitte der europäischen Politik zurückgekehrt ist, obwohl Italien noch eine Reihe innerstaatlicher Probleme zu bewältigen hat.
Herr Westerwelle, es hat nie eine Achse Paris-Berlin-Moskau gegeben, es war nicht einmal die Rede davon, vielmehr hat es über längere Zeit - das gilt zurzeit nicht; das bedauere ich; das liegt nicht an Deutschland - einen relativ starken französisch-deutschen Motor in der europäischen Integration gegeben.
Ich glaube nach wie vor, dass es gut wäre, nicht um andere auszuschließen, aber um Einigungen möglich zu machen - hier kann ich nur auf das hinweisen, was Jean-Claude Juncker des Öfteren zu diesem Thema gesagt hat -, wenn es einen Gleichklang zwischen Paris und Berlin in zentralen Fragen der Europapolitik gäbe.
Deutschland - das ist ein großer Vorteil - ist den Makel, den Stabilitätspakt nicht einhalten zu können, los. Das verbessert - hier hat die Bundeskanzlerin Recht - natürlich unsere Position in dieser Situation.
Anders, Herr Westerwelle, als Sie sagen, ist inzwischen die deutsche Wirtschaft, was das Wachstum betrifft, mit an der Spitze in der Eurozone und der Europäischen Union. Das kommt daher, weil anders als andere in den letzten Jahren die deutsche Wirtschaft, aber auch die deutsche Politik eine Fülle von Entscheidungen getroffen hat, die es jetzt möglich machen, die weltwirtschaftlichen großen Chancen voll zu nutzen und in Europa nachhaltig nach vorne zu gehen, wenn uns nicht externe Probleme, die wir nicht beeinflussen können, wieder zurückwerfen.
Es war sowohl die Vorgängerregierung als auch die große Koalition, die im ersten Jahr ihres Bestehens in der Wirtschafts- und Finanzpolitik durchgängig die richtigen Entscheidungen getroffen hat. Das ist eine gute Basis für die EU-Ratspräsidentschaft; denn die Erwartungen sind hoch.
Das kommt auch daher, weil Sie, Frau Bundeskanzlerin - das bestreitet niemand -, kurz nach der Amtsübernahme geholfen haben, eine sehr schwierige Aufgabe in Europa, nämlich die Finanzielle Vorausschau von 2007 bis 2013, zu lösen. Aber ich sage ausdrücklich - das müssen wir auch unseren europäischen Partnern sagen -: Die Erwartungen könnten auch zu hoch sein, denn es geht - hier haben Sie Recht, Frau Bundeskanzlerin - künftig in Europa in zentralen Fragen nur gemeinsam, mit allen 27, voran oder es geht gar nicht voran. Wir sind in vielen Fragen, anders als wir es im Verfassungsprozess gewollt haben, in der Situation, dass Entscheidungen nur einstimmig getroffen werden können. Wir erleben es ja dieser Tage - ich will das im Moment gar nicht kritisieren -, es wird sich zeigen, ob am polnischen Veto die Aufnahme der Verhandlungen mit Russland über ein Partnerschafts- und Kooperationsabkommen scheitert oder nicht, ob angesichts der zyprischen Politik die weiteren Verhandlungen - das ist Gott sei Dank zurzeit abgebogen worden, auch Zypern hat das begriffen - mit der Türkei abgebrochen werden oder nicht. Da zeigt sich plötzlich, dass in diesem Europa auch ganz kleine Mitglieder eine ganz große Rolle spielen können. Deswegen ist die Behauptung falsch, Herr Westerwelle, dass sich die Vorgängerregierung nicht um die Kleinen bemüht habe. Ich weiß, wie oft der Bundeskanzler und ich als Finanzminister in den Nachbarstaaten der Bundesrepublik, und zwar auch in den kleinen Nachbarstaaten, gewesen sind. Es gab nämlich einen sehr klugen Satz einer hochrangigen Beamtin in diesem Hause, der lautete: Schaff dir deine Freunde, bevor du sie brauchst; wir brauchen sie alle. - Das ist völlig richtig.
Aber, meine Damen und Herren, alle müssen ihren Beitrag dazu leisten. Damit sind wir bei dem nächsten schwierigen Thema, nämlich dem Verfassungsprozess.
Frau Bundeskanzlerin, Sie haben sich ein hohes Ziel gesteckt, nämlich vor der Europawahl 2009 klar zu machen, wie es mit der Verfassung weitergeht, und zwar gemeinsam, sodass dann die Wähler in Europa wissen, wie und unter welchen Bedingungen künftig Europa weiter gestaltet wird, weil es mit den jetzigen Regeln - darüber sind sich ja im Grunde alle einig - wohl auf Dauer nicht gehen kann. Das, meine Damen und Herren, bedeutet, dass alle mitmachen müssen. Bis heute haben 18 Länder Ja und zwei Länder Nein gesagt. Offen stehen bislang noch die Voten von sieben Ländern. Ich muss übrigens darauf hinweisen, dass von den 18 Ländern, die Ja gesagt haben, sieben Länder das in Kenntnis der negativen Voten von Frankreich und den Niederlanden getan haben. Es ist also nicht so, dass der Ratifizierungsprozess danach abgebrochen worden wäre. Alle müssen ihren Beitrag leisten. Deswegen muss man denjenigen, die Nein gesagt haben, auch sagen: Ihr müsst zur Kenntnis nehmen, dass zwei Drittel der Länder Ja gesagt haben, und zwar die Hälfte davon in Kenntnis eures negativen Votums.
Es ist auch wahr, dass es in Irland und Dänemark zwei Voten gegeben hat. In diesen Ländern ist dieselbe Frage nach dem ersten, negativen Referendum noch einmal gestellt und dann beim zweiten Referendum positiv beantwortet worden. Ich sage nicht, dass das die Lösung sein wird, aber ich denke schon, dass diejenigen, die Nein gesagt haben - das ist ein kleine Minderheit -, das in ihre eigenen Erwägungen einbeziehen müssen. Hier gilt in der Tat: Entweder machen alle mit oder es kommt nicht zustande. Das ist die Voraussetzung für den Erfolg. An dem Willen der deutschen Präsidentschaft fehlt es ganz gewiss nicht. Es darf aber auch nicht an dem Willen jedes einzelnen anderen fehlen.
Sie, Frau Bundeskanzlerin, haben in der Regierungserklärung das europäische Wirtschafts- und Sozialmodell als einen Schwerpunkt der deutschen Präsidentschaft angesprochen. Zum Sozialmodell wird nachher mein Kollege Axel Schäfer einiges sagen. Ich will mich auf die wirtschaftliche Seite konzentrieren. Ja, wir wollen ein wettbewerbsfähiges Europa, aber Wettbewerbsfähigkeit und sozialer Zusammenhalt gehören für uns und auch für diejenigen, die die Lissabonstrategie erdacht haben, untrennbar zusammen.
Wettbewerb treibt uns nicht auseinander, sondern macht uns gemeinsam stärker und gibt uns die Fähigkeit, auch die Schwächeren mitzunehmen. Das ist die Zielsetzung. Nun führen wir in der Tat eine sehr kritische Diskussion in Europa über die Koordinierung der Wirtschafts- und Finanzpolitik, insbesondere ausgehend von Frankreich. Das wird uns im nächsten Halbjahr auch in der deutschen Präsidentschaft erreichen. Dazu muss man einige Takte sagen:
Erstens. Die Lissabonstrategie war am Anfang zu sehr zerfasert. Sie ist inzwischen auf vier Themen konzentriert. Das ist richtig so. Diese sind: Wachstum und Beschäftigung, Innovation, bessere Rechtsetzung und Energiepolitik. Man muss an dieser Stelle klarmachen, dass die Lissabonstrategie, die Europa zu der wettbewerbsfähigsten Region der Welt machen will - ein sehr hohes Ziel -, fundamental auf der Solidarität der Staaten aufbaut. Darauf baut Europa überhaupt auf. Das bedeutet auch, dass die Reicheren für die Ärmeren in Europa einstehen. Dies hat Konsequenzen, die wir klarmachen müssen. Es geht bei der Lissabonstrategie nicht um den Wettbewerb der Staaten, sondern es geht um den Wettbewerb der Unternehmen. Es geht darum, dass wir alle vorangehen. Dann können wir in der Tat sehen, wer der Bessere ist, dann können wir beispielsweise sehen, dass wir die beste Familienpolitik machen, die besten Schulen und Hochschulen haben und dass wir die besten Forschungsergebnisse und die beste Umsetzung dieser Ergebnisse in neue Produkte erzielen.
Darum geht es, aber nicht darum, dass der eine Arbeitnehmer dem anderen Arbeitnehmer - das betraf die Dienstleistungsrichtlinie - zum Beispiel durch Sozialdumping schadet. Es geht auch nicht darum, dass der eine Staat dem anderen Staat durch Steuerdumping das Steuersubstrat entzieht. Deswegen sind wir nachdrücklich für eine gemeinsame Besteuerungsgrundlage bei den Unternehmen.
Ich sage auch ausdrücklich: In der weiteren Entwicklung kann ich mir einen gemeinsamen Markt mit 27 unterschiedlichen Steuersystemen und mit 27 völlig unterschiedlichen Sozialsystemen nicht vorstellen.
Dann ist die Freiheit der Betriebe und die Freiheit der Menschen nicht gewährleistet.
Sie müssen in Europa perspektivisch und bei gleich guter Entwicklung der Staaten auch gleiche Chancen vorfinden.
Zweitens. Wir müssen die Strategien zusammenfassen. Es kann nicht sein, dass die Nachhaltigkeitsstrategie von Lissabon und der Stabilitäts- und Wachstumspakt unverbunden und zum Teil widersprüchlich nebeneinander stehen. Das müssen die wirtschaftspolitischen Leitlinien leisten. Wir haben die Instrumente in Europa und wir haben die Gremien. Das sage ich unseren französischen Freunden. Die entscheidende Frage ist, ob die nationalen Staaten und Regierungen bereit sind, die europäische Koordinierung in ihr jeweiliges nationales Handeln umzusetzen.
Daraus ergibt sich der europäische Mehrwert, zum Beispiel die gemeinsamen Anstrengungen im Bereich Forschung und Entwicklung, die ein zentrales Element der Lissabonstrategie darstellen.
Drittens: Energiepolitik und Klimaschutz. Europa muss dabei auch für die Zeit nach 2012 eine führende Rolle spielen. Aufgrund der Tatsachen, dass wir erstens besonders stark vom Import abhängig sind - jetzt 50 Prozent, in der Perspektive 70 Prozent unserer Energie werden importierte Energie sein - und zweitens die fossilen Energieträger zur Neige gehen, stehen wir vor riesigen Herausforderungen. Die erste Herausforderung haben wir im Innern zu bewältigen. Da ist die allerwichtigste Aufgabe mehr Energieeffizienz. Mit Blick darauf müssen wir riesigen Druck machen. Das muss eine gemeinsame europäische Anstrengung sein. Europa muss an dieser Stelle Vorbild sein und anderen zeigen, wie es geht.
Die zweite Herausforderung liegt in der Nutzung der regenerativen Energien und dem gemeinsamen Binnenmarkt für Gas und Strom. Darüber wird im Einzelnen noch zu reden sein. Das bedeutet ausdrücklich auch Wettbewerb. Deswegen muss es möglich sein - das will der Bundeswirtschaftsminister, aber auch die Kommission -, darüber zu einem gemeinsamen Ergebnis zwischen der Bundesregierung und der Kommission zu kommen.
Meine Damen und Herren, das hat auch Konsequenzen nach außen. Wir müssen unsere Bezugsquellen diversifizieren: Russland, Norwegen, Nordafrika, der Nahe Osten und auch Zentralasien. Das Thema Energiepolitik ist zu Recht ein zentrales Element der Außenpolitik. Wir müssen die Beziehungen auf eine sichere Basis stellen. Dazu brauchen wir unter anderem das Partnerschafts- und Kooperationsabkommen mit Russland. Natürlich ist uns nicht egal, wie Russland sich im Innern entwickelt; das ist wohl wahr. Aber wir müssen auch feststellen, dass Russland immer, die ganzen Jahrzehnte über, ein verlässlicher Partner in der Energiepolitik, bei der Energielieferung war. Zu keiner Zeit haben wir etwas anderes erlebt.
Wir wollen, dass die Prinzipien der Energiecharta auch in das Partnerschafts- und Kooperationsabkommen aufgenommen werden. Ich denke, es ist vernünftig, eine Verflechtung zwischen Russland und der Westeuropäischen Union auch bei der Energieversorgung herbeizuführen. Wir haben viel an Know-how und Kapital zu bieten, das die Russen für ihre Energiepolitik brauchen. Das muss auch umgekehrt gelten; eine solche Verflechtung kann nie einseitig sein, sondern muss in beide Richtungen gelten.
Was Polen betrifft, müssen wir diesem Land garantieren, dass es seine Gaslieferung, wenn nicht vom Osten, vom Westen bekommt. Das kann überhaupt nicht streitig sein. Ich hoffe, dass die finnische Präsidentschaft es noch schafft, das Problem zu lösen. Denn, meine Damen und Herren, auch das muss man den Polen sagen: Das Energiethema ist für uns alle zu wichtig, als dass diese Frage durch das Veto eines einzelnen Landes über längere Zeit verzögert werden könnte. Auch das muss klar sein.
Zum Schluss: Frau Bundeskanzlerin, Sie und das ganze Kabinett - und alle anderen wollen sicher gerne helfen - haben mit der Doppelpräsidentschaft eine riesige Aufgabe vor sich. Ich wünsche Ihnen dazu alles Gute und sage ganz ausdrücklich: Die Unterstützung ganz gewiss der SPD-Fraktion, aber nicht nur dieser, werden Sie bei dieser Aufgabe haben.
Präsident Dr. Norbert Lammert:
Nächster Redner ist der Kollege Oskar Lafontaine für die Fraktion Die Linke.
Oskar Lafontaine (DIE LINKE):
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Die Linke will ein demokratisches und soziales Europa.
Der Forderung nach einem demokratischen und sozialen Europa wird wahrscheinlich jeder in diesem Hause zustimmen. Wenn ich aber sage, ohne ein soziales Europa gibt es kein demokratisches Europa, dann werden sich die Geister in diesem Hause scheiden.
Beginnen wir mit der Demokratie. Es ist öfter über den so genannten Ratifizierungsprozess gesprochen worden. Aber noch keiner hat die Frage gestellt, wie denn eigentlich die Verfassung in Europa verabschiedet werden soll. Ich sage in aller Klarheit, dass für uns nicht so sehr die Frage im Vordergrund steht, wie viele Länder sich wie entschieden haben, sondern die Frage, ob die Bevölkerung an dem Verfassungsprozess beteiligt worden ist. Ich meine, wenn man ein demokratisches Europa will, dann sollte man zumindest bei der Verfassung eine Volksabstimmung fordern; denn ohne Volksabstimmung gibt es kein demokratisches Europa.
Das gilt im Übrigen nicht nur für den Verfassungsprozess, sondern im Wesentlichen für alle Entscheidungen, die in den letzten Jahren getroffen worden sind, ob das die Einführung des Euro, der Vertrag von Maastricht oder die Osterweiterung war. Meine Damen und Herren, wir sind der festen Überzeugung, dass man ein demokratisches Europa nicht undemokratisch bauen kann, indem man ständig über die Köpfe der Bevölkerung hinweg entscheidet.
Nun muss der Zusammenhang zwischen einem sozialen und einem demokratischen Europa nicht unmittelbar einsichtig sein. In dem Verfassungsentwurf wird die attische Demokratie angesprochen. Ich zitiere Perikles, auf den im Verfassungsentwurf konkret Bezug genommen wird:
Der Name, mit dem wir unsere politische Ordnung bezeichnen, heißt Demokratie, weil die Angelegenheiten nicht im Interesse weniger, sondern der Mehrheit gehandhabt werden.
Wenn wir also ein demokratisches Europa bauen wollen, dann müssen wir die Verfassung so gestalten, dass die Interessen der Mehrheit der Bürgerinnen und Bürger berücksichtigt werden und nicht die Interessen der Wirtschaft und im Wesentlichen der Großkonzerne, wie das in den letzten Jahren geschehen ist.
Der eine oder andere wird nun sagen, das sei einfach nur dahergesagt und nicht begründbar. Ich möchte ganz deutlich sagen, dass diese Regierung aufgrund ihrer Politik nicht daran mitwirkt, ein soziales und damit ein demokratisches Europa zu bauen. Darüber muss geredet werden.
Es gibt in Europa drei Fehlentwicklungen, die dazu geführt haben, dass immer mehr Menschen diesen Einigungsprozess ablehnen und weiterhin ablehnen werden, wenn er wie bisher gestaltet wird. Wir sollten darauf eingehen. Diese drei Fehlentwicklungen kann man bezeichnen mit Lohndumping, Sozialdumping und Steuerdumping. Wenn man auf diesem Wege weiter voranschreitet, dann wird man kein soziales und damit kein demokratisches Europa bauen können.
Ich beginne mit dem Lohndumping. Hier spielt Deutschland eine wirklich verheerende Rolle. Die letzten veröffentlichten Zahlen, die jedem zugänglich sind, haben gezeigt, dass die Tarifabschlüsse und die Lohnentwicklung in Deutschland - das muss man unterscheiden - im Vergleich mit allen übrigen europäischen Staaten so nachteilig für die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer sind, dass die Währungsunion wirklich gefährdet ist. Ich will an dieser Stelle deutlich sagen: Unsere Dumpingpolitik, die durch immer niedrigere Lohnabschlüsse und durch die fortwährende relative Senkung der Lohnstückkosten gekennzeichnet ist, führt in anderen europäischen Hauptstädten zu Diskussionen. Auf diese Art und Weise baut man kein gemeinsames Europa, sondern man macht eine Dumpingkonkurrenz auf, die zulasten der abhängig Beschäftigten geht. Das kann kein soziales Europa in unserem Sinne sein.
Wenn man die Lohnkonkurrenz, die das Lohndumping letztendlich verursacht, bremsen wollte, dann brauchte man einen Mindestlohn. Wenn Sie Europa wirklich gemeinsam bauen wollen, dann müssen Sie sich der Mehrheit der europäischen Staaten anschließen, die bereits einen Mindestlohn eingeführt haben. Gerade wir in Deutschland brauchen diesen Mindestlohn.
Das Sozialdumping ist ebenfalls seit einer ganzen Reihe von Jahren Mode geworden und insbesondere durch uns befördert worden, was den luxemburgischen Ministerpräsidenten veranlasste, mit Blick auf die Diskussion innerhalb der so genannten Christdemokraten zu sagen: Europa kann man nicht bauen, wenn man einen Wettbewerb veranstaltet, wer Arbeitnehmerrechte, insbesondere den Kündigungsschutz, am schnellsten abbaut. - Es wäre gut, wenn sich solche Einsichten auch einmal in der CDU/CSU-Fraktion durchsetzen würden.
Neben Lohndumping und Sozialdumping haben wir Steuerdumping. Es ist aber nicht so - der Kollege Eichel hat dies so dargestellt -, dass wir die unschuldigen Opfer dieser Entwicklung sind. Ich würde das zwar gerne feststellen, aber die Zahlen sagen etwas anderes: Unsere Steuerquote wird gerade noch von der eines kleinen Staates unterboten. Ansonsten liegen wir hinsichtlich der Steuerquote ganz unten in Europa. Wir stoßen das Steuerdumping in Europa an; wir nötigen sozusagen durch unsere verfehlte Politik die anderen europäischen Staaten zum Abbau von Sozialleistungen und von öffentlicher Leistung.
Wenn Sie sich die Unternehmensteuern anschauen - Sie planen eine weitere Entlastung in Milliardenhöhe -, dann werden Sie feststellen, dass wir zu den Ländern gehören, die immer wieder im so genannten Standortwettbewerb dafür Sorge tragen, dass die Unternehmensteuern nach unten gehen. Das hat zur Konsequenz, dass die Steuern und Abgaben für die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer nach oben gehen. Dieses Europa wollen wir nicht; wir lehnen es ab. Sie aber bringen es immer stärker auf den Weg.
Sie sind keinen Argumenten zugänglich. Schauen Sie sich doch einmal die Lohnentwicklung und die Steuerquote an. Unsere Steuer- und Abgabenquote liegt bei 34 Prozent. In Europa liegt sie bei durchschnittlich 40 Prozent. Das ist eine Differenz von 130 Milliarden Euro. Ich sage es noch einmal: Wenn wir die Steuer- und Abgabenquote des europäischen Durchschnitts hätten, wäre keine einzige der umstrittenen Maßnahmen zum Sozialabbau in den letzten Jahren notwendig gewesen. So traurig ist die Wirklichkeit.
Ich komme zum letzten Punkt, zur Außenpolitik. Ich habe sehr erfreut gehört, dass Sie, Frau Bundeskanzlerin, besondere Initiativen im Nahen Osten ergreifen wollen. Aber die Frage ist doch: mit welcher Stoßrichtung?
Es gehört, wenn wir über Europa sprechen, dazu, sich in Erinnerung zu rufen, dass der Kontinent eine koloniale Tradition hat, und zwar angefangen von Südamerika bzw. den Conquistadores bis hin zu der Rolle verschiedener Länder - auch Deutschlands - in Afrika und jetzt im Vorderen Orient. Diese koloniale Tradition ist nicht zu Ende. Es ist nun einmal so, dass es im Vorderen Orient letztendlich nicht um Freiheit und Demokratie geht, sondern dass dort, wie beispielsweise John F. Kerry im letzten Präsidentschaftswahlkampf wörtlich formuliert hat, amerikanische Soldaten wegen des Öls sterben.
Aber eine Außenpolitik, die auf Rohstoffimperialismus fußt, kann niemals zum Weltfrieden beitragen.
Ob wir es wahrhaben wollen oder nicht: Wir sind am Irakkrieg beteiligt. Man kann natürlich darüber lachen, dass man das Völkerrecht bricht und an einem solchen Krieg beteiligt ist. Das Bundesverwaltungsgericht hat festgestellt, dass wir an diesem Krieg beteiligt sind, weil wir die Nutzung deutscher Flughäfen ermöglichen, Infrastruktur bereitstellen, Geleitschiffe entsandt haben usw. usf.
Frau Bundeskanzlerin, wir hätten gerne von Ihnen gehört, ob Sie im Vorderen Orient weiter Außenpolitik in dieser Tradition betreiben wollen oder ob Sie sich endlich von einer verfehlten Außenpolitik lösen wollen, die auf imperialen Zielen aufbaut und deshalb niemals im Nahen Osten zu Frieden führen kann.
Man kann die Tatsachen, die Lohnentwicklung, die Entwicklung der Sozialsysteme, die Entwicklung der Steuersysteme und die Ergebnisse einer völlig verfehlten Außenpolitik, ignorieren. Wir stimmen zu, dass Europa einen besonderen Auftrag hat. Die besondere Aufgabe besteht darin, ein Europa zu schaffen, das sozial und demokratisch ist und dem Frieden dient.
Präsident Dr. Norbert Lammert:
Das Wort erhält nun der Kollege Dr. Peter Ramsauer, CDU/CSU-Fraktion.
Dr. Peter Ramsauer (CDU/CSU):
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Es ist schon interessant, Herr Kollege Lafontaine, Ihnen zuzuhören.
- Ja, es ist interessant; aber gleich werden Sie nicht mehr klatschen. - Lieber Herr Kollege Lafontaine, Sie sitzen mit den Nachfolgern von Sozialisten und Kommunisten in einem Fraktionsboot
und kommen uns mit Belehrungen über Demokratie in Deutschland und Europa.
Ich möchte Ihnen etwas ins Stammbuch schreiben, was der Kollege Westerwelle vorhin vollkommen richtig gesagt hat: Sie haben nicht kapiert, dass es hier nicht um die Koalition oder die Opposition geht, sondern um deutsche und europäische Interessen und darum, dass Europa eine gute Zukunft in der Welt hat.
Noch etwas gehört gesagt - wenn ich an Ihre Person, Herr Lafontaine, anknüpfen darf -: Wenn Leute wie Sie, Herr Lafontaine, die wie sonst niemand die deutsche Wiedervereinigung bekämpft haben, in Deutschland die politische Oberhand behalten hätten, dann wären wir mit der europäischen Einigung nicht da, wo wir heute Gott sei Dank sind.
Sehr geehrte Frau Bundeskanzlerin, Sie haben uns allen in einer großartigen Regierungserklärung
Mut gemacht in Bezug auf das, was wir im kommenden Halbjahr während der deutschen Präsidentschaft für Europa und Deutschland bewegen wollen.
Sie haben gesagt: ?Europa gelingt gemeinsam.“ Ich füge hinzu: Es gelingt gemeinsam, wenn wir den Menschen Vertrauen und Verlässlichkeit als Grundlage eines gelingenden Europas vermitteln können.
Dass wir daran arbeiten müssen, lehren uns die Erfahrungen, die wir mit dem europäischen Verfassungsvertrag gemacht haben. Die Bürgerinnen und Bürger in Frankreich und Holland haben in den jeweiligen Referenden nicht etwa deshalb Nein zum Verfassungsvertrag gesagt, weil sie den Entwurf von der ersten bis zur letzten Seite durchstudiert haben.
Sie haben deshalb Nein gesagt, weil sie ein mulmiges Gefühl hatten, weil Vertrauen und Verlässlichkeit nicht gewährleistet waren, weil für sie Europa nicht mit einer glänzenden und guten Zukunft verbunden war, sie keinen Nutzen für den einzelnen Bürger sahen, wie Sie es, Frau Bundeskanzlerin, angesprochen haben, und sie die Europäische Union mit ausufernden Bürokratismen, Unübersehbarkeiten und mit der unbeantworteten Frage in Zusammenhang gebracht haben, wie weit die Europäische Union eines Tages gehen wird, wo die Grenzen festgelegt werden. Das sind Fragen, mit denen wir uns konstruktiv auseinander setzen müssen.
Dazu gehört auch die Frage, was mit der von uns vor wenigen Wochen im Deutschen Bundestag im Zusammenhang mit dem Beitritt Bulgariens und Rumäniens gestellten Forderung geschieht. Wir als Deutscher Bundestag haben Ja zum Beitritt dieser beiden Länder zum 1. Januar des kommenden Jahres gesagt. Aber wir haben auch klare Bedingungen formuliert. Ich möchte einen entscheidenden Satz aus der Entschließung vorlesen. Wir haben beschlossen:
Der Deutsche Bundestag ... hält vom Beginn des Beitritts an Schutzmaßnahmen für erforderlich, sollten die von der Kommission genannten Defizite nicht bis zum 1. Januar 2007 beseitigt sein.
