76. Sitzung
Berlin, Donnerstag, den 18. Januar 2007
Beginn: 9.00 Uhr
* * * * * * * * V O R A B - V E R Ö F F E N T L I C H U N G * * * * * * * *
* * * * * DER NACH § 117 GOBT AUTORISIERTEN FASSUNG * * * * *
* * * * * * * * VOR DER ENDGÜLTIGEN DRUCKLEGUNG * * * * * * * *
Präsident Dr. Norbert Lammert:
Die Sitzung ist eröffnet.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich begrüße Sie alle herzlich und wünsche uns einen guten Tag und noch möglichst viele gute Tage im gerade begonnenen neuen Jahr.
Vor Eintritt in die Tagesordnung habe ich einige Mitteilungen zu machen. Die Kollegen Hans Eichel und Bernd Neumann feierten am 24. Dezember beziehungsweise am 6. Januar ihren 65. Geburtstag und der Kollege Johann-Henrich Krummacher feierte am 27. Dezember seinen 60. Im Namen des ganzen Hauses gratuliere ich zu diesen runden Geburtstagen herzlich und wünsche alles Gute.
Ich gebe bekannt, dass der Kollege Henry Nitzsche am 15. Dezember 2006 aus der Fraktion der CDU/CSU ausgeschieden ist und dem Deutschen Bundestag künftig als fraktionsloser Abgeordneter angehören wird.
Die Fraktion der SPD schlägt vor, die Kollegin Ulla Burchardt für eine weitere Amtszeit als Mitglied des Kuratoriums des Wissenschaftszentrums Berlin für Sozialforschung zu benennen. Sind Sie damit einverstanden? -
Das sieht so aus. Der Tag beginnt mit einem bemerkenswerten Maß an Harmonie; mal sehen, wie lange das hält. Damit ist die Kollegin Ulla Burchardt für das Kuratorium des Wissenschaftszentrums Berlin für Sozialforschung benannt.
Interfraktionell ist vereinbart worden, die verbundene Tagesordnung um die in der Zusatzpunktliste aufgeführten Punkte zu erweitern:
ZP 1 Aktuelle Stunde auf Verlangen der Fraktionen der CDU/CSU und SPD:
Bewertung der anhaltend dynamischen Investitionstätigkeit deutscher Unternehmen und der kräftigen Belebung der Binnennachfrage bei andauernd hohen Wachstumsraten im Außenhandel
(siehe 75. Sitzung)
ZP 2 Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung (18. Ausschuss) zu dem Antrag der Abgeordneten Cornelia Pieper, Uwe Barth, Miriam Gruß, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP
Voraussetzungen für Entwicklung, Bau und Betrieb einer Europäischen Spallations-Neutronenquelle in Deutschland schaffen - Deutsche Bewerbung vorantreiben
- Drucksachen 16/386, 16/2738 -
Berichterstattung:
Abgeordnete Axel E. Fischer (Karlsruhe-Land)
Jörg Tauss
Cornelia Pieper
Dr. Petra Sitte
Krista Sager
ZP 3 Weitere Überweisungen im vereinfachten Verfahren
(Ergänzung zu TOP 28)
Beratung der Unterrichtung durch die deutsche Delegation des Deutschen Bundestages zur Euromediterranen Parlamentarischen Versammlung
Gründungsversammlung der Euromediterranen Parlamentarischen Versammlung am 22./23. März 2004 in Athen, Griechenland
- Drucksache 15/3414 -
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
(f)
Auswärtiger Ausschuss
Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe
Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und
Entwicklung
ZP 4 Aktuelle Stunde auf Verlangen der Fraktion des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN:
Unterschiedliche Auffassungen in der Bundesregierung zu einer klimaverträglichen Energieversorgung ohne Atomkraft
ZP 5 Beratung des Antrags der Abgeordneten Heidrun Bluhm, Dr. Barbara Höll, Dr. Axel Troost, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der LINKEN
Neue Steuervergünstigungen und Gewinnverlagerungen in das Ausland verhindern - REITs in Deutschland nicht einführen
- Drucksache 16/4046 -
Überweisungsvorschlag:
Finanzausschuss (f)
Rechtsausschuss
Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung
Haushaltsausschuss
ZP 6 Beratung des Antrags der Abgeordneten Ulla Lötzer, Sabine Zimmermann, Dr. Barbara Höll, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der LINKEN
Vollständige Öffnung der Postmärkte stoppen - Universaldienstverpflichtung absichern
- Drucksache 16/4044 -
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie (f)
Finanzausschuss
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen
Union
Haushaltsausschuss
ZP 7 Beratung des Antrags der Abgeordneten Monika Knoche, Dr. Norman Paech, Wolfgang Gehrcke, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der LINKEN
Keine Tornado-Aufklärungsflugzeuge in Afghanistan einsetzen
- Drucksache 16/4047 -
Überweisungsvorschlag:
Auswärtiger Ausschuss (f)
Verteidigungsausschuss
Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und
Entwicklung
Von der Frist für den Beginn der Beratungen soll, soweit erforderlich, abgewichen werden.
Die Tagesordnungspunkte 11, 23, 24 und 28 d werden abgesetzt. In der Folge werden die Tagesordnungspunkte 12 und 13, 14 und 15, 16 und 17 sowie 18 und 19 jeweils getauscht.
Schließlich mache ich auf eine nachträgliche Ausschussüberweisung im Anhang zur Zusatzpunktliste aufmerksam:
Der in der 73. Sitzung des Deutschen Bundestages überwiesene nachfolgende Antrag soll zusätzlich dem Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung (15. Ausschuss) zur Mitberatung überwiesen werden.
Antrag der Abgeordneten Markus Löning, Christian Ahrendt, Michael Link (Heilbronn), weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP
Mehr Ehrgeiz für die deutsche Ratspräsidentschaft - eine EU der Erfolge für die Bürger
- Drucksache 16/3832 -
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
(f)
Auswärtiger Ausschuss
Innenausschuss
Rechtsausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und
Verbraucherschutz
Ausschuss für Verkehr, Bau und
Stadtentwicklung
Ausschuss für Umwelt,
Naturschutz und Reaktorsicherheit
Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und
Entwicklung
Sind Sie mit diesen Vereinbarungen einverstanden? - Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.
Dann rufe ich nun den Tagesordnungspunkt 4 sowie den Zusatzpunkt 2 auf:
4. Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung (18. Ausschuss)
- zu dem Antrag der Abgeordneten Carsten Müller (Braunschweig), Ilse Aigner, Michael Kretschmer, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der CDU/CSU sowie der Abgeordneten René Röspel, Jörg Tauss, Nicolette Kressl, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD
Innovationen für Deutschland durch das Siebte Forschungsrahmenprogramm der Europäischen Union
- zu dem Antrag der Abgeordneten Krista Sager, Hans-Josef Fell, Kai Gehring, weiterer Abgeordneter und der Fraktion des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN
Zukunftsfähige Forschung in Europa stärken
- Drucksachen 16/1547, 16/710, 16/2891 -
Berichterstattung:
Abgeordnete Carsten Müller (Braunschweig)
René Röspel
Cornelia Pieper
Dr. Petra Sitte
Krista Sager
ZP 2 Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung (18. Ausschuss) zu dem Antrag der Abgeordneten Cornelia Pieper, Uwe Barth, Miriam Gruß, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP
Voraussetzungen für Entwicklung, Bau und Betrieb einer Europäischen Spallations-Neutronenquelle in Deutschland schaffen - Deutsche Bewerbung vorantreiben
- Drucksachen 16/386, 16/2738 -
Berichterstattung:
Abgeordnete Axel E. Fischer (Karlsruhe-Land)
Jörg Tauss
Cornelia Pieper
Dr. Petra Sitte
Krista Sager
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für die Aussprache eineinviertel Stunden vorgesehen. - Dazu höre ich keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache und erteile das Wort zunächst der Bundesministerin Dr. Annette Schavan.
Dr. Annette Schavan, Bundesministerin für Bildung und Forschung:
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Europa besinnt sich auf seine Stärken in Wissenschaft und Forschung. Dafür steht das 7. Forschungsrahmenprogramm, das Kommissar Potocnik und ich in dieser Woche in Bonn vorgestellt haben. Es ist die zentrale Plattform für die wichtigsten Forschungsthemen. Es bündelt die europäischen Forschungsanstrengungen. Es ist gelungen, mit einer Laufzeit von sieben Jahren und einem Gesamtbudget von rund 54 Milliarden Euro das weltweit größte Forschungsrahmenprogramm auf den Weg zu bringen. In Erinnerung zu rufen ist: Dieser Etat liegt 60 Prozent über dem des 6. Forschungsrahmenprogramms.
Ich will in vier Punkten skizzieren, wie die Weichen für die europäische Forschung mit diesem Forschungsrahmenprogramm neu gestellt wurden:
Erstens deutlicher Bürokratieabbau. Die Förderverfahren sind vereinfacht. Das senkt den Verwaltungsaufwand für die Forschenden. Die förderrechtlichen Vorgaben sind nun transparent und eindeutig. Wir reduzieren den administrativen Aufwand; das heißt weniger Formulare, weniger Bescheinigungen, weniger Bürgschaften. Vor allem aber starten wir mit dem neuen Programm ein einheitliches Kostenerstattungssystem. Alle Forschungseinrichtungen können ihre kompletten Kosten auf der Grundlage eines transparenten und national angepassten Kriterienkatalogs ansetzen. 60 Prozent der Kosten können pauschal erstattet werden. Das bedeutet über die eigentliche Projektförderung hinaus eine Stärkung der Institute der Hochschulen. Es handelt sich um ein zweistufiges Antragsverfahren, das günstigere Teilnahmebedingungen für die Wirtschaft bewirkt. Denn es ist dringend notwendig - das habe ich schon am Montag gesagt -, dass die Unternehmen in Europa noch stärker in die Förderung von Forschung und Entwicklung einsteigen.
Zweitens thematische Kontinuität und Innovation. Wir haben beim Vorläuferprogramm gelernt, dass die deutschen Unternehmen und die deutsche Wissenschaft dann besonders erfolgreich sind, wenn nationale und europäische Forschungsförderstrukturen gemeinsam wirken. So soll es auch beim 7. Forschungsrahmenprogramm sein. Zentrale Themen sind Energie, Gesundheit, Umwelt und Klimawandel, Ernährung, Landwirtschaft und Biotechnologie, Nanowissenschaft und Nanotechnologie, Material- und Produktionstechnologien, Transport, Sicherheit und Weltraum sowie, verbunden mit einer starken Strategie, die Informations- und Kommunikationstechnologien.
Für die Entwicklung in den nächsten Jahren ist bedeutsam, dass die thematischen Schwerpunkte im 7. Forschungsrahmenprogramm und in unserer Hightechstrategie übereinstimmen und miteinander korrespondieren. Das ergibt für europäische Kooperationen gute Möglichkeiten.
Zu den Innovationen, die gefördert werden, zählt erstmals die Sicherheitsforschung mit einem Fokus auf innere Sicherheit. Erstmals finden auch die Geistes-, Sozial- und Kulturwissenschaften als eigener Schwerpunkt eine angemessene Berücksichtigung. Das passt sehr gut zusammen mit unserem Jahr der Geisteswissenschaften.
Umsetzung von Forschungsergebnissen in die Anwendung ist nicht nur unser Thema, sondern auch ein europäisches Thema. Auch das Forschungsrahmenprogramm enthält diesen Punkt. Die Fragen von Technologietransfer und Ergebnisverwertung werden schon bei der Projektauswahl eine wichtige Rolle spielen.
Drittens die Grundlagenforschung. Sie ist ein wirklich neues Kapitel der europäischen Forschungsförderung. Der Europäische Forschungsrat, der in den nächsten Wochen seine Arbeit aufnehmen wird, gehört mit dazu. Es ist ein zweiter wichtiger Impuls. Europäischer Forschungsrat bedeutet nach dem Vorbild der Deutschen Forschungsgemeinschaft: unabhängige und souveräne Wissenschaft in Europa, Stärkung einer europäischen Strategie der Grundlagenforschung. Jeder kennt die forschungspolitische Philosophie: Starke Grundlagenforschung und langfristig angelegte Strategien in der Grundlagenforschung sind die Voraussetzungen für angewandte Forschung, für die Umsetzung der Forschungsergebnisse und für die Innovationskraft in Europa.
Ich kann nur sagen: Wir können diese Veränderung nicht hoch genug einschätzen. Das ist im Vergleich zur bisherigen Forschungspolitik eine wirklich neue Philosophie. Deutschland war hier prägend tätig. Das wird nicht zuletzt daran deutlich, dass der bisherige Präsident der Deutschen Forschungsgemeinschaft der erste Generalsekretär des Europäischen Forschungsrates ist. Hierin liegt eine große Chance.
Viertens Nachwuchsförderung. Wir haben es an verschiedenen Stellen und in verschiedenen Debatten schon gesagt: Der weltweite Innovationswettbewerb wird als Wettbewerb um Talente entschieden. Wir wissen, dass es in Europa einen enormen Nachholbedarf gibt. Nach Analysen aus den vergangenen Jahren fehlen in Europa zwischen 500 000 und 700 000 Forscherinnen und Forscher. Das heißt, Ziel aller Instrumente, die wir im Bereich der europäischen Forschungspolitik in Gang setzen, muss immer die stärkere Einbeziehung der jungen Forscherinnen und Forscher sein. Der wissenschaftliche Nachwuchs ist das Rückgrat der Forschung.
Auf meinen Vorschlag hin hat sich der Europäische Forschungsrat dazu entschlossen, gerade in der ersten Phase der Förderung exzellenter Teams von Nachwuchswissenschaftlerinnen und Nachwuchswissenschaftlern eine hohe Priorität einzuräumen. Dafür stehen rund 380 Millionen Euro zur Verfügung. Auch das ist ein ganz wichtiger Akzent im Hinblick auf eine weitsichtige europäische Forschungspolitik.
Dass es mehr junge Leute gibt, die sich für Forschung und Wissenschaft interessieren, setzt voraus, die Rahmenbedingungen für Forschungskarrieren in ganz Europa attraktiv zu gestalten, damit wir im Wettlauf der Besten und um die Besten mithalten. Der Erfindungs- und Pioniergeist junger Forscherinnen und Forscher darf nicht durch überkommene Regularien erstickt werden. Junge Wissenschaftler brauchen Freiräume, in denen sie ihre Talente selbstständig entfalten können. Das 7. Forschungsrahmenprogramm wird uns zum Beispiel mit den Marie-Curie-Maßnahmen für junge Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler auf den richtigen Weg bringen.
Ich bin davon überzeugt: Das 7. Forschungsrahmenprogramm wird die nationalen Innovationsstrategien deutlich unterstützen. Deutschland wird davon profitieren. Wir sind schon heute an 80 Prozent EU-geförderter Forschungsvorhaben beteiligt. Die Zusammenarbeit zwischen Wissenschaft und Wirtschaft wird gefördert werden. Wir werden zu einer neuen Vernetzung der Spitzencluster in Europa kommen und damit das erreichen, was wir dringend erreichen müssen: die wissenschaftlichen Ressourcen in Europa besser zu nutzen, die europäische Forschungsinfrastruktur weiter aus- und aufzubauen sowie die Kräfte der Europäischen Union im Bereich Forschung und Innovation zu stärken.
Ich will an dieser Stelle nicht unerwähnt lassen, dass das zwar wichtige Schritte sind, aber weitere folgen müssen. Das Lissabonziel wird nicht automatisch erreicht; das muss in der Europäischen Union klar gesagt werden. Dieses Ziel ist nur erreichbar, wenn die Erhöhung staatlicher Mittel mit erheblichen Steigerungen der Finanzinvestitionen für Forschung und Entwicklung seitens der Unternehmen in den Mitgliedsländern der Europäischen Union verbunden ist.
Schon am Montag habe ich gesagt: Im Hinblick auf Investitionen der Unternehmen besteht zwischen den USA und Europa eine Differenz von 480 Milliarden Euro. Es muss in den nächsten Jahren aufseiten der Unternehmen einen deutlichen Schub geben, um die Ziele und die Vorlage, die wir in Form von staatlichen Investitionen geleistet haben, tatsächlich zum Erfolg zu führen.
Das 7. Forschungsrahmenprogramm für Europa - es ist das weltweit größte - bildet die Grundlage für künftigen Wohlstand in Europa. Es ist ein Instrument der Zukunftssicherung. Es ist ein Instrument, das aufgrund der erheblichen Möglichkeiten, die damit verbunden sind, als Quelle für europäische Innovationskraft und Zukunftsfähigkeit und damit auch als ein, wie ich finde, überzeugender Beitrag zur Generationengerechtigkeit in Europa genutzt werden kann.
Vielen Dank.
Präsident Dr. Norbert Lammert:
Das Wort erhält nun die Kollegin Cornelia Pieper für die FDP-Fraktion.
Cornelia Pieper (FDP):
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen! Frau Ministerin, Deutschland hat die EU-Ratspräsidentschaft angetreten und wird - da bin ich mir sicher - gerade auf dem Gebiet der Forschung und Technologie deutliche Zeichen setzen müssen und wollen. Denn es geht darum, den stotternden Motor des Lissabonprozesses endlich rundlaufen zu lassen. Wir wollen, dass sich Europa zum Zentrum eines auf Forschung, Entwicklung und Technologie basierenden Weltwirtschaftsraums entwickelt. Dabei darf man, glaube ich, nicht außer Acht lassen, dass Deutschland nach wie vor die treibende Kraft bei der Entwicklung des Innovationsmotors im europäischen Wirtschaftsraum bleiben wird.
Es macht uns als Liberale auch stolz, dass wir nach dem Vorbild der Deutschen Forschungsgemeinschaft auf europäischer Ebene den Europäischen Forschungsrat gegründet haben, dem Professor Winnacker, der auch in der deutschen Forschungslandschaft große Leistungen vollbracht hat, als Generalsekretär vorsteht. Wir setzen auf seine wissenschaftliche Exzellenz und auf den wissenschaftlichen Beitrag der Nobelpreisträgerin Christiane Nüsslein-Volhard und des Physikchemikers Hans-Joachim Freund, die auch in dem Rat mitarbeiten. Das ist ein gutes Zeichen, nicht nur für Deutschland und Europa.
In der Tat ist das 7. EU-Forschungsrahmenprogramm mit seinen rund 54 Milliarden Euro bemerkenswert, womit auch ein Beitrag geleistet werden soll, um die EU-Forschungsausgaben von 2 Prozent auf 3 Prozent zu steigern. Wir müssen uns aber angesichts des globalen Wettbewerbs fragen, ob wir nicht nur in Europa, sondern auch in Deutschland den Zug auf das richtige Gleis gesetzt haben und ein ausreichend schnelles Tempo fahren. Dass die Ausgaben für Forschung und Entwicklung sowie für Bildung in Europa allein 5 Prozent des Gesamthaushalts ausmachen und fast die Hälfte des EU-Haushalts immer noch in die Landwirtschaft fließt, ist auch auf europäischer Ebene für uns Liberale immer noch nicht die richtige Prioritätensetzung.
Der Forschungskommissar Potocnik - Frau Schavan hat es bereits erwähnt - hatte für das 7. EU-Forschungsrahmenprogramm mehr Forschungsinvestitionen gefordert. Das ist leider vereitelt worden. Die Prognosen sagen voraus, dass es angesichts des jetzt eingestellten Betrages in Höhe von 54 Milliarden Euro schwer sein wird, das 3-Prozent-Ziel zu erreichen.
Die Kritiker mahnen zu Recht, dass die Ausgaben für Forschung nicht ausreichen werden, um zum einen den Rückstand zur US-amerikanischen Forschung aufzuholen und zum anderen auch den Wettlauf mit den an die Spitze strebenden asiatischen Staaten zu gewinnen. Japan gibt jetzt schon rund 3,2 Prozent des Bruttoinlandprodukts für Forschung und Entwicklung aus, die USA fast 3 Prozent. Das zeigt doch nur eines: Wir brauchen mehr Tempo.