Ich kann nur sagen: Wir meinen das ernst.
Ich bedanke mich bei Ihnen, Frau Bundeskanzlerin, dass Sie dies gleich danach in einem Brief dem Präsidenten der Europäischen Kommission, Barroso, mitgeteilt haben. Wir sind alle auf die Antwort gespannt. Ich möchte mir das ganz genau ansehen. Barroso muss natürlich dazu Stellung nehmen, ob die Beitrittskriterien jetzt erfüllt sind oder nicht. Wenn in dem Antwortbrief festgestellt wird, dass die Beitrittskriterien erfüllt sind, dann ist es gut. Wenn aber in ihm steht, dass die Beitrittskriterien nicht erfüllt sind, dann müssen nach unserer Auffassung diese Schutzmechanismen aktiviert werden. Wenn Barroso sagen sollte, dass die Kommission die Schutzmechanismen trotzdem nicht einleitet, dann riskiert die Kommission ein Vertrauenszerwürfnis zwischen ihr auf der einen Seite und dem Deutschen Bundestag auf der anderen Seite.
Wir müssen hier eine klare Sprache sprechen, wenn wir uns selbst ernst nehmen wollen und wenn wir den Bürgern in Europa Vertrauen und Verlässlichkeit vermitteln wollen.
Etwas Ähnliches gilt für die Türkei. Auch die Türkei muss wissen, dass wir auf der Grundlage von Vertrauen und Verlässlichkeit handeln. Die Türkei muss sich auf das Verhandlungsgebaren der Europäischen Union verlassen können.
- Das, was ich hier sage, haben wir bei allen so gehalten, die, von den ursprünglichen sechs abgesehen, der EU beigetreten sind.
Wenn ich Bulgarien und Rumänien hinzunehme, sind es 21 Länder, die beigetreten sind. Sie alle haben das Rechtsstatut, den so genannten Acquis communautaire, immer eingehalten bzw. es gab gewisse festgelegte Übergangsfristen.
Natürlich muss sich auch die Türkei als verlässlicher und vertrauenswürdiger Verhandlungspartner erweisen und die Zusagen einhalten, die sie gegeben hat.
Ich bin deshalb froh, dass die Außenminister am vergangenen Montag konsequent Schlussfolgerungen daraus gezogen haben, dass das Ankaraprotokoll, zu dessen Einhaltung sich die Türkei verpflichtet hat - das hat die Frau Bundeskanzlerin ausgeführt -, nicht erfüllt worden ist. Die Konsequenzen, die die Außenminister beschlossen haben, sind aus unserer Sicht das Mindeste, was als Antwort erforderlich war.
Noch einmal zur Klarstellung: Die Erfüllung des Ankaraprotokolls allein reicht noch nicht für eine Vollmitgliedschaft. Klarer ausgedrückt: Ohne die Einhaltung des Protokolls ist die Mitgliedschaft nicht möglich. Die Einhaltung des Ankaraprotokolls war überhaupt die Vorbedingung für die Aufnahme von Beitrittsverhandlungen. Wenn entgegenkommenderweise - ich verweise noch einmal auf Verlässlichkeit und Vertrauen - die Beitrittsverhandlungen eingeleitet worden sind, obwohl diese Vorbedingung nicht erfüllt war, dann muss das entsprechend Berücksichtigung finden.
Das sind Fragen, mit denen wir uns konstruktiv auseinander setzen müssen.
Dazu gehört auch die Frage, was mit der von uns vor wenigen Wochen im Deutschen Bundestag im Zusammenhang mit dem Beitritt Bulgariens und Rumäniens gestellten Forderung geschieht. Wir als Deutscher Bundestag haben Ja zum Beitritt dieser beiden Länder zum 1. Januar des kommenden Jahres gesagt. Aber wir haben auch klare Bedingungen formuliert. Ich möchte einen entscheidenden Satz aus der Entschließung vorlesen. Wir haben beschlossen:
Der Deutsche Bundestag ... hält vom Beginn des Beitritts an Schutzmaßnahmen für erforderlich, sollten die von der Kommission genannten Defizite nicht bis zum 1. Januar 2007 beseitigt sein.
Ich kann nur sagen: Wir meinen das ernst.
Ich bedanke mich bei Ihnen, Frau Bundeskanzlerin, dass Sie dies gleich danach in einem Brief dem Präsidenten der Europäischen Kommission, Barroso, mitgeteilt haben. Wir sind alle auf die Antwort gespannt. Ich möchte mir das ganz genau ansehen. Barroso muss natürlich dazu Stellung nehmen, ob die Beitrittskriterien jetzt erfüllt sind oder nicht. Wenn in dem Antwortbrief festgestellt wird, dass die Beitrittskriterien erfüllt sind, dann ist es gut. Wenn aber in ihm steht, dass die Beitrittskriterien nicht erfüllt sind, dann müssen nach unserer Auffassung diese Schutzmechanismen aktiviert werden. Wenn Barroso sagen sollte, dass die Kommission die Schutzmechanismen trotzdem nicht einleitet, dann riskiert die Kommission ein Vertrauenszerwürfnis zwischen ihr auf der einen Seite und dem Deutschen Bundestag auf der anderen Seite.
Wir müssen hier eine klare Sprache sprechen, wenn wir uns selbst ernst nehmen wollen und wenn wir den Bürgern in Europa Vertrauen und Verlässlichkeit vermitteln wollen.
Etwas Ähnliches gilt für die Türkei. Auch die Türkei muss wissen, dass wir auf der Grundlage von Vertrauen und Verlässlichkeit handeln. Die Türkei muss sich auf das Verhandlungsgebaren der Europäischen Union verlassen können.
- Das, was ich hier sage, haben wir bei allen so gehalten, die, von den ursprünglichen sechs abgesehen, der EU beigetreten sind.
Wenn ich Bulgarien und Rumänien hinzunehme, sind es 21 Länder, die beigetreten sind. Sie alle haben das Rechtsstatut, den so genannten Acquis communautaire, immer eingehalten bzw. es gab gewisse festgelegte Übergangsfristen.
Natürlich muss sich auch die Türkei als verlässlicher und vertrauenswürdiger Verhandlungspartner erweisen und die Zusagen einhalten, die sie gegeben hat.
Ich bin deshalb froh, dass die Außenminister am vergangenen Montag konsequent Schlussfolgerungen daraus gezogen haben, dass das Ankaraprotokoll, zu dessen Einhaltung sich die Türkei verpflichtet hat - das hat die Frau Bundeskanzlerin ausgeführt -, nicht erfüllt worden ist. Die Konsequenzen, die die Außenminister beschlossen haben, sind aus unserer Sicht das Mindeste, was als Antwort erforderlich war.
Noch einmal zur Klarstellung: Die Erfüllung des Ankaraprotokolls allein reicht noch nicht für eine Vollmitgliedschaft. Klarer ausgedrückt: Ohne die Einhaltung des Protokolls ist die Mitgliedschaft nicht möglich. Die Einhaltung des Ankaraprotokolls war überhaupt die Vorbedingung für die Aufnahme von Beitrittsverhandlungen. Wenn entgegenkommenderweise - ich verweise noch einmal auf Verlässlichkeit und Vertrauen - die Beitrittsverhandlungen eingeleitet worden sind, obwohl diese Vorbedingung nicht erfüllt war, dann muss das entsprechend Berücksichtigung finden.
Wir nehmen natürlich zur Kenntnis, dass es im Inneren der Türkei Widerstände gibt, dass es unglaublich schwierig ist, diese Nation nach Europa zu führen. Die Türkei befindet sich nämlich in einem großen Dilemma: In der Türkei gibt es nicht nur eine horizontale kulturelle Vielfalt - das ist für europäische Länder normal -, sondern auch eine vertikale kulturelle Vielfalt im historischen Längsschnitt. Ich kenne die Türkei gut genug, um sagen zu können, dass dort - zwischen Istanbul im Westen und Ostanatolien - die Kulturen verschiedener Jahrhunderte wie im Zeitraffer im Hier und Jetzt nebeneinander stehen. Für die Türkei ist es ungeheuer schwierig, alles, was damit zusammenhängt, zu bewältigen.
Es wäre aber vollkommen falsch, wenn die Europäische Union das als Begründung dafür heranziehen würde, in ihrem Verhandlungsgebaren nachgiebiger zu werden.
Dieses Unvermögen der Türkei bzw. das Dilemma, in dem sie steckt, darf nicht zur Forderung nach einer Verhandlungsnachgiebigkeit führen. Es muss vielmehr zu der Frage führen, ob eine Vollmitgliedschaft der Türkei angesichts dessen überhaupt - auch für die Türkei - die adäquate Lösung ist, ob eine andere Form der allerengsten Anbindung an Europa nicht im ureigenen Interesse der Türkei liegt. Wir stoßen die Türkei nicht zurück, wir strecken die Hand zu einer ganz besonders engen Partnerschaft aus. Ich glaube, die Türkei täte sich im Hinblick auf ihren inneren Frieden, auf das Bewahren ihrer inneren Kohäsion und ihrer kulturellen Traditionen einen Gefallen, wenn sie nicht sofort dem Acquis communautaire beitreten würde; denn eine Vollmitgliedschaft verlangt einem Staat viel ab.
Wir müssen bei der Erweiterung der EU natürlich darauf achten, dass sie auf lange Sicht sinnvoll und sinnstiftend ist und das erfüllt, was die Bürger in Europa erwarten. Dazu gehört auch die Frage, wie es auf dem Balkan weitergeht. Ich möchte hier ausdrücklich feststellen, dass es jetzt vollkommen klar ist, dass die Beitrittsverhandlungen mit Kroatien abgekoppelt sind und nicht mehr, wie es einmal versucht worden ist, im Gleichschritt mit den Verhandlungen mit der Türkei laufen. Kroatien hat eine exzellente Beitrittsperspektive.
Wir müssen aber klar machen - vielleicht muss das im Rahmen des Verfassungsvertrages in nicht allzu ferner Zeit beschlossen werden -, dass es auf Dauer nicht angeht, dass kleine Länder eine x-beliebige staatliche Zellteilung betreiben - auf dem Balkan gab es jüngst ein solches Referendum - und trotzdem die vollen Rechte eines souveränen Staates in der Europäischen Union in Anspruch nehmen wollen. Dafür haben die Menschen in Europa auf Dauer kein Verständnis.
Wenn wir über den Verfassungsvertrag sprechen, ist es wichtig, Ihnen, Frau Bundeskanzlerin, dafür zu danken, dass Sie vor wenigen Wochen noch einmal vollkommen unmissverständlich klar gemacht haben, dass wir - ich spreche hier für meine Fraktion - einen Gottesbezug in der Präambel des Verfassungsvertrages wollen. Dazu stehen wir und daran lassen wir uns messen.
Im kommenden Halbjahr stehen viele wichtige Projekte auf der Tagesordnung: die Entscheidungsverfahren verbessern, eine glaubhafte Subsidiaritätsstruktur entwickeln und vor allen Dingen die Liberalisierung der Energiemärkte weiterbetreiben. Hier haben wir einen erheblichen Nachholbedarf. Ich danke dem Bundeswirtschaftsminister an seinem heutigen Geburtstag vielmals dafür, mit welch unglaublicher Energie er auf die weitere Liberalisierung der Energiemärkte in Europa, aber auch in weltweiten Zusammenhängen hinwirkt.
Ich habe gesagt, dass wir auf diesem Gebiet einiges nachzuholen haben. Ich kann mich gut an die Zeit vor zehn Jahren erinnern, als wir die Liberalisierung der Energiemärkte in Europa auf Grundlage der Liberalisierungsrichtlinie angegangen sind. Ich habe damals immer gesagt: Wir können nur Ja zur Liberalisierung sagen - wir Deutsche haben sie übrigens als Allererste konsequent durchgeführt, und zwar auf allen Spannungsebenen, energiewirtschaftlich betrachtet - unter der Vorbedingung, dass Frankreich ein Entflechtungskonzept für die EDF vorlegt. Das ist bis heute nicht geschehen. Es wäre richtig gewesen, wenn wir das damals wesentlich konsequenter eingefordert hätten. Jetzt müssen wir die Hausaufgaben erledigen.
Wir müssen das Problem der Produktpiraterie angehen und Entbürokratisierung durchsetzen. Dies beginnt damit, dass das Entstehen neuer Bürokratie in Brüssel unterbunden wird.
In dieser Hinsicht verspreche ich mir viel von den neuen Verzahnungen der Informationsstränge; dadurch wird uns dies besser gelingen.
- Man kann zumindest Zeichen setzen.
Wenn man es mit dem Unterbinden der Bürokratie ernst meint, dann muss man dies an ganz konkreten Punkten festmachen, so wie wir dies jetzt mit der Ablehnung der Umsetzung der verrückten Feuerzeugverordnung in deutsches Recht getan haben. Wer selbst Erfahrungen mit Kindern hat, der weiß, dass man noch so viele Versuche mit Hundertschaften von Kindern und Feuerzeugen machen kann: Die Kinder sind nicht so dumm,
als dass sie damit nichts anrichten könnten. - Hier ist Vernunft angesagt. Denen in Brüssel, die an den Normen arbeiten, möchte ich eines ins Stammbuch schreiben: Meine Damen und Herren in Brüssel, spart euch etwas von der intellektuellen Kälte! Mit mehr Herz und Verstand gewinnt ihr eher das Vertrauen der Menschen in Europa als mit bürgerferner intellektueller Kälte.
In wenigen Monaten feiern wir in Deutschland das Jubiläum der Römischen Verträge. Dieses Ereignis im wiedervereinigten Deutschland und gerade hier in Berlin unterstreicht wie kein anderes Symbol, wie sehr Europa einig geworden ist. Es zeigt auch, dass wir in diesen sechs Monaten eine ganz exzellente Chance haben - vor allem durch die Koppelung von EU-Ratspräsidentschaft und G-8-Präsidentschaft -, das Vertrauen in uns und unsere Verlässlichkeit
in den Augen unserer Bürger wieder zu fördern und zum Teil wiederherzustellen, aber auch das Vertrauen und die Verlässlichkeit zwischen Deutschland, Europa und der übrigen Welt.
Vielen herzlichen Dank.
Präsident Dr. Norbert Lammert:
Bevor ich dem Kollegen Keskin das Wort zu einer Kurzintervention erteile, möchte ich dazu ermahnen, bei Zwischenrufen, die hier oben nicht immer zweifelsfrei zu identifizieren sind - schon gar nicht, wenn sie alle gleichzeitig erfolgen -, bewährte parlamentarische Umgangsformen einzuhalten. Gelegentlich, Herr Kollege Lafontaine, gibt es Formulierungen, die wir hier eher zu vermeiden bemüht sind.
- Noch vorsichtiger ließ sich das kaum formulieren, als ich es gerade getan habe.
Nun hat der Kollege Keskin Gelegenheit zu einer Kurzintervention.
Dr. Hakki Keskin (DIE LINKE):
Vielen Dank, Herr Präsident. - Herr Dr. Ramsauer, Sie haben in Bezug auf das Verhalten der Türkei gegenüber der EU von Verlässlichkeit und Vertrauen gesprochen. Hier gebe ich Ihnen Recht. Aber meinen Sie nicht, dass dies nicht auch für Ihre Verlässlichkeit, für die Haltung Ihrer Partei und die des Vorsitzenden der CSU, Herrn Stoiber, zu gelten hat, der sich trotz der vertraglichen Vereinbarung, dass mit der Türkei Beitrittsverhandlungen geführt werden, immer wieder gegen einen EU-Beitritt der Türkei ausspricht und dieses Vertrauen und diese Verlässlichkeit somit in hohem Maße verletzt?
Zur Verlässlichkeit gehört auch, dass die EU ihre Zusicherungen gegenüber der Türkei erfüllen muss. Die Frau Bundeskanzlerin und Herr Westerwelle haben in ihren Reden aber nur den einen Teil der Wahrheit gesagt. Zum anderen Teil der Wahrheit gehört, dass im Gegenzug zur Zusicherung der Türkei, das Ankarazusatzprotokoll auf Südzypern auszudehnen, die EU direkte Handelsbeziehungen mit Nordzypern, dem türkischen Teil Zyperns, aufnimmt und das Embargo bzw. die Isolation dieses Teils Zyperns beendet. Hiervon ist aber überhaupt keine Rede. Die Umsetzung dieser Vereinbarung ist bislang ausgeblieben. Diese Umsetzung aber hat die Türkei verlangt.
Die linke Fraktion legt sehr großen Wert auf Gerechtigkeit.
Dazu gehört nicht nur Gerechtigkeit gegenüber Menschen, sondern auch Gerechtigkeit gegenüber anderen Ländern.
Danke sehr.
Präsident Dr. Norbert Lammert:
Ich sehe mir das gerne im Protokoll an.
Besteht der Wunsch zu einer Erwiderung? - Das ist nicht der Fall.
Dann erteile ich als nächster Rednerin der Kollegin Renate Künast für die Fraktion des Bündnisses 90/Die Grünen das Wort.
Renate Künast (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Frau Bundeskanzlerin, die Herausforderungen angesichts der EU-Ratspräsidentschaft, die Deutschland ab dem 1. Januar 2007 innehaben wird, sind groß. Deutschland erwartet und wir erwarten von Ihnen, dass Sie konkret sagen, in welche Richtung Sie gehen wollen, welche Instrumente Sie nutzen wollen, mit wem Sie Bündnisse schließen wollen und wie Sie Ihre Ziele erreichen wollen. Aber ich muss Ihnen, Frau Merkel, sagen: Sie haben Ihre Ziele nicht konkret benannt. Ihre Rede war seltsam, blutleer und dürftig.
Sie reden immer im Ungefähren. Man kann heute feststellen, dass Sie im Hinblick auf die deutsche EU-Ratspräsidentschaft, die in den nächsten Tagen beginnt, nicht gut aufgestellt sind. Warum? Üblicherweise trägt jeder Mitgliedstaat der Europäischen Union, bevor er die EU-Ratspräsidentschaft übernimmt, dafür Sorge, dass er selbst in keine Konflikte verwickelt ist, seine eigenen Probleme gelöst hat und seine Hausaufgaben gemacht hat. Sie aber übernehmen die Präsidentschaft vor dem Hintergrund eines blauen Briefs aus Brüssel zum Emissionshandel, einer Abmahnung bezüglich der Reduzierung der Treibhausgasemissionen und einer, wie ich finde, wirklich unnötigen Eskalation bei den Verhandlungen mit der Türkei, zu der Sie persönlich beigetragen haben. Ich meine, Sie haben einen Klotz am Bein und genau an der Stelle müssen Sie nachbessern.
In Ihrer Rede fehlte es an Konkretisierung. Ich will Ihnen einmal sagen, was wir erwarten, und dabei von außen nach innen gehen. Frau Merkel, Sie sagen hier mit großer Weltsicht: Wir müssen Afrika helfen, sich zu entwickeln in Frieden und Wohlstand. - Wie kann man Afrika helfen wollen, ohne heute hier das Wort ?Darfur“ auszusprechen? Eine Lösung für diesen Konflikt gehört doch zu einem solchen Konzept dazu.
Wir können - das wissen wir doch - Afrika nur helfen, wenn wir ihm helfen, sich wirtschaftlich zu entwickeln, sich politisch weiter zusammenzuschließen. Wir können Afrika nicht helfen, indem wir einfach zur Kenntnis nehmen, dass pro Jahr mehr als tausend Menschen an den europäischen Außengrenzen oder auf hoher See versterben, ertrinken. Wir können als Antwort nicht die Polizeifestung Europa dagegensetzen, sondern da müssen Sie, Frau Merkel, ein Konzept zur Entwicklung Afrikas vorlegen. Sie müssen aber auch sagen, wie die Migrations- und Flüchtlingspolitik für Europa aussehen soll. Das wäre eine Antwort und nicht nur das Ungefähre.
Wir erwarten von Ihnen auch, dass das Gerede über die Türkei endlich aufhört. Ich muss ehrlich sagen, ich wundere mich über die Rede von Herrn Ramsauer. Herr Ramsauer, wie kann man eigentlich bei weit mehr als zehn Minuten Redezeit der draußen staunenden Öffentlichkeit immer nur Bedenken und Kritik im Hinblick auf einen Beitritt der Türkei vermitteln?
Das ist ein Fehler, das ist populistisch und das ist das Gegenteil von dem, was Ihr früherer Bundeskanzler Helmut Kohl einmal als Perspektive für die Türkei eröffnet hat, im deutschen Interesse und im europäischen Interesse.
Sie haben sich selber entlarvt - nicht dass wir es nicht schon vorher gewusst hätten -, indem Sie, nachdem Sie so breit die Probleme eines Beitritts der Türkei erörtert haben, bei Kroatien als guter Katholik gleich Ja gesagt haben.
Ich will gar nicht negieren, dass Kroatien weit entwickelt ist. Aber, Herr Ramsauer, so kann man Europa, die Erweiterung der Europäischen Union und eine europäische Nachbarschaftspolitik nicht entwickeln; damit kommen Sie den europäischen Interessen nicht nach.
Frau Merkel, Sie haben meines Erachtens ordentlich auf den Tisch geschlagen - allerdings in einem negativem Sinne -, als es um die Türkei ging. Wir sind, ehrlich gesagt, froh, dass sich an dieser Stelle nicht Sie in Brüssel durchgesetzt haben, sondern Ihr Außenminister, Herr Steinmeier.
Wir erwarten von der deutschen Präsidentschaft ein aktives Engagement hinsichtlich des Nahen Ostens.
Wir erwarten, dass Europa seiner Verpflichtung nachkommt, zum Frieden im Nahen Osten beizutragen. Es darf hier nicht passieren, dass man sich hinter dem internationalen Desinteresse, zum Beispiel der USA, versteckt. Deutschland muss an dieser Stelle mehr als koordinieren. Deutschland darf nicht einfach sagen, der Besuch von Herrn Steinmeier in Syrien sei eine ungewöhnliche Maßnahme gewesen. Das hört sich an wie eine Distanzierung Frau Merkels. Wir sagen ganz klar: Man muss mit diesen Ländern reden, auch mit Syrien, und ihnen eine Perspektive geben. Deutschland ist spät genug dran.
Ich will noch zwei Dinge nennen, die wir erwarten. Wir erwarten, dass im Bereich Klima- und Energiepolitik in dieser Dekade tatsächlich Schritte unternommen werden. Obwohl Sie viele allgemeine Punkte benannt haben, Frau Merkel, ist mir nach Ihrer Rede immer noch unklar, wen Sie eigentlich unterstützen. Unterstützen Sie Sigmar Gabriel, der 30 Prozent weniger Emissionen will? Oder unterstützen Sie Günter Verheugen, der 15 Prozent weniger Emissionen will?
Genau davon hängt ab, ob Europa seine Klimaziele erreicht, ob Europa eine Vorreiterrolle haben kann. Nur wenn Sie endlich aussprechen: ?Minus 30 Prozent bei den Emissionen“, sind Sie überhaupt in der Lage, in Europa oder auf dem G-8-Gipfel eine Vorreiterrolle einzunehmen.
Stattdessen stehen Sie hier mit einem blauen Brief und haben ein Abmahnungsverfahren am Hals. Und da sagen Sie uns, man müsse auch weitere Schritte einleiten! In der Tat, Frau Merkel, wir brauchen weitere Schritte. Doch um diese Schritte überhaupt machen zu können, müssen wir den Verkehr in den Emissionshandel einbeziehen und wir müssen überlegen, ob Europas internes Kontrollsystem in Sachen Klima und Ökologie hinreichend ist.
Nach vielen Jahren gegenteiliger Arbeit durch die CDU/CSU-Fraktion hat Frau Merkel heute hier gesagt - ich freue mich, dass Sie das angesprochen haben -, auch im internationalen Welthandel müssten soziale und ökologische Kriterien verankert werden.
Darauf kann ich nur sagen: Sie sind endlich angekommen. Aber wenn Sie das erreichen wollen, dann müssen Sie erst einmal einen großen Schritt in Europa gehen. Danach gehen wir mit Ihnen gerne einen Schritt weiter, wenn es darum geht, dass im WTO-Handel ökologische und soziale Kriterien verankert werden. Das fehlt bisher. Die WTO legitimiert in Wahrheit nur Raubbau.
Wir erwarten von Ihnen, Frau Merkel, dass Sie bei der Weiterentwicklung der Bereiche Justiz und Inneres darauf achten, dass es auch in Zukunft noch Datenschutz- und Verteidigungsrechte gibt. Dazu haben Sie kein Wort gesagt. Wir reden hier über eine Weiterentwicklung im Asylbereich, was das Thema Migranten betrifft, und über eine Zusammenarbeit in den Bereichen Inneres und Justiz. Aber Sie haben am Ende nur einen internationalen Datenaustausch zu bieten, der Zugriff auf sämtliche nationale Datenbanken innerhalb der Europäischen Union ermöglicht. Dazu kann ich nur sagen: Es ist nicht unsere Vorstellung von Europa, dass wir den gläsernen europäischen Bürger bekommen.
Lassen Sie mich zum Schluss noch etwas zum Thema Römische Verträge sagen. Wir werden im März des kommenden Jahres die Feierlichkeiten zu 50 Jahren Römische Verträge und Euratom begehen. Wir müssen der Europäischen Union einen Sinn einhauchen. Die Menschen im Lande fragen sich, wozu sie die Europäische Union brauchen. Keiner glaubt heute mehr, dass diese Europäische Union dazu da sein soll, der ?Subventionitis“ zu frönen. Keiner glaubt heute mehr, dass sie dazu da ist, dass weiterhin Kohle produziert und verwendet wird. Keiner glaubt heute mehr - das richte ich besonders an Sie, Herr Westerwelle -, dass unsere Zukunft in der Atomenergie liegt.
- Bis auf einen Geisterfahrer, sage ich Ihnen.
Frau Merkel, wir brauchen eine gemeinsame Außenpolitik, um die Weltwirtschaft und den Weltmarkt beeinflussen zu können. Wir brauchen in der EU ein Zusammenleben der Religionen. Darüber müssen wir reden und dürfen niemanden ausgrenzen. Wir brauchen eine öffentliche Debatte über Europa im Bundestag und in der Gesellschaft. Frau Merkel, Sie haben in Ihrem letzten Satz gesagt, dass Sie genau das anbieten. Ich sage in meinem letzten Satz: Wir sind bereit, über ein offenes Europa zu diskutieren, das seine Aufgaben beim Thema Klimaschutz und Soziales erledigt. Aber dann dürfen Sie nicht in einer Art klandestiner Politik eine Berliner Erklärung vorbereiten, bei der nicht einmal der Deutsche Bundestag einbezogen wird. Lassen Sie uns gemeinsam daran arbeiten! Aber dazu gehört auch eine offene Diskussion.