Hinzu kommt, dass die Aufholjagd mancher Länder ungeheure Ausmaße angenommen hat. Denken Sie an Indien und China! Indien gehört heute zu den Top Ten der Weltrangliste. China hat dem Rest der Welt mit einem großangelegten Technologieprogramm den Kampf angesagt. Angesichts dieser Tatsache finde ich es eigenartig, dass die Bundesregierung China immer noch als Entwicklungsland betrachtet und jährlich mit 300 Millionen Euro Entwicklungshilfe fördert.
Deutschland muss sich zwar als Innovationsmotor für die europäische Forschungsentwicklung mit Blick auf die Zukunft orientieren, aber es hat sich noch nicht darauf eingestellt. Während sich Asien und Südamerika im Transrapid auf der Überholspur bewegen, sitzen wir in Deutschland immer noch im Schlafwagenabteil.
Allein dass die neue Spitzentechnologie des Transrapid zwar in Deutschland erfunden worden ist, er aber bis heute nicht hier gebaut wird, trägt eine gewisse Symbolik. Denn Forschungspolitik wird nicht dadurch glaubwürdiger, dass Erfindungen mit deutschen Steuergeldern im Ausland gebaut werden und abwandern. Das kann nicht das Ziel sein. Die Bundesregierung hat die Aufgabe, diesen Prozess zu stoppen.
Überhaupt müssen wir lernen, vor unserer eigenen Haustür zu kehren und unsere Chancen besser zu nutzen. Das fängt mit dem 3-Prozent-Ziel an. Es ist in der Tat mutig und richtig, dass die Bundesregierung bis 2010 3 Prozent des Bruttoinlandprodukts für Forschung und Entwicklung ausgeben will und 6 Milliarden Euro zusätzlich in den Haushalt eingestellt hat. Doch die Autoren des Berichts zur technologischen Leistungsfähigkeit rechnen damit, dass allein die öffentliche Hand ihre jährlichen Ausgaben bis zum Jahr 2010 um 6 Milliarden Euro steigern müsste, um das 3-Prozent-Ziel zu erreichen.
Aber allein die Tatsache, dass die Bundesregierung bereits in diesem Haushaltsjahr wieder 260 Millionen Euro mehr für die Steinkohlesubventionen ausgibt, zeigt, dass sie die Prioritätensetzung zugunsten von Forschung und Entwicklung noch längst nicht begriffen hat.
Somit wird die Vergangenheit subventioniert, aber nicht in die Zukunft investiert.
Frau Ministerin, Sie haben gesagt, wir bräuchten mehr Investitionen in Bildung und Forschung durch die Bundesländer und das Engagement der Wirtschaft. Aber sieben Bundesländer werden trotz des Paktes für Forschung ihre Ausgaben für Forschung und Entwicklung in diesem Jahr nicht steigern. Das ist im Hinblick auf das Erreichen des 3-Prozent-Ziels nicht hilfreich.
Frau Ministerin, Sie erheben den Anspruch, dass Deutschland der Innovationsmotor in Europa ist. Die Bundeskanzlerin fordert, mehr Freiheit zu wagen. Ob wir diese Rolle in Europa spielen werden, hängt davon ab, ob der Innovationsmotor in Deutschland wie geschmiert läuft. Wenn man aber genau hinschaut, dann stellt man fest, dass er stottert.
Erstens. Es zeigt sich, dass sich die Große Koalition schwer damit tut, die bestehenden Konfliktpotenziale bei der Roten und der Grünen Biotechnologie sowie bei der kerntechnischen Sicherheits- und Endlagerforschung aufzuheben und einer Lösung zuzuführen.
Zweitens. In den Haushaltsberatungen setzten sich die Gegner der von Forschungsministerin Schavan angekündigten Kernfusionsforschung durch und sperrten kurzerhand wichtige Forschungsmittel.
Drittens. In ihrer Regierungserklärung hob Frau Bundeskanzlerin Merkel auf die Freiheit der Entwicklungsmöglichkeiten bei der Nano-, der Bio- und der Informationstechnologie ab. Doch noch stehen die Signale des Aufbruchs allein für die sogenannte Grüne Biotechnologie auf Rot. Das ist an der ablehnenden Haltung gegenüber Freisetzungsversuchen und der zögerlichen Haltung gegenüber der Novellierung des Gentechnikgesetzes zu erkennen. Forschung im Labor vorantreiben zu wollen, bedeutet aber, Freisetzungsversuche nicht abzulehnen. Das ist innovationshemmend. Das wollen wir Liberale nicht.
Viertens. Auf dem Gebiet der Roten Biotechnologie wurde von der Bundeskanzlerin die Novellierung des Stammzellgesetzes angekündigt. Doch schon die zuständige Forschungsministerin Schavan eröffnet das Sperrfeuer gegen die Aufhebung der Stichtagsregelung. Wir Liberale fordern seit langem eine solche Aufhebung. Frau Ministerin, ich fordere Sie auf: Beenden Sie den jämmerlichen Zustand im deutschen Recht! Dass deutsche Stammzellforscher, selbst wenn sie mit anderen europäischen Forscherteams zusammenarbeiten, strafrechtlich verfolgt werden können, hat nichts mit Forschungsfreiheit zu tun.
Es ist ebenfalls scheinheilig, dass mit deutschen Steuergeldern und deutscher Zustimmung im 7. EU-Forschungsrahmenprogramm EU-Projekte zur Stammzellforschung gefördert werden. Dazu wollen wir von der Bundesregierung eine klare Aussage. Wohin soll der Zug fahren? Wie soll der Innovationsmotor laufen?
Deutschland braucht in Europa und im globalen Wettbewerb um die besten Köpfe und um Spitzentechnologie nicht nur eine Hightechstrategie bis 2009, sondern auch eine zwischen Bund und Ländern abgestimmte nationale Forschungsstrategie. Vor allem müssen wir einen nationalen Führungsanspruch erheben. Deutschland muss als Hightechstandort seine Kräfte darauf konzentrieren, die energiewirtschaftliche Technologieführerschaft zu übernehmen und zu behaupten, insbesondere was die Steigerung der Energieeffizienz, aber auch was die Technologien klimaneutraler Energiegewinnung durch Biomasse und Geothermie sowie Windenergiegewinnung auf See oder modernste Abscheide- und Einlagerungstechnologien bei den Treibhausgasen anbelangt. Wir müssen unsere Anstrengungen vergrößern. Wir dürfen - im Gegensatz zur Planung der Bundesregierung - unseren technologischen Vorsprung bei der Sicherheit von Kernkraftanlagen und der Entsorgung nicht einbüßen.
Mit einem Wort: Deutschland braucht eine mutige Innovationspolitik, die zukunftsorientiert und ideologiefrei ist. Das können wir aber bei der Großen Koalition, genauso wenig wie zuvor bei Rot-Grün, nicht erkennen. Deswegen fordere ich Sie auf, Frau Ministerin: Haben Sie mehr Mut und wagen Sie mehr Freiheit! Das ist gut für Deutschland und für Europa. Wir alle gewinnen dabei. Auf diesem Weg werden wir Ihnen gerne helfen.
Vielen Dank.
Präsident Dr. Norbert Lammert:
Der Kollege René Röspel ist der nächste Redner für die SPD-Fraktion.
René Röspel (SPD):
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Frau Pieper, Sie haben die Rede von vor fünf Monaten noch einmal gehalten.
Deswegen will ich gar nicht weiter darauf eingehen, bis auf zwei Punkte vielleicht. Darüber, dass Sie bei der Stammzellenforschung falsch liegen, werden wir morgen in aller Breite debattieren. Dann werden wir die Diskussion führen und die Argumente austauschen. Was die Entwicklungshilfe für China anbelangt, will ich nur eine Bemerkung machen: Aus meiner Sicht tobt der Kapitalismus nirgends schlimmer als im kommunistischen China.
Wenn es dort Menschen gibt, die in bitterer Armut leben und denen deutsche Entwicklungspolitik mit konkreten Projekten helfen kann, dann sind die 300 Millionen Euro gut angelegtes Geld, auch für die Beziehungen in der Welt.
Europa ist klüger, als viele Menschen denken. Das erlebt man in den täglichen Debatten. Aber Europa kann noch klüger werden. Vor allem muss Europa noch klüger werden. Deshalb hat sich der Europäische Rat in Lissabon im März 2000 ein strategisches Ziel für dieses Jahrzehnt gesetzt. Er schreibt, Europa solle zum wettbewerbsfähigsten und dynamischsten wissensbasierten Wirtschaftsraum der Welt werden. Seit 17 Tagen ist die Europäische Union ein Stück weiter und auf einem guten Weg; denn seit 17 Tagen ist das 7. Forschungsrahmenprogramm in Kraft. Über 50 Milliarden Euro werden in den Jahren 2007 bis 2013 zur Verfügung gestellt, um die EU zum weltweit führenden Forschungsraum zu machen. Das Geld wird in viele sinnvolle Bereiche investiert.
Allein 6 Milliarden Euro gehen in ein Gesundheitsforschungsprogramm, das dazu dienen soll, die Gesundheit der Bürger in unserem Europa zu verbessern. Klinische Forschungen über Krebs, Herz-Kreislauf-Erkrankungen, Infektionskrankheiten und auch über bisher vernachlässigte Krankheiten, die häufig in der Dritten Welt eine Rolle spielen, sollen stärker unterstützt werden. Besonderes Augenmerk im Rahmen der Gesundheitsforschung wird auf Kindergesundheit und auf Altersforschung gelegt.
2,3 Milliarden Euro stehen für Energieforschung zur Verfügung. Da ist das Ziel nicht die Steigerung, sondern die Minderung des Energieverbrauchs, also mehr Energie sparen. Darauf wird mein Kollege Dieter Grasedieck gleich sehr ausführlich eingehen. 1,8 Milliarden Euro werden in Umweltforschung investiert, zum Beispiel für Umwelt und Gesundheit, für die Erhaltung der biologischen Vielfalt, aber auch für Klimaforschung. Wie wichtig das ist, hat uns das Wetter in den letzten Wochen ahnen lassen, und das werden wir vielleicht auch im Laufe des heutigen Tages merken.
Sinnvoll ist deswegen auch, dass die Europäische Union mit diesem Rahmenprogramm 4,2 Milliarden Euro für Verkehrsforschung investieren wird; denn 25 Prozent, also ein Viertel aller Kohlendioxidemissionen, die für den Treibhauseffekt verantwortlich sind, kommen aus dem Verkehr. Da müssen wir in Europa sehr viel besser werden.
1,3 Milliarden Euro werden für ein Sicherheitsforschungsprogramm ausgegeben. Hier sollen neue Techniken entwickelt werden, um die EU und deren Bürger gegen Bedrohungen wie Terrorismus, Naturkatastrophen und Kriminalität zu schützen. Auch wenn - siehe ganz aktuell Spanien und ETA - die Gefahr der terroristischen Bedrohung in Europa vorhanden ist und zweifelsohne nicht wegdiskutiert werden kann, so haben wir doch einige Probleme mit der Intention und mit der Ausführung des Programms. Wenn man glaubt, Menschen fühlten sich in erster Linie durch Terrorismus bedroht, dann greift das zu kurz.
Wenn man beispielsweise die Schüler der Geschwister-Scholl-Schule in Emsdetten fragen würde, wovon sie sich aktuell bedroht fühlten, dann würde man sicherlich eine andere Antwort erhalten als die, die der Hausbesitzer in Königstein an der Elbe geben würde, dessen Haus 2002 beim Elbhochwasser zerstört worden ist. Hinsichtlich des Sicherheitsbedürfnisses - ich schaue die Kollegin Arndt-Brauer an - der Ochtruper im Münsterland sind sicherlich die Erinnerung an den letzten Winter und die Erfahrung zu berücksichtigen, mehrere Tage ohne Strom auskommen zu müssen, weil die Strommasten der Schneelast nicht haben standhalten können. Auch das ist eine Frage von Sicherheit und Sicherheitsempfinden. Deshalb ist es richtig, dass wir im Koalitionsantrag Wert darauf legen, dass die Gefahren und Risiken untersucht werden, denen die Menschen tatsächlich und in ihrem alltäglichen Umfeld ausgesetzt sind.
Sicherheitsforschung muss die Bedürfnisse der Menschen berücksichtigen.
Wir legen ausdrücklich auch Wert darauf, dass auf europäischer Ebene und durch deutsche Programme keine Forschung unterstützt wird, die unmittelbar auf militärische Zwecke ausgerichtet ist.
Mit dem 7. Forschungsrahmenprogramm wird - Frau Ministerin hat das schon erwähnt - ein neuer Schritt gegangen: Der Europäische Forschungsrat wird eingerichtet; Forscher aller Fachrichtungen können Projektmittel beantragen; insgesamt 7,4 Milliarden Euro stehen zur Verfügung. Einziges Kriterium für die Vergabe der Mittel ist die Exzellenz der beantragten Arbeit. Wir wünschen in diesem Sinne dem Gründungsgeneralsekretär und ehemaligen Präsidenten der Deutschen Forschungsgemeinschaft, Professor Winnacker, viel Glück und Erfolg. Das ist ein guter Schritt, den Europa damit tut.
Europäischer Forschungsrat bedeutet: freie Fahrt für exzellente Forschung, aber im Rahmen der Leitplanken, die von der Gesellschaft durch Werte und Gesetz vorgegeben werden! Von dieser Stelle darf ich an die EU einmal die dringende Aufforderung richten, etwas mehr Sensibilität bei gesellschaftlich umstrittenen Fragen, die in den Mitgliedstaaten sehr differenziert diskutiert werden, an den Tag zu legen.
Von diesem 50-Milliarden-Euro-Programm werden nicht nur die Wirtschaft, die Forschung und die Lehre profitieren; es ist gleichzeitig ein gewaltiges Investitionsprogramm, von dem auch die Wirtschaft profitieren wird. Aber halt: Nur nehmen gilt auch nicht. Frau Ministerin Schavan hat in den letzten Tagen und auch in der heutigen Debatte ausdrücklich und mit Recht darauf hingewiesen, dass sie von den Unternehmen mehr und stärkere Investitionen in Forschung und Entwicklung und in Ausbildung verlangen muss und kann.
Ausbildung und Forschung sind nicht nur Aufgaben der öffentlichen Hand, sie sind nicht nur im Interesse der Wirtschaft, sondern eigentlich deren Handlungsbasis.
Zu Beginn meiner Rede habe ich das Lissabonziel zitiert; danach soll Europa zum wettbewerbsfähigsten Wirtschaftsraum der Welt gemacht werden. Mit diesem Programm geht es aber nicht nur darum, Platz eins in der Welt zu erobern, sondern auch darum, Europa nach innen zu entwickeln und zu stabilisieren. Wenn wir es mit diesem Programm schaffen, den jungen Menschen, die oben auf den Besuchertribünen sitzen, in einem zusammenwachsenden und stabilen Europa eine Perspektive zu geben, eine gute Ausbildung zu ermöglichen, bei ihnen vielleicht das Interesse zu wecken, Ingenieur oder Forscher zu werden - Wissenschaft macht nämlich ungeheuer Spaß -, und später eine gesunde Umwelt und ein stabiles Europa vorzufinden, dann haben wir ein wichtiges Ziel erreicht und dann wäre ich sogar zufrieden, wenn wir nur Platz zwei in der Welt erobern.
Vielen Dank.
Präsident Dr. Norbert Lammert:
Das Wort erhält nun die Kollegin Petra Sitte für die Fraktion Die Linke.
Dr. Petra Sitte (DIE LINKE):
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Wir reden über das neue EU-Forschungsrahmenprogramm ganz zu Beginn der deutschen EU-Ratspräsidentschaft. Ich bin schon der Auffassung, dass man beides nicht voneinander trennen kann, dass man auch in diesem Kontext EU-Forschungspolitik diskutieren muss. Deshalb muss man eben auch etwas zu dieser Ratspräsidentschaft sagen, die natürlich eine gewichtige Aufgabe ist - für jedes Land.
Sie wissen genauso gut wie ich, dass diese Ratspräsidentschaft für Deutschland eine ganz besondere Herausforderung ist, und zwar nicht, weil Deutschland vor kurzem die Ratspräsidentschaft übernommen hat, sondern weil die Europäische Gemeinschaft selbst in einer Krise steckt. Das manifestiert sich nicht nur im Scheitern des Verfassungsvertrages. Seine Ablehnung durch Volksabstimmungen, die Unterbrechung des Ratifikationsprozesses in vielen Mitgliedstaaten erfordern zwangsläufig einen Neuansatz und eine Diskussion über Ziele und Inhalte der europäischen Verfassung. Das hat auch mit europäischer Forschungspolitik zu tun.
Ich befürchte allerdings, dass Krisenmanager es nicht im Sinn haben, die Ablehnungsgründe stärker zu thematisieren. Offensichtlich scheint auch die Bundesregierung diesen Kurs zu tolerieren; denn, wie angekündigt, wird jetzt eine Diplomatie der kleinen Gesprächskreise begonnen. Dabei werden - so ist zu befürchten - Kritiken weichgezeichnet, Abstraktionsebenen erhöht, um letztlich vielleicht doch noch zu Kompromissen zu kommen. Diese Verschleierung darf die Bundesregierung während ihrer Ratspräsidentschaft eben nicht zulassen. Sie muss dem aktiv begegnen. Das ist ihre Verantwortung innerhalb dieses Prozesses.
Sie werden der EU-Verfassung nur dann neue Impulse geben können, wenn Sie vertrauenbildende Inhalte vorschlagen. Wir haben in unserem Memorandum festgehalten: Die EU ist als politischer, ökonomischer, sozialer und ökologischer Verbund zu konzipieren. Europa darf sich nicht auf ökonomische Rivalität gegen andere Regionen und damit gegen Menschen in anderen Regionen reduzieren.
Wir gewinnen die Zukunft gemeinsam nur, wenn wir uns eben nicht abgrenzen, sondern auf eine faire und friedliche Globalisierung setzen. Das ist aus unserer Sicht die Gestaltungsidee für Gesamteuropa.
Das ist auch die Gestaltungsidee, die die Forschungspolitik Europas durchziehen müsste.
Was heißt das jetzt konkret? Erstens. Ungerechtigkeiten im Bildungssystem, insbesondere sozialbedingte, sind abzubauen. Zweitens. Der europäische Forschungs- und Bildungsraum muss demokratische Mitwirkung ermöglichen. Drittens. Die Themen sind an den zentralen Konflikten und Widersprüchen der Gesellschaft - an der Arbeitslosigkeit, der demografischen Entwicklung und der Armut - auszurichten. Viertens. Der Wissenstransfer muss neue reale Beschäftigungschancen bieten.
Jetzt schauen wir einmal, wie das neue EU-Forschungsrahmenprogramm herangeht: Als Ziel wird bestimmt - es wurde eben schon erwähnt -, Europa als wissensbasierten, wettbewerbsfähigen Wirtschaftsraum zu gestalten. Ich sage: Die Forschungsinvestitionen der Mitgliedsstaaten zu steigern, bleibt fragwürdig, solange ihr kleinster gemeinsamer Nenner vor allem in privatwirtschaftlicher Verwertbarkeit besteht.
So verwundert es am Ende nicht, wenn es der Forschungsförderung auf europäischer Ebene an Leitlinien für einen europäischen und globalen Integrationsprozess fehlt. Soziale und ökologische Nachhaltigkeit bleiben nur unverbindliche Ziele der Forschungsförderung.
Frau Merkel hat unlängst gesagt, sie wolle das Thema Klimawandel zum Schwerpunkt der EU-Präsidentschaft machen. Die Forschungsförderung im Bereich Klimawandel ist in diesem Forschungsrahmenprogramm aber nur in Versatzstücken fixiert. Vom Mittelzuwachs profitieren vor allem Hochtechnologien und Verfahrensoptimierungen. Informations-, Kommunikations-, Nano-, Produktions- sowie Werkstofftechnologien und nicht zuletzt die Weltraumforschung werden mit rund 15 Milliarden Euro bedacht.
Themen- und disziplinenübergreifende Forschungen, die Konzepte zur Bewältigung von sozialen, ökologischen und ökonomischen Problemen erarbeiten könnten, bleiben in diesem Programm im Verhältnis zu den anderen Forschungsbereichen krass unterfinanziert. Während im Hightechbereich Milliarden investiert werden, sind für Geistes- und Sozialwissenschaften nur 610 Millionen Euro vorgesehen. Daher sollte die Bundesregierung ihre Ratspräsidentschaft nutzen, aus dem deutschen Jahr der Geisteswissenschaften 2007 neue Impulse für die EU-Politik zu gewinnen.
Ich sage ausdrücklich: Wir sollten endlich anfangen, das wissenschaftliche Potenzial der Geistes- und Sozialwissenschaften für die Erarbeitung dringend benötigter globaler Gestaltungskonzepte zu nutzen.
Ähnliche Defizite gibt es aber auch in anderen Bereichen, etwa im Bereich der Energieforschung. So sind für erneuerbare Energien nur 400 Millionen Euro vorgesehen. Dagegen werden in die Kern- und Fusionsenergie zweistellige Milliardenbeträge gesteckt. Was aber ist allenthalben unbestritten? Die Perspektiven erneuerbarer Energien sind vielversprechend. Das gilt nicht für die Kernenergie. Die Perspektiven der Fusionsenergie sind völlig offen. Deshalb sagen wir: Hier müssen die Förderprioritäten umgekehrt werden.
Die Ökonomisierung der Forschung engt nicht nur die Forschung selbst ein. Nein, die Forschung liefert uns wissenschaftlich fundierte Alternativen für unsere politischen Entscheidungen, die wir hier zu fällen haben. Infolgedessen wird es, wenn dort keine Förderung erfolgt, wenn dort keine Konzepte entwickelt werden, unseren Debatten und den öffentlichen Debatten immer an Substanz fehlen. Deshalb ist diese Entwicklung so dramatisch; das darf die Forschungspolitik auf EU-Ebene nicht ignorieren.
Deshalb wenden wir, Die Linke, uns auch so entschieden gegen das neue Sicherheitsforschungsprogramm.
Es steht exemplarisch für das, was wir kritisieren. Mittel dieses Programms werden in erster Linie nicht etwa zivil für den Schutz vor Umwelt- und Naturkatastrophen, sondern einseitig für technologische Forschungen in den Bereichen der Terrorismusbekämpfung und der äußeren Verteidigung eingesetzt. Die Ergebnisse dieser mit öffentlichen Mitteln, also mit Steuergeldern gewonnenen Erkenntnisse werden dann privatwirtschaftlich angeeignet und kommerzialisiert. Es ist völlig logisch, dass mit dieser Ausrichtung der Forschungspolitik am Ende nicht viel von den Ankündigungen übrig bleibt, sich auf Prävention und Ursachenbekämpfung zu konzentrieren.
Ich will darauf verweisen, dass der Weg, den die Bundesregierung bei der Umverteilung und Strukturveränderung von Instituten jetzt geht, außerordentlich problematisch ist. Da finden sich Institute aus dem Sicherheitsbereich nämlich plötzlich in zivilen Forschungseinrichtungen wieder. Damit verwischen sich letztlich auch die Grenzen zwischen Wehr-, Verteidigungs- und ziviler Sicherheitsforschung. Das widerspricht der Beschlusslage des Bundestages.
Ich bin sehr gespannt auf die Kabinettsvorlage, die Ende Januar zum nationalen Sicherheitsprogramm der Bundesrepublik Deutschland eingebracht werden wird.
Ich will dabei auch auf die Situation der Beschäftigten verweisen. Nachdem sie über Jahre im zivilen Forschungsbereich gearbeitet haben, finden sie sich jetzt unter Umständen in Themen integriert, die eine militärische Ausrichtung haben. Das widerspricht der EU-Charta für Forscherinnen und Forscher.
Ich glaube, dass die Bundesregierung sich in diesem Bereich der EU-Position gebeugt hat und dass an dieser Stelle die eigentlich vorhanden gewesenen Widerstände aufgegeben worden sind. Wir können das nicht akzeptieren. Diese Art von Heimatschutz in Deutschland bzw. Europa lehnt die Linke ab.
Abschließend sei mit Blick auf die - natürlich auch mediale - Selbstdarstellung zu den Chancen Deutschlands in der Ratspräsidentschaft doch noch einmal an Folgendes erinnert: Es handelt sich um ein turnusmäßiges Ereignis. Jedes Mitgliedsland ereilt das früher oder später, gewollt oder ungewollt. Aus der Diskussion der letzten Wochen konnte man aber den Eindruck gewinnen, als habe Deutschland die Ratspräsidentschaft erobert und sei jetzt in der Lage, für das nächste halbe Jahr das Europawetter vorauszusagen.
An 181 Tagen wird die Bundesregierung allein 107 Konferenzen abhalten. Nun hoffe ich sehr, dass diese Ratspräsidentschaft sich am Ende der Zeit nicht auf eine Ratskonferenzschaft reduziert haben wird.
Danke schön.
Präsident Dr. Norbert Lammert:
Nächste Rednerin ist die Kollegin Krista Sager, Bündnis 90/Die Grünen.
Krista Sager (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Dass es im 7. Forschungsrahmenprogramm der Europäischen Union zwar nicht so viel Geld gibt, wie viele erhofft haben, aber deutlich mehr als im 6. Forschungsrahmenprogramm, ist zumindest ein Zeichen dafür, dass in Europa das Einvernehmen darüber, wo in Zukunft die Prioritäten liegen müssen, wächst, und das ist ein gutes Signal.
Ich finde, dass das Europäische Parlament bei seinen Nachbesserungen eine überwiegend gute Rolle gespielt hat. Dass vom Parlament zum Beispiel die Forschungsmittel für erneuerbare Energien und Energieeffizienz erhöht worden sind, hat zwar nicht zu einem Ergebnis geführt, mit dem wir als Grüne zufrieden sind, aber es hat doch gezeigt, dass das Parlament das Signal setzen wollte: Wir müssen uns im Angesicht des Klimawandels an dieser Stelle viel mehr anstrengen. - Auch das ist ein gutes Zeichen gewesen.
Ein besonderes Augenmerk richtet sich natürlich auf die neuen Instrumente. Einen Europäischen Forschungsrat, der die Exzellenz in der Grundlagenforschung stärken soll, halten auch wir für einen sehr viel versprechenden Ansatz. Dass dieser Forschungsrat als Allererstes die Unabhängigkeit besonders guter Nachwuchswissenschaftler stärken und fördern will, ist erfrischend und steht im Gegensatz zu der Kleinmütigkeit, mit der hier in Deutschland die Juniorprofessor gefördert worden ist. Dabei waren wir viel zu lange viel zu zögerlich. Es ist gut, dass die europäische Ebene uns zeigt: Da müssen wir in Zukunft einen Schwerpunkt setzen.
Wie gut dieser Forschungsrat sein wird, wird in erster Linie davon abhängen, ob er tatsächlich von nationalen und wissenschaftlichen Lobbyistengruppen unabhängig ist. Das muss er unter Beweis stellen. Da wird es nicht reichen, wenn er sagt, seine Entscheidungen seien wissenschaftsgeleitet. Dabei sind wirklich Evaluation und Transparenz gefragt. Daran wird am Ende seine Glaubwürdigkeit hängen.
Ausgesprochen kritisch sehen wir die Diskussion um das sogenannte Europäische Technologieinstitut. Es ist erst einmal gut, dass eine europäische Sondergründung auf der grünen Wiese abgewehrt worden ist.
Das aber ist nur ein schwacher Trost, erkennt man jetzt doch: Mit diesem Namen soll um jeden Preis etwas umgesetzt werden, ohne dass ein glaubwürdiges Konzept erkennbar ist.
Ich stehe einem Top-down-Ansatz, dass also auf europäischer Ebene entschieden wird, wo in Europa die besten Ressourcen hinsichtlich Ausbildung und Forschung auf einem Gebiet zusammengezogen werden sollen, sehr skeptisch gegenüber. Ich sehe darin eher einen Gegensatz zum Europäischen Forschungsrat und zu den Instrumenten des 7. Forschungsrahmenprogrammes. Für mich entsteht hier ein großes Tummelfeld für nationale und industrielle Lobbyistengruppen. Auch die deutschen Hochschulen finden es ausgesprochen dubios, dass diese Einrichtungen nicht nur die Forschung fördern, sondern auch Abschlüsse erteilen sollen.
Wir müssen uns auch einmal fragen, wie sich Deutschland im europäischen Rahmen selbst aufgestellt hat. Wir haben gerade entschieden, dass die Bundesregierung hinsichtlich Lehre und Studium weder auf der nationalen noch auf der europäischen Ebene ein Wort mitreden soll. Auf der europäischen Ebene gibt es demgegenüber eine Tendenz in Richtung Top-down-Entscheidungen. Europäische Einrichtungen, die Forschung und Lehre betreffen, sollen jetzt platziert werden. Da gibt es eindeutig eine Schieflage. Wir müssen im zweiten Teil der Föderalismusreform zusehen, dass dieses Land auf den Gebieten Bildung und Wissenschaft wieder an Boden gewinnt.
Über die embryonale Stammzellforschung haben wir in letzter Zeit durchaus widersprüchliche Meldungen vernommen. Im zweiten Erfahrungsbericht zum Stammzellgesetz hat die Bundesregierung eindeutig gesagt, dass sich das Stammzellgesetz in Deutschland bewährt hat. Andererseits heißt es, man könne sich Veränderungen dieses bewährten Gesetzes durchaus vorstellen, und die Bundesministerin sagt, dass wir eigentlich von der embryonalen Stammzellforschung wegmüssen.
In den letzten Monaten ist immer wieder gesagt worden - ich finde diesen Versuch bemerkenswert -: Wenn das 7. Forschungsrahmenprogramm startet, verändern sich die Regelungen; dann müssen wir in Deutschland mit einer Veränderung unseres Stammzellgesetzes nachziehen. Jetzt können wir feststellen: Die Regelungen für das 7. Forschungsrahmenprogramm sind die gleichen wie die, die für das 6. Forschungsrahmenprogramm galten. Es wird sogar gesagt, die Kommissionserklärung sei eine Verschärfung. Frau Schavan, wir erwarten, dass Sie dem Druck und den falschen Behauptungen weiterhin Widerstand entgegensetzen.
Frau Pieper, ich glaube nicht, dass wir einen Markt für den Handel mit weiblichen Eizellen brauchen. So eine Art von Marktwirtschaft wünsche ich mir nicht.
Eine solche Entscheidung darf sich die Gesellschaft auch nicht mit dem Verweis auf die Forschungsfreiheit abnehmen lassen.
Schlechte Karrierechancen von Frauen haben uns schlechte Kritiken eingebracht, nicht nur von internationalen Gutachtern. Wir geraten auch auf europäischer Ebene ins Hintertreffen. Wir sehen, dass wissenschaftliche Kommissionen und Entscheidungspanels streng geschlechtergerecht zusammengesetzt werden. Wenn es für deutsche Wissenschaftlerinnen so schwierig ist, sich zu positionieren, dann haben wir auf europäischer Ebene das Nachsehen gegenüber den Skandinaviern und den Niederländern. Ich finde es gut, dass uns die europäische Ebene widerspiegelt, dass wir in Deutschland auf diesem Gebiet viel mehr tun müssen. Leider hat sich die Bundesregierung selbst die Hände gebunden, hier etwas voranzubringen, um die Chancen von Frauen in der Wissenschaft zu verbessern. Auf diesem Gebiet müssen wir dringend etwas tun.
Präsident Dr. Norbert Lammert:
Das Wort erhält nun der Kollege Carsten Müller für die CDU/CSU-Fraktion.
Carsten Müller (Braunschweig) (CDU/CSU):
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Wir haben von den Rednern der Oppositionsfraktionen eben allerhand forschungspolitische Einsprengsel gehört. Das Kernthema, um das wir uns heute bemühen sollten, wurde allerdings nur am Rande gestreift. Es geht hier um das 7. Forschungsrahmenprogramm. Man kann sich das mit der Formel ?drei mal sieben“ - Arend Oetker hat es vor wenigen Tagen in Bonn so formuliert - sehr einfach merken: Im Jahr 2007 startet mit einer Laufzeit von sieben Jahren das 7. Forschungsrahmenprogramm. Dann gelingt es einem auch, das Thema konsequenter anzugehen.
54 Milliarden Euro werden in den nächsten sieben Jahren für Forschung und Entwicklung durch die EU verausgabt. Das sind rund 60 Prozent mehr, als der Mittelansatz im Vorgängerprogramm betrug. Wir haben es zu Beginn der deutschen Ratspräsidentschaft mit einem regelrechten Stakkato von forschungspolitischen Richtungsentscheidungen zu tun. Das 7. Forschungsrahmenprogramm startet im Januar, und der Europäische Forschungsrat nimmt seine Tätigkeit im Februar auf. Darauf freuen wir uns. Das zeigt, dass die Europäische Union das richtige Ziel ins Visier genommen hat.
Es geht im Kern um die Erreichung der Lissabonziele, also darum, gemessen am Bruttoinlandsprodukt 3 Prozent für Forschung und Entwicklung aufzuwenden. Das Ganze ist kein Selbstzweck, so wie es beispielsweise die Kollegin Sitte glauben machen wollte, sondern es geht im Kern um nichts anderes als um die Schaffung von Wirtschaftskraft, die in die Schaffung von Arbeits- und Ausbildungsplätzen in der Europäischen Union münden soll.
Deutschland hat heute einen F-u-E-Anteil von rund 2,5 Prozent. Damit liegen wir im europäischen Vergleich relativ gut. Der europäische Durchschnitt beträgt 1,8 Prozentpunkte. Wenn wir allerdings das Ziel vor Augen haben - wir wollen 3 Prozent erreichen -, wissen wir alle, dass wir noch eine Menge zu tun haben. Weltweit liegt Deutschland bedauerlicherweise derzeit nur auf Platz neun - hinter den USA, hinter Japan.
Wir müssen, um dieses Ziel zu erreichen, eines unbedingt sicherstellen, nämlich private Forschungs- und Entwicklungsinvestitionen anreizen.
Mein Vorredner René Röspel hat dies betont und insbesondere die Ministerin hat es sehr präzise herausgearbeitet: Es geht darum, dass nicht nur öffentliche Mittel für Forschung und Entwicklung verausgabt werden, sondern wir erwarten ein erhebliches Engagement der Privatwirtschaft. Von dieser Stelle soll eine Aufforderung an die Privatwirtschaft ausgehen, diese Mittel tatsächlich zu investieren. Sie werden sehen, dass es zu einer enormen wirtschaftlichen Entwicklung kommen wird.
Wir haben mit der positiven Begleitung des 7. Forschungsrahmenprogrammes durch die Große Koalition ein weiteres Mal untermauert, dass Forschung und Entwicklung im Fokus der Großen Koalition stehen. Am Montag dieser Woche fand in Bonn die Auftaktkonferenz zum 7. Forschungsrahmenprogramm statt. Diese war weltweit beachtet, und sie wurde europaweit besonders gut aufgenommen. Eine Vielzahl von europäischen Teilnehmern hat dieses Rahmenprogramm auf den Weg gebracht. Forschungskommissar Potocnik hat dort in Bezug auf den weltweiten Forschungswettbewerb zur Rolle Deutschlands - darum geht es heute hier - gesagt, unser Land sei der Schlüsselpartner im ?Team Europe“. Das können wir vonseiten der Union nur unterstützen. Ich will das Bild wie folgt ausmalen: Das 7. Forschungsrahmenprogramm ist sozusagen die Spielaufstellung, und Deutschland sollte nach unserem Dafürhalten Spielführer im Team Europe sein, wenn es um das Voranbringen von Forschung und Entwicklung in Europa geht.
Das hat seine tatsächliche Berechtigung. Denn schon im Vorgängerprogramm waren an mehr als 80 Prozent aller Programme deutsche Forscherinnen und Forscher beteiligt. Wichtige Bausteine für den Erfolg des 7. Forschungsrahmenprogrammes sind Kontinuität und Berechenbarkeit, beispielsweise gewährleistet durch die lange Laufzeit, aber auch die Vereinfachung beim Zugang zu den Verfahren. Wir wollen wenig Bürokratie, wir wollen einfache, schnell durchschaubare Verfahren, um zu erreichen, dass sich insbesondere kleine und mittelständische Unternehmen künftig viel stärker als bislang am europäischen Forschungsrahmenprogramm beteiligen.
Denn gerade dort, so haben wir festgestellt, sind Arbeits- und Ausbildungsplätze am ehesten zu schaffen.
Die vier wesentlichen Hauptüberschriften - neben dem Euratomprogramm - sind bereits genannt worden. Es geht hier - ich fasse es kurz zusammen - um das Programm Zusammenarbeit, um das Programm Ideen, um das Programm Menschen und schließlich um das Programm Kapazitäten.
Aus der thematischen Schwerpunktsetzung will ich, um einige Anmerkungen des Kollegen Röspel aus einer anderen Sichtweise zu beleuchten, zwei Themen aufgreifen:
Das erste ist das Thema Sicherheitsforschung. Hier haben wir eine durchaus andere Auffassung als die SPD-Fraktion. Wir sind der festen Überzeugung, dass Sicherheitsforschung ein Kernbedürfnis der Bevölkerung in Deutschland und in Europa ist.
Man geht, wie ich glaube, durchaus fehl, wenn man das nur auf terroristische Bedrohungen reduziert. Eine Vielzahl von Themen wird unter dieser Überschrift bearbeitet. Es geht zum Beispiel auch um den Umgang mit Naturkatastrophen und innere Sicherheit im Allgemeinen.
Das zweite wichtige Thema, das ich herausheben möchte, ist die Energieforschung. Hier ist ein durchaus ausgewogener Mix der verschiedenen Forschungsbereiche vorhanden. Die Forschung an erneuerbaren Energien wird mit genauso großem Aufwand unterstützt wie zum Beispiel die Fusionsforschung - auch das ist ein wichtiger Punkt - und kerntechnische Sicherheitsforschung.
Ich habe mich schon ein wenig darüber gewundert, dass die Kollegin Dr. Sitte, als sie in ihren Ausführungen auf den letzten Punkt abhob, die Notwendigkeit der kerntechnischen Sicherheitsforschung etwas in Abrede stellte. Wir können die Wichtigkeit dieser Forschung allein schon daran erkennen, wenn wir uns vor Augen führen, welche atomaren Hinterlassenschaften eine SED-geführte DDR hinterlassen hat. Wir haben mit diesen Lasten heute noch zu kämpfen.
Ich glaube, das Geld ist in atomare Sicherheitsforschung gut investiert, zum einen für den Umgang mit den Hinterlassenschaften, zum anderen auch zur Eröffnung möglicher neuer Perspektiven.
Meine Damen und Herren, die ersten Ausschreibungen sind gelaufen. Die ersten Informationsveranstaltungen waren gut besucht. Ich habe mich davon selber überzeugt. Bei der Auseinandersetzung mit der Struktur des Programms werden Sie festgestellt haben, dass im Jahre 2009 keine zusätzlichen Ausschreibungen laufen. Die Unionsfraktion hält es für angezeigt, diese Zwischenetappe dafür zu nutzen, um zu evaluieren und zu erkunden, ob es uns gelungen ist, kleine und mittelständische Unternehmen stärker für Forschung und Entwicklung zu begeistern. Begeisterung ist nämlich genau das, was wir im Wesentlichen mit dem 7. Forschungsrahmenprogramm und auch den flankierenden Maßnahmen der Bundesregierung - 6-Milliarden-Programm, Hightechstrategie - erreichen wollen. Wir wollen junge Menschen dafür begeistern, sich für entsprechende Berufe in Forschung und Entwicklung und damit für naturwissenschaftlich-technische Ausbildungen zu interessieren. Nur dann gelingt es uns, unseren Spitzenplatz in der Welt zu verteidigen und auszubauen.