Präsident Dr. Norbert Lammert:
Nächster Redner ist der Kollege Axel Schäfer für die SPD-Fraktion.
Axel Schäfer (Bochum) (SPD):
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Europa gelingt gemeinsam in der deutschen Ratspräsidentschaft mit dieser großen Koalition.
Wir werden uns dabei in die Tradition deutscher Ratspräsidentschaften stellen. Ich möchte kurz die beiden letzten nennen:
Während der Ratspräsidentschaft 1999 unter Bundeskanzler Gerhard Schröder waren wir außergewöhnlich erfolgreich. Ich denke nur an die Beauftragung eines Konvents zur Ausarbeitung der Grundrechtecharta, an die Lösung des Kosovokonflikts, an die Bewältigung der Kommissionskrise und an die Einigung über die Agenda 2000.
Wir stehen auch in der Kontinuität zur Politik von Bundeskanzler Helmut Kohl 1994. Damals haben wir erhebliche Fortschritte in der Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik erreicht. An Gesetzen wurde die Richtlinie über Europäische Betriebsräte verwirklicht. Es wurde das gemeinsame kommunale Wahlrecht für alle Bürgerinnen und Bürger realisiert. - Die Ratspräsidentschaften 1994 und 1999 waren Erfolge, auf denen wir aufbauen werden.
Dazwischen liegen 13 Jahre. Bis 2007 wird die Zahl der Mitgliedsländer der EU von zwölf auf 27 wachsen. Wir haben eine gemeinsame Währung und entscheiden gleichberechtigt im Europäischen Parlament. Diese Erfolge und diese Dimension müssen wir uns deutlich machen, auch wissend, dass die darauf folgende Ratspräsidentschaft - das ist die Dimension - erst wieder in 13 Jahren, nämlich 2020, sein wird.
Was sind nun die besonderen Herausforderungen während unserer Ratspräsidentschaft?
Erstens wird es darum gehen, Wirtschaft, Soziales und Ökologie zusammenzuführen. Wir als Sozialdemokratinnen und Sozialdemokraten sagen: Entscheidend ist, dass wir das europäische Sozialmodell weiterentwickeln.
Wir müssen das noch einmal ins Bewusstsein rücken: Das europäische Sozialmodell basiert auf starken Gewerkschaften - Ordnungsfaktor und Gegenmacht -, auf Gleichberechtigung - Arbeitnehmer und Arbeitgeber auf gleicher Augenhöhe -, auf Solidarität und auf staatlicher Mitverantwortung. Es ist das Gegenteil von kalter Globalisierung und Ellenbogengesellschaft. Europa funktioniert nur als Sozialgemeinschaft.
Deshalb ist das, was sich die Bundesregierung konkret in diesem Bereich vorgenommen hat, gut: Erstens. Wir fordern die Kommission auf, sicherzustellen, dass die Gesetze auch auf ihre sozialen Auswirkungen hin und nicht nur hinsichtlich einer allgemeinen Realisierung des Binnenmarktes konzipiert werden. Zweitens. Wir setzen die Beschäftigungsstrategie fort. Drittens. Wir werden dort weiterhin erfolgreich sein, wo wir bisher schon am meisten geleistet haben, nämlich im Gesundheits- und Arbeitsschutz. Viertens. Mit einem Programm für die Jahre 2006 bis 2010 entwickeln wir weitere Konzepte für die Gleichstellung von Männern und Frauen.
Fünftens. Wir sind auch mit speziellen Maßnahmen zur Bekämpfung von Jugendarbeitslosigkeit aktiv.
Das alles sind wichtige und zentrale Bereiche für uns und das werden auch die Sozialdemokraten in der Bundesregierung, ihre Ministerinnen und Minister tragen. Möglich wurde das erst, weil wir es unter deutscher Mitwirkung bei der Gestaltung der Finanzvorausschau 2013 im letzten Jahr geschafft haben, dass in diesen europäischen Haushalt enorme Mittel eingestellt wurden, um diese Herausforderungen - soziale Gerechtigkeit, Beschäftigungsförderung, Bekämpfung von Benachteiligungen und Förderung von strukturschwachen Regionen - erfolgreich bewältigen zu können, anstatt, wie in früheren Zeiten, lediglich den Agrarsektor zu subventionieren.
Kolleginnen und Kollegen, zweitens werden wir den Verfassungsprozess voranbringen und einen erfolgreichen Pfeiler setzen, der eine Brücke über die portugiesische und slowenische bis hin zur französischen Präsidentschaft tragen wird, sodass wir zu neuen Grundlagen - auch verfassungsrechtlichen - in dieser Europäischen Union kommen werden.
Liebe Bundesregierung, hier haben wir eine ganz klare Erwartung. 18 Länder haben den Verfassungsvertrag ratifiziert. Wir sagen selbstbewusst, dass das ein gemeinsamer Erfolg ist. Nicht wir müssen uns bewegen, sondern die neun Länder, die noch nicht ratifiziert haben oder in denen die Referenden - in zwei Fällen - negativ ausgefallen sind. Sie sind jetzt in der Bringschuld. Wir müssen Brücken bauen und sie mitnehmen, aber diese Länder müssen ihre Verantwortung wahrnehmen. Mit der Unterzeichnung des Verfassungsvertrages sind sie nämlich die Verantwortung eingegangen, den Verfassungsvertrag auch zu ratifizieren. Anstatt dass diese Länder und Regierungen - teilweise sind die Personen identisch mit denen, die ihn 2003 unterschrieben haben - dieses Werk beiseite stellen, sich zurücklehnen und die Entwicklung von außen betrachten, müssen sie von uns in die Verantwortung genommen werden. Das werden wir auch tun.
Ein Drittes. Wir betreiben eine europäische Politik für die Menschen - Politik, um das Leben der Menschen zu verbessern. Deshalb ist es wichtig, auch einmal die Erwartungen der Menschen an uns in den Blick zu nehmen. Über 80 Prozent sagen, dass wir eine starke Europäische Union im Bereich der wirtschaftlichen Entwicklung und für die äußere und innere Sicherheit brauchen. Dieser Erwartung der Menschen, die ein Stückchen skeptischer als früher geworden sind, ob wir das tatsächlich gemeinsam schaffen, müssen wir gerecht werden. Deshalb ist es wichtig, dass die Bundesregierung hierbei nicht nur eine - wenn auch notwendige - Kommunikationsstrategie fährt, sondern dass sie mit all ihrem Handeln auch deutlich macht: Deutsche Interessen werden am besten in Europa vertreten und Erfolge in Europa sind Erfolge auch für unser Land. Wir müssen ein bewusstes Gegenbild zu manchen Regierungen setzen - ersparen Sie mir, dass ich sie namentlich nenne -, die nur nach dem Motto verfahren: ?Europa ist uns eigentlich egal und alles Schlechte kommt aus Brüssel. Es ist entscheidend, dass wir uns national gegen andere durchsetzen.“ Nein, das ist ein falsches Europabild. Richtig ist: Wir können in Europa nur gemeinsam erfolgreich sein - indem wir zu einem Interessensausgleich kommen und indem wir nicht das scheinbare nationale Interesse gegen die Europäische Gemeinschaft richten. Das muss unsere gemeinsame Verpflichtung in dieser Koalition und auch im Deutschen Bundestag sein.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, Europa gelingt gemeinsam. Es gelingt auch aufgrund von Regierungskontinuitäten, die in den Personen anzuschauen sind. Schon in der Ratspräsidentschaft 1994 war die jetzige Kanzlerin Ministerin. Schon in der Ratspräsidentschaft 1999 war die jetzige Entwicklungsministerin im Amt und der jetzige Außenminister hatte eine wichtige Verantwortung. Die haben sie wahrgenommen. Oskar Lafontaine hat damals seine Verantwortung nicht wahrgenommen. Deshalb ist es ihm so leicht, hier verantwortungslose Reden zu halten.
Ich glaube, wir machen die Präsidentschaft zu einem Erfolg im blochschen Sinne, nämlich getragen von der Hoffnung, ins Gelingen verliebt. Deshalb wird diese europäische Ratspräsidentschaft gemeinsam gelingen.
Präsident Dr. Norbert Lammert:
Ich erteile dem Kollegen Dr. Diether Dehm, Fraktion Die Linke, das Wort.
Dr. Diether Dehm (DIE LINKE):
Lieber Kollege Ramsauer, am Anfang zwei Tipps: Schauen Sie sich einmal die Protokollstelle an, an der Sie davon sprechen, dass Sie es mit dem Unterbinden von Demokratie ernst nehmen wollen. Korrigieren Sie das, damit es nicht so stehen bleibt. Anstatt anderen Demokratiedefizite vorzuhalten und sie für ungebildet zu erklären, sollten Sie die Mehrheit der Menschen, die in Frankreich den EU-Verfassungstext abgelehnt haben, endlich ernst nehmen.
Wer, wie wir, einen besseren EU-Verfassungsvertrag will, darf über die deutsche Verfassung, das Verhältnis der EU-Verfassung zu unserem Grundgesetz nicht schweigen. Auch durch eine europäische Verfassungsordnung dürfen Art. 1 und 20 des Grundgesetzes in ihrem Wesen nicht beeinträchtigt werden. Das lässt Art. 79 Abs. 3 nicht zu.
Mit diesen unabänderlichen Bindungen ist eine Ordnung unvereinbar, die, dem neoliberalen Zeitgeist folgend, die Menschen als Humankapital der Herrschaft des Profits unterwirft, ihnen also den Eigenwert als Menschen nimmt.
Hierzu ein Zitat, Kollege Schäfer:
In der vom Gewinn- und Machtstreben bestimmten Wirtschaft und Gesellschaft sind Demokratie, soziale Sicherheit und freie Persönlichkeit gefährdet.
Der demokratische Sozialismus erstrebt darum eine neue Wirtschafts- und Sozialordnung.
Kollege Schäfer, das steht so nicht im Manifest von Oskar Lafontaine und Gregor Gysi, das steht auch nicht in Ihrem gültigen SPD-Parteiprogramm, das immer noch die Unterschrift von Oskar Lafontaine trägt, sondern das ist ein Zitat aus dem Godesberger Programm.
Wer aber die Würde der Menschen, wer ihre Bedürfnisse als Ausgangspunkt allen staatlichen und auch allen abgeleiteten supranationalen Handelns ernst nimmt, der kann eine Verengung auf die geltende ungerechte Wirtschaftsordnung nicht wollen. Jede Wirtschaftsordnung muss sich in ihren konkreten Auswirkungen auf die Würde der Menschen immer wieder von neuem an den genannten Grundprinzipien messen lassen.
Und sie muss erforderlichenfalls auch abgewählt werden dürfen. Das meint das Grundgesetz auch mit der Freiheit der Wähler, und zwar in seinen Vorschriften über die Eigentumsordnung in den Art. 14 und 15. Hier gibt es die Gewährleistung des Eigentums, aber auch seine verbindliche Verpflichtung auf das Gemeinwohl. Es gibt die Möglichkeit der Enteignung der Deutschen Bank und anderer Konzerne im Interesse der Allgemeinheit und auch die Möglichkeit der Vergesellschaftung von Produktionsmitteln durch ihre Überführung in Gemeineigentum.
Damit zielt das Grundgesetz zwar nicht auf eine andere Wirtschaftsordnung, aber es gibt den Wählerinnen und Wählern die Freiheit, den Kapitalismus abzuwählen. Das hat das Bundesverfassungsgericht 1954 in seiner Entscheidung zum Investitionshilfegesetz ausdrücklich dargelegt und das ist bis heute gültig.
Wenn die FDP beispielsweise in einem Antrag fordert, ausgerechnet Art. 15 aus dem Grundgesetz zu streichen, so zeigt dies, dass sie den Wählern die Freiheit nehmen will, den Kapitalismus abzuwählen. Freiheit ist aber gerade hier auch die Freiheit der Andersdenkenden.
Auch dass die EU-Verfassung diese Freiheit einschränken will, sodass die Abwahl des Kapitalismus nicht mehr möglich sein soll, ist mit der Würde der Menschen und ihrer Unantastbarkeit ebenso wenig vereinbar wie mit den Prinzipien der Demokratie und der Sozialstaatlichkeit. In diesem Sinne wiederhole ich -
Präsident Dr. Norbert Lammert:
Herr Kollege!
Dr. Diether Dehm (DIE LINKE):
- ich komme zum Schluss -: Wir wollen einen anderen EU-Verfassungsvertrag. Dabei wollen wir aber nicht das Grundgesetz auf dem Altar des neoliberalen Zeitgeistes opfern lassen. In dieser Hinsicht bleiben wir Verfassungspatrioten, auch wenn wir die Einzigen in diesem Hause wären.
Präsident Dr. Norbert Lammert:
Ich erteile das Wort nun dem Kollegen Dr. Andreas Schockenhoff, CDU/CSU-Fraktion.
Dr. Andreas Schockenhoff (CDU/CSU):
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Kolleginnen und Kollegen! Die CDU/CSU-Fraktion begrüßt nachdrücklich, dass die EU-Außenminister in der Frage der Beitrittsverhandlungen mit der Türkei eine Einigung gefunden haben. Jetzt herrscht Klarheit, wie der Prozess weitergehen soll. Es ist auch zu begrüßen, dass Zypern nicht länger die Freigabe der Finanzmittel für den nördlichen Teil der Insel blockieren will. Auch das war überfällig und hat die Beziehungen zur Türkei zu lange unnötig belastet.
Ich will in aller Deutlichkeit feststellen: Wir haben ein nachdrückliches Interesse daran, dass die Türkei den begonnenen Reformprozess fortsetzt. Die Beitrittsverhandlungen sind dafür ein Katalysator. Niemand will also die Beitrittsverhandlungen mit der Türkei abbrechen.
Wir müssen aber - ich denke, auch darin sind wir uns einig - weiter auf die Erfüllung der politischen Voraussetzungen wie die Religionsfreiheit oder die Abschaffung des Strafrechtsparagrafen 301 drängen, der die Beleidigung des Türkentums unter Strafe stellt. Denn das sind Voraussetzungen - Kollege Ramsauer hat zu Recht darauf hingewiesen -, die nach den Kopenhagener Kriterien eigentlich vor Beginn der Beitrittsverhandlungen hätten erfüllt sein müssen.
Dazu gehört auch die Erfüllung des Ankaraprotokolls, zu der sich die Türkei schon im September letzten Jahres verpflichtet hat. Erfüllung heißt, dass die Häfen und Flughäfen in der Türkei - also nicht nur ein Hafen und ein Flughafen - auch für Schiffe und Flugzeuge Zyperns offen sein müssen.
Dass die Türkei bisher nicht bereit ist, alle Mitglieder der EU gleichermaßen anzuerkennen und die vereinbarten Regeln einzuhalten, kann nicht ohne Konsequenzen sein. Deswegen ist die Vereinbarung, acht Verhandlungskapitel einzufrieren und bei keinem der übrigen Kapitel die Verhandlungen abzuschließen, bis das Ankaraabkommen erfüllt ist, eine Maßnahme, die Konsequenzen hat, die aber auch unserem Interesse an der Fortsetzung des Reformprozesses in der Türkei Rechnung trägt, und zwar besonnen und entschlossen, wie es die Bundeskanzlerin ausgeführt hat.
Wir halten es auch für erforderlich, dass die EU nicht nur zur Verhandlungsroutine übergeht und wir abwarten, wann die Türkei das Ankaraprotokoll erfüllt. Wir wollen vielmehr, dass diese Frage als politisches Thema auf der Agenda der Staats- und Regierungschefs steht, dass sie sich selbst darum kümmern und dies nicht den Beamten der Kommission überlassen.
Deshalb begrüßen wir nachdrücklich, dass sich die Staats- und Regierungschefs dementsprechend in den Jahren 2007, 2008 und 2009 auf der Grundlage eines Berichts der Kommission mit dieser Frage befassen und den weiteren Prozess überprüfen werden. Das ist für die Glaubwürdigkeit und Akzeptanz des Erweiterungsprozesses unverzichtbar. Deshalb war es gut, dass die Initiative der Bundeskanzlerin vereinbart und der Kommissionsvorschlag nachgebessert wurde.
Im Übrigen entspricht dieser Beschluss genau dem, was sich die Staats- und Regierungschefs zur Frage der Integrationsfähigkeit der EU auf dem morgigen EU-Gipfel vorgenommen haben. Denn beim künftigen Erweiterungsprozess soll es keinen Automatismus geben. Es sollen keine Beitrittsdaten mehr genannt werden und es soll auf die strikte Erfüllung der Kriterien und der eingegangenen Verpflichtungen geachtet werden. Nur wenn die Bürger der Europäischen Union das Gefühl bekommen, dass die Staats- und Regierungschefs auf die strikte Einhaltung der Beitrittskriterien achten und dass sie vor einer Erweiterung sorgfältig die Auswirkungen eines Beitritts auf die EU und ihre Handlungsfähigkeit prüfen, werden wir die Akzeptanz für künftige Beitritte bekommen. Diese Akzeptanz brauchen wir; denn die EU-Perspektive etwa für die Staaten des westlichen Balkans liegt in unserem Sicherheitsinteresse.
Wenn diese Staaten ihre inneren und zwischenstaatlichen Konflikte überwinden, sodass EU und NATO ihre Streitkräfte dort vollständig zurückziehen können, und wenn sie alle Beitrittskriterien, insbesondere bei der Rechtsstaatlichkeit und der Bekämpfung der organisierten Kriminalität, strikt erfüllen, dann werden wir alle, die derzeitigen Mitglieder der Europäischen Union, einen erheblichen Sicherheitsgewinn haben. Deshalb ist es wichtig und richtig, dass die Staats- und Regierungschefs bei ihrem morgigen Gipfel Grundsätze für die Integrationsfähigkeit der EU vereinbaren, damit die EU erweiterungsfähig bleibt.
Ein wichtiger Schwerpunkt der deutschen Präsidentschaft wird die Vertiefung der Beziehungen zwischen der Europäischen Union und Russland sein. Wir wollen die strategische Partnerschaft mit Russland weiter ausbauen. Strategische Partnerschaft bedeutet, dass sich die enge Zusammenarbeit mit Russland nicht nur an gemeinsamen Interessen orientiert, sondern dass sie auch auf gemeinsamen Werten basiert, zu denen wir uns verpflichtet haben. Die Erneuerung des Partnerschafts- und Kooperationsabkommens zwischen der EU und Russland bietet dafür eine gute Gelegenheit. Es ist deshalb sehr zu bedauern, dass es bislang keine Einigung über das Verhandlungsmandat gibt.
Denn das Nachfolgeabkommen liegt im gemeinsamen Interesse, auch im Interesse Polens und auch im Interesse Russlands.
Polen hat unsere Solidarität und Unterstützung bei der Aufhebung des russischen Importverbots für polnisches Fleisch, weil wir dieses Verbot für nicht gerechtfertigt halten. Aber genauso wenig gerechtfertigt ist eine Verknüpfung dieser Frage mit dem Verhandlungsmandat für ein Nachfolgeabkommen mit Russland.
Angesichts der Rückschläge bei Demokratie und Rechtsstaatlichkeit in Russland ist es wichtig, dass wir im Nachfolgeabkommen, vor allem aber auch in der praktischen Zusammenarbeit immer wieder auf die Respektierung der Werte drängen, zu denen sich Russland bei seinem Beitritt zum Europarat verpflichtet hat. Ich sage ganz offen: Die innere Entwicklung Russlands bereitet uns große Sorgen. Die Ermordung von Frau Politkowskaja stellt einen Verlust für Russland dar. Ihr unparteiisches Engagement für Menschenrechte und Demokratie war für die Entwicklung der russischen Gesellschaft wichtig.
Dieser Mord und vor allem die zunehmenden Einschüchterungen der wenigen noch verbliebenen kritischen Journalisten sind beispielhaft für den Niedergang der Pressefreiheit in Russland.
Wer immer für den Mord an Litwinenko oder für die zunehmend länger werdende Liste von politisch oder wirtschaftlich motivierten Morden in Russland verantwortlich ist: Es drängt sich die Frage nach der Autorität der russischen Regierung auf. Beunruhigend ist es vor allem für diejenigen, die sich in Russland selbst engagieren. Auch wenn man ein Urteil über die Anwendung des Gesetzes über die Nichtregierungsorganisationen erst nach dem Ende der Registrierungspflicht im April nächsten Jahres fällen kann, muss man anhand der bisherigen Praxis eines schon heute feststellen: Das NGO-Gesetz überfordert mit seinem bürokratischen Aufwand nicht nur die Behörden und führt damit zu willkürlichen Auslegungen, sondern es belastet vor allem auch kleine NGOs erheblich. Damit schadet sich Russland selbst; denn viele dieser kleinen NGOs leisten humanitäre Hilfe für die Menschen in Russland. Sie brauchen ihre Zeit, um den Menschen zu helfen, und nicht für das Ausfüllen nutzloser Berichte.
Haben also nicht diejenigen Recht, die das langfristige Ziel einer Wertepartnerschaft mit Russland aufgeben und das Verhältnis nur auf eine an gemeinsamen Interessen orientierte Zusammenarbeit reduzieren wollen? Wir sagen dazu ganz klar Nein. Das wäre ein strategischer Fehler. Wir beraubten uns unserer Einflussmöglichkeiten zur Stärkung von Demokratie und Rechtsstaatlichkeit. Wir ließen vor allem die Menschen, die sich mitunter unter Einsatz ihres Lebens in Russland engagieren, im Stich.
Nein, das Gegenteil muss der Fall sein. Wir müssen jede Gelegenheit nutzen, um Einfluss zu nehmen und mit Russland im Rahmen der ?vier Räume“ in der G 8 - bald auch in der WTO - zusammenzuarbeiten.
Das alles sind Möglichkeiten, um die Entwicklung in Russland zu beeinflussen, weil wir den Anspruch erheben, dass Russland in Einklang mit den Werten dieser Institutionen leben muss.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, wir begrüßen nachdrücklich, dass der EU-Gipfel in Helsinki die Bitte an die deutsche Präsidentschaft richtet, eine Zentralasienstrategie zu erarbeiten. Die EU muss die Herausforderungen, die sich für die Sicherheit und Stabilität Europas aus dieser Region heraus ergeben, strategisch angehen.
Das gilt allerdings genauso für die Schwarzmeerregion. Denn mit Beginn der deutschen Präsidentschaft am 1. Januar wird die Europäische Union durch den Beitritt Rumäniens und Bulgariens eine gemeinsame Außengrenze mit den Ländern der Schwarzmeerregion haben. Damit werden die Probleme dieser Region noch unmittelbarer auch zu unseren Problemen werden. Durch diese Region laufen nicht nur wesentliche Energierouten, sondern dort spielen auch organisierte Kriminalität sowie Menschen- und Drogenhandel eine große Rolle. Mit den Konfliktherden Transnistrien, Abchasien und Südossetien hat diese Region gleichzeitig ein erhebliches Krisenpotenzial. Die jüngsten Entwicklungen in Georgien haben das deutlich sichtbar gemacht. Deshalb liegt es im Interesse der EU, einen aktiveren Beitrag zur Stabilisierung der Schwarzmeerregion und zur Stärkung von Demokratie, Menschenrechten, Rechtsstaatlichkeit und Prosperität zu leisten,
auch mit Blick auf die Energiezusammenarbeit und weitere alternative Energieversorgungsrouten. Nicht zuletzt können durch eine EU-Schwarzmeerpolitik Staaten, die keine bzw. auf absehbare Zeit keine EU-Perspektive haben, stärker in die EU-Politik einbezogen werden, ohne dass sich damit gleich die Frage einer Mitgliedschaft in der Europäischen Union stellt. Gerade mit Blick auf die Beitrittswünsche von Ländern wie der Ukraine ist das Signal wichtig, dass sie als europäisches Land nicht zurückgewiesen werden, dass sie als europäisches Land enger in die verschiedenen Bereiche der EU-Politik eingebunden werden, als dies durch die bilaterale Nachbarschaftspolitik möglich ist.
Deshalb halten wir es für notwendig, in Ergänzung zur bilateralen Nachbarschaftspolitik und zur Zusammenarbeit mit Russland eine EU-Schwarzmeerpolitik als regionale Nachbarschaftspolitik zu entwickeln, vergleichbar der ?Nördlichen Dimension“ oder dem Barcelona-Prozess. Schwerpunkte einer solchen Schwarzmeerpolitik sollten sein: die Bekämpfung von Terrorismus und organisierter Kriminalität, die schrittweise Vertiefung der wirtschaftlichen Zusammenarbeit, der Umweltschutz, Fragen der Energiezusammenarbeit und des Energietransports. Unverzichtbar ist auch die Vertiefung der zivilgesellschaftlichen Zusammenarbeit zur Stärkung von Demokratie, Rechtsstaatlichkeit, Bildung und Wissenschaft.
Allerdings werden wir uns dann auch an heiße Eisen heranwagen müssen. Denn eine Vertiefung der Zusammenarbeit in der Schwarzmeerregion erfordert auch einen aktiveren europäischen Beitrag zur Schlichtung der so genannten Frozen Conflicts. Ich finde, hier kann die EU mehr leisten. Sie hat Vertrauen bei den Konfliktparteien. Selbstverständlich ist dabei eine enge Abstimmung mit den USA unverzichtbar. Auch in den Gesprächen mit Russland müssen die Frozen Conflicts stärker thematisiert werden.
Zu einer strategischen Partnerschaft gehört auch die Zusammenarbeit bei den Regionalkonflikten in der gemeinsamen Nachbarschaft. Es ist jedenfalls nicht akzeptabel, dass Russland hier eine Politik der kontrollierten Unsicherheit verfolgt und sich gemeinsamen Bemühungen für eine Konfliktregelung verweigert.
Meine Damen und Herren, den Menschen in Deutschland wird während unserer Präsidentschaft in der Europäischen Union und der G 8 immer wieder bewusst werden, dass wir unseren Platz in der Welt, unsere Werte nur in einem politisch integrierten Europa behaupten können. Ich bin mir sicher, dass die deutsche Präsidentschaft in diesem Sinne ein guter Beitrag zu einer europäischen Identität wird.