Schließen möchte ich mit einem Zitat des EU-Forschungskommissars, der am Montag davon sprach, folgendes Schlagwort den jungen Menschen zu Gehör zu bringen: ?Science can be cool“ - Forschung kann cool sein. Meine Damen und Herren, lassen Sie uns nicht kleinkariert sein, sondern am besten in Zusammenarbeit aller Fraktionen dazu beitragen. Hierzu fordere ich Sie auf. Sie können einen ersten Schritt tun, indem Sie dem Unionsantrag zum 7. Forschungsrahmenprogramm zustimmen.
Vielen Dank.
Präsident Dr. Norbert Lammert:
Ich erteile das Wort dem Kollegen Swen Schulz, SPD-Fraktion.
Swen Schulz (Spandau) (SPD):
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Es handelt sich um einen Koalitionsantrag, lieber Kollege Müller, um das noch einmal klarzustellen.
Die aktuelle europapolitische Diskussion macht deutlich, dass wir für die europäische Integration neue Impulse benötigen. Viele Menschen haben verinnerlicht, dass Europa ein historisches Projekt ist vor dem Hintergrund der Geschichte von Krieg, Leid und Tod. Doch Frieden und gefallene Grenzbäume sind für viele selbstverständlich geworden. Die Leute fragen heute genauer nach dem Nutzen und sind besorgt über mögliche Nachteile der Europäischen Union.
Es geht nun um andere Fragen; das sehe ich ganz ähnlich wie die Kollegin Sitte. Wir brauchen neue Ideen für Europa. Was eignet sich dafür besser als gemeinsame Bildung und Forschung? Gemeinsam können wir erfolgreicher sein bei Innovationen. Gemeinsam können wir die Wirtschaft stärker ankurbeln und Arbeitsplätze schaffen. Das ist aber, lieber Kollege Müller, nicht alles. Mit gemeinsamer Forschung können wir die Dinge leichter verändern und das Leben der Menschen verbessern, indem wir zum Beispiel die Energieversorgung vernünftig organisieren, die Umwelt schützen und kranken Menschen helfen. Das 7. Forschungsrahmenprogramm trägt dem Rechnung. Wir wollen und wir werden unseren Teil dazu beitragen, dass europäische Forschung die Gesellschaft voranbringt.
Darum ist es auch wichtig, dass wir nicht wahllos in Technologie investieren. Das muss vielmehr mit Sinn und Verstand passieren. Dafür benötigen wir die Geistes- und Sozialwissenschaften.
Wir brauchen eine Einschätzung von gesellschaftlichem Bedarf an Technologie, eine verantwortungsbewusste Wissenschaft; ein Verständnis der Kulturen ist nötig sowie Konzepte zur Vorbeugung und zur Beilegung von Konflikten. Ich möchte auch betonen: Die Geistes- und Sozialwissenschaften tragen erheblich zum Wirtschaftswachstum und zum Arbeitsmarkt bei. Deshalb ist es richtig, dass in der EU die Geistes- und Sozialwissenschaften gestärkt werden. Ich danke der Bundesregierung, ich danke der Ministerin dafür, dass sie darauf besonderen Wert legt.
Gerade Deutschland hat als zentral gelegenes Land mit vielen Nachbarn und als Exportnation ein vitales Interesse an europäischer Zusammenarbeit. Das gilt auch für die Wissenschaft. Darum wollen wir auch, dass in den neuen Mitgliedstaaten Strukturen und Kompetenzen aufgebaut werden. Gleichzeitig ist wichtig, dass die Forschungsmittel ausschließlich nach Exzellenz und nicht nach regionalem Proporz vergeben werden.
Die Frage, die sich dann stellt, ist: Wie erhalten die ärmeren Mitgliedstaaten in dem Wettbewerb überhaupt eine Chance? So, wie wir in Deutschland einen fairen Wettbewerb zwischen den Bundesländern organisieren müssen, ist das auch in Europa nötig. Um das zu erreichen, müssen die Mittel, die für die Regionalförderung vorgesehen sind, in erheblichem Maße in den Aufbau der Bildungs- und Forschungslandschaft der neuen Mitgliedstaaten gesteckt werden, damit sie möglichst schnell aufschließen und die europäische Wissenschaft stärken. Auf lange Sicht wird es uns runterziehen, wenn Europa geteilt bleibt und die eine Hälfte lediglich Bittsteller ist. Ich freue mich sehr, dass die Bundesregierung das erkannt hat und eine entsprechende Politik vorantreibt. Sie hat da unsere volle Unterstützung.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, wir können uns alle schönen Überlegungen, Investitionen in Forschung sowie die verschiedenen Programme und Projekte sparen, wenn wir eines vernachlässigen, nämlich die Menschen zu fördern. Auch das ist gerade mit Blick auf die jungen Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler im 7. Forschungsrahmenprogramm aufgenommen durch die Marie-Curie-Maßnahmen, durch die Stipendien, die Mobilitätsförderung, durch den Europäischen Forschungsrat und anderes mehr.
Doch bevor das jetzt ausschließlich eine reine Lobeshymne auf die EU wird, möchte ich zwei Dinge kritisch ansprechen.
Erstens. Trotz der enormen Budgetsteigerung für die Forschung gibt die EU immer noch zu viel für die falschen Prioritäten aus.
Ich nenne aus Zeitgründen nur die Stichworte ?Landwirtschaft“ und ?Atomenergie“.
Zweitens: das EIT, das Europäische Technologieinstitut; das wurde schon angesprochen. Ehrlich gesagt, erschließt sich mir das Konzept nicht so recht. Die Bundesregierung hat dankenswerterweise schon dazu beigetragen, das Schlimmste zu verhindern, dass nämlich das Institut quasi auf die grüne Wiese gestellt wird. Aber ich frage mich auch: Was soll das neue Konzept des Netzwerkes bringen? Woher sollen die Milliarden dafür kommen? Ich habe die herzliche Bitte an die Bundesregierung für die Ratspräsidentschaft, aber auch darüber hinaus: Passen Sie ganz besonders auf dieses Thema auf, passen Sie auf, dass da kein Unfug geschieht.
Die Gesamtbilanz der EU-Forschungspolitik ist aber positiv. Die Bundesregierung hat wesentlich dazu beigetragen. Der Koalitionsantrag macht das im Einzelnen deutlich und setzt die richtigen Akzente für die künftigen Herausforderungen.
Lassen Sie mich zum Schluss sagen: So wichtig und hilfreich Europa ist, wer glaubt, dass die nationalen Anstrengungen vernachlässigt werden können, begeht einen schweren Fehler. Unsere Hausaufgaben müssen wir schon in Deutschland machen.
Die Regierungskoalition zeigt mit der Hightech-Strategie, dem 6-Milliarden-Programm und vielen anderen Initiativen, wie das geht.
Vielen Dank.
Präsident Dr. Norbert Lammert:
Hans-Josef Fell ist der nächste Redner für die Fraktion des Bündnisses 90/Die Grünen.
Hans-Josef Fell (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Forschung und Wissenschaft sollen und können entscheidende Beiträge zur Lösung aktueller Probleme liefern. Zu Recht wurden sie deshalb in den Mittelpunkt der Lissabonstrategie gestellt, mit dem Ziel, Ausgaben in Höhe von 3 Prozent des Bruttoinlandsprodukts für die Forschung anzustreben.
Die Aufgaben liegen klar auf der Hand und sind in der Lissabonstrategie aufgezeigt worden: Beschäftigung, Wettbewerb, Umweltschutz, Klimaschutz und einiges mehr.
Eine Erhöhung der Forschungsmittel ist mit dem 7. Forschungsrahmenprogramm durchaus gelungen. Doch zur Erreichung des 3-Prozent-Ziels wäre mehr notwendig und auch mehr möglich gewesen.
Wer hat das verhindert? Auf dem Finanzgipfel war es eine der ersten Handlungen von Kanzlerin Merkel, einen Finanzplan vorzulegen, um diese Finanzmittel im Hinblick auf den Vorschlag von Potocnik zu verringern. Das war beim wichtigen Ziel der Forschung eine Fehlleistung und ein Fehlstart der Bundesregierung.
Doch es ist nicht nur mehr Geld für die Forschung wichtig - es ist gut, dass mehr Geld zur Verfügung gestellt wurde -, sondern es ist auch wichtig, wofür das Geld ausgegeben wird. Es sind durchaus gute und wichtige Maßnahmen vorgesehen, beispielsweise in den Bereichen Gesundheit, Nanotechnologie, Geistes- und Sozialwissenschaften, Informationstechnologie und Umweltforschung.
Aber ich stimme meinem Kollegen Swen Schulz zu: Es gibt auch deutliche Defizite und Fehlinvestitionen. Wenn wir uns beispielsweise die Arbeitsplatzsituation anschauen - die Schaffung von Arbeitsplätzen ist schließlich ein wichtiges Ziel, das mit der Forschung verfolgt werden soll -, stellen wir fest: Die Stütze für die Schaffung von Arbeitsplätzen in Europa ist der Mittelstand. Im 7. Forschungsrahmenprogramm ist bei der Mittelstandsunterstützung allerdings kein Schwerpunkt gesetzt worden. Beispiel: Maschinenbau. Wo wird diese Branche erwähnt? Sie ist eine große Stütze der europäischen Wirtschaft. Im 7. Forschungsrahmenprogramm: Fehlanzeige. An dieser Stelle wird es seinen Aufgaben nicht gerecht.
Beispiel: Ernährung. Wir alle wissen, wie wichtig die Ernährungssicherung ist, und wie wichtig es ist, eine sinnvolle Ernährungspolitik anzustreben. Aber worauf wird im 7. Forschungsrahmenprogramm gesetzt? Hier haben sich die Interessen der Agro-Gentechnik durchgesetzt und nicht diejenigen der biologischen Landwirtschaft und des Verbraucherschutzes. Allerdings sind alle diese Interessen wichtig. Statt neue Arbeitplätze zu schaffen - bisher ist die Agro-Gentechnik sehr erfolglos -, hat Ihr Vorgehen in diesem Bereich zur Inakzeptanz der Bevölkerung geführt. Obwohl die biologischen Lebensmittel boomen, finden sie im 7. Forschungsrahmenprogramm keine Unterstützung.
Klima- und Energieversorgungsprobleme sind in aller Munde. Hier versagt das 7. Forschungsrahmenprogramm fast völlig. Insgesamt werden zusammen mit den Euratommitteln, die gleichzeitig verabschiedet werden, 4 Milliarden Euro für die völlig erfolglosen Kernspaltungen und Kernfusionen bereitgestellt. Im Vergleich dazu - Frau Sitte hat das schon gesagt - werden für erneuerbaren Energien und Energieeffizienz nicht einmal 1 Milliarde Euro zur Verfügung gestellt. Das ist eine grandiose Differenz.
Betrachten wir einmal die Vergangenheit: In der OECD wurden die Mittel für die öffentliche Energieforschung 50 Jahre lang zu 80 Prozent für Kernspaltungen und Kernfusionen eingesetzt. Das Ergebnis ist beschämend: 2,5 Prozent der Weltenergienachfrage werden durch diese Technologien abgedeckt, durch Kernfusionen gar nichts.
Das wird auch in den nächsten 50 Jahren so bleiben. Dennoch wurden die Schwerpunkte erneut an dieser Stelle gesetzt. Das ist eine grandiose Fehlleistung.
Als es um diesen Vorschlag von Potocnik ging, gab es vonseiten der Bundesregierung keinen Widerspruch. Auch die beiden großen Fraktionen haben sich nicht für eine Erhöhung der Mittel für die erneuerbaren Energien und für die Energieeffizienz eingesetzt. Lediglich das EU-Parlament - meine Kollegin Krista Sager hat das schon erwähnt - hat sich hier wenigstens ein Stück weit in diese Richtung bewegt und Verbesserungen vorgeschlagen. Auch Umweltminister Gabriel hat sich nicht dafür eingesetzt.
Seine Rhetorik für erneuerbare Energien war eine reine Fehlanzeige. Es gab keine Investitionen und keine Maßnahmen auf EU-Ebene, diese Fehlallokation im 7. Forschungsrahmenprogramm zu korrigieren.
Ich hoffe, das wird sich in Zukunft ändern. Wir brauchen eine Erhöhung der Mittel für Forschung und Entwicklung, für die erneuerbaren Energien, für die biologische Landwirtschaft und für den Mittelstand. Es liegen noch viele Aufgaben vor uns, die noch nicht erfüllt sind, die aber einer Erfüllung harren.
Präsident Dr. Norbert Lammert:
Ich erteile das Wort der Kollegin Ilse Aigner, CDU/CSU-Fraktion.
Ilse Aigner (CDU/CSU):
Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Sehr geehrte Damen und Herren! Am 1. Januar dieses Jahres ist das 7. Forschungsrahmenprogramm in Kraft getreten, das Herzstück europäischer Forschungspolitik. Wir haben heute schon viel über die Strukturen und die Neuerungen gehört. Ich möchte deshalb etwas Grundsätzliches zur europäischen Forschungspolitik sagen.
Das Motto der deutschen EU-Ratspräsidentschaft lautet: ?Europa gelingt gemeinsam“. Die Herausforderung ist groß. Am 1. Januar dieses Jahres ist die EU auf 27 Mitgliedstaaten angewachsen, ist noch unterschiedlicher, noch vielstimmiger geworden. Ist die Forschungspolitik nun genau das Feld, dem wir uns zuvorderst widmen sollten? Ich sage: Ja. Erfolg oder Scheitern Europas werden von keinem Bereich so abhängen wie von Bildung, Wissenschaft und Innovationen.
Forschung und Wissenschaft halten Europa zusammen, sie sind Teil seiner Identität und seiner Zukunft. Wissenschaftler und Ingenieure bauen ebenso an dem gemeinsamen Haus Europa wie Politiker und Unternehmer. Heute gibt es in Europa mehr wissenschaftliche Institute, Hochschulen und Laboratorien als Burgen, Schlösser und Museen. Auch die Wissenschaft prägt die kulturelle Landschaft unseres Kontinents. Europa ist die Wiege der modernen Wissenschaft. Sie ist eine zutiefst europäische Errungenschaft, von den Anfängen griechischer Philosophie über die Aufklärung bis in die heutige Zeit.
Forschung und Wissenschaft haben wir eindeutig auf der positiven Seite zu verzeichnen. Über Kriege und Krisen hinweg haben Kooperationen in Wissenschaft und Forschung Europa immer wieder zusammengeführt. Der gemeinsame Forschungs- und Hochschulraum war früher eine Selbstverständlichkeit. Es gibt kaum eine große Forscherpersönlichkeit - stellvertretend seien Alexander von Humboldt und Justus von Liebig genannt -, die nicht in Europa zu Hause gewesen wäre. Dieses Erbe müssen wir wieder neu gewinnen und erarbeiten. Unsere reiche wissenschaftliche Vergangenheit ist kein Grab der Geschichte, sondern eine Schatzkammer, aus der wir schöpfen können.
Europa ist mehr als eine Subventions-/Umverteilungsgemeinschaft. Wir brauchen eine Leitvorstellung von der Zukunft Europas, seinem Platz und seinem Beitrag für die Fortentwicklung der Menschheit. Leistungen in Forschung und Wissenschaft sowie Innovationen gehören unverzichtbar dazu. Die europäische Forschungspolitik hat seit der Gründung der Gemeinschaft immer mehr an Bedeutung gewonnen. Bereits im Vertrag der Europäischen Gemeinschaft für Kohle und Stahl ist sie erwähnt, und im Euratomvertrag spielte sie von Anfang an eine große Rolle.
Das erste Forschungsrahmenprogramm startete 1984. Seit der Einheitlichen Europäischen Akte 1987 ist Europa auch vertraglich eine Forschungs- und Technologiegemeinschaft. Dieser Vertrag verpflichtet die Union, die wissenschaftlichen und technologischen Grundlagen der Wirtschaft zu stärken und dadurch ein hohes Maß an internationaler Wettbewerbsfähigkeit zu sichern. Mit der im Jahr 2000 verabschiedeten Lissabonstrategie kommt der Forschung die zentrale Rolle in Europa zu.
Das 7. Forschungsrahmenprogramm ist ein riesengroßer Schritt nach vorne. Der European Research Council ist für die europäische Forschungsförderung eine Revolution. Wir sind stolz, dass er nach dem Modell der DFG konzipiert ist. Ich darf anmerken, dass unser Professor Winnacker, als langjähriger Präsident der DFG ein erfahrener Mann, als Erster an der Spitze des ERC steht.
Wir wollen aber keine zentralistische europäische Forschungspolitik; das ist trotz der Stärkung des Gemeinschaftsprogramms nicht unser Ziel. Wir setzen auch in der Forschungspolitik auf das Subsidiaritätsprinzip. Die Aufgabe der EU-Forschungspolitik ist es, aus dem vielfältigen Mosaik der nationalen Forschungspolitiken ein stimmiges Bild zu machen, sie muss Synergien freisetzen und einen Mehrwert erzeugen. Wenn wir mit unserem Modell der EU-Forschungspolitik Erfolg haben wollen, kommt es entscheidend auf zwei Dinge an:
Erstens. Es kommt auf die Qualität an. Die EU-Forschungspolitik muss spitze sein. Das Forschungsrahmenprogramm ist ein Exzellenzinstrument, keine Gießkanne und kein Mittel zur Regionalentwicklung.
Exzellenz ist existenziell für unseren Erfolg.
Zweitens. Es kommt auf die Mitgliedstaaten an. Sie müssen mitziehen und auch national deutlich mehr investieren. Deutschland ist mit der Hightech-Strategie Vorreiter in Europa. Sie ist genau abgepasst und komplementär zu den europäischen Aktivitäten. Wir werden unsere EU-Ratspräsidentschaft nutzen, um unsere Partner in Europa für die Hightechstrategie zu gewinnen und sie mitzureißen. Wir wollen zahlreiche Nachahmer finden, um die Zukunft Europas mit zündenden Ideen zu gestalten.
Präsident Dr. Norbert Lammert:
Das Wort erhält nun der Kollege Dieter Grasedieck, SPD-Fraktion.
Dieter Grasedieck (SPD):
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Unser Präsident sprach zu Beginn von Harmonie. Wir sehen, dass Harmonien im Parlament eigentlich nur Schlaglichter sind. Ich dachte, dass die Opposition zu diesem Antrag grundsätzlich sagen würde: Das ist gut, wir hätten es nicht besser machen können. - Danach hätte man ja die Gründe nennen können. Das wäre gut gewesen. Aber: Absolute Fehlanzeige!
Die eigentliche Botschaft dieses Programms - das hat unter anderem auch Carsten Müller angesprochen - lautet: Team Europe. Mit einer gemeinsamen EU-Forschung gewinnen wir unsere Zukunft. Hier müssen wir einen Schwerpunkt setzen. Visionen und neue kreative Ideen entstehen durch Gespräche, Austausch und Zusammenarbeit. Dadurch können sehr viele neue Produkte entwickelt werden. Das ist das Ziel. Auf der einen Seite brauchen wir eine innovative Forschung, und auf der anderen Seite brauchen wir natürlich auch innovative Produktionen. Die Zeit zwischen diesen zwei Polen muss verkürzt werden. Das ist auch ein wichtiges Ziel, das mit diesem EU-Forschungsrahmenprogramm verfolgt wird. Es muss hier in Europa in der Zukunft zügiger laufen. Dadurch werden natürlich Arbeitsplätze abgesichert. An den verschiedensten Stellen waren wir dabei ganz sicher bereits erfolgreich.
Schauen Sie sich einmal die Regionen und die Zusammenarbeit dort an, zum Beispiel die Verbindung von Aachen und Belgien sowie den Niederlanden. Dabei haben nicht allein die Hochschulen zusammengearbeitet. Der Mittelstand war daran natürlich auch beteiligt. Das soll innerhalb dieses Forschungsrahmenprogramms auch herausgearbeitet werden. Die eigentliche Zielsetzung ist, dass sich das genau so entwickeln wird.
Europa und Deutschland waren dabei erfolgreich. Dies gilt trotz aller Turbulenzen aufgrund von Airbus in der letzten Zeit auch für den Bereich der Luft- und Raumfahrt. Wir haben hier viel erreicht. Hier entstehen viele neue Arbeitsplätze, die für die Zukunft natürlich abzusichern sind. Nach Aussage der Wissenschaftler wird es bis 2020 zu einer Verdopplung des Luftverkehrs kommen. Wenn das wirklich so kommt, dann werden der Mittelstand und auch die Kleinbetriebe natürlich davon profitieren. Die Spitzentechnologien müssen sich weiterentwickeln.
In diesem Zusammenhang kann man auch noch Ariane nennen. Mehrere Satelliten mit einem Gesamtgewicht von 8,3 Tonnen sind im vergangenen Jahr mit ihr in den Weltraum gebracht worden. Das ist ein europäisches Produkt. Deutschland hat davon natürlich profitiert. Auch die Satellitenforschung, die ich am Rande mit aufführe, war ein Erfolgsmodell hier in Deutschland, bei dem der Maschinenbau genauso wie die Elektrotechnik mit im Boot waren. Das werden wir durch dieses EU-Forschungsrahmenprogramm auch weiterhin betreiben. Dies ist eine wichtige Zielsetzung. Wir haben hier noch viel zu tun. Ich nenne zum Beispiel die Navigation für Blinde, die in der kommenden Zeit weiterentwickelt werden soll.
Im EU-Forschungsrahmenprogramm wird ein weiterer Schwerpunkt bei der Energietechnologie gesetzt. Hier kann man die Energieeffizienz herausstellen. Wir sparen nicht nur Strom bzw. Energie, wir reduzieren natürlich auch den CO2-Ausstoß. Auch das ist ein ganz wichtiger Punkt für die Zukunft, der von vielen bereits genannt worden ist. Durch die Energieeffizienz und die Forschung in diesem Bereich schaffen wir natürlich viele Arbeitsplätze.
Wir können einen Exportschlager daraus machen. Das entwickelt sich ja auch schon entsprechend. China und Russland brauchen hier Unterstützung. Die russischen Wissenschaftler sagen, dass man in Russland 40 Prozent der Energie einsparen kann. Unsere Industrie arbeitet auf diesem Gebiet natürlich schon intensiv.
Auch die erneuerbaren Energien sind ein Exportschlager in Deutschland. Wir müssen die Kraftwerkstechnologie in der kommenden Zeit weiterentwickeln. In Bezug auf CO2-freie Kraftwerke gibt es drei Modelle. Das muss verstärkt werden. Da müssen wir zusammenarbeiten, auch mit den anderen Ländern in Europa.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, es ist aber auch schon angesprochen worden, dass nicht nur die Technik unterstützt wird. Auch die Pädagogik, die Erziehungswissenschaften werden einbezogen. Zum Beispiel soll das E-Learning in der Bildung, in der Lehre als additives Element eingebaut werden. E-Learning-Elemente sollen den Präsenzunterricht in Form der Vorlesung an der Hochschule oder in der Schule ergänzen. Auch hier muss die Frage gestellt werden: Können wir - das ist ja ein wichtiges Ziel - die Qualität der Bildung durch solche Maßnahmen steigern? Auch da wird das EU-Forschungsrahmenprogramm helfen und unterstützen. 80 Prozent aller Projekte werden im Übrigen von unseren Wissenschaftlern begleitet. Auch dadurch schaffen wir Arbeitsplätze.
Zusammenfassend kann man sagen: Das EU-Forschungsrahmenprogramm schafft Arbeitsplätze in Deutschland; das ist ein ganz wichtiger Punkt. Nur gemeinsam mit Europa werden wir die Zukunft gewinnen.
Glück auf!
Präsident Dr. Norbert Lammert:
Letzter Redner zu diesem Tagesordnungspunkt ist der Kollege Jörg Tauss, ebenfalls für die SPD-Fraktion.
Jörg Tauss (SPD):
Trotz ?Glück auf“ kommt nicht der Steiger. - Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen! Liebe Kollegin Pieper, ich denke, wir sollten eines hier im Hause nicht tun. Es gibt zwei Themen, von denen wir wissen, dass sie an Stammtischen, in der Öffentlichkeit und auch in Teilen der Presse häufig sehr reißerisch dargestellt werden, nämlich Europa und Entwicklungshilfe. Wir sollten nicht der Versuchung erliegen, uns an einer solchen reißerischen Darstellung zu beteiligen. Deswegen fand ich Ihren Beitrag zur Entwicklungshilfe bezogen auf China nicht sehr glücklich. Weil das nicht zum ersten Mal der Fall war, will ich mir jetzt doch einmal erlauben, an dieser Stelle einen Satz dazu zu sagen.
Deutschland leistet in China Entwicklungshilfe - das ist richtig -, aber ausschließlich im Rahmen der Millenniumsziele. Wir fördern Umweltschutz und regenerative Energien. Wir fördern Aidsprävention im bevölkerungsreichsten Land der Welt, meine sehr verehrten Damen und Herren. Wir fördern den Rechtsstaatsdialog und die Armutsbekämpfung. Ich glaube, die Zusammenarbeit mit China und die Entwicklung in China liegen in unserem elementaren Interesse, wenn China in Zukunft die Bedeutung haben wird, die diesem Land zugeschrieben wird.
Deswegen sollten wir hier nicht einfach sagen, wir würden mal eben 300 Millionen Euro nach China geben.
Europa ist oft genug in der Diskussion. Ich bin der Letzte, der hier sagen würde, er habe keine Kritik an dem einen oder anderen Punkt in Bezug auf Bürokratie und in anderen Bereichen gehabt - selbstverständlich. Wer hat keine Kritik? Auch im eigenen Land haben wir Hausaufgaben zu erledigen. Aber mit dem 7. Forschungsrahmenprogramm der EU hat Europa tatsächlich eine Leistung erbracht, natürlich mit Unterstützung der nationalen Regierungen und einem wesentlichen Beitrag der Bundesrepublik Deutschland, für den ich dankbar bin und der die Handschrift dieses Programms ein Stück weit ausmacht. Das heißt, die Schwerpunkte, die wir haben, sind in Europa anerkannt. Ohne unseren Beitrag wären diese Schwerpunkte, Kollege Fell, in Europa nicht übernommen worden. Wir sollten hier nicht so tun, als ob es da in diesem Programm irgendwelche Defizite gäbe und als ob wir unsere Hausaufgaben nicht erledigt hätten.
Die KMU-Förderung ist ein klassisches Beispiel. Für mich, Kollege Fell, ist die KMU-Förderung nicht zuvörderst Aufgabe des 7. Forschungsrahmenprogramms der EU. Selbstverständlich sollen vor allem kleine und mittlere technologiegetriebene Unternehmen Zugang zu diesem Programm haben. Aber KMU-Förderung ist zunächst einmal eine Hausaufgabe, die wir im eigenen Land erledigen müssen und erledigen wollen, was wir auch tun werden.
Wir haben in diesem Bereich einige Schwerpunkte gesetzt. Wir diskutieren im Moment noch mit dem Wirtschaftsministerium. Die Frage der Forschungsprämie betrifft zwar nicht die KMU-Förderung; aber sie ist ein ganz wesentlicher Beitrag dazu, dass kleine und mittlere Unternehmen, die bisher noch keinen Zugang zu Technologie haben, diesen bekommen. In diesem Bereich, Kollege Fell, haben wir also ebenfalls keine Defizite.
Aber nun zum Forschungsrahmenprogramm selbst. Es hat vier Schwerpunkte; sie sind in Teilen beschrieben worden. Ich will noch einmal auf die 54 Milliarden Euro zu sprechen kommen, damit alle sehen können, wo das Geld bis zum Jahr 2013 hinfließt.
Der erste Schwerpunkt in diesem Bereich ist die Kooperation, ausgestattet mit einem Finanzvolumen von 32 Milliarden Euro. Kollege Fell, hier liegen die Schwerpunkte selbstverständlich in den Bereichen Energie, Umwelt und Klimawandel. Was wäre das für ein Forschungsprogramm, wenn der Klimawandel, eine der zentralen Herausforderungen der Zukunft und der Menschheit, kein Thema wäre. Dieser Punkt ist im ersten Teil dieses Programms enthalten.
Es sind auch andere Teile enthalten: Gesundheit, Lebensmittel, Landwirtschaft und selbstverständlich auch Biotechnologie. Wir wollen schauen, wo da die Chancen liegen. Deswegen verniedlicht doch niemand die Risiken. Selbstverständlich spielen auch die Sozial- und Geisteswissenschaften eine wichtige Rolle in diesem Zusammenhang.
Das zweite Programm ?Ideen“ wird mit 7,5 Milliarden Euro ausgestattet. Die Förderung von Ideen halte ich für hochinteressant. Dazu soll auch der European Research Council gehören unter Leitung - das wurde schon mehrfach angesprochen - des Generalsekretärs Winnacker. Ich glaube, es eröffnet hervorragende Möglichkeiten, wenn wir über dieses Programm die kreativsten Forscherinnen und Forscher in Europa fördern wollen. Das ist Aufgabe dieses Bereichs.
Mit dem dritten Programm ?Menschen“ sollen die sogenannten Marie-Curie-Maßnahmen verstärkt werden. Das ist von der Ministerin schon angesprochen worden. Hier wollen wir für den Forscherberuf werben. Wir wollen dafür werben, dass mehr junge Menschen in den Bereich Wissenschaft gehen und dass - das ist ein deutsches Problem und kein europäisches Problem - mehr junge Frauen in die Wissenschaft gehen.
Es ist eine Schande für Deutschland, dass es uns nicht wie anderen europäischen Staaten und anderen Staaten in der Welt gelingt, junge Frauen für den Bereich Wissenschaft zu gewinnen. Das wäre aber aufgrund unseres Bedarfs notwendig und würde dem Begabungspotenzial der Frauen entsprechen. Das heißt also, auch hier liegen Chancen des Programms. Ich hoffe, dass das auch für uns zutrifft.
Der vierte Programmteil trägt die Überschrift ?Kapazitäten“. Es geht darin um Forschung und Innovation. Dazu zählen die Forschungsinfrastruktur und die KMU-Förderung, aber nicht mit der Gießkanne.
Frau Pieper, Sie haben wieder den ganzen Katalog alter Technologien aufgeführt. Über die Kernkraft könnten wir jetzt tagelang streiten. Ich halte es in Europa für einen gesellschaftspolitischen Skandal - darüber müssen wir diskutieren, wenn es um Europa geht -, dass der Bereich von Euratom der einzige Bereich ist, in den Milliardenbeträge fließen und bei dem die Parlamente keinen Zugriff haben und nicht mitreden dürfen.
Das zu ändern, muss einer der zentralen Punkte in der europäischen Verfassung sein. Deswegen bin ich für die europäische Verfassung. Es darf nicht sein, dass nichtdemokratisch legitimierte Strukturen ungeheure Beträge in eine Technologie stecken, über die man streiten kann.
Frau Pieper, in den letzten Wochen gab es in diesem Lande doch wirklich eine Aufbruchstimmung an den Universitäten. Die Exzellenzinitiative, die wir gestartet hatten, wurde in der letzten Zeit diskutiert, auch wenn es eine verzerrende Berichterstattung der Medien bis hin zur Tagesschau gegeben hat.
Präsident Dr. Norbert Lammert:
Herr Tauss, ich ahne, dass Sie sich jetzt in die Ihnen typische Betriebstemperatur geredet haben.
Jörg Tauss (SPD):
Ja, Sie haben völlig recht.
Präsident Dr. Norbert Lammert:
Wenn ich Ihren Redefluss jetzt nicht sanft und freundschaftlich beende, dann führt es zu einem unüberschaubaren, weil nicht absehbaren Finale.
Ich weise Sie also auf Ihre längst überschrittene Redezeit hin.
Jörg Tauss (SPD):
Herr Präsident, gestatten Sie mir dennoch eine Schlussbemerkung. Auch für Sie dürfte sie interessant sein.
Bei der Berichterstattung über die Exzellenzinitiative wurde so getan, als ob es um eine Art Bundesliga für Universitäten ginge. Wir haben aber auch hervorragende Universitäten, die nicht ausgezeichnet wurden und die für die Regionen, Stichwort ?Lehrerausbildung“, wichtig sind. Herr Präsident, ich bin dankbar, dass Sie mir gestatten, darauf hinzuweisen: Exzellenz ist wichtig, aber in Deutschland können wir auf die Breite unserer Hochschulen stolz sein. Diese müssen wir fördern und stärken.
Ich bedanke mich herzlich für die Aufmerksamkeit.
Präsident Dr. Norbert Lammert:
Herr Kollege Tauss, ich bestätige gerne, dass insbesondere Ihre Schlussbemerkung meinen Informationsstand wesentlich befördert hat.
Das wäre allerdings auch dann der Fall gewesen, wenn Sie sie gleich zu Beginn vorgetragen und pünktlich geschlossen hätten.
Ich schließe die Aussprache.
Wir kommen zur Beschlussempfehlung des Ausschusses für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung auf Drucksache 16/2891. Der Ausschuss empfiehlt unter Nr. 1 seiner Beschlussempfehlung die Annahme des Antrags der Fraktionen der CDU/CSU und SPD auf Drucksache 16/1547 mit dem Titel ?Innovationen für Deutschland durch das Siebte Forschungsrahmenprogramm der Europäischen Union“. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich der Stimme? - Die Beschlussempfehlung ist mit breiter Mehrheit angenommen.
Unter Nr. 2 seiner Beschlussempfehlung empfiehlt der Ausschuss die Ablehnung des Antrags der Fraktion des Bündnisses 90/Die Grünen auf Drucksache 16/710 mit dem Titel ?Zukunftsfähige Forschung in Europa stärken“. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich der Stimme? - Auch diese Beschlussempfehlung ist mit Mehrheit angenommen.
Zum Zusatzpunkt 2 gibt es die Beschlussempfehlung des Ausschusses für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung auf Drucksache 16/2738 zu dem Antrag der Fraktion der FDP mit dem Titel ?Voraussetzungen für Entwicklung, Bau und Betrieb einer Europäischen Spallations-Neutronenquelle in Deutschland schaffen - Deutsche Bewerbung vorantreiben“. Der Ausschuss empfiehlt, den Antrag auf Drucksache 16/386 abzulehnen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich der Stimme? - Auch diese Beschlussempfehlung ist mit Mehrheit angenommen.
Ich rufe die Tagesordnungspunkte 5 a und 5 b auf:
5. a) Erste Beratung des von den Abgeordneten Ernst Burgbacher, Dr. Heinrich L. Kolb, Jens Ackermann, weiteren Abgeordneten und der Fraktion der FDP eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des Gesetzes zum Schutz der arbeitenden Jugend (Jugendarbeitsschutzgesetz - JArbSchG)
- Drucksache 16/2094 -
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Arbeit und Soziales (f)
Rechtsausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung
Ausschuss für Tourismus
b) Erste Beratung des von den Abgeordneten Klaus Ernst, Hüseyin-Kenan Aydin, Karin Binder, weiteren Abgeordneten und der Fraktion der LINKEN eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des Jugendarbeitsschutzgesetzes
- Drucksache 16/3016 -
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Arbeit und Soziales (f)
Rechtsausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung
Ausschuss für Tourismus
Auch hier sind nach einer interfraktionellen Vereinbarung für die Aussprache 75 Minuten vorgesehen. - Dazu höre ich keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort erhält zunächst der Kollege Ernst Burgbacher für die FDP-Fraktion.
Ernst Burgbacher (FDP):
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! In dem vorliegenden Gesetzentwurf geht es um Arbeitsplätze im Hotel- und Gastronomiegewerbe. Gestatten Sie mir, einige Zahlen zu nennen: Einerseits steigt seit Jahren die Zahl der Ausbildungsplätze in diesem Bereich. Es gibt dort heute mehr als 100 000 Ausbildungsverhältnisse.
Allein 2005 wurden 43 000 Ausbildungsverträge neu geschlossen. Ich glaube, es ist durchaus an der Zeit, all den Unternehmerinnen und Unternehmern, die ihre Verantwortung wahrnehmen, ein ganz herzliches Dankeschön zu sagen.
Andererseits sagt uns die Bundesagentur für Arbeit, es gebe in diesem Bereich mehr offene Ausbildungsstellen als unvermittelte Bewerber. Im Herbst 2006 habe es über 22 000 offene Stellen für Köche und Servicepersonal im Gastgewerbe gegeben.
Ich will diesen Zahlen einen ganz konkreten Fall gegenüberstellen, der mir letzte Woche berichtet wurde. Florian, ein Hauptschüler, hat das große Berufsziel, Koch zu werden. Er macht in den Weihnachtsferien eine Schnupperlehre in der Küche eines großen Restaurants. Er ist hellauf begeistert, das Personal auch von ihm. Am Ende dieser Lehre wird ihm gesagt: Wir nehmen dich, aber erst in zwei Jahren. Versuche, diese zwei Jahre zu überbrücken! Mache irgendetwas! Wenn du 18 bist, dann kannst du wiederkommen. - Es ist für mich unerträglich, dass wir nach wie vor diesen Zustand haben.
Dass heute Jugendliche im Alter zwischen 16 und 18 Jahren nur bis 22 Uhr und vor Berufsschultagen nur bis 20 Uhr arbeiten dürfen, führt zu einer groben Benachteiligung von Haupt- und Realschülern gegenüber Gymnasiasten. Dies führt dazu, dass Ausbildungsplätze, die existieren könnten, nicht existieren. Es gäbe jährlich gut 2 000 mehr. Es ist unverantwortlich, diesen Zustand so beizubehalten.
Wir wollen nichts Revolutionäres. Wir wollen den täglichen Arbeitszeitrahmen um eine Stunde erhöhen, und zwar von 22 auf 23 Uhr und vor Berufsschultagen von 20 auf 21 Uhr. Auch die Jugendlichen selbst wollen das; das hören wir in vielen Gesprächen. Wer eine Lehre in diesem Bereich beginnt, weiß, dass er abends und am Wochenende arbeiten muss.
Jetzt gibt es eine Bund-Länder-Gruppe, die darüber diskutiert. Es ist genug diskutiert worden. Wir müssen endlich handeln.
Ich bin froh, dass sich eine Bundesratsinitiative aus Baden-Württemberg zu diesem Thema abzeichnet. Ich werde sie unterstützen.
Worum geht es denn? Die Regelungen des Jugendarbeitschutzgesetzes stammen von 1976. Seither hat sich einiges verändert. Das Ausgehverhalten zum Beispiel hat sich völlig verändert; die Ausgehzeiten haben sich nach hinten verlagert. Heute sind die Gaststätten um 18 oder 19 Uhr häufig noch leer; um 22 Uhr brummt dann der Bär.
Das Ausgehverhalten Jugendlicher hat sich verändert. Als ich 17 war, musste ich um 22 Uhr zu Hause sein.
Als meine Kinder 17 waren, haben sie sich um 22 Uhr darauf vorbereitet, wegzugehen. Das ist die Entwicklung, vor der wir nicht die Augen verschließen sollten.
Der DGB hat in einem Brief geschrieben: ?Auszubildende sollen etwas lernen und nicht als billige Arbeitskräfte missbraucht werden.“
Ich kann dazu nur feststellen: Der DGB hat nichts verstanden.
Das duale System, um das uns ganz Europa beneidet, basiert darauf, dass in der Berufsschule das theoretische Wissen und ein Teil der Praxis gelernt wird. Entscheidend ist aber, dass man mitbekommt, wie die Praxis aussieht. Das ist aber nicht möglich, wenn ein Laden stillsteht, sondern nur dann, wenn er läuft. Das ist das Problem. Zur Qualität der Ausbildung gehört, dass die Jugendlichen nicht dann arbeiten, wenn das Lokal leer ist dann, sondern dann, wenn die Gäste da sind.