Vielen Dank.
Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt:
Für das Bündnis 90/Die Grünen hat der Kollege Jürgen Trittin das Wort.
Jürgen Trittin (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Ich will mit einer Bemerkung zu Ihrem Vorschlag, Frau Bundeskanzlerin, anfangen. Wenn Sie sagen, wir müssten in Europa das Prinzip der Diskontinuität einführen, dann muss man sich auch über die Folgen klar werden. Manche würden sich freuen und sagen: Dann hätten wir letztens im Parlament nicht REACH verabschiedet. - Denken Sie an Ihr eigenes Präsidentschaftsprogramm, insbesondere an die vollständige Liberalisierung der Gas- und Strommärkte. Das ist ein Dossier, das mittlerweile ein Parlament und eine Kommission schon in der dritten Amtszeit beschäftigt.
Zweite Bemerkung. Wenn davon geredet wird, dass Deutschland versuchen möchte, in Sachen Bürokratieabbau weiterzukommen, dann muss doch die Frage erlaubt sein, ob die Bundesrepublik Deutschland unter dieser Koalition und in dieser Verfassung nach der Föderalismusreform überhaupt in der Lage ist, anderen Bürokratieabbau beizubringen.
Was ist das eigentlich für ein Bild, das die Bundesregierung abgibt? Einerseits redet sie über Bürokratieabbau, andererseits aber wird man statt eines Nichtrauchergesetzes 15 oder 16 Nichtrauchergesetze haben, vielleicht auch nur zwölf, und man baut im Rahmen der Gesundheitsreform völlig neue bürokratische Strukturen auf, die unsere Arbeitgeberinnen und Arbeitgeber noch gehörig quälen werden.
Dritte Bemerkung zu Ihrer Rede. Sie drücken sich vor der Festlegung Ihres Umweltministers und davor, zu sagen: Wir wollen dafür sorgen, dass sich Europa bis zum Jahre 2020 verpflichtet, 30 Prozent der Treibhausgase einzusparen. - Was hindert Sie eigentlich daran, diese Frage in vernünftiger Art und Weise mit der Minderung der Energieabhängigkeit zu verknüpfen? Dies hätte nämlich eines zur Folge: die Umsetzung dieses Ziels. Es hätte zur Folge, dass die Energieimporte - die Europäische Union importiert heute noch 74 Prozent der Energie - auf unter 50 Prozent sinken würden. Auch das ist übrigens nicht nur ein Argument für Klimaschützer, sondern auch und gerade ein ökonomisches Argument. Das würde dazu führen, die Abhängigkeit der europäischen Wirtschaft zu reduzieren und ihre Wettbewerbsfähigkeit zu stärken.
Letzte Bemerkung: Wenn Sie sagen, Sie wollten die Akzeptanz für Europa verbessern, dann werden Sie innerhalb Europas dieses Land europakompatibler machen müssen. Wenn Sie sagen, Europa sei eine Antwort auf Globalisierung, dann erwarten die Menschen zunächst eine Antwort, die ihnen mehr Sicherheit, mehr soziale Sicherheit verspricht. Da hat Deutschland nun einmal einen Nachholbedarf.
Wir sind eines der wenigen Länder, die es bis heute nicht fertig gebracht haben, Regelungen einzuführen, damit jemand, der Vollzeit arbeitet, nicht unter die Armutsgrenze sinkt. Wenn Sie Europa akzeptabler machen wollen, dann müssen Sie hier anfangen und dafür sorgen, dass Menschen, die Vollzeit arbeiten, nicht trotz ihrer Arbeit arm bleiben. Deswegen brauchen wir so etwas wie einen gesetzlichen Mindestlohn, wie wir ihn in Frankreich, in Großbritannien, in Luxemburg, in den Niederlanden und in vielen anderen Ländern haben.
Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt:
Herr Kollege, Sie müssen zum Ende kommen.
Jürgen Trittin (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Frau Präsidentin, ich komme zum Schlusssatz. - Wenn Sie Lust auf Europa machen wollen,
wenn Sie Begeisterung für Europa wecken wollen, dann dürfen Sie eines nicht zulassen, nämlich dass hier solche Reden wie die, die vorhin Herr Ramsauer vorgetragen hat, gehalten werden. Das macht nicht Lust auf Europa, sondern das macht Angst vor Europa. Das ist der Grund, wenn Sie bei Ihrem Ziel, bis 2009 in der Verfassungsvertragsfrage voranzukommen, keinen Schritt weiterkommen. Wenn Sie das nicht schaffen, dann können Sie sich bei Herrn Ramsauer und bei Herrn Stoiber für ihre Reden bedanken.
Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt:
Die nächste Rednerin für die SPD-Fraktion ist die Kollegin Lale Akgün.
Dr. Lale Akgün (SPD):
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Frau Kanzlerin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Am Vorabend der deutschen Ratspräsidentschaft gibt es eine Fülle von Themen, über die wir hier sprechen könnten. Ich möchte mit einem unserer Lieblingsthemen anfangen, nämlich der Entscheidung der EU über den Beitritt der Türkei.
Die EU hat mit dem Aussetzen von acht Kapiteln die notwendige Konsequenz aus der Tatsache gezogen, dass die Türkei ihrer Verpflichtung zur Unterzeichnung des Ankaraprotokolls und damit der Anerkennung Zyperns nicht nachgekommen ist. Aber sie hat das rechte Maß bewahrt. Ein Abbruch der Verhandlungen wäre übereilt gewesen und den ureigensten Interessen der EU zuwidergelaufen.
Die SPD-Fraktion begrüßt die Entscheidung ausdrücklich.
Es ist eine Entscheidung mit Augenmaß, die beiden Seiten gerecht wird, der Türkei und der EU.
Die Türkei weiß um ihre Hausaufgaben. Jetzt muss die EU ihrerseits gegebene Zusagen einhalten. Die Isolation Nordzyperns muss aufgehoben und die durch die EU versprochenen wirtschaftlichen Hilfen müssen endlich geleistet werden.
Ich freue mich, dass die EU sich bewegt, was die Zypernfrage angeht. Ich möchte in diesem Zusammenhang erwähnen, dass Estland und Schweden Überlegungen anstellen, in Nordzypern Büros einzurichten. Großbritannien erwägt Berichten zufolge, Direktflüge zum nordzypriotischen Flughafen Ercan aufzunehmen. Das sind wichtige Signale.
Genauso aber muss sich in der Republik Zypern noch einiges tun. Auch hier sind erste Bewegungen bereits zu verzeichnen. Daher gibt es berechtigte Hoffnung, dass Zypern bereits beim ersten Außenministertreffen im Januar seine Blockade aufgeben wird und die EU Gelder für den türkischen Norden freigeben kann. Auch das Veto für den Direkthandel mit Zypern wird nicht mehr lange aufrechterhalten werden können. Davon bin ich überzeugt.
Aus all diesen Gründen ist es richtig, dass die EU durch das Einfrieren zwar Konsequenzen zieht, dass aber ansonsten business as usual gilt - keine Fristen, keine Sanktionen und keine Revisionsklausel für die Türkei. Eine Entscheidung mit Augenmaß, wie gesagt.
Für dieses Verhandlungsergebnis möchten wir noch einmal Außenminister Frank-Walter Steinmeier danken, der diese klare Linie in Brüssel durchsetzen konnte.
Damit haben wir eine unnötige Verschärfung der ohnehin sehr angespannten Lage vermieden.
Meine Damen und Herren, entgegen vielen Annahmen wird diese Entscheidung auch in der Türkei akzeptiert. Darauf möchte ich hier noch einmal hinweisen. Es ist mitnichten so, dass in der Türkei nur Zeter und Mordio geschrieen wird. Wichtig für die Türkei und für die Bevölkerung ist die Tatsache, dass in Brüssel die Verhandlungen weitergehen und nach innen die Reformen fortgesetzt werden können.
Das Massenblatt ?Sabah“ schreibt gestern: Es ist gut, dass der Zug zum EU-Beitritt eben nicht entgleist ist. - Auch das Massenblatt ?Hürriyet“ zählt ganz sachlich und differenziert positive und negative Aspekte des Einfrierens auf. Die türkische Börse reagierte wie ein Seismograf. Die Kurse sind seit vorgestern enorm gestiegen und die türkische Lira hat gegenüber Euro und Dollar an Wert gewonnen. Das zeigt einmal mehr, dass die Entscheidung der EU-Außenminister richtig war und auch in der Türkei akzeptiert wird.
Aber - das ist genauso wichtig - die Verhandlungen müssen jetzt mit größter Sorgfalt weitergeführt werden. Das Einfrieren darf nicht zum Synonym für ein schleichendes Ende der Verhandlungen werden, auch wenn sich das einige vielleicht wünschen sollten. Ein schleichendes Ende würde den Interessen der Europäischen Union zuwiderlaufen. Diejenigen, die am lautesten nach einem sofortigen Abbruch der Verhandlungen gerufen haben, waren wieder einmal die, die eben nicht die Interessen der EU im Sinn hatten, sondern ihr innenpolitisches Süppchen weiter am Köcheln halten wollten.
Herr Kollege Ramsauer, die EU führt mit der Türkei Beitrittsverhandlungen. An dem Wort ?Beitrittsverhandlungen“ ist deutlich zu erkennen, dass diese Verhandlungen mit dem Ziel des Beitritts geführt werden.
Man sollte diesen Begriff doch einmal wörtlich nehmen.
Meine Redezeit reicht nicht aus, um Ihnen alle Gründe für einen Beitritt der Türkei noch einmal darzulegen. Deshalb sei nur so viel gesagt: Wenn die EU auch im 21. Jahrhundert ihre Rolle als Friedensmacht ausfüllen will, so muss sie sich den neuen Herausforderungen stellen: dem Islam, dem Terrorismus, aber auch den neuen Nationalismen. Deshalb sage ich ganz deutlich: Perspektivisch brauchen wir eine EU mit 30 und mehr Mitgliedern, wozu auch die Staaten des westlichen Balkans gehören. Auch im Verhältnis zu den Staaten des Westbalkans muss die EU glaubhaft bleiben und ihre Versprechungen einhalten.
Das gilt natürlich auch für alle anderen anstehenden Themen der deutschen Ratspräsidentschaft. Wenn man sich die Agenda der deutschen Ratspräsidentschaft anschaut, dann muss man sagen, dass das nicht gerade wenige Themen sind. Es ist keine Frage, dass alles, was wir uns für die nächsten sechs Monate vorgenommen haben, dabei von großer Bedeutung ist. Energiepolitik, Wirtschaftswachstum, Klimaschutz, Verfassungsprozess, Nachbarschaftspolitik sowie die Gemeinsame Sicherheits- und Außenpolitik sind große Themen, mit denen wir uns beschäftigen müssen.
Wichtig ist allerdings, dass wir am Ende dieser sechs Monate tatsächlich Erfolge aufweisen können und dass wir unsere Versprechen gegenüber den Beitrittskandidaten und Nachbarn, aber auch gegenüber den Bürgerinnen und Bürgern der europäischen Mitgliedstaaten eingehalten haben. Nur so können wir das größte Problem Europas, nämlich den Verlust an Akzeptanz, wettmachen. Für neuen Schwung, neue Legitimität und neue Begeisterung für die EU zu sorgen, ist die Hauptaufgabe für die deutsche Ratspräsidentschaft.
Ich wünsche mir von der deutschen Ratspräsidentschaft echte Antworten auf die Sorgen der Menschen. Erweiterung, vertiefte politische Integration und das soziale Europa sind in diesem Zusammenhang die Stichworte. Leitmotiv der deutschen Ratspräsidentschaft sollte sein: Europa neu denken vor den Herausforderungen des 21. Jahrhunderts.
Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt:
Ich schließe die Aussprache.
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlagen auf den Drucksachen 16/3808, 16/3680 und 16/3832 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Der Entschließungsantrag auf Drucksache 16/3796 soll an dieselben Ausschüsse wie die Vorlage auf Drucksache 16/3680 zu Tagesordnungspunkt 4 c, jedoch nicht an den Tourismusausschuss und den Haushaltsausschuss überwiesen werden. - Damit sind Sie ganz offensichtlich einverstanden. Dann ist die Überweisung so beschlossen.
Ich rufe die Tagesordnungspunkte 5 a bis 5 h auf:
a) Erste Beratung des von den Fraktionen der CDU/CSU und der SPD eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Verbesserung der Beschäftigungschancen älterer Menschen
- Drucksache 16/3793 -
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Arbeit und Soziales (f)
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung
Haushaltsausschuss mitberatend und gemäß § 96 GO
b) Erste Beratung des von den Fraktionen der CDU/CSU und der SPD eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Anpassung der Regelaltersgrenze an die demografische Entwicklung und zur Stärkung der Finanzierungsgrundlagen der gesetzlichen Rentenversicherung (RV-Altersgrenzenanpassungsgesetz)
- Drucksache 16/3794 -
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Arbeit und Soziales (f)
Innenausschuss
Rechtsausschuss
Finanzausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und
Verbraucherschutz
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für Gesundheit
Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung
Ausschuss für Kultur und Medien
Haushaltsausschuss
c) Beratung des Antrags der Abgeordneten Kornelia Möller, Dr. Barbara Höll, Werner Dreibus, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der LINKEN
Beschäftigungspolitik für Ältere - für ein wirtschafts- und arbeitsmarktpolitisches Gesamtkonzept
- Drucksache 16/3027 -
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Arbeit und Soziales (f)
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
d) Beratung des Antrags der Abgeordneten Dr. Heinrich L. Kolb, Christian Ahrendt, Daniel Bahr (Münster), weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP
Den Rentenversicherungsbericht im Interesse der Versicherten realistischer gestalten
- Drucksache 16/3676 -
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Arbeit und Soziales
e) Beratung des Antrags der Abgeordneten Volker Schneider (Saarbrücken), Klaus Ernst, Karin Binder, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der LINKEN
Stichtagsregelung für die Altersteilzeit im RV-Altersgrenzenanpassungsgesetz (Rente mit 67) verlängern
- Drucksache 16/3815 -
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Arbeit und Soziales (f)
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Haushaltsausschuss
f) Beratung des Antrags der Abgeordneten Irmingard Schewe-Gerigk, Brigitte Pothmer, Markus Kurth, weiterer Abgeordneter und der Fraktion des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN
Neue Kultur der Altersarbeit - Anpassung der gesetzlichen Rentenversicherung an längere Rentenlaufzeiten
- Drucksache 16/3812 -
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Arbeit und Soziales (f)
Finanzausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für Gesundheit
Haushaltsausschuss
g) Beratung der Unterrichtung durch die Bundesregierung
Bericht der Bundesregierung über die gesetzliche Rentenversicherung, insbesondere über die Entwicklung der Einnahmen und Ausgaben, der Nachhaltigkeitsrücklage sowie des jeweils erforderlichen Beitragssatzes in den künftigen 15 Kalenderjahren
(Rentenversicherungsbericht 2006)
und
Gutachten des Sozialbeirats zum Rentenversicherungsbericht
2006
- Drucksache 16/3700 -
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Arbeit und Soziales (f)
Finanzausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und
Verbraucherschutz
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für Gesundheit
Haushaltsausschuss
h) Beratung der Unterrichtung durch die Bundesregierung
Lagebericht der Bundesregierung über die Alterssicherung der Landwirte 2005
- Drucksache 16/907 -
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Arbeit und Soziales (f)
Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und
Verbraucherschutz
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für Gesundheit
Haushaltsausschuss
Zwischen den Fraktionen ist eine Aussprache von anderthalb Stunden verabredet. - Dazu höre ich keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache und erteile das Wort dem Herrn Bundesminister Franz Müntefering.
Franz Müntefering, Bundesminister für Arbeit und Soziales:
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir sind uns in diesem Haus fraktionsübergreifend einig, dass wir ein gemeinsames Ziel haben: Wir wollen in diesem Land ein Wohlstandsniveau haben. Daran sollen alle Generationen einen gerechten Anteil haben. Das soll für heute, für morgen und für übermorgen gelten. Dieses allgemeine Ziel heißt mit Blick auf das heutige Thema buchstabiert: Wir wollen eine gute materielle Absicherung der älteren Generation und wir wollen die Möglichkeit altersgerechter Arbeit für diejenigen, die 50, 55, 60 Jahre und älter sind.
Wir haben in der Koalition ein Konzept entwickelt, von dem ich sage: Es ist plausibel. Es ist anstrengend. Aber es hat viele gute Argumente für sich. Wir beraten heute die Initiative ?50 plus“ und das Gesetz zur schrittweisen Anhebung des Renteneintrittsalters auf 67 Jahre. Wir diskutieren aktuell über die Möglichkeiten zusätzlicher Altersvorsorge im Betrieb oder mittels der Riesterrente. Diese drei Punkte gehören ganz eng zusammen.
Wir sind mitten im Prozess dieser Entwicklung. Das faktische Renteneintrittsalter steigt seit Jahren. Vor wenigen Jahren waren es etwa 40 Prozent, die mit 60 Jahren in Rente gingen.
Denn wir hatten ja ein Fenster von 60 bis 65 Jahren. Heute sind es noch etwa 25 Prozent. Wir stehen nicht am Anfang der ganzen Debatte. Das faktische Renteneintrittsalter steigt und das ist auch gut so. Die Menschen sind bereit, länger zu arbeiten und in ihren Berufen zu bleiben.
Es tut sich auf dem Arbeitsmarkt eine ganze Menge.
Es gibt etwa 90 000 bis 100 000 arbeitslose Ältere über 50 weniger als vor einem Jahr. Die allgemeine Entwicklung auf dem Arbeitsmarkt wird besser, auch bei den Älteren. Die Vermittlungszahlen im vergangenen Jahr sind gut gewesen: sechsstellig.
Der Deutsche Industrie- und Handelskammertag hat gerade in der letzten Woche beschlossen, dass in zehn seiner Kammerbezirke die Aktion ?50 plus“ unterstützt wird. Ich habe in der letzten Woche in Fulda 62 Firmen aus 62 Regionen in Deutschland ausgezeichnet, die ganz besonders aktiv daran arbeiten, dass die ältere Generation wieder in den Betrieben eine Chance hat.
Diese Entwicklung geht so weiter. Im Jahre 2000 waren etwa 38 Prozent der über 55-Jährigen berufstätig. Heute sind es 45 Prozent. Wir haben uns in der Koalition vorgenommen, bis zum Ende der Legislaturperiode mindestens 50 Prozent der über 55-Jährigen in Beschäftigung zu haben.
Es ist eine Bewegung da, die in eine vernünftige Richtung geht.
Das hat natürlich seine Gründe darin, dass wir das faktische Renteneintrittsalter, also die Chance, aus der Arbeitslosigkeit in Rente zu gehen, von 60 auf 63 Jahre anheben; wir befinden uns mitten in diesem Prozess. Darüber wird wenig gesprochen; aber es ist so. Auch die Zahldauer des Arbeitslosengeldes haben wir von maximal 32 Monate auf maximal 18 gekürzt. Beides sind Maßnahmen, die mit der Politik der Beschäftigung älterer Menschen eng zu tun haben. An einer Stelle diskutieren wir gerade wieder mit allem Nachdruck darüber. Ich sage: Das, was wir machen, ist vernünftig. Wir geben den Menschen, die 50, 55 oder 60 Jahre alt sind, eine Chance, am Erwerbsleben teilzunehmen.
Im Zusammenhang mit dem Gesetzentwurf zur Initiative ?50 plus“ will ich zwei zusätzliche Initiativen ansprechen. Eine erste Initiative in diesem Gesetzentwurf ist - sie ist ganz wichtig und stellt eine Verbesserung im Vergleich zur bisherigen Regelung dar -: Menschen, die 45 und älter sind und in Unternehmen mit bis zu 250 Beschäftigten arbeiten, haben die Chance, sich auf Staatskosten mittels Bildungsgutscheinen qualifizieren zu lassen.
Wir müssen bei der Weiterbildung dringend besser werden.
Der VDI bzw. die großen Verbände melden uns, dass zurzeit in Deutschland 22 000 Ingenieure fehlen. Ich weiß von der BA und anderen Stellen: In Deutschland gibt es 30 000 bis 40 000 arbeitslose Ingenieure. Es muss doch in dieser Gesellschaft möglich sein, dass wir nicht aus dem Ausland, also irgendwoher aus der Welt, 20-, 25- und 30-jährige Ingenieure holen, sondern dass unsere Ingenieure, die 45 und 50 Jahre alt und arbeitslos sind, in ihren Berufen bleiben können. Dies muss doch besser zu organisieren sein, als es bisher der Fall ist.
Das gilt für andere Berufe in gleicher Weise.
Eine zweite Initiative ist der Kombilohn. Denjenigen, die 50 und älter sind und die arbeitslos werden, sagen wir: Wenn du eine Chance hast, wieder in Arbeit zu kommen, dann mache es schnell. Nimm sie schnell an, auch wenn du weniger Lohn hast als bisher. Wir geben im ersten Jahr die Hälfte der Differenz, die zwischen dem alten Nettoeinkommen und dem neuen besteht, dazu und im zweiten Jahr 30 Prozent. Denn wir wissen genau: Ältere, die schnell wieder vermittelt werden, kommen auch gut wieder in den Beruf hinein. Sie dürfen erst gar nicht in das Arbeitslosengeld II fallen. Auch das gehört zu dem angesprochenen Gesetzentwurf.
Der Gesetzentwurf zur Rentenversicherung verändert den Eintrittskorridor von bisher 60 bis 65 Jahre auf 63 bis letztlich 67 Jahre im Jahre 2029. Es wird aber wie bisher sein: Die meisten Menschen werden vor dem Höchsteintrittsalter in Rente gehen. Das tun heute die allermeisten; sie gehen weit vor 65 in Rente. Das wird auch in Zukunft so sein, wenn wir ein Renteneintrittsalter von 67 Jahren erreicht haben.
Die Frage ist dann: Wie viel Geld bekommen sie, wenn sie mit 63, 64 oder 65 Jahren in Rente gehen? Mit 63 Jahren können sie in Rente gehen, wenn sie 35 Zahljahre erreicht haben, und mit 65 und damit ohne Abschläge, wenn sie 45 Zahljahre erreicht haben. Ich will darauf hinweisen, dass die Frage der Alterssicherung entscheidend davon abhängt, wie die Wohlstandsentwicklung in Deutschland sein wird.
Man darf die Debatte nicht nur an den Jahreszahlen festmachen. Ich will einige Minuten darauf verwenden, das noch einmal deutlich zu machen. Das Rentenwohlstandsniveau beträgt zurzeit 52 Prozent. Es wird nach der Rentenplanung - nicht nach dieser, sondern nach der, die schon längst beschlossen ist - im Jahre 2020 bei mindestens 26 Prozent liegen.
- 46, Pardon. - Es wird im Jahre 2030 mindestens 43 Prozent betragen.
- Ja, das ist richtig, Herr Gysi. Das ist aber nicht neu. Sie tun immer so, als ob das neu wäre. Wir sind längst in der Phase, dass die Gesellschaft begriffen hat, dass man das angesichts veränderter Strukturen in dieser Gesellschaft nicht mehr wird fortführen können.
Denn 1960 wurden die Renten durchschnittlich zehn Jahre lang gezahlt; jetzt werden sie 17 Jahre lang gezahlt. Im Jahre 2030 würde die Rente 20 Jahre lang gezahlt werden.
Man kann es auch anders ausdrücken: Das Verhältnis zwischen denen, die im Erwerbsleben sind, und denen, die 64 oder älter sind, beträgt heute 100 : 30. In 30 Jahren wird das Verhältnis 100 : 50 betragen, 2 : 1. Auf einen Rentner werden somit 2 Beschäftigte kommen. Die 2 Beschäftigten müssen das verdienen, was der eine Rentner bekommt. Wir Politiker müssen doch den Menschen sagen, welche Entwicklung zu erwarten ist. Gute Politik beginnt damit, dass man sagt, was ist. Wer die Menschen an dieser Stelle belügt, tut ihnen überhaupt keinen Gefallen.
Walter Riester, den ich hier sehe, hat vor einigen Jahren eine wichtige Reform begonnen und hat dieses Thema als Erster gesetzt. Er hat gezeigt, wohin der Weg gehen kann.
Jetzt aber wieder zurück zu der Frage: Wie hoch ist die Rente dann eigentlich? Die 46 Prozent, die sich im Jahre 2020 ergeben, sind ja kein absoluter Wert, in Geld ausgedrückt. Die Frage, die sich anschließt, ist: Wie viel ist dann 100 Prozent? Das hängt davon ab, wie sich die Löhne in diesem Land entwickeln. Wenn wir eine Lohnentwicklung wie in den vergangenen zehn Jahren haben, wird das natürlich Konsequenzen für die Höhe der Renten haben. Das gilt, ob man nun 46 Prozent oder 43 Prozent hineinschreibt. 43 Prozent von viel ist eben mehr als 46 Prozent von wenig. Das ist ganz einfach. Um das nachzuvollziehen, muss man kein Mathematiker sein.
Deshalb ist es so wichtig, dass wir dafür sorgen, dass der Wohlstand erhalten bleibt. Entscheidend für die Alterssicherung ist letztlich nicht, ob man von 60 bis 65 oder von 63 bis 67 in Rente gehen kann; vielmehr ist entscheidend, wie hoch die 100 Prozent Wohlstand sind. Wenn die Normalverdiener in Deutschland im Jahre 2030 bzw. 2020 ein gutes Einkommen haben, werden auch die Rentnerinnen und Rentner ein ordentliches Einkommen haben, ansonsten eben nicht. Deshalb besteht die beste Alterssicherung darin, dass wir uns bewusst sind: Wir müssen in die Köpfe und in die Herzen der jungen Menschen investieren.
Was wir in Bildung, Weiterbildung und Qualifizierung investieren, bestimmt letztlich die Höhe der Rente.
Das Festhalten an bestimmten Jahreszahlen führt in die Irre. Wir müssen das Gesamtbild betrachten. Die Alterssicherung hängt von der Wohlstandsentwicklung insgesamt ab. Die von mir genannten Prozentsätze müssen vernünftige Geldbeträge ergeben. Das wird nur geschehen, wenn wir eine Politik machen, wie wir sie uns vorgenommen haben. Wir haben uns in der Koalition vorgenommen, im Jahre 2010 etwa 6 Milliarden Euro mehr für Forschung und Entwicklung auszugeben, nämlich 3 Prozent des BIP. Wenn wir diese 6 Milliarden Euro in die Rentenkasse gäben, könnten wir uns viele Freunde machen und das wäre auch nicht so übel; man hat ja immer gerne Freunde. Ich sage aber: Wenn wir das machen, wird die nachfolgende Generation dafür büßen müssen. Denn die 46 bzw. 43 Prozent - heute sind es 52 Prozent - ergeben nur noch etwa drei Viertel des Wohlstandsbedarfs.