Die Bundeskanzlerin hat in Ihrer Regierungserklärung gesagt:
Wir müssen immer wieder schauen: Wo sind Hürden, die Menschen den Weg in die Arbeitswelt versperren? Wir müssen lernen, dies möglichst vorurteilsfrei zu betrachten.
Hier gibt es eine Hürde, die wir ganz einfach wegräumen könnten. Deswegen appelliere ich insbesondere an die Union - Sie haben uns bisher immer zugestimmt -: Setzen Sie sich durch! Ich würde gern an einem Beispiel erkennen, dass auch Sie Mitglied der Koalition sind und sich auch einmal gegen die SPD durchsetzen können.
Manche Kolleginnen und Kollegen auf der linken Seite des Hauses tragen rote Buttons. Sie bedeuten offenbar ?Wir bremsen Jugendliche in ihren Chancen aus“.
Ich appelliere an Sie: Kommen Sie endlich in der Realität an! Erkennen Sie endlich, dass Ihre Schutzvorschriften junge Menschen in Wahrheit nicht schützen, sondern sie ihrer Chancen berauben! Das ist doch eine Tatsache.
Mit dem Antidiskriminierungsgesetz haben Sie auch Schutzvorschriften eingeführt. Heute erkennen wir, dass diejenigen, die Sie schützen wollen, weniger Chancen haben, einen Arbeitsplatz zu finden. Sie wollen Jugendliche anscheinend schützen. In der Realität nehmen Sie ihnen aber die Chancen auf einen Ausbildungsplatz und damit auch auf einen Arbeitsplatz. Sie haben aber gegenüber diesen Jugendlichen eine konkrete Verantwortung. Ich mahne an: Nehmen Sie diese Verantwortung wahr und kommen Sie endlich in der Realität an!
Präsident Dr. Norbert Lammert:
Nächster Redner ist der Kollege Paul Lehrieder, CDU/CSU-Fraktion.
Paul Lehrieder (CDU/CSU):
Sehr geehrter Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Liebe Kollegen von der FDP, insbesondere geschätzter Kollege Burgbacher, Ihr Anliegen, den Jugendarbeitsschutz punktuell flexibilisieren zu wollen, mag ehrenwert sein.
Sie haben ausgeführt, dass es im Gastgewerbe 22 000 offene Stellen gibt, und Sie haben diesmal statt der Tante Käthe den Florian zitiert, der nur dann die Chance hätte, einen Ausbildungsplatz zu bekommen, wenn er schon 18 Jahre alt wäre.
Ich glaube kaum, dass sehr viele kleine und mittelständische Unternehmen die Einstellung eines 16- bis 18-jährigen Jugendlichen davon abhängig machen, ob er über 22 Uhr hinaus arbeiten kann. Im Übrigen kann man die Gäste, die nach 22 Uhr noch ein Essen bestellen, an einer Hand abzählen. Im Barbetrieb werden die Jugendlichen in aller Regel ohnehin nicht eingesetzt.
Der Ausbildungszweck - das kann man objektiv festhalten - wird zwischen 22 und 23 Uhr nicht in nennenswertem Umfang gefördert.
Das Jugendarbeitsschutzgesetz steht als Ganzes auf dem Prüfstand. Kollege Burgbacher hat gezeigt, dass er das sehr wohl weiß.
Das Jugendarbeitsschutzgesetz, das seit 1976 in Kraft ist und seitdem nur partiell überarbeitet wurde, ist einer Gesamtrevision zu unterziehen. Wir ziehen einen ganzheitlichen Ansatz der Überprüfung von Gesetzentwürfen der Regelung von Einzelaspekten vor, die sich zudem noch widersprechen. Ich kann mir nicht vorstellen, dass die Linkspartei jubelt, wenn sie sich die liberale Forderung nach Verlängerung der Arbeitszeit bis 23 Uhr bzw. bis 21 Uhr auf der Zunge zergehen lässt. Umgekehrt glaube ich nicht, dass die Linken bei der FDP auf viel Gegenliebe stoßen, wenn sie junge Auszubildende bis 21 Jahre in das Jugendarbeitsschutzgesetz einbeziehen wollen. Ein 16-jähriger Jugendlicher dürfte statt bislang zwei Jahre bis zum 18. Lebensjahr dann bis zum 21. Lebensjahr, also noch einmal drei Jahre länger, mithin fünf Jahre nicht mehr als acht Stunden täglich und nur an fünf Tagen in der Woche arbeiten. Drei Jahre länger dürfte er in den meisten Branchen weder in der Nachtzeit zwischen 20 und 6 Uhr morgens noch am Wochenende arbeiten. Drei Jahre länger müssten Haupt- und Realschüler warten, bis sie sozusagen als fertige Berufstätige gelten. Inwieweit das potenzielle Ausbildungsbetriebe und Arbeitgeber zu mehr Angeboten animiert und ob das wirklich im Interesse der Jugendlichen ist, kann sich jeder selbst ausrechnen. Gerade Haupt- und Realschüler hätten dann gegenüber Abiturienten kaum noch eine ernst zu nehmende Chance.
Grundsätzlich bleibt festzuhalten: Natürlich beeinflusst das Jugendarbeitsschutzgesetz den Ausbildungsmarkt. Es verfolgt von der Intention des Gesetzgebers her ein anderes Ziel. Es soll Jugendliche vor Überforderung, Überbeanspruchung und den Gefahren am Arbeitsplatz entsprechend ihrem Entwicklungsstand schützen. Dabei ist es egal, ob sie noch ausgebildet werden oder schon Arbeitnehmer sind. Die Entwicklung eines Jugendlichen kann mit 18 Jahren gemeinhin als abgeschlossen gelten. Die Volljährigkeit mit 18 ist sonst unstrittig, meine Freunde von der Linkspartei. Irgendwo muss schließlich eine klare Grenze verlaufen. Für junge Erwachsene ist dann das Berufsbildungsgesetz mit besonderen Regelungen zum Schutz von Auszubildenden maßgeblich. Junge Erwachsene in den Geltungsbereich des Jugendarbeitsschutzgesetzes einzubeziehen, ist deshalb absolut nicht sinnvoll.
Für die FDP dagegen ist der Reifeprozess laut Gesetzentwurf schon viel früher abgeschlossen. Die Kollegen von der Linkspartei möchten ihn allerdings fast bis zur ewigen Jugend ausdehnen. Vielleicht sollten Sie sich als vereinte Opposition in der Mitte treffen. Dann wären wir wieder am Status quo, bei 18 Jahren.
- Es war nur ein gutgemeinter Vorschlag. Stellen Sie eine Zwischenfrage, Herr Westerwelle. Dann verlängert sich meine Redezeit.
Ein besonders hohes Gut im Jugendarbeitsschutzgesetz stellt die Nachtruhe dar. Gerade deshalb sollen die sich noch in der Entwicklung befindenden Jugendlichen grundsätzlich weder vor 6 Uhr noch nach 20 Uhr im Ausbildungsbetrieb Dienst tun. Aufgrund der dort herrschenden Besonderheiten können Jugendliche ab 16 Jahre bereits jetzt im Hotel- und Gaststättengewerbe bis 22 Uhr und bei Schichtdienst sogar bis 23 Uhr beschäftigt werden. Die Nachtruhe vor Berufsschultagen soll sicherstellen, dass Jugendliche am Folgetag ausgeruht und aufnahmefähig am Berufsschulunterricht teilnehmen können. Ein weiterer Aspekt, den wir nicht ignorieren sollten, ist die ÖPNV-Anbindung. Nur wenige Jugendliche im Alter von 16 bis 18 Jahren sind selbst motorisiert. Viele sind auf öffentliche Verkehrsmittel wie Busse angewiesen. Mit Ausnahme von Ballungsgebieten ist die Bedienungshäufigkeit nach 22 Uhr oft so schlecht, dass für viele Jugendliche nicht sichergestellt ist, mit öffentlichen Verkehrsmitteln heimzukommen. Das sollten wir nicht ganz außen vor lassen.
Die FDP fordert generell, die Arbeitszeit im Rahmen des Jugendarbeitsschutzes weiter in den Abend zu verschieben. Begründung: Das Freizeitverhalten der Jugendlichen habe sich verändert. Herr Burgbacher, Sie selbst haben gesagt, dass Ihre Kinder oft fortgehen, wenn Sie um 22 Uhr nach Hause kommen. Wir dürfen aber das selbstgewählte und von den Eltern tolerierte Freizeitverhalten nicht mit beruflichen Anforderungen vergleichen. Sonst vergleichen wir Äpfel mit Birnen. Wenn die Jugendlichen am Freitag und am Samstag bis in die Puppen in der Disko sind und am nächsten Tag ausschlafen können, dann darf man das nicht mit der Arbeitszeit vergleichen; das funktioniert nicht. Das allein ist kein hinreichender Anlass, das Gesetz zu ändern. Mögliche Freizeitaktivitäten üben weder auf die besondere Schutzbedürftigkeit Jugendlicher im Erwerbsleben noch auf den Schutzzweck des Gesetzes einen nachhaltigen Einfluss aus.
Zudem besteht ein Unterschied darin, dass Jugendliche die Dauer ihrer Freizeitaktivitäten selbst bestimmen können. Sie können in der Freizeit heimgehen, wenn sie wollen. Das können sie im Betrieb üblicherweise nicht. Sie sind in ihrer Freizeit selbst verantwortlich, während sie sich einer täglichen Arbeitszeit bis 23 Uhr bzw. 21 Uhr nicht entziehen können. Das Jugendarbeitsschutzgesetz soll - wie gerade erwähnt - gewährleisten, dass die Jugendlichen nach Feierabend über genügend Erholungszeit verfügen und sich gerade in der Klausurenphase auf die Berufsschule vorbereiten können.
Warten wir die Ergebnisse der Bund-Länder-Arbeitsgruppe ab. Sie ist dabei, das gesamte Jugendarbeitsschutzgesetz im Hinblick auf mögliche Ausbildungshemmnisse zu durchleuchten, immer unter der Voraussetzung, dass dabei die Sicherheit und der Gesundheitsschutz der Jugendlichen gewährleistet bleiben. Dabei wird auch die gesundheitliche Betreuung unter die Lupe genommen. Ich gehe davon aus, dass im Ergebnis ein 18-jähriger, was das betrifft, nicht schlechter gestellt sein wird als ein 16-jähriger Auszubildender. Dieses Vorhaben geht Hand in Hand mit den Plänen der Bundesregierung, die berufliche Bildung zu modernisieren und zu flexibilisieren. Das neue Berufsbildungsgesetz bietet dafür eine Reihe von Ansatzpunkten. So müssen die Ausbildungsberufe zügig entsprechend dem technischen Fortschritt erneuert werden. Bereits zum Herbst 2006 sind zum Beispiel 17 Ausbildungsordnungen modernisiert worden. Es sind vier neue Berufe geschaffen worden.
Sie sehen, das Jugendarbeitsschutzgesetz hängt mit den Arbeitsmarktreformen dieser Großen Koalition eng zusammen, die sich diese Regierung vorgenommen hat. Es beeinflusst den Ausbildungsmarkt mit und ist obendrein geprägt von unserer Verantwortung für Sicherheit und Wohlbefinden unserer Auszubildenden. Deshalb müssen wir es, wenn wir es tun, umfassend und umsichtig überarbeiten. Der Weg dahin ist beschritten. Lassen Sie uns deshalb gemeinsam die Ergebnisse der Bund-Länder-Kommission abwarten und diskutieren. Die Opposition von links und von rechts
ist natürlich herzlich eingeladen, fundierte Beiträge zur Debatte beizusteuern. Ich freue mich auf die Diskussion des Gesamtgesetzes.
Ich bedanke mich für die Aufmerksamkeit.
Präsident Dr. Norbert Lammert:
Das Wort erhält nun die Kollegin Diana Golze, Fraktion Die Linke.
Diana Golze (DIE LINKE):
Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Ich begrüße auch die auf der Tribüne anwesenden Aktivistinnen und Aktivisten der Gewerkschaftsjugend
und sage ihnen, dass die Fraktion Die Linke geschlossen hinter ihrer Forderung nach einem Erhalt des gesetzlichen Jugendarbeitsschutzes steht.
- Wen ich begrüße, darf ich ja wohl sagen.
Ich freue mich darüber, dass auch einige Abgeordnete aus anderen Fraktionen heute ein Zeichen gegen die Aushöhlung des Jugendarbeitsschutzes setzen.
Ich hoffe aber auch - das sage ich an die Adresse der SPD -, dass Sie hier heute
nicht nur wohlfeile Lippenbekenntnisse abgeben. Sie schwören öffentlich Eide auf den Erhalt des gesetzlichen Jugendarbeitsschutzes,
während im sozialdemokratisch geführten Arbeitsministerium munter die Fundamente des Gesetzes untergraben werden.
In den Anhörungen der Bund-Länder-Arbeitsgruppe, die seit September 2006 tagt, wird deutlich, dass es bei der geplanten Novellierung buchstäblich um den Kern des gesetzlichen Jugendarbeitsschutzes geht. Die Wochenend- und Nachtarbeitsverbote werden durch die Beamten aus den Ländern und aus dem Müntefering-Ministerium ebenso in Frage gestellt wie die Existenz der Ausschüsse für Jugendarbeitsschutz. Für uns sind die Schutzrechte von Jugendlichen aber keine Manövriermasse im Koalitionspoker, sondern politischer Kerninhalt. Deshalb sagen wir heute mit roten Buttons ?Stopp!“ und erklären uns mit den Protesten der Gewerkschaftsjugend solidarisch.
Eine Novellierung, eine Reform des Jugendarbeitsschutzes heißt für uns nicht weniger, sondern mehr und bessere Schutzrechte für Jugendliche. Deshalb wird hier und heute dem Bundestag das erste Mal seit Jahren eine Initiative zur weitreichenden Verbesserung des gesetzlichen Jugendarbeitsschutzes vorgelegt - von der Linksfraktion.
Das Parlament und seine Gäste müssen sich heute aber auch einmal mehr mit den neoliberalen Evergreens der FDP befassen. Ihr Refrain lautet, dass die Schutzrechte von Jugendlichen nur Ausbildungshemmnisse seien. Wie unsinnig solche Behauptungen sind, zeigt schon die Tatsache, dass seit 1976 mehrere Male am Jugendarbeitsschutz gesägt wurde. Im Jahr 2006 waren aber die Chancen von Jugendlichen auf einen betrieblichen Ausbildungsplatz schlechter denn je. Weniger Jugendarbeitsschutz schafft keinen einzigen neuen Ausbildungsplatz.
Liebe Kolleginnen und Kollegen der FDP, ein kleiner Rat am Rande: Sie legen heute zum dritten Mal seit 2003 dieselbe Initiative vor.
Sie sollten das Copy-and-Paste-Prinzip aber nicht ganz so unbesehen anwenden. Sie wollen nämlich in Ihrem Gesetzentwurf noch am Jugendarbeitsschutzgesetz in der Fassung vom 21. Dezember 2000 herumdoktern. Das stimmte, wenigstens formal, noch, als Sie diesen Gesetzentwurf 2004 das letzte Mal eingebracht haben. Mittlerweile haben wir das Jahr 2007, und Sie müssten sich korrekterweise auf die zuletzt am 21. Januar 2005 geänderte Fassung beziehen.
Ein kleiner Fehler, der viel über die Entstehungsweise Ihres Gesetzentwurfs besagt.
Bestellen Sie doch wenigstens Ihren Sekundanten aus dem Arbeitgeberlager, dass sie Ihnen formal korrekte Zuarbeiten machen.
Ich komme aus dem Land Brandenburg, wo die Situation am Ausbildungsmarkt noch dramatischer ist als anderswo. Wer die Realität in den Betrieben kennt, muss zu der Schlussfolgerung kommen, dass nicht ein Abbau, sondern ein Ausbau des Jugendarbeitsschutzes auf die Tagesordnung gehört. Vor einer Woche hat die Gewerkschaftsjugend den ?Berlin-Brandenburger Ausbildungsreport 2006“ veröffentlicht, der bestätigt, was viele Gespräche vermuten lassen: Jeder fünfte Azubi in der Region macht regelmäßig Überstunden, und nur jeder zweite von ihnen erhält dafür einen Ausgleich. Nehmen wir doch zum Beispiel einmal das bei der FDP so beliebte Hotel- und Gaststättengewerbe. Jeder fünfte Azubi unter 18 muss in Brandenburg regelmäßig mehr als 40 Stunden pro Woche arbeiten, was - nebenbei bemerkt - illegal ist. Jeder fünfte Azubi lernt so am Beginn seines Arbeitslebens erst einmal, dass seine Schutzrechte mit Füßen getreten werden. Einer solchen Branche wollen Sie mit Ihrem Gesetzentwurf auch noch entgegenkommen? In meinen Augen ist das ein Hohn.
Immer mehr Arbeitgeber beuten Auszubildende als billige Arbeitskräfte schamlos aus. Wenn das ein Ende haben soll, brauchen wir nicht weniger, sondern mehr Jugendarbeitsschutz. Vor allem müssen wir dafür sorgen, dass das Gesetz diejenigen erfasst, die es am Beginn ihres Arbeitslebens am nötigsten brauchen: die 1,6 Millionen Auszubildenden. Das ist der Kern unserer Initiative. Wir wollen den Geltungsbereich des Jugendarbeitsschutzgesetzes auf alle Beschäftigten ausweiten, die noch nicht 21 Jahre alt sind.
Lassen Sie mich erklären, was für diese Änderung spricht, bevor ich die Gegenargumente entkräfte. Der gesetzliche Jugendarbeitsschutz in Deutschland ist ungenügend. Jeder fünfte Arbeitsunfall betrifft die 15- bis 24-Jährigen. Ganz real heißt das: Alle drei Minuten von Montag bis Sonntag von 0 bis 24 Uhr - dreimal während meiner Redezeit - verunglückt ein junger Mensch am Arbeitsplatz; insgesamt verunglücken pro Jahr 165 000 junge Menschen. Europaweit liegt die Wahrscheinlichkeit, dass 18- bis 24-Jährige am Arbeitsplatz verletzt werden, um 50 Prozent über der anderer Altersgruppen. Der Gefahrenschwerpunkt liegt in der Frühphase von Ausbildung und Erwerbstätigkeit. Dann ist die Motivation hoch, während ein spezifisches Gefahrenbewusstsein erst herausgebildet wird. Ein wirksamer Jugendarbeitsschutz muss deshalb auch und vor allem Auszubildende erfassen.
Für unseren Vorschlag spricht die Tatsache, dass gegenwärtig drei von vier Auszubildenden vom gesetzlichen Arbeitsschutz gar nicht erfasst werden, ganz einfach, weil sie über 18 Jahre alt sind. Das durchschnittliche Alter für den Einstieg in eine betriebliche Ausbildung beträgt heute 18,8 Jahre. Ein Schutzgesetz, das diejenigen, die es am dringendsten brauchen, nicht mehr erfasst, ist wirkungslos und muss reformiert werden.
Solange die Schutzgrenze bei 18 Jahren liegt, erhalten Unternehmen auch noch einen Anreiz, nicht mehr Haupt- oder Realschüler als Auszubildende einzustellen, sondern Abiturienten, weil für die das Jugendarbeitsschutz nicht mehr gilt.
Ein Gesetz, durch das so falsche Anreize gesetzt werden, muss - ich wiederhole es - reformiert werden.
Nicht zuletzt Ihre Politik, meine Damen und Herren von der Koalition, ist eine Aufforderung zur Ausweitung des Jugendarbeitsschutzes. Wer künftig bis zum 67. Lebensjahr arbeiten soll, sollte doch wenigstens am Anfang so geschützt werden, dass er oder sie überhaupt so lange arbeiten kann.