Neben allem, was ich angesprochen habe, braucht man eine vernünftige zusätzliche Alterssicherung - ob sie nun Riesterrente oder betriebliche Altersvorsorge heißt. Daran müssen wir arbeiten. Bei den Debatten um den Investivlohn müssen wir im Blick behalten: Wir brauchen vor allen Dingen die Bereitschaft der Betriebe, der Arbeitnehmer und der Arbeitgeber, dafür zu sorgen, dass die Menschen rechtzeitig für ihr Alter sparen können.
Wenn wir miteinander das alles machen, dann - da bin ich sicher - haben wir als Koalition der Sicherung des Alters in der Zukunft eine gute Perspektive gegeben.
Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt:
Heinrich Kolb hat das Wort für die FDP-Fraktion.
Dr. Heinrich L. Kolb (FDP):
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die heutige Debatte verbindet mit den Entwürfen von Gesetzen zur Verbesserung der Beschäftigungschancen älterer Menschen und zur Anpassung der Regelaltersgrenze zwei, wie ich finde, wichtige soziale Kernfragen unserer Gesellschaft; denn, Herr Minister Müntefering, die Anhebung, die Sie vorhaben, macht doch nur Sinn, wenn die Menschen am Schluss wirklich die Gelegenheit haben, länger zu arbeiten. Zu Beginn meiner Ausführungen will ich gleich sagen: Die Antworten, die die große Koalition auf diese Fragen gibt, sind alles andere als der Situation angemessen. Um es in Schulnoten auszudrücken: Sie sind ungenügend.
- Ja, genau.
Herr Minister, die Anhebung des Regelrentenzugangsalters auf 67 Jahre, auf die sich die Koalition auf Ihr Betreiben hin in einer Nacht-und-Nebel-Aktion verständigt hat, ist ein unerwarteter Tabubruch, für den vor allem die SPD vonseiten der Gewerkschaften erheblichen Gegenwind erfährt. Ich hatte in der vergangenen Woche auf einer DGB-Podiumsdiskussion in Hanau zuletzt Gelegenheit, das zu beobachten. Die Menschen ahnen - Herr Minister, ich sage: zu Recht -, dass die Reform der Rente aufgrund mangelnder begleitender Arbeitsmarktreformen für die allermeisten Versicherten auf eine verkappte Rentenkürzung hinauslaufen wird. Ich fand es bemerkenswert, wie der SPD-Kollege in Hanau von den anwesenden Betriebsräten attackiert und regelrecht demontiert wurde.
Die Bereitschaft zum Tabubruch als solches ist der eigentliche Grund, warum die Rente mit 67 in der Bilanz der bisherigen Regierungsarbeit eher auf der Habenseite angerechnet wird. Eine echte Entlastungswirkung für die Rentenkasse kann sie eigentlich nicht entfalten; denn die Entlastung um 0,5 Beitragspunkte - und das erst ab 2030 - ist sehr gering. Herr Müntefering, meines Erachtens wird das nicht ausreichen, um den Rentenversicherungssatz bis 2020 unter den im Rentenversicherungs-Nachhaltigkeitsgesetz vorgesehenen und versprochenen 20 Prozent zu halten. Dass die Entlastungswirkung so gering ist, hängt mit den zahlreichen Ausnahmen zusammen, die Sie im Gesetzentwurf vorgesehen haben, namentlich die abschlagsfreie Rente für langjährige und besonders langjährige Versicherte.
Kerstin Schwenn hat es in der ?FAZ“ vom gestrigen Tage mit den folgenden Worten, wie ich finde, treffend kommentiert:
Der politische Versuch, das Unpopuläre populistisch zu verpacken und die Rentenreform damit sozialverträglich zu machen, wird einen erheblichen Teil des Geldes verschlingen, das die Rentenkassen einsparen sollen. So gesehen, erscheint die rentenpolitische Großtat doch wieder recht klein.
Recht hat sie.
Die allermeisten Sachverständigen, Tarifpartner und Parteien - außer der Koalition natürlich - sind sich in ihrer Ablehnung der abschlagsfreien Rente nach 45 Beitragsjahren einig, weil sie systemwidrig und ungerecht ist und schwächere Personengruppen benachteiligt; meine Kollegin Laurischk wird als zweite Rednerin meiner Fraktion darauf näher eingehen. Die Anhebung auf 67 ist für die Angehörigen einzelner Geburtsjahrgänge besonders ungerecht. Der Sachverständigenrat hat in seinem aktuellen Gutachten darauf hingewiesen, dass die Jahrgänge 1959 bis 1974 durch die Art und Weise der Anhebung des Rentenzugangsalters besonders belastet werden.
Anstatt ein starres Renteneintrittsalter durch ein höheres zu ersetzen, müssen wir, so denke ich, dafür sorgen, dass der Übergang aus dem Erwerbsleben in den Ruhestand von den Menschen flexibler als bisher gestaltet werden kann.
Wir brauchen mehr Beschäftigung im Alter. Unsere Gesellschaft kann es sich nicht länger leisten, dass gerade einmal 45 Prozent der über 55-Jährigen noch in Beschäftigung sind.
Viele Menschen in der Altersgruppe ab 60 Jahren wollen aber nicht mehr Vollzeit arbeiten. Sie wollen über den Umfang, in dem sie voll oder teilweise mit entsprechender Teilrente tätig sind, selbst bestimmen können. Sie wünschen sich eine flexible Gestaltung des Renteneintritts und die Sicherstellung eines ausreichenden Auskommens durch eine Kombination aus gesetzlicher Rente, privater und betrieblicher Altersvorsorge. Sie wünschen sich - das ist ganz wichtig -, dass ihre Beschäftigungschancen durch Reformen auf dem Arbeitsmarkt, zum Beispiel durch Vorteile bei den Sozialversicherungsbeiträgen, endlich wieder verbessert werden. Warum nicht? Der eigentliche Skandal ist doch, dass ältere Arbeitnehmer in unserer Volkswirtschaft aus dem Arbeitsleben regelrecht herausgedrängt werden. Ein 60-Jähriger muss sich heute fast rechtfertigen, wenn er morgens noch zur Arbeit geht. Damit muss Schluss sein.
Für uns ist wichtig, dass die individuelle Gestaltung des Übergangs in den Ruhestand nicht länger zulasten der Versichertengemeinschaft gehen darf. In dieser Hinsicht unterscheiden wir uns dezidiert von der großen Koalition. Sie hat in der letzten Woche ein teueres Schlupfloch für die Altersteilzeit offen gehalten, obwohl wir heute besser denn je wissen, dass der Weg über die Altersteilzeit falsch war. Es ist besser, ihn heute als morgen zu schließen.
Ich darf Ihnen ankündigen, dass die FDP-Fraktion in wenigen Wochen ein entsprechendes neues Rentenmodell präsentieren wird, in dem die von mir genannten Kritikpunkte und Vorschläge berücksichtigt werden.
Zur Arbeitsmarktsituation Älterer und Ihrer Initiative ?50 plus“, Herr Minister, muss ich sagen: Sie ist nicht ausreichend und nicht geeignet, eine wirkliche Verbesserung der derzeitigen Situation herbeizuführen. Das belegt schon die Wirkungsprognose, die Ihr Haus für dieses Gesetz selbst gegeben hat. Auf der Homepage des BMAS heißt es, es sollen 65 000 Arbeitsplätze geschaffen werden. Sie, Herr Müntefering, waren im November ehrgeiziger und haben in diesem Haus von 100 000 Arbeitsplätzen gesprochen. Anscheinend sind Sie ein bisschen vorsichtiger geworden. Es ist auf jeden Fall zu wenig, wenn man bedenkt, dass die Beschäftigungsquote der 55- bis 64-Jährigen heute - ich sagte es bereits - gerade einmal bei 45 Prozent liegt. Das sind 2,8 Millionen Menschen in dieser Altersklasse, die noch arbeiten. Das bedeutet auch, dass 65 000 Beschäftigungsverhältnisse mehr eine Steigerung von 45 auf 46 Prozent sind. Damit liegen wir deutlich hinter Schweden mit 69 Prozent oder Dänemark mit 60 Prozent. Ich finde, Herr Minister, Sie sollten hier durchaus ein bisschen mehr Ehrgeiz an den Tag legen und nicht einfach nur alten Wein in neuen Schläuchen verkaufen. Genau darauf läuft Ihre Initiative ?50 plus“ am Ende hinaus.
- Ja, vielleicht ist es sogar alter Wein in alten Schläuchen. Auch das kann ich nicht ausschließen.
Wir brauchen einen grundsätzlichen Wechsel in der Herangehensweise an das Problem der mangelnden Beschäftigung älterer Menschen. Es geht darum, dass wir Fehlanreize beseitigen, die zu einem Beschäftigungsabbau - er ist heute fast systematisch - bei Älteren führen. Es hilft nicht, Programme, die bisher schon wirkungslos waren, einfach zu verlängern. Ich glaube nicht, dass das, was bisher wirkungslos war, plötzlich Wirkung zeigen wird. Sie sagen ja, Herr Minister Müntefering, das liege daran, dass die Instrumente zu wenig bekannt waren. Ja, wer hat denn die Verantwortung dafür, dass die Menschen diese Programme bisher nicht kennen? Kann das wirklich der Grund sein? Ich glaube eher, dass die Programme nicht nur unbekannt, sondern auch einfach unsinnig sind.
Der Kombilohn, den Sie jetzt vorschlagen, wird absehbar keine Wirkung zeigen, solange es lukrativere Ausstiegsmodelle wie etwa die Altersteilzeit gibt, die Sie gerade verlängert haben. Eingliederungszuschüsse mögen für die Unternehmen interessant sein, insbesondere wenn es keine Nachbeschäftigungspflicht gibt. Aber es gibt hier hohe Mitnahmeeffekte. Bei dem geringen vorgesehenen finanziellen Volumen ist es absehbar, dass die Wirkung niedrig sein wird. Ich frage Sie: Wenn die erweiterten Möglichkeiten der Befristung von Arbeitsverträgen für Personen ab 52 Jahren ein richtiger Schritt sind, warum wird dieses Instrument dann nicht für alle Menschen angeboten, die aus der Arbeitslosigkeit heraus wollen?
Zusammenfassend noch einmal: Die genannten Maßnahmen werden verpuffen, wenn sich das Denken nicht ändert und wenn Fehlanreize nicht beseitigt werden. Wenn, wie schon angesprochen, die Koalition reizvolle Möglichkeiten des Ausstiegs aus dem Arbeitsleben weiter anbietet und mit großzügigen Vertrauensschutzregeln ausstattet, wird sich das neue Denken nicht durchsetzen können. Das ist falsch.
Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt:
Sie müssen zum Ende kommen, Herr Kollege.
Dr. Heinrich L. Kolb (FDP):
Ich komme zum Ende.
Ich verweise noch einmal auf den vorliegenden Antrag der FDP zum Rentenversicherungsbericht. Hier geht es darum, dass wir den Menschen künftig wirklich die Wahrheit sagen. Denn, Herr Minister, Sie haben gesagt: Gute Politik beginnt damit, dass man den Menschen die Wahrheit sagt.
Sie tun das nicht. Sie bringen mit der Rente mit 67 eine verkappte Rentenkürzung auf den Weg. Sie prognostizieren in Ihrem Rentenversicherungsbericht zu gute Rentenwerte, weil Sie im mittleren Szenario mit durchschnittlich zweieinhalb Prozent Lohnsteigerung rechnen, was mehr als optimistisch ist; vielleicht ist es realistischer als in der Vergangenheit, aber immer noch mehr als optimistisch.
Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt:
Herr Kollege!
Dr. Heinrich L. Kolb (FDP):
Deswegen werden Sie den Anforderungen an eine gute Politik leider nicht gerecht.
Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt:
Für die CDU/CSU-Fraktion spricht der Kollege Brauksiepe.
Dr. Ralf Brauksiepe (CDU/CSU):
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen! Die große Koalition hält Kurs in der Rentenpolitik und bringt heute die notwendigen Antworten ein, um die Alterssicherung langfristig und weit über die laufende Legislaturperiode hinaus zu stabilisieren.
Blicken wir auf die Entwicklungen in der Vergangenheit zurück. Die bestehende Altersgrenze von 65 gibt es seit mittlerweile 90 Jahren: seit 1913 für die Angestellten und seit 1916 für die Arbeiter. Diese Grenze wurde also in einer Zeit festgelegt, in der die Lebenserwartung weit darunter lag. Arbeiten praktisch bis in den Tod - das ist heute unvorstellbar - ist bei der Einführung dieser Regelaltersgrenze noch der übliche Fall gewesen. Es hat im Laufe der Jahrzehnte erheblichen sozialen Fortschritt gegeben. So lag die durchschnittliche Rentenbezugsdauer in den 60er-Jahren bei zehn Jahren, heute beträgt sie 17 Jahre.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, das, was wir vorlegen, bedeutet nach all den Zahlen, die wir kennen, dass wir sagen: Die Rentenversicherung kann es verkraften, dass die durchschnittliche Rentenbezugsdauer bis zum Jahr 2030 von heute 17 Jahren auf 18 Jahre steigt. Das ist der Inhalt, um den es erfreulicherweise geht. Wir wissen schon heute, dass die Lebenserwartung der 65-Jährigen im Jahr 2029 knapp drei Jahre höher ist als heute. Die Lebenserwartung der Rentner steigt also um knapp drei Jahre. Die Lebensarbeitszeit erhöhen wir um zwei Jahre. Das heißt, die durchschnittliche Rentenlaufzeit wird um rund ein Jahr steigen. Das ist eine gute Nachricht für die Menschen. Das kann die gesetzliche Rentenversicherung dank der Produktivität der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer in unserer Volkswirtschaft verkraften. Die durchschnittliche Rentenbezugsdauer auf 20 Jahre zu erhöhen, das wäre allerdings unverantwortlich. Deswegen beschließen wir heute die vorliegenden Maßnahmen zur Rente mit 67.
Von verschiedenen Seiten wird kritisiert, das sei ein Rentenkürzungsprogramm.
- Lieber Kollege Kolb, das, was Sie gesagt haben, war wirklich weit unter Ihrem Niveau. Wir haben seit letztem Jahr 536 000 Arbeitslose weniger. Diese Entwicklung lässt sich schon rein mathematisch nicht bis zum Jahr 2029 fortschreiben. Denn dann müssten wir ein paar Millionen Arbeitslose minus haben.
Ich wiederhole: in einem Jahr 536 000 Arbeitslose weniger.
Herr Kollege Kolb, Ihre Partei hat in der Geschichte dieses Landes 42 Jahre lang in unterschiedlichen Konstellationen regiert,
entweder mit uns oder mit den Sozialdemokraten. Ich fordere Sie auf - dabei lasse ich Ihnen die freie Auswahl -: Suchen Sie das beste dieser 42 Jahre heraus und sagen Sie uns, in welchem Umfang in diesem Jahr die Arbeitslosigkeit reduziert wurde.
Wenn Sie die Reduzierung der Arbeitslosigkeit um 536 000 Personen als ungenügend bezeichnen,
muss ich Ihnen sagen: Sie haben von der Realität überhaupt keine Ahnung mehr, Herr Kollege Kolb.
- Herr Kollege Kolb, es kommen noch ganz andere Sachen. Bleiben Sie erst einmal sitzen.
Suchen Sie lieber in Ruhe das beste Jahr Ihrer Regierungszeit heraus und sagen Sie uns, in welchem Umfang Sie in diesem Jahr die Arbeitslosigkeit gesenkt haben.
Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt:
Sie wollen die Zwischenfrage also nicht zulassen?
Dr. Ralf Brauksiepe (CDU/CSU):
Nein.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, die Anhebung der Altersgrenze auf 67 Jahre tritt nicht heute in Kraft und auch nicht morgen oder übermorgen, wie von Kritikern immer wieder suggeriert wird. In den nächsten fünf Jahren ändert sich beim Renteneintrittsalter überhaupt nichts.
Erst ab dem Jahr 2012 beginnen wir sehr behutsam damit, das Renteneintrittsalter um einen Monat pro Jahr zu erhöhen. Das heißt, im Jahre 2023, also in 17 Jahren, haben wir ein um ein Jahr höheres Renteneintrittsalter als heute. Dann wird es bei 66 Jahren liegen. Danach geht es in größeren Schritten weiter. Das ist ein behutsamer und kalkulierbarer Weg.
Richtig ist, dass uns die heutige Situation auf dem Arbeitsmarkt für die Menschen über 50 Jahre noch nicht zufrieden stellen kann. Aber auch hier sind wir auf dem richtigen Weg. Wenn man sich die Quote der Beschäftigung der 55- bis 64-Jährigen, wie sie im EU-Vergleich gemessen wird, vor Augen führt, stellt man fest: Noch vor drei Jahren lag sie in Deutschland bei unter 40 Prozent. Heute liegt diese Quote bei uns bei 45,4 Prozent, in der alten EU 15 bei 44,1 Prozent und in der EU 25 bei 42,5 Prozent. Das heißt, was die Beschäftigung Älterer angeht, sind wir schon jetzt klar über dem EU-Durchschnitt. Dieser Trend ist positiv. Wir haben uns vorgenommen, im Jahr 2010 - bis dahin wird sich beim Renteneintrittsalter nichts geändert haben - 50 Prozent zu erreichen. Auf diesem Weg sind wir.
Im November dieses Jahres waren 97 000 weniger über 50-Jährige arbeitslos gemeldet als vor einem Jahr. Wir sind also auf einem positiven Weg, was die Beschäftigung Älterer angeht. Wir werden diesen Weg gemeinsam weitergehen. Schon im Jahr 2012 wird die Entwicklung auf dem Arbeitsmarkt völlig anders verlaufen. Jeder, der mit diesem Thema seriös umgeht, weiß, dass der Arbeitsmarkt des Jahres 2029 völlig anders aussehen wird als der heutige. Deswegen sind diese Maßnahmen sachgerecht.
Wir haben in vielen wichtigen Detailfragen deutlich gemacht, dass wir eine Reform durchführen müssen, die finanzielle Solidität und soziale Gerechtigkeit miteinander verbindet. Beides ist notwendig. Von diesem Prinzip haben wir uns leiten lassen, als es um die Frage ging: Wie gehen wir mit dem runden Dutzend verschiedener Rentenarten um, die es von der Rente für Schwerbehinderte über die Rente für langjährig unter Tage beschäftigte Bergleute bis hin zur Witwen- und Witwerrente gibt? Wir haben uns dabei von dem Grundsatz leiten lassen, jeweils parallel zur Regelaltersrente bis zum Jahr 2029 einen Anstieg um zwei Jahre vorzunehmen.
Wir haben in drei Bereichen Ausnahmen gemacht. Der Erste betrifft die Menschen, die 45 Jahre gearbeitet haben, also besonders langjährig Versicherte. Wir stellen sicher, dass diejenigen, die 45 Beitragsjahre aufzuweisen haben, weiterhin mit 65 Jahren ohne Abschläge in Rente gehen können. Da mag mancher sagen, das sei unsystematisch. Wahr ist, das ist etwas Neues. Wir sagen damit klipp und klar: Beitragsleistung ist notwendig, die Sozialversicherung lebt von den Beiträgen. Eine langjährige Beitragszahlung bedeutet auch etwas im Hinblick auf die Lebensleistung. Das muss in den sozialen Sicherungssystemen honoriert werden. Das hat etwas mit sozialer Gerechtigkeit zu tun und deswegen machen wir das so.
Weil wir diejenigen, die Familienarbeit leisten, nicht schlechter stellen wollen, weil wir Beitragsleistung und Familienleistung gleichstellen wollen, haben wir gesagt: Diejenigen, die Kinder erziehen, bekommen diese Zeit angerechnet; diejenigen, die Angehörige pflegen, bekommen das angerechnet.
Für die ersten drei Jahre der Erziehung eines Kindes wird angenommen, der Durchschnittsbeitrag sei eingezahlt worden. Durch die Einbeziehung der Kinderberücksichtigungszeiten werden im Grunde zehn Jahre pro Kind angerechnet, wenn festgestellt wird, wie lange jemand versichert war. Dies ist nach meiner festen Überzeugung eine notwendige Ausnahme. Ich bin dankbar, dass unser Koalitionspartner diesem Wunsch, den wir in die Koalitionsverhandlungen eingebracht haben, gefolgt ist, dass wir das gemeinsam verabreden konnten. Das war ein langjähriges Ziel der Union und ich darf sagen, es war auch ein langjähriges Ziel der Christlich-Demokratischen Arbeitnehmerschaft, eine solche Ausnahme für besonders langjährig Versicherte zu schaffen. Ich bin froh, dass wir dies vereinbart haben.
Wir haben eine weitere Ausnahme verabredet für langjährig Versicherte, die vor dem 67 Lebensjahr in Rente gehen wollen. Das ist bisher schon möglich - mit versicherungsmathematisch korrekten Abschlägen -, allerdings in einem kürzeren Korridor. Wir werden dafür sorgen, dass es weiterhin möglich ist, mit 63 Jahren in Rente zu gehen; bei der Rente mit 67 dann mit versicherungsmathematisch korrekten Abschlägen für vier Jahre. Damit kommen wir auch einem Wunsch der Tarifpartner nach mehr Flexibilität nach. Diese Regelung ist für die Rentenversicherung langfristig kostenneutral.
Uns ist darüber hinaus klar: Es wird bei allem Fortschritt bei der Humanisierung der Arbeitsverhältnisse immer Menschen geben, die nicht bis 67 arbeiten können. Deswegen brauchen wir auf Dauer das Instrument der Erwerbsminderungsrente; auch dazu bekennen wir uns ausdrücklich. Heute geht jemand, der nicht mehr voll arbeiten kann, mit ungefähr 50 Jahren in die Erwerbsminderungsrente. All diejenigen, die in einem solchen Alter in Erwerbsminderungsrente gehen, bleiben so gestellt, wie sie sind: Sie werden so behandelt, als hätten sie bis 60 gearbeitet, das heißt, die so genannten Zurechnungszeiten bleiben unverändert, für diese Menschen ändert sich nichts. Auch für all diejenigen, die langjährig versichert sind, wird es möglich sein, wenn sie später in Erwerbsminderungsrente gehen, die volle Erwerbsminderungsrente zu beanspruchen. Das heißt, für langjährig Versicherte wird es im Alter von 63 Jahren weiterhin die volle Erwerbsminderungsrente geben. Wir bekennen uns dazu. Auch wenn der Grundsatz der Heraufsetzung um zwei Jahre auch bei dieser Rentenart gilt, haben wir weit reichende Ausnahmen geschaffen, um der Lebens- und Beschäftigungssituation derer gerecht zu werden, die nicht so lange arbeiten können. Die Starken für die Schwachen, das ist das Prinzip der solidarischen Rentenversicherung. Die, die nicht mehr können, werden aufgefangen von der Solidargemeinschaft derer, die länger arbeiten können. Das ist das bewährte Prinzip der Rentenversicherung. Das erhalten wir aufrecht.
Diese Rentenreform auf den Weg zu bringen, war in der Tat nur gegen massive Widerstände möglich; das ist wahr. Der Begriff der Jahrhundertreform ist politisch viel zu häufig strapaziert worden. Deswegen will ich davon bewusst nicht sprechen. Aber sicherlich schreiben wir ein Stück Sozialgeschichte, wenn wir heute die Weichen für einen Übergangszeitraum von 23 Jahren stellen, um dann die Grundlage für eine durchschnittliche Rentenbezugsdauer von 18 Jahren zu haben.
Das war - das ist schon angesprochen worden - nur gegen massive Widerstände möglich. Wichtige und mächtige Menschen haben sich dagegen ausgesprochen. Ich nenne als Beispiele den DGB-Chef Michael Sommer, den FDP-Chef Guido Westerwelle, den IG-Metall-Chef Jürgen Peters und den FDP-Generalsekretär Dirk Niebel. Sie alle haben sich gegen die Rente mit 67 ausgesprochen. Vor diesem Hintergrund gilt mein besonderer Dank der Bundeskanzlerin Angela Merkel, dem Vizekanzler und zuständigen Minister Franz Müntefering sowie den Kolleginnen und Kollegen aus den Koalitionsfraktionen, dass wir diesem Druck nicht nachgegeben haben, sondern diesen notwendigen Beschluss gemeinsam gegen Widerstände auf den Weg gebracht haben. Wir werden das auch weiterhin gegen Widerstände tun.
Widerstand kam leider auch von der FDP. Das wissen Sie, Herr Kolb, am besten. Sie haben auf Ihrem letzten Bundesparteitag den Antrag eingebracht, das reguläre Renteneintrittsalter solle auf 67 Jahre heraufgesetzt werden. Das haben Sie damit begründet, dass die FDP den Mut haben und sich zu notwendigen Reformschritten bekennen solle. Dafür haben Sie leider keine Mehrheit bekommen, keine Mehrheit für Mut, keine Mehrheit für notwendige Reformschritte in der FDP. Das ist schade, auch für Sie, Herr Kolb. Aber Sie können beruhigt sein: Wir als große Koalition ergreifen auch gegen Widerstände unpopuläre Maßnahmen.
Lassen Sie mich abschließend noch ein paar Sätze zum Thema ?50 plus“ sagen. Trotz der positiven Entwicklung, die wir haben, sind wir als Gesetzgeber aufgefordert, das, was wir tun können, auch in Zukunft zu tun, um diesen Prozess zu flankieren. Das Programm ?50 plus“ bedeutet mehr als der Gesetzentwurf, den wir vorlegen. ?50 plus“ ist etwas, was in den Köpfen der Menschen stattfinden muss. Es muss allen klar sein, dass ein über 50-Jähriger nicht zum alten Eisen gehört, sondern noch rund eineinhalb Jahrzehnte zu arbeiten hat.
Deswegen gibt es schon jetzt eine Reihe von gesetzlichen Maßnahmen zur Förderung der Beschäftigung Älterer. Es gibt aber nicht nur Gesetze. Wir auf Bundesebene nehmen auch Geld in die Hand. Das Bundesarbeitsministerium fördert 62 Modellprojekte in Deutschland. Nach mir spricht noch die Kollegin Schewe-Gerigk. Auch in unserem Wahlkreis - wir sind im selben Wahlkreis tätig - gibt es ein solches Projekt. Es wird Geld des Bundes in die Hand genommen, um die Wirtschaft, um die Länder und um die Kommunen stärker in diesen Prozess einzubinden.