Der Jugendarbeitsschutz von heute ist die soziale Sicherheit von morgen.
Nun sind die Einwände schon gekommen: Sie sagen, mehr Jugendarbeitsschutz schade den Chancen von Jugendlichen, einen Ausbildungsplatz zu finden.
Ich sage Ihnen, dass das allein deshalb nicht stimmt, weil die Arbeitgeber immer Ausreden finden werden, um ihre Ausbildungsverweigerung zu bemänteln.
Kein Schutzrecht in diesem Land wäre eingeführt worden, wenn wir vorher die Wirtschaft oder ihre Verbände um Einverständnis gefragt hätten.
Ein weiterer Einwand, der schon gemacht wurde, lautet, dass der Jugendarbeitsschutz den Einsatz von Auszubildenden so sehr behindere, dass die Ausbildungsziele nicht erreicht werden könnten. Das ist, gelinde gesagt, Unsinn, weil das Gesetz selbst unzählige Abweichungsmöglichkeiten enthält, durch die das verhindert werden kann.
Schließlich kam auch schon der Einwand, dass die Ausweitung des Jugendarbeitsschutzes auf alle Jugendlichen unter 21 Jahren den flexiblen Einsatz von jungen Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern, die keine Auszubildenden sind, verhindere. Auch dieser Einwand hält einer Prüfung nicht stand. Schließlich können zentrale Abweichungstatbestände über Tarifverträge mit den Gewerkschaften geregelt werden. Dann müssten sich Verbände wie der DEHOGA auf ihre eigentlichen Aufgaben zurückziehen.
Sie müssten dann nicht mehr ihre Energie und die Beiträge ihrer Mitglieder für die Initiierung solcher Gesetzesinitiativen verschwenden, sondern konstruktive Tarifverträge aushandeln.
Dann müsste der DEHOGA nicht länger mit der Peinlichkeit leben, dass - wie im November 2006 während des Verbandstages - draußen die Arbeitnehmer gegen Armutslöhne protestieren und drinnen die Bosse mit den Herren Westerwelle, Glos, Kuhn und Müntefering bei Schnittchen und Sekt schwatzen.
Zu guter Letzt werden wir sicher auch noch mit der neuen Einsicht beglückt, die Jugendlichen wollten ja eigentlich länger arbeiten, wenn sie das Gesetz nur ließe. Das ist von allen Argumentationen die zynischste; dabei missbraucht man die Ängste der Jugendlichen um ihren Ausbildungs- oder Arbeitsplatz, um den Abbau ihrer wichtigsten Schutzrechte zu ermöglichen.
Ich fasse zusammen: Die Gesetzesinitiative der FDP lehnen wir als inhumanen Angriff auf die Schutzrechte von Jugendlichen ab.
Den Plänen der Länder und des Bundes zur weiteren Aushöhlung des Jugendarbeitsschutzes werden wir unseren entschiedenen Widerstand entgegensetzen. Nach unserer Überzeugung gehört eine Ausweitung des gesetzlichen Jugendarbeitsschutzes auf die politische Tagesordnung. Die heute von uns vorgeschlagene Ausweitung des Schutzbereichs auf das 21. Lebensjahr kann hier nur der Anfang sein.
Unsere Fraktion wird noch 2007 einen umfassenden Vorschlag für die Reform des Jugendarbeitsschutzgesetzes vorlegen. Wir werden vorher mit den Betroffenen - mit Jugendvertretern, Gewerkschaften und Jugendverbänden - darüber diskutieren; deren Stimme ist uns nämlich wichtig, anscheinend wichtiger als manch anderem in diesem Hause.
Vielen Dank.
Präsident Dr. Norbert Lammert:
Das Wort hat nun der Kollege Wolfgang Grotthaus, SPD-Fraktion.
Wolfgang Grotthaus (SPD):
Danke schön für Ihr Vertrauen, Herr Westerwelle. Ich komme gleich zu Ihnen bzw. zu Herrn Burgbacher.
Es ist schon ein ziemlich starkes Stück, das Zustandekommen eines Lehrvertrages davon abhängig zu machen, ob jemand eine Stunde am Tag später arbeiten kann, auch wenn er das nicht muss.
Dabei wird die Arbeitszeit des Einzelnen nicht erweitert, sondern nur die Zeit, in der er arbeiten könnte.
Ich sage Ihnen: Die Beschränkungen des Jugendarbeitsschutzes haben nichts damit zu tun, dass Lehrverträge nicht abgeschlossen werden. Hier sollen junge Menschen in die Haft genommen werden, um politische Zielsetzungen zu erreichen.
Darüber sollten Sie einmal nachdenken. Ganz viele Unternehmerinnen und Unternehmer in diesem Gewerbe stellen unabhängig von den Zeiten im Jugendarbeitsschutzgesetz junge Menschen ein. Sie sollten vielleicht auf den Unternehmer, der den Florian nicht eingestellt hat, einwirken und ihn animieren, einmal darüber nachzudenken.
Sie begründen die Tatsache, dass weniger junge Menschen aus dem Haupt- und Realschulbereich eingestellt werden, mit den Beschränkungen des Jugendarbeitsschutzgesetzes. Sie sagen, hier setze ein Verdrängungsprozess ein, Abiturienten verdrängten Haupt- und Realschüler; deswegen müsse die zulässige Arbeitszeit im Rahmen des Jugendarbeitsschutzgesetzes geändert werden. Die Zielrichtung Ihres Antrages ist aber: Verzichtet auf Arbeitnehmerrechte, hier insbesondere auf den Gesundheitsschutz! Dann erfolgen mehr Einstellungen von Haupt- und Realschülern.
Man muss sich jetzt die Fragen stellen: Kann das richtig sein? Wie sieht die Realität aus? Dazu einige Anmerkungen: Das Gastgewerbe hat in den vergangenen Jahren seine Ausbildungszahlen deutlich gesteigert. Dazu haben Sie etwas gesagt; Sie haben Zahlen genannt und ein Dankeschön an die Unternehmerinnen und Unternehmer gerichtet. Den Dank möchte ich wiederholen.
Ich komme gleich aber zu einer anderen Schlussfolgerung als Sie. Herr Burgbacher, die reguläre Beschäftigung ist in den vergangenen Jahren zugleich überdurchschnittlich abgebaut worden. Die Zahl der neu abgeschlossenen Ausbildungsverträge mit Jugendlichen unter 18 Jahren ist zwischen 1996 und 2005 um 25 Prozent gestiegen, und zwar unabhängig von den Arbeitszeiten in diesem Gewerbe. Jetzt kommt der entscheidende Punkt: Nicht einmal jeder dritte Auszubildende wird nach der Ausbildung in ein Beschäftigungsverhältnis übernommen. In keiner anderen Branche ist die Übernahmequote geringer. Ein Schelm, wer dabei auf die Idee kommt, dass hier junge Menschen in der Ausbildungszeit als billige Arbeitskräfte genutzt werden. Ich appelliere an die Unternehmerinnen und Unternehmer insbesondere in diesem Gewerbe, den jungen Menschen auch nach ihrer Ausbildung eine Chance zu geben und sie in feste Beschäftigungsverhältnisse - das ist für uns der entscheidende Punkt - und nicht nur in befristete oder in 400-Euro-Jobs einzustellen.
Nun sagen die von mir genannten Zahlen letztlich aber noch nichts darüber aus, wie sich in den letzten Jahren das Verhältnis der Zahl der Abiturenten zu der Zahl der Haupt- und Realschüler verändert hat. Wenn es denn so sein sollte, dass Abiturienten immer mehr Haupt- und Realschüler verdrängen, dann hängt dies bestimmt nicht mit dem Jugendarbeitsschutzgesetz zusammen, sondern mit dem insgesamt mäßigen Angebot an Ausbildungsstellen am Markt. Hier setzt ein Verdrängungsprozess ein, der nicht durch den Abbau von Schutzrechten, sondern nur durch ein Mehrangebot an Ausbildungsplätzen seitens der Unternehmerinnen und Unternehmer aufzuhalten ist. Wenn diese Forderung im Antrag der FDP auftauchen würde, Kolleginnen und Kollegen der FDP, wäre das ehrlicher und diente der Sache aus unserer Sicht mehr.
Also, die Realität sieht anders aus. Deswegen kann Ihr Antrag nur so bewertet werden, dass es Ihnen um eine bestimmte Klientel oder - das scheint mir eher der Fall zu sein - um einen weiteren Abbau von Schutzmaßnahmen für Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer geht.
Der Antrag der Fraktion Die Linke beinhaltet das Gegenteil des FDP-Antrags. Der Kollege der CDU/CSU hat schon einen Vorschlag dazu gemacht, wie man sich da arithmetisch einigen kann.
- Genau! - Hier ist der typische Reflex der Linken festzustellen: Es wird ein Antrag ins Plenum eingebracht, der eine Verschlechterung in einem bestimmten Bereich vorsieht. Die Linke sagt dann: Wir müssen den Stand nicht nur halten, wir müssen noch etwas draufsatteln. Sie haben gesagt, das sei noch nicht das Ende. Da fällt mir die Jugendorganisation unserer Partei ein, die Jusos. Da liegt die Altersgrenze bei 35 Jahren. Vielleicht sollte - den Vorschlag will ich Ihnen von den Linken machen - diese Arbeitszeit nicht nur für Menschen bis 18 oder bis 21 Jahre, sondern für Menschen bis 35 Jahre gelten.
Sie werden dann ungeteilte Zustimmung zumindest bei einigen jungen Menschen finden.
Wir werden beide Anträge in der weiteren Behandlung ablehnen, weil man aus unserer Sicht bei beiden zu kurz gesprungen ist, und zwar deswegen, weil es bei der Änderung des Jugendarbeitsschutzgesetzes nicht nur um einen Punkt gehen kann. Wir sollten ähnlich wie bei der Novellierung des Betriebsverfassungsgesetzes in der letzten Wahlperiode - damit sage ich denjenigen, die die Diskussion mitbekommen haben, schon genug - überprüfen, ob ein 1976 beschlossenes Gesetz den heutigen Erfordernissen noch entspricht. Veränderungen im Betrieb, aber auch in der Gesellschaft können Veränderungen bei den Gesetzen notwendig machen. Deshalb ist es gut, dass es zu dieser Thematik einen Arbeitskreis auf Bund-Länder-Ebene gibt. Wir werden die Ergebnisse abwarten.
Wir werden sehr differenziert diskutieren - davon gehe ich aus - und danach die Frage der Notwendigkeit etwaiger gesetzlicher Änderungen bewerten. Dabei - das sage ich schon hier und heute ganz klar - wird das betriebliche Interesse nicht vor den gesundheitlichen Schutz von jungen Menschen gestellt, frei nach dem Motto: Du kannst froh sein, dass du einen Arbeitsplatz hast, auch wenn der krank macht und du keine Mitbestimmungsrechte hast.
Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Als nächste Rednerin hat das Wort die Kollegin Brigitte Pothmer vom Bündnis 90/Die Grünen.
Brigitte Pothmer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Der Jugendarbeitsschutz als Sündenbock für die Ausbildungsplatzmisere - mein Gott, welch eine schlichte Logik doch bei der FDP vorherrscht!
Abiturienten, so meinen Sie, nehmen den Hauptschülern Ausbildungsplätze weg, weil sie über 18 Jahre alt sind und nicht mehr unter das Jugendarbeitsschutzgesetz fallen. Herr Burgbacher, es trifft tatsächlich zu, dass der Anteil der Auszubildenden mit Hauptschulabschluss im Gaststättengewerbe zurückgegangen ist. Er liegt inzwischen bei 30 bis 35 Prozent. Das ist richtig. Das hat aber überhaupt nichts mit dem Jugendarbeitsschutzgesetz zu tun. Das liegt vielmehr an den auch in diesem Bereich gestiegenen Anforderungen. Der DEHOGA selbst sagt, dass nur noch die Hälfte aller Ausbildungsplätze in diesem Bereich für Hauptschülerinnen und Hauptschüler zugänglich ist. Da liegt das Problem und nicht im Jugendarbeitsschutzgesetz. Das hat etwas mit den gestiegenen Anforderungen zu tun. Es ist dramatisch, dass Hauptschülerinnen und Hauptschüler auf diese gestiegenen Anforderungen nicht vorbereitet sind. Hier versagt nicht der Jugendarbeitsschutz, sondern das föderale Bildungssystem, und zwar mit dramatischen Folgen.
Ich will Ihnen einmal sagen, wo die Arbeit eigentlich zu machen wäre. Nehmen wir einmal das Beispiel Niedersachsen, wo die FDP mit in der Regierungsverantwortung steht; sie strebt sie erneut an. In Niedersachsen verlassen fast 9 Prozent der Jugendlichen die Schule ohne Abschluss. Meine Damen und Herren von der FDP, das ist eine Aufgabe, um die Sie sich einmal kümmern müssten. Dieses Ergebnis ist wahrlich kein gutes Zeugnis Ihrer Arbeit dort.
Ob jemand einen Ausbildungsplatz findet, hängt in erster Linie von seiner Qualifikation ab. Das hängt von der Nationalität ab. Es hat auch mit regionalen Gegebenheiten zu tun. Mit einem hat es aber nichts zu tun, nämlich mit dem Jugendarbeitsschutzgesetz. Der Jugendarbeitsschutz ist notwendig. Er soll die Jugendlichen vor Überforderung und Gefahren schützen. Dieser Schutz muss nach unserer Ansicht auch weiterhin gewährleistet sein.
Herr Burgbacher, Sie haben heute wieder, wie schon in früheren Debatten, mit dem Ausgehverhalten der Jugendlichen argumentiert, frei nach dem Motto: Wer mit 16 in die Disco geht, kann auch bis 24 Uhr kellnern. Wie man bei uns zu Hause sagte: Wer feiern kann, der muss auch arbeiten können.
Im Prinzip habe ich ja nichts dagegen. Konsequenterweise müssten Sie dann aber das Prinzip des Freizeitverhaltens auf die Arbeitssituation ausdehnen. Dann muss auch dort gelten: Ich gehe feiern, wann ich will, ich gehe arbeiten, wann ich will, und ich gehe auch nach Hause, wann ich will. Wenn Sie dieses Freizeitprinzip auf die Arbeitssituation übertragen, dann kann daraus etwas werden.
Ich finde, Sie sollten diese törichten Argumente schlicht und ergreifend aus dem Spiel lassen. Jugendliche stehen doch deswegen unter dem besonderen Schutz des Staates, weil ihre psychische und physische Entwicklung mit 16 Jahren noch nicht abgeschlossen ist. Es macht Sinn, dass wir sie schützen.
Liebe Kolleginnen und Kollegen von der Linkspartei, das hat etwas mit dem Alter sowie der körperlichen und psychischen Entwicklung zu tun. Es kann doch nicht richtig sein, Auszubildende, die ihre Ausbildung erst mit 18 Jahren beginnen - das sind die meisten -, wie Kinder zu behandeln. Dieser Logik kann ich nicht folgen, und ich finde sie falsch. Ich glaube im Übrigen, dass die jungen Menschen das gar nicht wollen.
Frau Golze, ich habe Ihnen sehr genau zugehört. Ich habe auch Ihren Antrag sehr genau gelesen. Sie argumentieren mit der erhöhten Verletzungsgefahr. In der Begründung Ihres Antrags schreiben Sie aber selbst - ich zitiere -:
Der Schwerpunkt von Gefährdungen liegt zudem unabhängig vom Zeitpunkt des Beginns
- damit ist das Alter gemeint -
in der Frühphase von Ausbildungs- und Erwerbstätigkeit.
Die Gefährdung ist also vom Alter unabhängig. Die Gefährdung hat vielmehr damit zu tun, dass die Leute eine neue, eine ungewohnte Tätigkeit aufnehmen. Sie hat nicht in erster Linie mit dem Alter zu tun. Wir sehen daher keinen Änderungsbedarf beim Jugendarbeitsschutz, weder in die eine noch in die andere Richtung.
Herr Burgbacher, wenn Sie sich um die Behebung der Ausbildungsplatzmisere wirklich verdient machen wollen, müssen Sie gänzlich andere Dinge tun. Dann geht es um strukturelle Maßnahmen, um die Modularisierung von Ausbildungsgängen und darum, dass die Änderungen des Berufsausbildungsgesetzes von 2005 endlich auch in den Ländern umgesetzt werden. Vier von 16 Ländern haben das bisher getan. Darum sollten Sie sich einmal kümmern. Es geht auch darum, die duale Ausbildung grundsätzlich zu erweitern und zu modernisieren. Es geht vor allen Dingen darum, die schulische Ausbildung erheblich zu verbessern.
Wenn 25 Prozent eines Jahrganges gar keinen oder einen schlechten Schulabschluss haben, dann ist der zentrale Angriffspunkt an dieser Stelle. Es kann einfach nicht richtig sein, dass es in Deutschland immer noch Personen gibt, die die Schule mit dem Etikett ?Nicht ausbildungsfähig“ verlassen. Vor dieser Aufgabe stehen wir.
Ich habe das Gefühl, dass Sie das nicht wirklich interessiert. Sie begreifen sich eher als verlängerter Arm des DEHOGA. Denn der Gesetzentwurf, den Sie hier vorgelegt haben, entspricht eins zu eins dem, was der DEHOGA fordert.
Wahrscheinlich, Herr Westerwelle, hatten auch Sie eher den DEHOGA als die Jugendlichen im Blick, als Sie die FDP zum Anwalt der ?vergessenen Mitte“ ausgerufen haben. Gemeint haben Sie damit diejenigen - ich zitiere Sie jetzt einmal -, ?die morgens nicht liegen bleiben, sondern aufstehen, ihre Kinder zur Schule bringen und arbeiten gehen.“ Was soll das eigentlich heißen?
Heißt das, dass die 4 Millionen Menschen ohne Arbeit Faulenzer sind? Heißt das, dass sich Arbeitslose nicht um ihre Kinder kümmern? Heißt das, dass Schulabbrecher selber schuld sind? Herr Westerwelle, diese Fragen müssen Sie beantworten. Sie sind nicht der Anwalt der ?vergessenen Mitte“ der Gesellschaft, sondern mit dieser Politik kann man die FDP als Anwalt der Gesellschaft vergessen.
Ich danke Ihnen.
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms:
Das Wort hat jetzt der Kollege Ernst Hinsken von der CDU/CSU-Fraktion.
Ernst Hinsken (CDU/CSU):
Verehrter Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Ich verhehle nicht, dass ich mit vielem, was Herr Burgbacher hier ausführte, sympathisiere.
Ich werde im Laufe meiner Rede versuchen, das eine oder andere aus meiner Sicht zu beleuchten.
Ich glaube, dass gerade in dem Stadium, in dem wir uns jetzt befinden, auf die Arbeitsgruppe gesetzt werden muss, die bis zum März dieses Jahres zu einem Ergebnis kommen wird, das zugrunde gelegt wird, um eine akzeptable Lösung für alle Seiten zu finden, die zugleich als praktikabel bezeichnet werden kann.
Zu Ihnen, verehrte Frau Kollegin Golze, möchte ich nur sagen: Das, was Sie hier ausführten, war für mich Klassenkampf pur.
Aushöhlung des Jugendarbeitsschutzgesetzes, Ausbeutung, Horrorszenarien und dergleichen bestimmten Ihre Rede. Ich richte an Sie folgende Frage: Haben Sie überhaupt schon einmal einen Betrieb von innen gesehen, sodass Sie hier überhaupt mitreden können?
Denn Ihre Ausführungen waren völlig weltfremd.
Ich verweise deshalb darauf, dass es heute darum geht, dabei zu helfen, Entscheidungen herbeiführen, die dringend erforderlich sind, um der Jugendarbeitslosigkeit verstärkt begegnen zu können und noch mehr Ausbildungsplätze zu schaffen. Schließlich ist die Ausbildung der Schlüssel zur Zukunft.
Wir alle sagen ja: Alle Jugendlichen müssen einen Ausbildungsplatz bekommen.