Zusätzlich tun wir mit bundesgesetzgeberischen Maßnahmen nun noch etwas, um diesen Prozess anzustoßen. Darüber hinaus regeln wir die EU-rechtskonforme befristete Beschäftigung Älterer neu, und zwar in einer Weise, die Flexibilität schafft, wie das sonst im Befristungsrecht an keiner Stelle der Fall ist. Unsere Erwartung ist, dass die Unternehmen von diesen Möglichkeiten Gebrauch machen und in Zukunft noch verstärkt ältere Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer einstellen.
Wir haben den Weg in diesem Gesetzgebungsverfahren noch vor uns. Ich sage ganz deutlich: Wir sind dafür offen, diese gesetzlichen Maßnahmen, wenn es den Bedarf gibt, noch anzureichern und Anhörungen und Diskussionen dazu durchzuführen.
Wir von der Union wollen - auch das sage ich ganz deutlich - für ältere Arbeitslosengeld-I-Empfänger, so wie es der Minister vorgeschlagen hat, die Entgeltsicherung verbessern, damit mehr Menschen nach kurzer Arbeitslosigkeit wieder in Beschäftigung kommen. Wir von der CDU/CSU wollen gleichzeitig einen Kombilohn für über 50-jährige Arbeitslosengeld-II-Bezieher, um auch die Menschen, bei denen es, aus welchem Grund auch immer, nicht geklappt hat, sie wieder schnell in Arbeit zu bringen, nicht aufzugeben. Auch ältere Langzeitarbeitslose brauchen eine Perspektive in unserem Land. Das hat etwas mit unserem christlichen Verständnis zu tun, niemanden aufzugeben und am Wegesrand stehen zu lassen. Deswegen werden wir in dieser Frage auch weiterhin aktiv werden.
Also: Wir haben wichtige Reformvorhaben vorgelegt, um die Renten zu konsolidieren und um zu einer gerechten Verteilung der Lasten aus der demografischen Entwicklung zwischen Rentenempfängern, Beitragszahlern und Steuerzahlern zu kommen. Lassen Sie uns gemeinsam konstruktiv diesen Weg weitergehen im Interesse der arbeitenden Menschen und derer, die als Rentnerinnen und Rentner den Lohn für ihre Lebensleistung von uns mit Recht erwarten.
Herzlichen Dank.
Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt:
Zu einer Kurzintervention erteile ich das Wort dem Kollegen Kolb.
Dr. Heinrich L. Kolb (FDP):
Vielen Dank, Frau Präsidentin. - Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich denke, wenn jemand keine Zwischenfrage zulässt, dann muss er es sich zumindest gefallen lassen, dass man in Form einer Kurzintervention inhaltlich zu dem Stellung nimmt, was hier gesagt wurde. Herr Kollege Brauksiepe, ich will das zu zwei Punkten tun.
Erstens. Sie sollten sich das, was Herr Minister Müntefering gesagt hat, wirklich noch einmal vor Augen führen: Gute Politik fängt damit an, dass man den Menschen sagt, was ist.
Sie haben wieder nur die Hälfte der Wahrheit gesagt. Die Hälfte der Wahrheit ist: Die Arbeitslosenzahl in unserem Land ist im letzten Jahr im Jahresvergleich um 500 000 zurückgegangen. Die andere Hälfte der Wahrheit ist: Im gleichen Zeitraum sind nur etwa 250 000 neue sozialversicherungspflichtige Stellen geschaffen worden.
- Ja, Herr Kollege Brandner, das ist ein ganz entscheidender Punkt, weil die Finanzierungskrise in allen Bereichen der sozialen Sicherung damit zusammenhängt, dass wir in den letzten vier Jahren 1,4 Millionen sozialversicherungspflichtige Arbeitsplätze verloren haben. Ich freue mich, dass wir jetzt wieder 250 000 Stellen gut gemacht und etwas Boden gewonnen haben.
Zur Wahrheit gehört aber, den Menschen auch zu sagen, dass es keinen Grund zur Entwarnung gibt und dass die Lage der sozialen Sicherungssysteme weiterhin angespannt bleibt, wenn wir diese Trendumkehr nicht wirklich dauerhaft erreichen und verstetigen.
Herr Brauksiepe, Sie hätten auch sagen sollen, dass sich die Differenz dadurch begründet, dass demografisch bedingt viel mehr Menschen aus dem Arbeitsmarkt austreten, als neue hinzukommen. Manche Menschen verabschieden sich gänzlich aus dem Arbeitsmarkt und manche gehen einer geförderten selbstständigen Tätigkeit - Ich-AG - nach. Für uns ist wichtig, dass die Anzahl der sozialversicherungspflichtigen Beschäftigungsverhältnisse relativ gesehen stagniert. Wenn man sich den Vierjahresvergleich anschaut, dann erkennt man, dass wir weiterhin deutlich im negativen Trend liegen.
Das Zweite, auf das ich eingehen möchte, sind Ihre Aussagen zur Position der FDP in Rostock.
In Rostock lag ein Antrag mit dem Titel ?Rentenpolitik fair und generationengerecht gestalten“ vor, der sieben Punkte enthielt. Davon haben wir sechs beschlossen.
- Darauf komme ich noch zurück. - Teilweise waren das sehr unpopuläre Dinge, nämlich etwa die Abschaffung des Lebensalters als Kriterium im Kündigungsschutzgesetz und die sofortige Beendigung von Frühverrentungsmöglichkeiten. Man muss hier klipp und klar sagen: Das alles trauen Sie sich ja nicht, obwohl dies wesentliche Teile der Lösung des Problems sind.
Einen Punkt haben wir offen gelassen, aber nicht deshalb, weil wir uns dem verweigern wollen, sondern weil wir mit etwas mehr Zeit nach einer besseren Lösung suchen wollten. Wenn Sie mir zugehört hätten, dann wüssten Sie, dass ich gesagt habe, dass die FDP in wenigen Wochen im Deutschen Bundestag ein Eckpunktepapier einbringen wird, in dem sehr klar beschrieben ist, wie man die Erwartungen der Menschen bezüglich des Übergangs vom Erwerbsleben in den Ruhestand besser erfüllen kann. Wir kneifen hier nicht, sondern wir werden Farbe bekennen.
Ich sage Ihnen voraus: Sie werden sich mit dem Vorschlag, den wir Ihnen präsentieren werden, schwer tun. Ich freue mich schon heute auf diese Situation.
Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt:
Herr Brauksiepe, bitte.
Dr. Ralf Brauksiepe (CDU/CSU):
Herr Kollege Kolb, ich bitte ausdrücklich um Entschuldigung, dass ich Ihnen nicht die Gelegenheit zu einer Zwischenfrage gegeben habe. Ich hatte sie zu einem späteren Zeitpunkt erwartet, nämlich dann, als ich darauf hingewiesen habe, dass Sie die Rente mit 67 Jahren ablehnen. Als ich das das letzte Mal gesagt habe, haben Sie eine Zwischenfrage gestellt. Sie bestreiten jetzt also nicht mehr, dass die FDP die Rente mit 67 Jahren ablehnt.
Das haben Sie akzeptiert. Deswegen kam die von mir erwartete Zwischenfrage an dieser Stelle nicht. Sie hatten also keine Gelegenheit, sie zu stellen. Dafür bitte ich ausdrücklich um Entschuldigung. Wir sind sehr gespannt darauf, was Sie uns ankündigen werden.
Ich habe von 536 000 Arbeitslosen weniger als vor einem Jahr gesprochen. Wir können gerne über die sozialversicherungspflichtige Beschäftigung reden. Wir haben 317 000 sozialversicherungspflichtige Beschäftigte mehr als vor einem Jahr. Ich habe Ihren Beitrag so verstanden, dass Sie einen solchen Rückgang der Arbeitslosigkeit in Ihren 42 Regierungsjahren nicht hinbekommen haben. Ich mache Ihnen ein neues Angebot: Wenn Ihre Kollegin an der Reihe ist, dann soll sie uns das Jahr der 42 Jahre Ihrer Regierungszeit in der Bundesrepublik Deutschland nennen, in dem Sie 317 000 sozialversicherungspflichtige Beschäftigungsverhältnisse zusätzlich geschaffen haben. Das wäre doch ein interessanter Beitrag zur Wahrheitsfindung.
Vielen Dank.
Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt:
Das Wort hat jetzt der Kollege Dr. Gregor Gysi für die Linke.
Dr. Gregor Gysi (DIE LINKE):
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Herr Müntefering, wir haben es zunächst einmal mit einem praktischen Demokratieproblem zu tun.
Herr Meckelburg hat hier in der vorigen Debatte gesagt, die Mehrheit wolle nicht, dass das Renteneintrittsalter auf 67 Jahre erhöht werde. Nun will ich gar nicht bestreiten, dass auch eine Koalition in einer Regierungszeit von vier Jahren einmal als Ausnahmefall gezwungen sein kann, etwas gegen den Willen der Mehrheit zu entscheiden. Das Problem ist nur: Bei Ihnen wird das zum Regelfall.
Ob wir die Mehrwertsteuererhöhung nehmen, ob wir die Gesundheitsreform nehmen, ob wir die Körperschaftsteuersenkung für die Deutsche Bank und andere Kapitalgesellschaften nehmen, ob wir die Pendlerpauschalenreduzierung nehmen, all das geschieht gegen den Mehrheitswillen der Bevölkerung.
Was die Rente ab 67 betrifft, gibt es hier eine breite Übereinstimmung. Die Union will sie, die SPD will sie, die Grünen wollen sie. Die Grünen behaupten sogar, dies läge im Interesse der jungen Leute. Das verstehe ich nun gar nicht, denn die jungen Leute müssen ja dann länger arbeiten. Die FDP will die Erhöhung des Renteneintrittsalters halb, noch nicht ganz. Wir werden sehen, wie sich die Sache entwickelt.
Dann werden wir dafür kritisiert - zum Beispiel von Herrn Meckelburg und von anderen -, dass wir eine andere Auffassung haben. Ich würde gerne darüber diskutieren, was das bedeutet. Stellen Sie sich einmal vor, auch wir wären der Meinung, man müsse das Renteneintrittsalter auf 67 Jahre erhöhen. Stellen Sie sich einmal vor, der ganze Bundestag wäre sich einig, aber 67 Prozent der Bevölkerung sind dagegen.
Und dann wollen Sie, dass die Interessen dieser 67 Prozent im Bundestag nicht einmal artikuliert werden! Das wäre das Ende der repräsentativen Demokratie.
Herr Müntefering, Sie haben zu Recht gesagt: Alles fängt damit an, dass man Tatsachen anerkennt und dass man sie auch ehrlich vorträgt. Ich darf zwei Zitate bringen, ein Zitat aus dem Wahlprogramm der Union aus dem Jahr 2005: ?Sobald es die Bedingungen auf dem Arbeitsmarkt erlauben, kommt auch eine schrittweise Anhebung des Renteneintrittsalters infrage.“
- Na ja. Ich finde, die Bedingungen erlauben es nicht. Falsch ist es auch, aber immerhin: Sie haben es gesagt.
Jetzt zitiere ich aus dem Wahlprogramm der SPD. Darin steht Folgendes: ?Unser Ziel ist, das faktische Renteneintrittsalter an das gesetzliche Renteneintrittsalter von 65 Jahren heranzuführen.“ Da steht nichts von 67.
Sie machen dasselbe wie bei der Mehrwertsteuer: Sie versprechen im Wahlkampf etwas anderes, als Sie hier realisieren.
Damit müssen Sie sich auseinander setzen. Sie können nicht behaupten, andere erkennen die Tatsachen nicht an, und sich hier hinstellen und sagen, Sie wollen nicht an Ihre Wahlversprechen erinnert werden. So geht es nicht!
Kommen wir zur demografischen Entwicklung, also zu den Zahlen und Tatsachen. Ich will jetzt nicht so weit zurückgehen, aber als wir noch in Höhlen lebten, wurden wir 20 bis 30 Jahre alt, glaube ich. Das liegt sehr lange zurück.
Aber ab 1900 gibt es genauere Zahlen. In den 100 Jahren von 1900 bis 2000 sind wir in der Gesellschaft in Deutschland um über 30 Jahre älter geworden. Das ist schon interessant.
Herr Bismarck hat 1891 das Rentenalter mit 70 eingeführt, weil er die Beiträge nicht so hoch ansetzen wollte.
1916 wurde für Arbeiter das Rentenalter auf 65 Jahre reduziert, für Angestellte schon früher. Das heißt, 90 Jahre haben wir dieses Renteneintrittsalter durchgehalten - bei einer Steigerung der Lebenserwartung von über 30 Jahren. Und jetzt kommen Sie und sagen, bis zum Jahre 2050 werden wir noch einmal sechs Jahre älter. Im Vergleich zu über 30 Jahren ist das nichts. Nicht einmal demografisch lässt sich Ihre Entscheidung vernünftig begründen.
Das Nächste, wenn wir über Tatsachen reden, ist, dass es auf die Alterszusammensetzung der Bevölkerung gar nicht ankommt.
- Es ist übrigens interessant, wie sich alle aufregen. Sie werden alle älter, aber so alt, wie Sie tun, nun auch wieder nicht.
Wie viele Menschen über 65 Jahre alt sind, ist gar nicht die entscheidende Frage. Die entscheidende Frage ist die der Produktivität der Menschen.
1900 hat ein Bauer acht Menschen versorgt. Heute versorgt ein Bauer 80 Menschen. Das sind Tatsachen, die Sie überhaupt nicht erörtern. Im Schnitt der letzten Jahre stieg die Produktivität pro Jahr um 3 Prozent. Nehmen wir nur ein Jahr; nehmen wir nur das Jahr 2005. In diesem Jahr stieg die Produktivität um 1,9 Prozent. Darauf hat Herr Lafontaine zwar schon hingewiesen und Sie wollen eigentlich keine Wiederholungen hören, aber weil Sie es offenbar nicht verstanden haben, muss ich es wiederholen.
Die Produktivität stieg, wie gesagt, um 1,9 Prozent. Die Wirtschaft wuchs aber nur um 1,4 Prozent. Das heißt, dass bei unveränderter Arbeitszeit 1,9 Prozent mehr Waren und Dienstleistungen hergestellt bzw. erbracht wurden. Im selben Zeitraum wurden aber nur 1,4 Prozent mehr Produkte und Dienstleistungen verkauft. Das ist das Problem. Kein Unternehmen wird etwas herstellen, das es nicht verkaufen kann. Es bleibt eine Differenz von 0,5 Prozentpunkten.
Was ist zu tun? Es gibt zwei Wege: Man kann entweder die Arbeitszeit entsprechend reduzieren oder die Arbeitslosigkeit steigt an. Leider ist immer Letzteres geschehen. Aber eine Maßnahme ist völlig unpassend - darauf sind Sie mit keinem Satz eingegangen -: im Laufe der nächsten Jahre die Arbeitszeit um zwei Jahre zu verlängern. Die Produktivität nimmt doch weiter zu und wir werden nicht entsprechend mehr Waren und Dienstleistungen verkaufen können. Deshalb ist es in ökonomischer Hinsicht völliger Unsinn, die Arbeitszeit um zwei Jahre zu verlängern.
Es gibt zwar Löcher in den Rentenkassen - das ist richtig -, aber sie haben nichts mit der Bevölkerungszusammensetzung nach ihrem Alter zu tun, sondern mit dem Wachstum des Sozialprodukts bzw. der Produktivität, der Entwicklung der Reallöhne, der Zahl der sozialversicherungspflichtig Beschäftigten und der Verteilung des Sozialprodukts. Schuld an Löchern in der Rentenkasse sind die hohe Arbeitslosigkeit - denn Arbeitslose zahlen keine Beiträge ein -, der Rückgang der Lohnquote - denn wenn es weniger Löhne gibt oder die Löhne nicht steigen, dann gehen die Beiträge entsprechend zurück - und der wachsende Niedriglohnsektor, wodurch die Einzahlungen in die gesetzliche Rentenversicherung noch weiter zurückgehen.
Ich darf daran erinnern, dass wir als einzige Industriegesellschaft in den letzten sieben Jahren einen Rückgang der Reallöhne um 0,9 Prozent zu verzeichnen hatten. In den USA, in Großbritannien und Frankreich wurden Steigerungen von 20 bis 25 Prozent erzielt. Das ist eine völlig andere Entwicklung.
Diese Probleme wirken sich auch in der Rentenversicherung aus. Dann kam noch ein weiterer Fehler hinzu, auf den ich aus Zeitgründen nur kurz eingehen kann. Dieser Fehler bestand darin, die Kosten der deutschen Einheit - insbesondere auch die Renten in Ostdeutschland - dem Rentenversicherungssystem aufzubürden, statt sie aus Steuermitteln zu finanzieren, was dringend erforderlich gewesen wäre.
Jetzt können wir Altersarmut prognostizieren. Sie sagen selbst, Herr Müntefering, dass der Anteil am Durchschnittsverdienst, den man als Rente bekommt, im Laufe der Jahre immer weiter zurückgehen und letztlich auf unter 46 Prozent sinken wird. Im Osten wird sich das dramatisch auswirken; denn dort ist die Arbeitslosigkeit doppelt so hoch wie im Westen. Die geringe Durchschnittsrente wird nur nach 45 Jahren Beitragszahlung ausgezahlt. Im Osten wird es aber kaum jemanden geben, der 45 Jahre lang Beiträge zahlen konnte. Das heißt, dass wir es dort mit einer ernst zu nehmenden Altersarmut zu tun bekommen werden.
Das alles lösen Sie doch nicht dadurch, dass Sie eine wirkungslose Initiative ?50 plus“ durchführen und das Renteneintrittsalter um zwei Jahre erhöhen. Ich frage mich, wo Ihre Antworten zu finden sind.
- Man muss Reformen durchführen. Das stimmt und das wissen wir auch. Wir haben viele Eigenschaften, aber wir sind nicht bescheuert.
Sie müssen 8,7 Prozent der Wählerinnen und Wähler zumindest zutrauen, dass sie keine bescheuerten Leute wählen. Wenigstens das sollten Sie den über 4 Millionen Menschen zutrauen, wenn Sie ihnen sonst schon nicht viel zutrauen.
Ich ärgere mich über etwas anderes mehr. Sie versprechen immer wieder Dinge, die Sie nicht einhalten. Sie schwindeln im Wahlkampf, werden aber wieder gewählt. Das ärgert mich zwar, aber ich kann es nicht ändern.
Zurück zur Finanzierung: Zu Bismarcks Zeiten stammten 90 Prozent der Einkommen aus abhängiger Beschäftigung und 10 Prozent aus Vermögen, Selbstständigkeit und Unternehmertum. Heute stammen nur noch 60 Prozent der Einkommen aus abhängiger Beschäftigung; 40 Prozent kommen aus Selbstständigkeit, Unternehmertum und Vermögen. Dadurch reduziert sich die Zahl der Beitragszahler enorm, nämlich von 90 Prozent auf 60 Prozent derjenigen, die ein Einkommen erzielen. Also könnte eine Reform darin bestehen - das wäre ein mutiger Schritt -, alle Einkommen schrittweise in die gesetzliche Rentenversicherung mit einzubeziehen.
- Dass die FDP das nicht will, ist mir klar. Dass ein armer Apotheker plötzlich in die Rentenversicherung einzahlen soll, halten Sie nervlich nicht aus.
Jetzt werden Sie sagen, dass die Einzahler dann auch eine Rente beziehen werden.
- Hören Sie zu; ich will auf etwas anderes hinaus. -
Natürlich bekommen auch diejenigen, die zusätzlich in die Rentenversicherung einzahlen, eine Rente. Wir müssen daher die Beitragsbemessungsgrenze schrittweise aufheben und die Rentensteigerungen abflachen.
Wissen Sie, wie es in der Schweiz ist? In der Schweiz muss jemand, der Millionen verdient, entsprechend seinem Einkommen Beiträge zahlen. Es gibt aber eine gesetzliche Höchstrente von circa 1 800 Schweizer Franken. Der dort geltende Grundsatz lautet: Es ist zwar richtig, dass die Millionäre keine gesetzliche Rente benötigen, aber die gesetzliche Rentenversicherung benötigt die Millionäre. Einen solchen Mut würde ich gerne auch im Bundestag erleben.
Die Unternehmen haben sich verändert. Zu Bismarcks Zeiten erzielten zwei Unternehmen aus unterschiedlichen Branchen mit jeweils 100 Beschäftigten in etwa den gleichen Gewinn, wenn sie gleich gut geleitet wurden. Davon kann heute keine Rede mehr sein. Je nach Branche braucht der eine 200 Beschäftigte und der andere nur 100 Beschäftigte, um den gleichen Gewinn zu erzielen. Deshalb fordere ich immer: Streichen Sie die Lohnnebenkosten! Machen Sie eine Reform und führen Sie eine Wertschöpfungsabgabe ein! Sie ist viel gerechter, insbesondere im Hinblick auf die unterschiedliche Leistungsfähigkeit der Unternehmen.
Was ist das Ziel? Sie sagen, es gehe um die Beiträge. Aber das stimmt gar nicht. Sie sagen, dass die Menschen mehr private Vorsorge betreiben und beispielsweise Riester-Verträge abschließen sollten. Aber dann müssen die Menschen 4 Prozent ihres Bruttoeinkommens zur Altersvorsorge aufwenden. Tatsächlich geht es Ihnen nicht um die Beiträge der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer, sondern nur um den Arbeitgeberanteil. Diesen wollen Sie festschreiben, damit die Unternehmen nicht mehr zahlen müssen. Hier macht die SPD mit. Das entspricht aber nicht ihrer Herkunft und sollte auch nicht ihre Zukunft sein.
Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt:
Herr Kollege, Sie müssen zum Schluss kommen.
Dr. Gregor Gysi (DIE LINKE):
Lassen Sie mich als letzten Satz sagen: Das ist meines Erachtens eine Unterordnung der Politik unter die Interessen der Wirtschaft. Da Sie dafür sorgen, dass auch ich zwei Monate später die gesetzliche Rente bekomme - was nicht weiter schlimm ist, weil ich eine Pension des Bundestages erhalte -, dachte ich mir, dass Sie eine kleine Strafe verdient haben: Ich bleibe hier einfach eine Legislaturperiode länger, als ich es vorhatte.
Danke schön.
Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt:
Das Wort hat die Kollegin Irmingard Schewe-Gerigk, Bündnis 90/Die Grünen.
Irmingard Schewe-Gerigk (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Das Renteneintrittsalter zu erhöhen ist keine populäre Entscheidung, wegen der demografischen Entwicklung aber richtig. Das sage ich auch als Oppositionspolitikerin.
Wir sind nicht als Abgeordnete gewählt worden, um populistische Entscheidungen zu treffen, sondern wir sind gewählt worden, um den Menschen die Wahrheit über die tatsächliche Situation zu sagen und Lösungen anzubieten.
Die Wahrheit ist: Weniger Beschäftigte
müssen für mehr Rentner und Rentnerinnen längere Zeit Rente zahlen; das sind heute 17 Jahre. Viele Gründe sprechen für die Rente mit 67. Da ist der Geburtenrückgang. Im Jahre 2030 wird es fast 8 Millionen weniger Menschen im Erwerbsalter geben. Da ist die steigende Lebenserwartung. Jedes zweite heute geborene Mädchen wird 100 Jahre alt werden. Da sind die wachsende Gesundheit und Leistungsfähigkeit Älterer sowie der schon heute sichtbare Fachkräftemangel.
Für uns Grüne ist allerdings die Voraussetzung für die Rente ab 67 die Integration Älterer in den Arbeitsmarkt.
Herr Minister Müntefering, Ihre Initiative ?50 plus“ reicht aber nicht aus; darauf wird die Kollegin Pothmer gleich noch ausführlicher eingehen. Ich frage mich, welche Wertschätzung die Gesellschaft gegenüber Älteren aufbringt, wenn sie davon ausgeht, dass Älterenur dann vermittelt werden können, wenn man den Arbeitgebern ein zusätzliches Zückerchen in Form von Kombilohn oder Eingliederungshilfen gibt. Ich kenne viele ältere Erwerbslose mit hoher Qualifikation und einem großen Erfahrungswissen, auf das jedes Unternehmen stolz sein könnte. Wir brauchen endlich einen Mentalitätswandel. Es kann nicht sein, dass Menschen unter 30 zu jung und ab 45 zu alt für eine bestimmte Aufgabe sind.
In den deutschen Betrieben herrscht aber noch immer - das ist bedauerlich - der Jugendwahn. Wir haben in Deutschland keine Kultur der Altersarbeit. Das haben wir insbesondere einem zu verdanken, nämlich dem ehemaligen Rentenminister Dr. Norbert Blüm,
der mit seinem Frühverrentungsprogramm die Rentenkassen zulasten der Allgemeinheit geplündert hat. Ich finde, es ist absolut absurd, dass er uns nun via Talkshows Ratschläge erteilt oder der IG BAU als Kronzeuge gegen eine solidarische Verlängerung der Altersgrenzen dient.
Herr Exminister Blüm, Sie sollten lieber dieses Sitzkissen, das uns die IG BAU zusammen mit ihrer Stellungnahme und ihren Ratschlägen zugeschickt hat, nehmen und damit in ein Fußballstadion gehen, statt die Menschen in die Irre zu führen.
Wir brauchen die innovativen Arbeitgeber, die schon heute wissen: Lebenslanges Lernen, Gesundheitsförderung und altersgemischte Teams sind der Schlüssel für den Erfolg eines Unternehmens der Zukunft. Es ist eine große Herausforderung, ausreichend Arbeitsplätze für Ältere zu schaffen. Wer aber, wie es die Linke tut, die heutige Arbeitsmarktsituation auf das Jahr 2030 überträgt, der gibt den Anspruch auf politische Gestaltung auf.
Wir Grüne tun das nicht. Auch darum, Herr Minister Müntefering, unterstützen wir Sie bei Ihrem Vorhaben, das Renteneintrittsalter zu erhöhen. Was wir aber überhaupt nicht verstehen, sind Ihre doppelten Botschaften. Sie wollen Reformer sein, trauen sich aber offensichtlich doch nicht so richtig. Sie wollen mit Vollgas nach vorne fahren, wollen die Rente mit 67 Jahren, gleichzeitig aber haben Sie den Rückwärtsgang eingelegt und machen ein Gesetz, durch das 15 000 Beschäftigte der Postnachfolgeunternehmen mit 55 Jahren in Rente gehen können. Sie sorgen durch eine verlängerte Stichtagsregelung dafür, dass Betriebe Altersteilzeitverträge nach dem Blockmodell abschließen, sodass die älteren Beschäftigten früher entlassen werden. Ich nenne ein solches Verhalten schizophren.
Dazu passt die geplante Einführung einer neuen abschlagsfreien Altersrente für Versicherte mit mindestens 45 Beitragsjahren. Das kostet die Versicherten mehr als 2 Milliarden Euro und schmälert den Effekt Ihrer Reform. Das Vorhaben ist aber auch verfassungsrechtlich bedenklich, weil es Versicherte mit gleichen Anwartschaften unterschiedlich behandelt.
Das heißt, jemand, der nach 45 Jahren abschlagsfrei in Rente geht und 1 000 Euro erhält, bezieht 24 000 Euro mehr als jemand, der den gleichen Anspruch bereits nach 40 Jahren erfüllt. Da sage ich Ihnen nur: Viel Spaß beim Bundesverfassungsgericht!
- Beim Bundespräsidenten auch.
Wenn Sie dann schon einmal in Karlsruhe sind, dann können Sie ja vielleicht auch gleich erläutern, wie Sie eine mittelbare Diskriminierung von Frauen legitimieren; denn 2004 konnten lediglich 5 Prozent der Frauen, aber 41 Prozent der Männer diese 45 Versicherungsjahre erfüllen. Hinzu kommt, dass diese Sonderregelung denen, die Sie, Herr Minister, besonders schützen wollen, überhaupt nichts nützt.
- Ich komme gleich zu Ihnen. Lassen Sie mich zunächst den Gedanken zu Ende führen.
Ich erinnere an die Debatte im Sommer, in der Ministerpräsident Beck Ausnahmen von der Rente mit 67 Jahren für bestimmte Berufe forderte. Er sprach von Dachdeckern und Krankenschwestern. Die Debatte läuft heute nicht mehr. Sie dürften aber wissen, dass die die 45 Versicherungsjahre kaum erreichen, weil viele von denen bereits mit 50 Jahren eine Erwerbsminderungsrente beziehen. Darum sage ich: Diese Regelung ist Etikettenschwindel. Sie begünstigt die, die schon gute Ansprüche haben, oder: Wer hat, dem wird gegeben.
Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt:
Frau Kollegin, möchten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Weiß zulassen?
Irmingard Schewe-Gerigk (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Ja, ich lasse sie gleich zu.
Profitieren wird der gut verdienende Abteilungsleiter im öffentlichen Dienst, mitfinanzieren muss es die Verkäuferin. Das ist eine Umverteilung von unten nach oben und das nenne ich Murks.
Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt:
Dann kommt jetzt die Zwischenfrage des Kollegen Weiß.
Irmingard Schewe-Gerigk (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Ich muss erst einmal den Minister zu etwas auffordern. Ich fordere Sie, Herr Minister, auf: Nehmen Sie diese verfassungsrechtlich bedenkliche, Frauen diskriminierende und sozial unausgewogene Sonderregelung zurück! Was Sie betreiben, ist Besitzstandswahrung und Interessenpolitik. Das lehnen wir Grüne ab. Uns geht es ums Ganze. Uns geht es um Generationengerechtigkeit.
Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt:
Herr Weiß, haben Sie eigentlich noch Interesse an einer Zwischenfrage?
Peter Weiß (Emmendingen) (CDU/CSU):
Frau Kollegin Schewe-Gerigk, es war natürlich wunderschön, Ihnen zuzuhören. Deswegen habe ich so lange mit der Zwischenfrage gewartet.
Meines Wissens haben Sie zwei Kinder.
Irmingard Schewe-Gerigk (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Ja. Haben Sie das gerade nachgesehen?
Ein Kind heißt Verena, das andere heißt Sarah Rosa.
Peter Weiß (Emmendingen) (CDU/CSU):
Danke schön, jetzt kennen wir auch die Namen.
Wenn Sie nun eines Ihrer Kinder belobigen, weil es eine besondere Leistung erbracht oder etwas besonders gut gemacht hat, dann ist das doch keine Benachteiligung des anderen Kindes.
- Nein, das ist ein praktisches Beispiel aus dem Leben. - Es kann doch keine Benachteiligung anderer Beitragszahlerinnen und Beitragszahler in der gesetzlichen Rentenversicherung sein, wenn durch eine wirkliche Innovation im neuen Rentenrecht derjenige, der lange hart gearbeitet hat und 45 Jahre lang regelmäßig Beiträge in die Rentenversicherung gezahlt und damit für die Leistungsfähigkeit der deutschen Rentenversicherung gesorgt hat, der Rentnerinnen und Rentnern mit seinen Beiträgen eine anständige Rente ermöglicht hat, eine Belobigung im Rentensystem erhält, die darin besteht, dass er mit 65 Jahren abschlagsfrei in Rente gehen kann. Wenn ich eine Gratifikation verteile, wenn ich eine Belobigung ausspreche, dann ist das doch keine Benachteiligung anderer.
Deswegen kann ich Ihre Denkweise - Entschuldigung, Frau Kollegin Schewe-Gerigk - überhaupt nicht nachvollziehen, zumal wir in diese Regelung ausdrücklich eine frauenspezifische Bestimmung eingebaut haben, nämlich dass wir nicht nur die drei Jahre Kindererziehungszeiten, hinter denen Beiträge des Staates stehen, bei den 45 Jahren anerkennen, sondern auch zehn Jahre Kinderberücksichtigungszeiten einrechnen.
Irmingard Schewe-Gerigk (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Herr Kollege Weiß, Ihr Rechtsverständnis teile ich nicht. Ihr Beispiel hinkt absolut. Was heißt denn eigentlich Belobigung? Wenn jemand die Chance hatte, 45 Jahre durchgehend erwerbstätig zu sein, das heißt, wenn er keine Zeiten der Erwerbslosigkeit hatte, dann können wir froh sein. Dann hat diese Person ein gutes Polster für das Alter aufgebaut und kann sich auf diesem Sitzkissen niederlassen.
Aber was ist mit den Personen, die nur 40 Jahre arbeiten konnten und zwischendurch fünf Jahre erwerbslos waren, oder was ist mit denen, die erst später in den Beruf eingestiegen sind und diese 45 Jahre überhaupt nicht erreichen werden?
Die Logik, die Sie verbreiten, stimmt überhaupt nicht. Es kann doch nicht sein, dass Sie die heutige Arbeitsmarktsituation, die die Menschen daran gehindert hat, 45 Jahre zu arbeiten, diesen vorwerfen.
- Wenn das eine Beitragsleistung ist, Herr Kollege Weiß, dann müssen Sie demjenigen, der mit 40 die gleiche Leistung erbracht hat, das gleiche geben wie dem, der diese Leistung mit 45 Jahren erreicht hat.
Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt:
Das waren jetzt eine Nachfrage und eine Antwort.
Jetzt haben Sie noch neun Sekunden.
Irmingard Schewe-Gerigk (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Nein, ich war gerade beim Stichwort Generationengerechtigkeit.
Ein späterer Renteneintritt senkt den Druck auf die Beiträge und entlastet die nachkommende Generation. Wir wollen, dass die Menschen individuell flexibler in Rente gehen können. Das ist auch das, was die Mehrheit der Bevölkerung will. Sie ist - wie schon so oft - weiter als die Politik. Eine Mehrheit sagt, sie möchte gerne flexibel zwischen 60 und 67 Jahren mit Abschlägen oder mit Zuschlägen in Rente gehen. Starre Altersgrenzen in Tarif- und Arbeitsverträgen müssen aufgehoben werden.
Auch Modelle wie Teilrente und Teilzeitbeschäftigung sind gefragt.
Frau Präsidentin, ich komme zum Schluss. Neue Wege sind oft mit Zumutungen verbunden. Das wissen Sie, Herr Kolb. Wenn aber das Ziel klar ist und alle entsprechend ihrer Leistungsfähigkeit mitgenommen werden - ich sage ganz ausdrücklich: auch die Beamten und die Politikerinnen und Politiker müssen analog zu diesen Rentenbeschlüssen behandelt werden -, dann lohnt es sich, diesen Weg zu gehen.
Vielen Dank.
Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt:
Der Kollege Wolfgang Grotthaus spricht für die SPD-Fraktion.
Wenn Sie das aber so herüberbringen, wie Sie es getan haben, dann wirkt das populistisch und sehr unglaubwürdig.
Das Zweite ist: Wenn Sie den Vergleich bringen, dass ein Bauer um 1900 acht Menschen ernähren konnte, während es heute 80 sind, und daraus den Schluss ziehen, dass es nicht notwendig ist, Rentenbeitragserhöhungen oder eine Erhöhung der Lebensarbeitszeit daraus abzuleiten, dann sage ich Ihnen: Das ist die Logik eines Menschen, der im Arbeiter- und Bauernstaat groß geworden ist. Für mich ist das nicht logisch. Vielleicht sollten Sie auch darüber noch einmal nachdenken.
Ich möchte nun zu einigen sachlichen Begründungen zu der Initiative ?50 plus“ kommen. Mit diesem Gesetzentwurf kommen wir den Menschen entgegen, die sehr oft nur aufgrund ihres Alters aus dem Arbeitsprozess ausgemustert worden sind. Wir bieten den Arbeitgeberinnen und Arbeitgebern mit diesem Gesetzentwurf verschiedene Förderinstrumente, damit sie sich verstärkt um die Einstellung älterer Kolleginnen und Kollegen bemühen.
Wir meinen, dass es unzulässig ist, wenn sich Arbeitgeber über Fachkräftemangel beklagen. Wenn gefordert wird, ausländische Ingenieure auf dem deutschen Arbeitsmarkt zuzulassen, obwohl man weiß, dass sich insbesondere ältere Kolleginnen und Kollegen mit den entsprechenden Qualifikationen in der Arbeitslosigkeit befinden, dann ist dies wenig glaubwürdig.
Lassen Sie mich dazu eine persönliche Bemerkung machen. Ich habe es in meinem Job erlebt, dass von 1995 an ältere Kolleginnen und Kollegen, insbesondere Ingenieure, aus den Jobs hinausgekegelt worden sind, vor allem im Bereich des Maschinenbaus und der Verfahrenstechnologie. Man hat damals jungen Menschen gesagt, es lohne sich nicht mehr, Ingenieurwissenschaften zu studieren. Heute beklagen genau diejenigen, die dies damals jungen Menschen mit auf den beruflichen Weg gegeben haben, dass es keinen Nachwuchs mehr gibt.
Diese Arbeitgeber sollten in die Pflicht genommen werden, ältere Arbeitslose, die dieses Studium schon absolviert haben, durch Fördermaßnahmen wieder in den Beruf zu integrieren.
Es ist notwendig, ältere Menschen durch gezielte Maßnahmen nicht arbeitslos werden zu lassen und ältere Arbeitslose durch Fördermaßnahmen wieder zu integrieren. Genau das ist die Zielsetzung dieses Gesetzentwurfes.
Er beinhaltet dazu ein ganzes Bündel von Maßnahmen. Wer lebenslanges Lernen einfordert, der - wir haben darüber hier oft genug in Übereinstimmung über alle Fraktionen hinweg diskutiert - muss die Chance dazu auch älteren Menschen geben.
Im Gesetzentwurf sehen wir dazu eine deutliche Erweiterung und damit eine effektive Verbesserung schon bestehender Maßnahmen hinsichtlich der Regelung der Weiterbildungsförderung älterer Arbeitnehmer und Arbeitnehmerinnen vor. Künftig können die Beschäftigten bereits ab dem 45. Lebensjahr Förderleistungen erhalten, wenn der Betrieb weniger als 250 Arbeitnehmer beschäftigt. Perspektivisch führt das nach unserer Auffassung zu einer Erhöhung von Fördermöglichkeiten, die früher in Anspruch genommen werden können, wodurch sich die Gefahr der Arbeitslosigkeit verringert.
Die Übernahme der Weiterbildungskosten stellt gerade im Bereich der kleinen und mittleren Unternehmen einen wichtigen Baustein für verstärkte Anstrengungen zur Weiterbildung von älteren Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern dar.
Ein weiteres Instrument - ich sehe, die Zeit läuft mir davon; deswegen will ich mich nur auf ein weiteres Instrument beziehen - sind die finanziellen Anreize für Eingliederungsmaßnahmen. Wir bieten den Älteren mit diesem Gesetzentwurf eine Teilentgeltsicherung. Das bedeutet, dass ältere Menschen, die eine Arbeitsstelle annehmen, die geringfügiger bezahlt wird als die vorherige, einen Gehaltszuschuss für bis zu zwei Jahre erhalten können. In der Spitze sind das 50 Prozent, im unteren Bereich bis zu 30 Prozent. Dabei wird meistens etwas vergessen, was für die Menschen aber ebenfalls von Wichtigkeit ist, nämlich dass die Rentenbeitragszahlung auf 90 Prozent des letzten Verdienstes aufgestockt wird.
Bewertet man die Inhalte dieses Gesetzentwurfes, lässt sich feststellen, dass es attraktiv ist, ältere Menschen aufgrund ihres Fachwissens und ihrer Leistungsbereitschaft einzustellen. Denn das - nicht die finanziellen Voraussetzungen - ist erst einmal der wichtigste Grund. Die Menschen, die sich um einen Job bemühen, wollen eingestellt werden. Sie sind leistungsbereit. Sie haben ein entsprechendes Fachwissen. Vielleicht sind sie nicht immer so schnell wie die Jungen. Aber wer gute Kenntnisse von Betriebsabläufen hat, kann rationeller arbeiten als mancher, der nur schneller ist.
Mit den Förderinstrumenten wollen wir älteren Menschen in der Gesellschaft eine weitere Chance im Berufsleben geben. Ich bitte darum, dass alle Fraktionen - denn es geht schließlich um die Menschen, die arbeitslos sind - Werbung für die im Gesetz enthaltenen Maßnahmen machen und in den Gemeinden auf die entsprechenden Möglichkeiten aufmerksam machen. Damit können die Arbeitgeberinnen und Arbeitgeber in die Pflicht genommen werden, den Älteren eine neue Chance im Berufsleben zu geben.
Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt:
Für die FDP spricht die Kollegin Sibylle Laurischk.
Sibylle Laurischk (FDP):
Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Bei dem Gesetz, über das wir jetzt debattieren, handelt es sich tatsächlich um ein Rentenkürzungsprogramm. Man muss es ganz klar so benennen.
Es nennt sich zwar Gesetz zur Verbesserung der Beschäftigungschancen älterer Menschen. Aber ich frage mich schon, wo es die Arbeitsplätze für die über 50-Jährigen gibt. Leere Worte und schöne Plakate wie die für die Initiative ?50 plus“, Herr Minister, schaffen keine Arbeitsplätze.
Es ist nötig, auch seniorenpolitisch hier klare Worte zu finden. Ich bin der Auffassung, dass sich die Bundesregierung mit mehr Mut und Fantasie an den Umbau des gesamten Sozialversicherungssystems machen müsste, statt ständig nur an einer Schraube zu drehen.
In 60 Prozent aller Unternehmen in Deutschland gibt es derzeit keine Arbeitnehmer über 50 Jahre. Obwohl gerade ältere Arbeitnehmer über Erfahrung und Wissen verfügen, gehören sie neben den Geringqualifizierten zu den großen Verlierern am Arbeitsmarkt.
Bereits für über 40-Jährige wird es immer schwieriger, eine Anstellung zu finden. Hieran ändert die Erhöhung des Renteneintrittsalters nichts.
Statistisch gesehen sind Menschen ab 55 Jahre einem Rückgang der Erwerbsbeteiligung und einem Zuwachs an Arbeitslosigkeit ausgesetzt, der sich ab dem 60. Lebensjahr noch einmal verschärft. Grund dafür ist eine Arbeitsmarktpolitik, die den Trend zur Frühverrentung gefördert hat und teilweise noch fördert. Neue Vorgehensweisen in der Wirtschaft und in der Personalentwicklung sind erforderlich.
Lassen Sie es mich ganz deutlich sagen: Es ist Heuchelei, den Renteneintritt mit 67 zu begrüßen und gleichzeitig ältere Bewerber noch nicht einmal zu Vorstellungsgesprächen einzuladen.
Hier muss sich sehr schnell sehr viel ändern.
Aber auch die Einstellung der Arbeitnehmer muss sich den geänderten Zeiten anpassen. Eine wichtige Voraussetzung für ein längeres Verbleiben im Beruf ist der Erwerb neuer Qualifikationen und die Sicherung von Kompetenzen, um mit der technologischen Entwicklung Schritt halten zu können. Arbeitgeber und Betriebsräte müssen der Weiterbildung älterer Arbeitnehmer eine hohe Priorität einräumen.
Ich will aber Ihr Augenmerk auch auf die frauenpolitische Problematik richten.
Dieses Gesetz zur Verbesserung der Beschäftigungschancen älterer Menschen geht an der Arbeitsbiographie von Frauen geradezu zynisch vorbei.
Wer 45 Erwerbsjahre - gegebenenfalls inklusive drei Jahre Erziehungszeit pro Kind - nachweisen kann, kann nach dem vorliegenden Gesetzentwurf schon mit 65 abschlagsfrei in Rente gehen. Davon sind aber kaum Frauen betroffen. Denn allenfalls 4 Prozent der Frauen werden nach den vorliegenden Erhebungen zu denjenigen gehören, die tatsächlich schon mit 65 in Rente gehen können.
Sie müssen also in der Regel bis zum 67. Lebensjahr arbeiten.
Das empfinde ich als umso zynischer, als die Anerkennung einer langen Arbeitsbiographie eben hier nicht greift.
Wenn Frauen in Rente gehen, haben sie in den meisten Fällen eine doppelte Belastung hinter sich, nämlich ihre Erwerbsarbeit und ihre Sorge für die Familie inklusive der Erziehung der Kinder. Das wird hier überhaupt nicht berücksichtigt.
Herr Brauksiepe, an dieser Stelle haben Sie das Prinzip ?Die Starken für die Schwachen“ falsch verstanden. Vielleicht schauen Sie sich einmal den nächsten Bundesparteitag der FDP an
- sehr gerne -, um eine andere Sicht der Dinge zu erleben, nicht nur die der SPD.
Wenn wir im demografischen Wandel auf dem Arbeitsmarkt bestehen wollen, müssen wir akzeptieren, dass Kompetenz, Kreativität und Innovationskraft auch jenseits der Lebensmitte vorhanden sind und dass Lernfähigkeit und persönliche Weiterentwicklung nicht mit 50 enden. Der vorliegende Gesetzentwurf wird den Anforderungen an eine umfassende Reform der Sozialversicherungssysteme nicht gerecht, zumal er Frauen einseitig belastet.
Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt:
Für die CDU/CSU-Fraktion erhält jetzt das Wort der Kollege Stefan Müller.
Stefan Müller (Erlangen) (CDU/CSU):
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Seit dem Regierungswechsel vor gut zwölf Monaten ist die Zahl der Arbeitslosen von über 5 Millionen auf unter 4 Millionen gesunken. Ich finde, dieser massive Rückgang ist ein großartiger Erfolg.
Dies ist ein Erfolg auch deswegen, weil dadurch klar wird, dass der wirtschaftliche Aufschwung, der in unserem Land stattfindet, sich nicht nur auf die Unternehmen und deren Gewinnsituation auswirkt, sondern jetzt auch bei den Menschen ankommt.
- Herr Kollege Dr. Kolb, ich glaube, wir sollten das nicht zu gering schätzen. Versetzen wir uns einmal in die Situation eines Menschen, der seit langer Zeit von Arbeitslosigkeit betroffen ist und in diesen zwölf Monaten einen neuen Arbeitsplatz gefunden hat.
Für diesen Menschen ist das in der Tat außerordentlich erfreulich; denn er hat nicht nur eine neue Arbeit gefunden, sondern hat dadurch auch neue Perspektiven und neue Chancen und ganz einfach wieder das Gefühl, gebraucht zu werden und für sich und seine Familie etwas zu erwirtschaften und nicht mehr auf staatliche Fürsorge angewiesen zu sein. Deswegen sollten wir uns mit diesen Menschen freuen und froh darüber sein, dass es wieder mehr Menschen in unserem Land gibt, die eine Beschäftigung haben.
Es wird aber niemand bestreiten, dass trotz des Aufschwungs und des Rückgangs der Arbeitslosigkeit die Lage gerade für ältere Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter und ältere Arbeitslose in unserem Land nach wie vor schwierig ist. Die Zahlen wurden schon genannt: Jeder vierte Arbeitslose in Deutschland ist älter als 50. Bundesweit sind es über 1 Million.
Davon ist die Hälfte im Übrigen schon länger als ein Jahr arbeitslos. Das Beschäftigungsniveau der Älteren in Deutschland ist im europäischen Vergleich nach wie vor deutlich schlechter als in anderen Ländern. Das ist überhaupt keine Frage und darüber gibt es hier keinen Dissens.
Was mich persönlich, ehrlich gesagt, sehr bedenklich stimmt und was ich geradezu für dramatisch halte, ist die Tatsache, dass die Einstellungschancen Älterer in den letzen Jahren nicht besser geworden sind. Zumindest im letzten Jahr waren nur 7 Prozent der neuen Mitarbeiter, also derjenigen, die neu eingestellt worden sind, älter als 50. Ein Zweites stimmt mich sehr bedenklich, nämlich die Tatsache, dass fast jedes dritte Unternehmen in Deutschland ältere Mitarbeiter nur dann einstellt, wenn es staatliche Beihilfen bekommt oder wenn es keine jüngeren Bewerber findet. Daher ist hier Handlungsbedarf unumstritten.
Ich möchte mich außerordentlich dafür bedanken, dass es jedenfalls darüber keine Diskussionen gibt. Wir alle wissen, dass wir an dieser Stelle etwas tun sollten. Dies ist auch in den vorhergehenden Reden deutlich geworden.
Man kann über die Rente ab 67 unterschiedlicher Auffassung sein. Aber die Aufgabe, die Chancen für Ältere auf dem Arbeitsmarkt zu verbessern, eignet sich aus meiner Sicht nicht für einen parteipolitischen Streit.
Wir alle wissen, dass sich ein Fachkräftemangel abzeichnet. Wir wissen, dass die niedrige Erwerbsbeteiligung der Älteren negative Auswirkungen auf die Wettbewerbsfähigkeit der Unternehmen hat, weil Know-how verloren gegangen ist. Ich finde, es ist gegenüber den Älteren in unserem Lande ungerecht, dass man ihnen das Gefühl gibt, dass sie mit 50 schon zum alten Eisen gehören. Das passt nicht zusammen.
Genau deshalb haben wir die Verbesserung der Beschäftigungssituation von Älteren in unserem Land im Koalitionsvertrag festgeschrieben.
Wir müssen Einigkeit darüber herstellen, dass diese Anstrengungen auch wirklich von allen Beteiligten zu leisten sind und nicht nur die Politik gefragt ist. Zunächst einmal muss die Erkenntnis, dass damit alle Beteiligten gefordert sind, durchgesetzt werden. Dies betrifft nicht nur die Politik, sondern auch die Unternehmen. Es betrifft aber auch die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer sowie die Tarifvertragsparteien.
Die Politik hat die Aufgabe, dort, wo es möglich ist, Einstellungshemmnisse abzubauen.
Wir haben vor zwei Wochen in einem ersten Schritt die Lohnzusatzkosten zum 1. Januar 2007 gesenkt. Natürlich wird diese Senkung der Sozialabgaben, die in ihrer Höhe ein massives Einstellungshemmnis in unserem Land sind, die Beschäftigungschancen, auch für ältere Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter, erhöhen.
Mit der Initiative ?50 plus“ und dem heute vorliegenden Gesetzentwurf tun wir das, was der Arbeitsmarktpolitik möglich ist: Wir setzen Anreize, damit Unternehmen wieder ältere Mitarbeiter einstellen; dem dient der Eingliederungszuschuss. Wir verstärken auch den Anreiz dafür, mehr für die Bildung und Weiterbildung der älteren Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer zu tun. Mit der Entgeltsicherung setzen wir Anreize dafür, auch niedriger bezahlte Tätigkeiten anzunehmen. Nun kann man ja einwenden, dass es diese Instrumente alle schon gibt. Das ist richtig. Wir verändern die Instrumente zwar hinsichtlich einiger Stellschrauben,
aber es gibt sie schon. Das heißt: Es wird auch darum gehen, diese Instrumente, die wir jetzt verbessern, wirklich bekannt zu machen. Herr Bundesminister, ich bin Ihnen außerordentlich dankbar dafür, dass Sie mit Ihrer Initiative ?Erfahrung ist Zukunft“ versuchen, die Instrumente bei den Unternehmen bekannter zu machen.
Gespräche mit Unternehmen beweisen ja: Es ist das größte Problem, dass viele Unternehmen nicht wissen, welche Maßnahmen sie in Anspruch nehmen können.
Wir werden ein Weiteres tun müssen - das ist meine persönliche Überzeugung -: Wenn wir im kommenden Jahr die Instrumente der Bundesagentur für die Arbeitsförderung überprüfen, dann werden wir sie auch daraufhin überprüfen, was die Maßnahmen der BA zur Eingliederung Älterer zu leisten imstande sind.
Kommen wir zum zweiten Bereich. Nicht nur die Politik ist gefordert, auch die Unternehmen sind gefordert. Auch die Unternehmen müssen erkennen, dass ältere Arbeitnehmer keine Belastung, sondern eine wertvolle Ressource sind. Mit der schrittweisen Erhöhung des Renteneintrittsalters verlängert sich die Lebensarbeitszeit; ich halte das angesichts der demografischen Entwicklung für einen richtigen und wichtigen Schritt. Das führt aber zu der Frage, die wir heute auch schon ansatzweise diskutiert haben: Haben wir gerade für ältere Menschen in unserem Land genügend Arbeitsplätze zur Verfügung? In diesem Zusammenhang möchte ich darauf hinweisen, dass der Renteneintritt mit 67, die Erhöhung des Renteneintrittsalters, seit Jahren von der Wirtschaft immer wieder gefordert wird. Deshalb ist die Wirtschaft jetzt auch in der Pflicht - wir setzen das ja nun um -, Arbeitsplätze für ältere Arbeitnehmer zur Verfügung zu stellen. Gerade das Auseinanderklaffen von Reden und Fordern auf der einen Seite und Realität auf der anderen Seite, die so aussieht, dass keine älteren Mitarbeiter eingestellt werden, führt zu Verdrossenheit in Bezug auf Staat und soziale Marktwirtschaft.
Die Arbeitnehmer sind aufgefordert, länger im Berufsleben aktiv zu sein. Die Tarifvertragsparteien sind aufgefordert, das Ihre zu tun. Ich will mich dabei gar nicht in die Tarifautonomie einmischen, aber ich glaube schon, dass auch die Tarifvertragsparteien dazu einen deutlichen Beitrag leisten können.
Ich finde: Unsere Wirtschaft, aber auch unsere Gesellschaft insgesamt können auf ältere Menschen nicht verzichten. Ich bin davon überzeugt, dass wir mit dem Gesetzentwurf, den wir heute in erster Lesung beraten, ein Signal geben, dass auch Ältere wieder Chancen haben, in der Wirtschaft mitzuwirken.
Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt:
Das Wort hat jetzt für Bündnis 90/Die Grünen die Kollegin Brigitte Pothmer.
Brigitte Pothmer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Frau Schewe-Gerigk hat es bereits gesagt: Die Grünen tragen das Projekt ?Rente mit 67“ mit. Wir müssen - davor können auch Sie die Augen nicht verschließen, Herr Gysi - die Belastung der jüngeren Erwerbsgenerationen begrenzen.
Aber gerade weil wir zu diesem Projekt stehen, müssen wir die Verantwortung auch dafür übernehmen, dass nicht versucht wird, die Gerechtigkeitslücke, die sich dann, wenn wir nichts tun, bei den Jüngeren zweifellos ergeben wird, dadurch zu schließen, dass eine neue Gerechtigkeitslücke bei den Älteren aufgerissen wird.
Der Sachverständigenrat hat darauf hingewiesen: Wenn es nicht gelingt, die Erwerbsbeteiligung der Älteren in großem Umfang zu erhöhen, wird das zu einer Altersarmut erheblichen Ausmaßes führen. Wenn die Menschen keine Arbeit mehr haben, beginnt die Altersarmut schon in den Jahren, bevor sie in Rente gehen. Sie setzt sich natürlich fort, wenn die Menschen Rente beziehen, weil weniger eingezahlt worden ist. Das Programm 50 plus reicht bei weitem nicht aus, um dieses Problem zu lösen, und zwar weder quantitativ noch qualitativ.
Ich will etwas zu den Zahlen sagen. 1,3 Millionen arbeitslose Menschen sind älter als 50. Mit den jetzt hier vorgestellten Programmen erreichen Sie, wenn alles supergut läuft,
100 000 von ihnen. Ich habe aber erhebliche Zweifel, ob Sie mit Ihren Programmen 100 000 Menschen erreichen können;
denn mit den Instrumenten Eingliederungszuschuss und Entgeltsicherung haben Sie 2006 nur 19 000 Menschen erreicht. Sie müssten die Zahl also signifikant steigern. Wir sind gerne bereit, Sie dabei zu unterstützen. Ich will deutlich sagen: Die Prognose ist zwar sehr positiv, aber gemessen an den Problemen, erreichen Sie nach wie vor viel zu wenig Menschen.
Die Frage ist, ob diese Instrumente die richtigen sind. Sie versuchen nämlich, mit ihnen angebliche Produktivitätsnachteile auszugleichen. Die Instrumente haben damit immer einen stigmatisierenden Charakter. Diese Stigmatisierung unterstützen Sie - auch das muss gesagt werden - mit Fehlanreizen, zum Beispiel mit der so genannten 58er-Regelung.
Diese Stigmatisierung gegenüber Ältern unterstützen Sie, wenn Sie Altersteilzeitregelungen treffen. In besonderem Maße gilt das, wenn bei Post und Telekom jetzt 15 000 ältere Beschäftigte mit aktiver Unterstützung dieser Bundesregierung in den Vorruhestand gehen.
Sie fordern die Unternehmen auf, Vorurteile gegenüber Älteren abzulegen, produzieren diese Vorurteile aber durch Ihr eigenes Handeln immer wieder neu.
Gleichzeitig fehlt Ihnen leider völlig der Ehrgeiz, die Beschäftigungsfähigkeit der älteren Menschen zu erhalten, sie zum Beispiel durch mehr und bessere Weiterbildungsmöglichkeiten arbeitsfähig zu halten; denn mit den 5 Millionen Euro, die Sie mit Ihrem Gesetzentwurf für die Weiterbildung von Beschäftigten einsetzen wollen,
erreichen Sie rechnerisch - jetzt hören Sie genau zu - 790 Beschäftigte. So viel zur Dimension des Problems und zur Lösung, die Sie hier vorschlagen.
Das Programm 50 plus ist nicht mehr als ein Tropfen auf den heißen Stein. Es ist sogar weniger. Herr Grotthaus, Sie haben die Chance, die Ausweitung des Prinzips des lebenslangen Lernens auf die Mitarbeiter kleiner und mittlerer Betriebe grundlegend anzustoßen, vertan, obwohl Sie selbst genau das fordern. Angesichts von 790 geförderten Leuten kann man doch nicht allen Ernstes davon sprechen.
Ich komme zum Schluss. In Zeiten der großen Koalition gilt einmal mehr: Älterwerden ist nicht schwer, alt zu sein dagegen sehr!
Danke schön.
Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt:
Katja Mast hat das Wort für die SPD-Fraktion.
Katja Mast (SPD):
Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Kolleginnen und Kollegen! ?Mit 66 Jahren, da fängt das Leben an“, und mit 50 ist noch lange nicht Schluss. Was hat uns der frühe Prophet des demografischen Wandels und der steigenden Lebenserwartung, Udo Jürgens, zu sagen?
Wir leben länger, sind länger aktiv und bekommen auch länger Rente. Das stimmt.
Mir fällt dazu ein Fall aus meiner Bürgersprechstunde ein. Einem über 50-Jährigen, der einen Job suchte, habe ich gesagt, welche Firmen in meiner Heimat bevorzugt Ältere einstellen. Nach wenigen Wochen habe ich ihn wieder getroffen. Er hatte einen Job.
Wieso?
Der Arbeitgeber suchte eine qualifizierte Kraft mit Erfahrung.
Ich weiß, dass jetzt viele mit Gegenbeispielen kommen. Natürlich haben sie Recht: Gerade Ältere ohne Ausbildung haben am Arbeitsmarkt geringe Chancen. Das wissen wir alle. Aber der Unterschied zu uns Sozialdemokraten ist: Wir sind der festen Überzeugung, dass wir handeln können.
Denn mit 66 Jahren, da fängt das Leben an. Mit 50 ist noch lange nicht Schluss. Mit 50 Jahren gehört niemand zum alten Eisen.
Deshalb bringen wir heute die Initiative ?50 plus“ auf den Weg. Mit ihr werden wir den Arbeitsmarkt für Ältere verändern. Sie wird nächstes Jahr starten. Mit der Initiative ?50 plus“ fördern wir lebenslanges Lernen, schaffen finanzielle Anreize zur Beschäftigung Älterer und entwickeln neue Methoden zur Verbesserung der Arbeitsplätze, humanisieren also die Arbeitswelt. Denn nur wer gesund ist, kann bis 65 oder 67 arbeiten.
Wir verbinden die Initiative ?50 plus“ mit der Rente ab 67. Die Rente ab 67 ist notwendig, um die Rente zukunftsfest zu machen und den Generationenvertrag fortzuführen. Mit der Initiative ?50 plus“ liegen die Instrumente auf dem Tisch, mit denen für Ältere der Arbeitsmarkt verbessert werden kann. Hier und heute will ich mit einigen Vorurteilen aufräumen.
Erstens. Rentnerinnen und Rentner - ich kann nur hoffen, dass mir viele zu Hause vor den Bildschirmen zuhören -
sind von der Rente ab 67 nicht betroffen. Für sie ändert sich nichts.
Zweitens. Erst ein heute 42-Jähriger ist voll von der Rente ab 67 betroffen. Aber er lebt auch in der festen Sicherheit, dass er durchschnittlich drei Jahre länger Rente bezieht als ein heutiger Rentner, und wahrscheinlich hat er mit seinem Berufsleben später angefangen.
Drittens. Die Rente ab 67 hat mit den heutigen Arbeitslosenzahlen - sie sind zum Glück auf unter 4 Millionen gesunken - nichts zu tun.
Denn erst 2012 starten wir mit der schrittweisen Umsetzung der Rente ab 67, die nach 17 Jahren abgeschlossen ist, also nachdem die Initiative ?50 plus“ ihre Wirkung entfaltet hat und wir in Deutschland händeringend Fachkräfte suchen werden.
Viertens. Es gibt schon heute Betriebe, die Ältere gerne einstellen, zum Beispiel die Firma Härter aus Königsbach-Stein in meiner Heimat.
Denn gerade Ältere sind leistungsbereit und motiviert. Mehr noch: Ältere bewahren in schwierigen Situationen einen kühlen Kopf.
Die Firma Härter wurde deshalb letzte Woche von unserem Vizekanzler und Bundesarbeitsminister, Franz Müntefering, als Unternehmen mit Weitblick ausgezeichnet.
Ich bin der festen Überzeugung: Politik kann den Mentalitätswandel in den Köpfen beeinflussen. Nur wer gute Beispiele kennt, kann diese nachahmen. Deshalb fordere ich alle hier im Haus auf, gute Beispiele vor Ort immer wieder bekannt zu machen.
Fünftens. Gerade ältere Arbeitnehmer haben Angst, dass sie nach vielen Berufsjahren nicht mehr arbeiten können, die Rente erst ab 67 bekommen und davor schauen müssen, wo sie bleiben. In diesem Fall gibt es schon heute die Erwerbsminderungsrente. Sie müssen wir noch einmal unter die Lupe nehmen, um denen, die nicht mehr können, eine echte Perspektive zu bieten.
Aber wir dürfen nicht vergessen: Das ist der nachsorgende Sozialstaat. Wir müssen den vorsorgenden Sozialstaat konsequent stärken. Es kann nicht sein, dass Arbeit die Menschen krank macht. Deshalb muss die Arbeitsplatzqualität in den Betrieben verbessert werden. Teilhabe bis 67 ist dabei das Ziel aller. Alle, das sind: Betriebsräte, Arbeitgeber, jeder Einzelne und die Politik.
Ich bin der festen Überzeugung, dass Menschen arbeiten wollen. Sie wollen Teilhabe und das geht in der Arbeitsgesellschaft nur über Arbeit. Deshalb ist unsere Strategie richtig: zuerst die Initiative ?50 plus“, die mehr Jobs für Ältere fördert, und dann im zweiten Schritt die langsame Anpassung der Rente an die Bevölkerungsentwicklung. Bei steigender Lebenserwartung führen wir damit den Generationenvertrag fort und verbessern die Generationengerechtigkeit.
Älter werden wollen wir, Mitmachen fördern wir und dass wir das können, dafür kämpfen wir.
Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt:
Peter Weiß hat jetzt das Wort für die CDU/CSU-Fraktion.
Peter Weiß (Emmendingen) (CDU/CSU):
Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Im nächsten Monat, am 21. Januar 2007, feiert die dynamische Rente in Deutschland ihren 50. Geburtstag. Vor genau 50 Jahren ist die dynamische Rente, eine der größten sozialpolitischen Leistungen unseres Landes, beschlossen worden.
Wir wollen mit der Rentenreform, die wir heute in den Bundestag einbringen, dafür sorgen, dass die Rente in Deutschland nicht lahmt, sondern auch in Zukunft dynamisch bleibt. Darum geht es.
Verehrte Kolleginnen und Kollegen, vor 50 Jahren lag die durchschnittliche Lebenserwartung von Männern bei 66 Jahren, die von Frauen bei 71 Jahren. Im Jahr 2030, wenn die heutige Reform voll greift, liegt die durchschnittliche Lebenserwartung eines Mannes bei fast 81 Jahren, die einer Frau sogar bei 86 Jahren. Das ist eine erfreuliche Entwicklung.
Dabei muss man aber auch berücksichtigten, dass wir uns in den kommenden Jahren auf ein Schrumpfen unserer Bevölkerung einstellen müssen. Jede neue Generation wird um etwa ein Drittel kleiner sein als ihre Elterngeneration. Das ist übrigens die entscheidende Zahl, die der Kollege Gysi in seinen Rechenbeispielen vergessen hat, weswegen sie von vorn bis hinten nicht stimmen.
Auf diese Fakten muss der Gesetzgeber reagieren, damit die Rentenversicherung für alle Generationen ein verlässliches und leistungsstarkes Instrument der Alterssicherung bleibt. Ich behaupte: Egal wer regiert,
niemand kann der Notwendigkeit zur Anhebung der Regelaltersgrenze ausweichen, es sei denn, er will die gesetzliche Rente bewusst gegen die Wand fahren.
Die große Koalition handelt rechtzeitig. Wir beschließen jetzt die Anhebung der Regelaltersgrenze. Wie Frau Kollegin Mast gesagt hat, sind die nächsten Rentnergenerationen davon aber überhaupt nicht betroffen. Wir starten schrittweise ab dem Jahr 2012 und erreichen die neue Regelaltersgrenze für die, die dann in Rente gehen, im Jahr 2029.
- Ja, 2029, Herr Tauss.
Wir stellen die Weichen also rechtzeitig und vorausschauend. Wer bei der Rente mit 67 nicht mitmachen will, der steckt den Kopf in den Sand und flieht aus der rentenpolitischen Verantwortung.
Die Polemik gegen die Rente mit 67 wird mit dem Argument geführt, dabei handele es sich um eine verkappte Rentenkürzung.
Meine verehrten Kolleginnen und Kollegen, ich möchte es auf ganz drastische Weise formulieren: Diese Behauptung ist schlichtweg eine Lüge.
Fakt ist:
Erstens. Die Anhebung der Regelaltersgrenze um zwei Jahre bis zum Jahr 2029 entspricht der Steigerung der Lebenserwartung. Das heißt, die durchschnittliche Rentenbezugsdauer desjenigen, der im Jahr 2029 in Rente geht, ist nicht kürzer als die Rentenbezugsdauer desjenigen, der heute in Rente geht, sondern sie ist eher länger. Das, was wir beschließen, hat also nichts mit einer Rentenkürzung zu tun.
Zweitens. Man muss darauf hinweisen, dass durch die Rente mit 67 das Verhältnis zwischen aktiven Erwerbstätigen einerseits und Rentnerinnen und Rentnern andererseits verbessert wird. Der in der Rentenformel enthaltene so genannte Nachhaltigkeitsfaktor bewirkt,
dass angesichts einer solch positiven Veränderung wieder Rentenerhöhungen ermöglicht werden. Um es klar und deutlich zu sagen: Wer für die Rente mit 67 stimmt, der macht Rentenerhöhungen erst wieder möglich.
Wer gegen die Rente mit 67 stimmt, gehört zur Fraktion der potenziellen Rentenkürzer. Das sind die Fakten.
Wer lange gearbeitet hat und durch langjährige Beitragszahlung in besonderer Weise zur Leistungsfähigkeit der Rente beigetragen hat, dem geben wir die Möglichkeit, nach 45 Beitragsjahren schon mit 65 Jahren abschlagsfrei in Rente zu gehen. Ich möchte betonen: Die 45-Jahre-Regelung ist keine Benachteiligung anderer,
sondern eine Belohnung für ein langes und aktives Berufsleben.
Daher ist die 45-Jahre-Regelung in meinen Augen ein Schlüssel zur Akzeptanz des neuen Rentenrechts.
Zur Anhebung der Regelaltersgrenze gehört als zweite Seite ein und derselben Medaille - deswegen die beiden Gesetzentwürfe, die wir heute gemeinsam beraten - die Verbesserung der Beschäftigungssituation älterer Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer, also die Initiative ?50 plus“. Auch wenn viele etwas anderes behaupten, haben wir da in den letzten Jahren schon gewisse Fortschritte erzielt. Im Jahr 2000 lag die Quote der 55- bis 65-Jährigen, die noch im Erwerbsleben standen, bei nur 37,5 Prozent.
Im Jahr 2005 lag sie immerhin bei 45 Prozent. Das war wenigstens eine kleine Verbesserung. Aber es ist immer noch viel zu wenig. Deswegen wollen wir den positiven Trend durch die Initiative ?50 plus“ massiv verstärken.
Was unsere Nachbarländer, vor allen Dingen im Norden Europas, zur Verbesserung der Beschäftigungssituation älterer Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer geschafft haben, können wir auch in Deutschland schaffen. Wir brauchen dafür einen Aktionsplan aller Akteure für die nächsten zehn bis zwanzig Jahre, nicht nur der Politik - etwa in Form eines Gesetzentwurfes, wie wir ihn heute beraten -, sondern auch der Tarifpartner, der Wirtschaft, der Medien. Wir brauchen eine Veränderung des Bewusstseins dahingehend, dass die Erfahrung und die Kompetenz Älterer unsere Wirtschaft und unser Land voranbringen können.
Ich finde, mit den beiden Gesetzesvorhaben zeigt die Bundesregierung, dass sie vorausschauend handelt. Es gehört in der Tat Mut dazu, in der Politik etwas zu tun, was auf den ersten Blick bei vielen Bürgerinnen und Bürgern nicht besonders beliebt ist. Diese große Koalition hat den Mut, das Notwendige vorausschauend zu tun. Deswegen, behaupte ich, wird sie Erfolg haben.
Vielen Dank.
Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt:
Nächster Redner ist nun der Kollege Anton Schaaf für die SPD-Fraktion.
Anton Schaaf (SPD):
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Ich glaube, die Diskussion über die Zukunft der Rente ist immer eine verkürzte Diskussion; denn in der Regel steht dabei die Finanzierbarkeit der Rente im Vordergrund. Ich glaube, die Diskussion ist verkürzt, weil die Alterung der Gesellschaft, der demografische Wandel auch eine gesellschaftliche und nicht nur eine finanzielle Herausforderung ist.
Die finanziellen Fragen kann man sicherlich schlicht beantworten, indem man die Beiträge erhöht. Das kann man machen. Oder man erhöht einfach den Steuerzuschuss.
Übrigens, Herr Gysi, hat es nicht nur Fehlentwicklungen im Zusammenhang mit der Finanzierung der deutschen Einheit gegeben. Wir lassen der Rentenversicherung jedes Jahr einen Zuschuss von 78 Milliarden Euro für die Aufgaben zukommen, die über die reinen Rentenzahlungen hinaus zu leisten sind. In dieser Hinsicht wird ja immer von versicherungsfremden Leistungen gesprochen. Ich finde, dass beispielsweise die Anerkennung von Erziehungszeiten keine versicherungsfremde Leistung ist.
Das ist eine sozialpolitische Leistung, die genau da angesiedelt gehört, wo sie es jetzt ist: bei der gesetzlichen Rentenversicherung. Also: Wir führen eine verkürzte Diskussion.
Dass wir in unserem Lande mehr ältere Menschen haben, ist kein Problem; da hat Gysi völlig Recht. Die Frage ist aber, ob die Bevölkerungsentwicklung insgesamt mit der Alterung der Gesellschaft Schritt hält, ob also genügend Junge nachwachsen. Da müssen wir schlichtweg konstatieren: Die Gesellschaft wird im Schnitt immer älter, und zwar deshalb, weil immer weniger Junge nachkommen. Das ist die gesellschaftliche Herausforderung, auf die wir eine Antwort geben müssen.
Eines ist völlig klar: Jemand, der 50 oder 55 Jahre alt ist, darf in diesem Land nicht als alt gelten und vor diesem Hintergrund aus den Erwerbsprozessen gedrängt werden. Das ist der entscheidende Punkt.
Frau Pothmer hat gesagt, dafür reicht unser Programm ?50 plus“ nicht aus. In der Tat, Frau Pothmer: Es reicht nicht aus, definitiv nicht. Die Erkenntnis, dass man mit 50 nicht alt ist, muss bei den Verantwortlichen in den Betrieben wachsen.
Das ist eine Grundvoraussetzung, um die Beschäftigungsfähigkeit Älterer zu erhöhen. Übrigens haben wir dafür in den letzten beiden Legislaturperioden im Rahmen der Betriebsverfassung enorme Möglichkeiten geschaffen, was den Gesundheitsschutz am Arbeitplatz oder was Weiterbildung und Qualifizierung angeht. Die Tarifpartner sind aufgefordert, diese Möglichkeiten auch zu nutzen.
Es hieß, wir hätten in der Frage der Erwerbsminderung populäre Ausnahmen gemacht.
- ?Populistische Ausnahmen“, haben Sie gesagt, Herr Kolb, genau. - Als Antwort darauf sage ich sehr deutlich: Ich werde mich auf gar keinen Fall damit abfinden, dass Arbeit dazu führt, dass Menschen wirklich krank werden.
Wenn man sich aber die gesellschaftlichen Realitäten anschaut, dann muss man feststellen, dass das oftmals leider noch so ist. Deswegen ist es völlig richtig: Solange Arbeit Menschen tatsächlich krank und kaputtmacht, müssen die bisherigen Regelungen zur Erwerbsminderung beibehalten werden.
Ich bin froh, dass unser Koalitionspartner in diesem Punkt mitgemacht hat und wir die Regelungen zur Erwerbsminderung so belassen konnten, wie sie im Gesetz sind, und nicht verändern mussten: Zugang mit 60 Jahren, abschlagsfrei mit 63 Jahren.
Das war unsere Leistung. Wir sprechen über die Menschen, die sich kaputt gearbeitet haben und die über die Erwerbsminderung die Möglichkeit haben, zukünftig mit 63 Jahren abschlagsfrei in Rente zu gehen.
Es ist eine sozialpolitische Frage: Wenn sich die gesellschaftlichen Verhältnisse, die Arbeitsbedingungen so ändern, dass Menschen nicht durch Arbeit krank werden - Herr Kolb, Sie könnten einiges bei Ihrer Klientel, den Unternehmern, dafür tun -, dann bräuchten wir auch keine Erwerbsminderungsrente mehr.
Das ist ganz klar. Dann kommen wir ohne weiteres voll und ganz zusammen.
Ich möchte noch etwas zum Änderungsantrag der FDP sagen. Die FDP schreibt, wir sollten hinsichtlich der Annahmen - es sind keine Prognosen, sondern Annahmen -, die der Rentenversicherungsbericht zur Entwicklung gibt, zurückhaltender sein. Der Sozialbeirat hat uns durchaus ein gutes Zeugnis ausgestellt.
Sie sagen, unsere Annahme eines durchschnittlichen Lohnzuwachses von 2,5 Prozent, den wir erwarten, sei deutlich zu positiv.
Ich kann Ihnen auch sagen, wieso Sie das sagen: Ihr Kollege Niebel hat in einer TV-Show auf die Frage, ob Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer an der guten wirtschaftlichen Entwicklung nicht partizipieren sollten, geantwortet: Ja, aber nicht über prozentuale Lohnerhöhungen. Wenn man keine prozentualen Lohnerhöhungen haben möchte, dann ist auch die Annahme, die Prognose falsch; das ist doch völlig klar.
Heute sind wir in einer Situation, in der die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer an dem wirtschaftlichen Erfolg, den wir aufgrund der Arbeit, die die alte Regierung, aber auch die neue Regierung gemacht hat, zu konstatieren haben, partizipieren müssen, und zwar vernünftig. Das entlastet die Sozialkassen, und zwar wirklich nachhaltig.
Zu der Frage, ob die Rente mit 67 nicht eine verkappte Rentenkürzung ist. Populistisch kann man so sicherlich argumentieren.
Allerdings müsste man dann gleichermaßen auch Folgendes sagen: In den 60er-Jahren hatten wir eine durchschnittliche Rentenbezugszeit von zehn Jahren, heute sind es 17 Jahre. Das bedeutet im Prinzip eine gigantische Rentenerhöhung. Wir haben den Menschen viel mehr gegeben, da sie viel länger Rente beziehen. Anders kann man aus meiner Sicht nicht sauber argumentieren. Das ist nicht redlich.
Damit macht man den Menschen schlichtweg Angst.
Zum Schluss möchte ich auf die Rede von Herrn Gysi eingehen. Herr Gysi, in der Tat haben Sie Recht, wenn Sie sagen, dass viele Menschen die Rente mit 67 ablehnen. Aus ihrer persönlichen Situation heraus ist das auch völlig nachvollziehbar, schließlich ist es eine Belastung. Das gilt übrigens nicht für die Rentner von morgen, auch nicht von übermorgen. Wir sollten in unseren Statements auch nicht so tun, als wäre das so, sondern sagen, was tatsächlich absehbar ist, damit es planbar und für die Menschen handhabbar ist. Dass es eine Belastung ist, werde ich nicht negieren, an keiner Stelle. Dass viele Menschen das nicht wollen, ist völlig klar. Aber das heißt doch nicht, dass wir nicht im Interesse der nachfolgenden Generationen handeln.
Dass das von Teilen der Bevölkerung abgelehnt wird, heißt doch nicht, dass wir nicht im Interesse der Menschen handeln. Das ist völlig widersinnig. Das sozialdemokratische Interesse gilt primär den sozialen Sicherungssystemen. Ich sage als Bekenntnis eindeutig: Uns geht es bei den Maßnahmen, die wir nicht nur vor dem Hintergrund des Koalitionsvertrages, sondern auch vor dem Hintergrund der Erkenntnisse, die man selber gesammelt hat, ergreifen müssen, darum, die sozialen Sicherungssysteme auf Dauer als paritätische und solidarische Sicherungssysteme zu erhalten.
Das bedingt, dass man bereit ist, sich selbst zu verändern. Vor dem Hintergrund der weltweiten, europaweiten, aber auch nationalen Entwicklung, vor dem Hintergrund der Globalisierung haben wir Handlungsbedarf. Dieser Handlungsbedarf, dem wir jetzt Rechnung tragen, ist allemal im Interesse der Menschen. So agieren wir.
Danke.
Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt:
Ich schließe die Aussprache.
Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlagen auf den Drucksachen 16/3793, 16/3794, 16/3027, 16/3676, 16/3815, 16/3812, 16/3700 und 16/907 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? - Ich sehe, das ist der Fall. Dann sind die Überweisungen so beschlossen.
[Der folgende Berichtsteil - und damit der gesamte Stenografische Bericht der 73. Sitzung - wird morgen,
Freitag, den 15. Dezember 2006,
an dieser Stelle veröffentlicht.]