Ich freue mich, heute sagen zu dürfen, dass zum Stichtag 30. September 2006 4,8 Prozent mehr Ausbildungsplätze zur Verfügung standen als im Vorjahr. Die gute Konjunktur macht sich nun auch auf dem Ausbildungsmarkt bemerkbar. Deshalb sage ich ein herzliches Dankeschön an alle Betriebe, die bereit waren, zusätzliche Ausbildungsplätze zur Verfügung zu stellen, um den jungen Mitbürgern das notwendige Rüstzeug für die Zukunft zu geben.
Insbesondere im Hotel- und Gaststättenbereich hat man eine federführende Rolle übernommen. Allein hier sind über 100 000 Azubis beschäftigt. In dieser Branche werden mittlerweile 9 Prozent der Ausbildungsverträge abgeschlossen. Sie ist Spitzenreiter. Das sollte einmal gesagt und anerkannt werden. Diese Zukunftsbranchen - so möchte ich Hotellerie und Gastronomie bezeichnen - könnten noch viel mehr ausbilden, wenn Restriktionen wegfielen.
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms:
Herr Kollege Hinsken, erlauben Sie eine Zwischenfrage der Kollegin Bulling-Schröter?
Ernst Hinsken (CDU/CSU):
Selbstverständlich, gern.
Eva Bulling-Schröter (DIE LINKE):
Danke schön. - Kollege Hinsken, ist Ihnen bekannt, dass man sich in den Berufsschulen darüber Gedanken macht, warum Azubis aus bestimmten Branchen sehr oft im Unterricht einschlafen?
In einem Artikel meiner Heimatzeitung, dem ?Donaukurier“, den Sie als Bayer ja kennen, stand, dass vor allen Dingen Azubis, die in einem touristischen Gebiet in der Nähe meines Wahlkreises im Gaststättengewerbe tätig sind, sehr lange arbeiten müssen und zu spät zum Unterricht kommen, weil sie vorher halbe Nächte durcharbeiten mussten. Wie stehen Sie dazu? Das ist in besagter Zeitung nachzulesen. Das heißt, es handelt sich hierbei um keine übertriebene Darstellung.
Ernst Hinsken (CDU/CSU):
Verehrte Frau Kollegin, ich weiß nicht, in welchen Schulen geschlafen wird.
Wenn das in Ihrer Heimat der Fall ist, dann bitte ich Sie, dafür zu sorgen, dass das möglichst bald abgestellt wird.
Außerdem ist für mich nicht nachvollziehbar, dass Schüler, wie Sie sagen, zu spät zum Unterricht kommen. Das liegt dann auch an der Schule. Diese hat ja die Möglichkeit, dafür zu sorgen, dass jeder so pünktlich erscheint, wie es auch beim Arbeitsplatz erwartet wird.
- Ich habe Ihre Frage sehr wohl verstanden.
In diesen Fällen sind, wie ich meine, nicht wir gefordert und gefragt, sondern hierfür gibt es gesetzliche Grundlagen. Wenn die eingehalten werden, dann trägt das dazu bei, dass die Schüler dem Schulunterricht folgen können, statt einzuschlafen.
Ihre Ausführungen kann ich auch insofern nicht nachvollziehen, als man ja gar nicht weiß, wo der Jugendliche am Abend vor dem Berufsschulunterricht war. War er im Betrieb oder war er zu guter Letzt in der Disco? Wenn er dort bis 24 Uhr oder 1 Uhr war, dann kann ich mir vorstellen, dass er müde ist und sich nicht so wie die anderen auf den Unterricht konzentrieren kann.
- Meine Kollegen signalisieren mir, ich solle mit der Rede fortfahren. Aber gut, ich lasse noch eine weitere Zwischenfrage zu.
Eva Bulling-Schröter (DIE LINKE):
Kollege Hinsken, ich habe jetzt bayerisch gesprochen; wir beide verstehen ja sehr gut Bayerisch. Es geht nicht darum, dass Schüler abends in der Disco oder sonst wo waren, sondern es war nachweislich so, dass sie wesentlich länger als acht Stunden und auch deutlich nach 22 Uhr arbeiten mussten, und das über Wochen hinweg. Es geht auch nicht darum, dass die Schüler faul oder undiszipliniert wären. Es liegt auch nicht an der Schule. Vielmehr haben in einigen Fällen Arbeitgeber ihre Azubis - Eltern haben sich sogar bei mir persönlich beschwert - sehr lange, also deutlich über 22 Uhr hinaus, arbeiten lassen, unter anderem auch deswegen, weil am Personal gespart wurde.
Ernst Hinsken (CDU/CSU):
Sie wissen, dass es gegen die gesetzlichen Grundlagen und Bestimmungen verstößt, wenn ein Azubi länger als acht Stunden zur Arbeit herangezogen wird. Wenn die gesetzlichen Grundlagen und Bestimmungen nicht eingehalten werden, dann sollten sich die Betroffenen - ich empfehle Ihnen, dies auch den Leuten, die zu Ihnen kommen, zu sagen - bei den zuständigen Ämtern darüber beschweren. Dann könnte kontrolliert werden, ob ihre Ausführungen zutreffend sind oder nicht.
Meine Damen und Herren, ich habe vorhin gesagt, dass es mir vor allen Dingen darum geht, dass Restriktionen wegfallen. Hier sind wir als Gesetzgeber gefragt. Eine Möglichkeit hierfür besteht in der Anpassung des Jugendarbeitsschutzgesetzes. Ich halte die Aussage des Präsidenten des Deutschen Hotel- und Gaststättenverbandes Ernst Fischer für interessant, dass allein durch eine generelle Heraufsetzung der Nachtruhegrenze bei Auszubildenden unter 18 Jahren auf 23 Uhr und an Tagen vor Berufsschulunterricht auf 21 Uhr mindestens 2 000 neue Ausbildungsplätze geschaffen werden könnten.
- Erstens glaube ich das, und zweitens finde ich das richtig, was er sagt. - Deshalb trete ich für eine Korrektur ein und hoffe, dass die Arbeitsgruppe, die sich mit diesen Fragen beschäftigt, zu entsprechenden Ergebnissen kommt;
denn was bei Mehrschichtbetrieben möglich ist, muss doch überall möglich sein.
Verehrte Frau Kollegin Pothmer, was in Österreich möglich ist - die haben das nämlich 2001 in dem Sinne geändert, wie der Antrag lautet; unter Umständen machen wir das ja auch -, das muss auch bei uns möglich sein. Da ist die Situation so, dass sie betriebsfreundlich ausgestaltet ist und dem Jugendlichen gesagt wird, wenn viel Umsatz da ist, wenn viel Arbeit da ist, dann lernst du am meisten und dann darfst du nicht durch Abwesenheit glänzen.
Schließlich hat sich die Praxis in den Betrieben verändert. Viele Betriebe - das kann nicht beiseitegeschoben werden - haben mittags geschlossen. Das Ausgehverhalten hat sich in die Abendstunden verlegt.
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms:
Herr Kollege Hinsken, entschuldigen Sie, dass ich Sie noch einmal unterbreche. Erlauben Sie eine Zwischenfrage der Kollegin Faße von der SPD-Fraktion?
Ernst Hinsken (CDU/CSU):
Selbstverständlich.
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms:
Bitte, Frau Faße.
Annette Faße (SPD):
Sehr geehrter Herr Kollege Hinsken, geben Sie mir Recht, dass wir im DEHOGA-Bereich Probleme haben, weil Stellen nicht besetzt sind? Könnte das vielleicht erstens daran liegen, dass schon diese Ausbildungsstellen sehr unattraktiv sind? Könnte es zweitens an der Bezahlung liegen? Könnten Sie mir drittens sagen, warum wir so viele Abbrüche in diesem Bereich haben? Müssten wir uns nicht viertens vermehrt damit auseinandersetzen, dass junge Leute in diesem Bereich sehr wohl ungesetzlich beschäftigt werden, statt uns damit auseinanderzusetzen, ob wir eine Stunde mehr oder weniger draufpacken? Ich glaube, wir müssen uns mit den Inhalten, mit der Form der Ausbildung in diesem Bereich sehr intensiv auseinandersetzen. Aber es kann nicht sein, dass hier gilt: Es sind unbesetzte Arbeitsplätze da, und das liegt an der Altersbeschränkung 18 Jahre. Geben Sie mir recht, dass hier eine Vielzahl von Themen bearbeitet werden muss, aber bestimmt nicht das letzte?
Ernst Hinsken (CDU/CSU):
Verehrte Frau Kollegin Faße, in verschiedener Hinsicht gebe ich Ihnen recht. Aber ich meine, gerade das, was Sie jetzt alles angesprochen haben, müsste einmal in den dafür zuständigen Gremien angesprochen werden. Es muss angesprochen werden, inwieweit das zutrifft, und wenn es zutrifft, müssen Maßnahmen ergriffen werden, um Missstände abzustellen. Ansonsten bin ich schon der Meinung, dass gerade im Hotellerie- und Gaststättenbereich - damit habe ich sehr viel zu tun - immer gute Arbeit geleistet wird, hervorragend ausgebildet wird.
Wenn wir immer wieder sagen, die Tourismusbranche ist eine Leitökonomie des 21. Jahrhunderts - und dazu gehören auch Hotellerie und Gastronomie -, dann sollten wir auch das Notwendige an Maßnahmen ergreifen, um vermehrt Ausbildungsplätze zur Verfügung zu stellen und Qualität während der Ausbildungszeit zu vermitteln, die wir dringend brauchen, um auch in Zukunft bestehen zu können.
Meine Damen und Herren, ich habe noch einmal ausgeführt, dass sich das Ausgehverhalten der Gäste in die Abendstunden verlagert hat. In den Sommermonaten sind die Restaurants oft noch um 22 Uhr voll besetzt. Und wenn der Azubi dann seine Tätigkeit beendet und den Löffel fallen lässt, dann stört das den Betriebsablauf. Im Restaurant muss doch die Arbeit dann gemacht werden, wenn sie anfällt.
Gastwirte müssen sich nach dem Gast richten und nicht umgekehrt. Dazu brauchen sie auch die Mitarbeiter.
Übrigens, die Ausnahme der Beschränkung bei Schichtbetrieben - dort haben wir es doch - benachteiligt vor allem kleine Unternehmen, und die bilden doch am meisten aus. Profitieren würden von einer solchen Regelung gerade die Real- und Hauptschüler, die noch nicht 18 Jahre alt sind. Die Gastronomie - das haben Gespräche ergeben - wäre zufriedener und würde es lieber sehen, wenn sie Real- und Hauptschüler bekommt - da die dauerhaft in der Branche bleiben -, anstatt nur Abiturienten einzustellen.
Ich habe auch - es ist mir ganz wichtig, das hier zu sagen - mit betroffenen Jugendlichen in Betrieben gesprochen, als ich dafür warb, vermehrt Ausbildungsplätze zur Verfügung zu stellen. Sie werden es nicht glauben - ich bin gerne bereit, den Kontakt zu diesen Jugendlichen zu vermitteln -: Da gab es verständnisvolle Reaktionen. Sie sehen es doch selber, dass man, wenn die meiste Arbeit da ist, nicht einfach nach Hause gehen kann, sondern bereit sein muss, mitzuhelfen, damit es im Betrieb einigermaßen läuft.
Die Ausdehnung der Arbeitszeit führt übrigens nicht zu einer Gesundheitsgefährdung. Schauen Sie, auch ein Bäckerlehrling ist nicht gefährdet, weil er schon als 17-Jähriger um 4 Uhr mit der Arbeit beginnen muss. Bereits jetzt dürfen Jugendliche ab 16 Jahren öffentliche Tanzveranstaltungen bis 24 Uhr allein besuchen.
Ich bin der festen Überzeugung, dass das ein vernünftiger und richtiger Schritt ist.
An dieser Stelle möchte ich an die Verhandlungspartner in der Bund-Länder-Kommission, die beim Bundesminister für Arbeit angesiedelt ist, appellieren: Geben wir uns doch alle einen Ruck, und gestalten wir die Ausbildungszeiten auf dem Sektor Hotellerie und Gastronomie so, wie ich es beschrieben habe! Niemandem fällt eine Perle aus der Krone, wenn er, ohne dass die Gesamtarbeitszeit verlängert wird, täglich eine Stunde länger arbeitet.
So könnten wir die Grundlage dafür schaffen, dass ordnungsgemäß ausgebildet werden kann und die Ausbildungsplätze, die wir dringend benötigen, auch in Zukunft vorgehalten werden können.
Herzlichen Dank für die Aufmerksamkeit.
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms:
Das Wort hat jetzt der Kollege Dr. Heinrich Kolb von der FDP-Fraktion.
Dr. Heinrich L. Kolb (FDP):
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Gestatten Sie mir zwei Vorbemerkungen. Erstens. Da ich nur vier Minuten Redezeit habe, lasse ich Zwischenfragen zu.
Zweitens. Das, was du, lieber Ernst, gesagt hast, werte ich als Bestätigung der Position der FDP. Du hast deine Aussage heute zwar ein bisschen verklausuliert - vielleicht gilt also doch Marx, dass das Sein das Bewusstsein bestimmt -, aber ich zitiere gerne, was du in der Debatte vom 10. März 2005 unmissverständlich ausgeführt hast:
Der Vorschlag der FDP, das Jugendarbeitsschutzgesetz zu ändern, findet … unsere volle Unterstützung. Warum? Weil er in die richtige Richtung geht. Es ist doch ein Ding der Unmöglichkeit, zu sagen, einem über 16-Jährigen sei es nicht zuzumuten, bis 23 Uhr zu arbeiten …
Das war damals noch der unverfälschte Originalton von Ernst Hinsken. Heute klang das ein bisschen modifizierter. Auch der Zwischenruf von Klaus Brähmig damals ist in diesem Zusammenhang interessant: dass das Jugendarbeitsschutzgesetz so schnell wie möglich abgeschafft gehört.
An dieser Stelle möchte ich beide beim Wort nehmen. Wenn richtig ist, was unser Altbundeskanzler Dr. Helmut Kohl gesagt hat
- entscheidend ist, was hinten herauskommt -, dann ist heute der Zeitpunkt gekommen, um zu springen und zu entscheiden. Hic Rhodus, hic salta!
Wenn im Jugendarbeitsschutzgesetz in der von beiden festgestellten Weise Restriktionen bestehen, dann ist beim Gesetzentwurf der FDP die Hand zu heben. Ich fordere zumindest alle Kolleginnen und Kollegen von der Union auf, unserem Gesetzentwurf zuzustimmen. Natürlich lade ich auch die Kolleginnen und Kollegen von der SPD ein, das Gleiche zu tun.
Dass die Bekämpfung der Jugendarbeitslosigkeit eine der zentralen Aufgaben unserer Arbeitsmarktpolitik und der Politik insgesamt ist, ist unbestritten. Aber die Politik muss auch dafür sorgen, dass es Rahmenbedingungen gibt, die es den Betrieben ermöglichen, auszubilden. Der Gesetzentwurf der FDP-Bundestagsfraktion ist ein Beitrag, bestehende Barrieren abzubauen, mit denen sich Jugendliche unter 18 Jahren bei der Ausbildungsplatzsuche insbesondere im Hotel- und Gaststättengewerbe konfrontiert sehen. Ich will es auf den Punkt bringen: Das Jugendarbeitsschutzgesetz soll Jugendliche bei der Arbeit schützen, aber es soll sie nicht vor der Arbeit schützen.
Deswegen muss man wirklich versuchen, die konkrete Einstellungssituation in den Blick zu nehmen und die Entscheidung der Betriebe nachzuvollziehen. Der 18-jährige Abiturient hat also das Prä.
Es wurde vom Kollegen Grotthaus darauf hingewiesen, dass nur ein Drittel aller Auszubildenden übernommen wird. Herr Kollege Grotthaus, dass dem so ist, könnte auch an den Auszubildenden liegen. Denn viele Abiturienten, die ihre Ausbildung in dieser Branche in der Tasche haben, beginnen anschließend mit einem Studium der Tourismuswirtschaft oder einer vergleichbaren Fachrichtung. Deswegen haben sie ihrerseits gar kein Interesse, nach ihrer Ausbildung dauerhaft in diesem Bereich zu arbeiten.
Die Betriebe hingegen würden sich sehr freuen, wenn mehr Haupt- und Realschüler ihre Ausbildung bei ihnen beginnen würden. Denn Haupt- und Realschüler bieten die Gewähr, auf Dauer im Unternehmen zu bleiben. Warum sollte man den Betrieben das nicht ermöglichen?
Ich finde es wieder einmal bemerkenswert, wie verquer die Linken denken. Das kann man sehr gut daran erkennen, wie Sie in Ihrem Gesetzentwurf argumentieren: Weil junge Menschen immer später in die Ausbildung eintreten, wollen Sie den Geltungsbereich des Jugendarbeitschutzgesetzes von 18 auf 21 Jahre ausdehnen. Das Gegenteil wäre richtig: Frühere Einschulung, kürzere Schulzeiten, kürzere Ausbildungszeiten, das wären die Antworten, die wir im Sinne des Ganzen und auch im Sinne der Finanzierung unserer Sozialsysteme geben müssten.
Ein Allerletztes - weil niemand Zwischenfragen gestellt hat; ich bin sehr enttäuscht, liebe Kolleginnen und Kollegen! -:
Räumen Sie auf mit der Mär, Auszubildende seien billige Arbeitskräfte! Das mag vor dreißig, vierzig Jahren so gewesen sein. Heute sind Auszubildende längst nicht mehr billige Arbeitskräfte. Wenn Sie sich die betriebswirtschaftlichen Kalkulationen ansehen, dann sehen Sie, dass Aushilfskräfte und Teilzeitkräfte für die Betriebe allemal billiger sind. Wir wollen aber, dass die jungen Menschen eine Chance bekommen. Dafür ist der Gesetzentwurf der FDP der richtige Weg. Ich empfehle Ihnen nochmals, ihm zuzustimmen.
Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms:
Das Wort hat jetzt die Kollegin Andrea Nahles von der SPD-Fraktion.
Andrea Nahles (SPD):
Lieber Herr Präsident! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Herr Kolb, wir haben - das ist mir durch Ihren Redebeitrag deutlich geworden - in der Tat eine große Lücke im Jugendarbeitsschutzgesetz: Es fehlt, dass man die Jugendlichen auch vor Ihnen, der FDP, schützen muss. Das scheint mir das größte Manko zu sein.
Es ist schon bedauerlich, dass wir uns ausgerechnet heute, wo die EU-Arbeitsminister und -Sozialminister im Rahmen unserer EU-Ratspräsidentschaft zum ersten Mal hier in Berlin zusammenkommen und das Thema ?Gute Arbeit“ behandeln, mit Ihrem Gesetzentwurf befassen müssen.
Ganz Europa versteht, dass wir die Lernbedingungen, die Weiterbildungsbedingungen für Arbeitnehmer verbessern müssen, für junge wie für alte. Ganz Europa versteht, dass wir nicht mehr Deregulierung brauchen, sondern mehr Prävention. Wenn die Leute bis 67 arbeiten sollen, müssen wir mit dem Gesundheitsschutz, mit dem Arbeitsschutz schon bei den Auszubildenden Ernst machen.
Ganz Europa begreift das, nur die FDP nicht. Es tut mir leid: Das ist ein Armutszeugnis.
Es ist eine Absurdität, hier zu hören, wir hätten die Realitäten nicht im Auge. Das haben wir sehr wohl. Schauen Sie einmal in den Ausbildungsreport, den der DGB dankenswerterweise angefertigt hat, und gucken Sie sich an, was die jungen Leute selber über ihre Ausbildungssituation berichten! Da haben wir zum Beispiel den Fall eines Kochs, der beschreibt, wie er jeden Tag mehr als zehn Stunden, meistens zwölf Stunden, arbeitet - auf der Basis des jetzigen Jugendarbeitsschutzgesetzes - und wie ihm die Chefin, wenn er sich ein bisschen Lernzeit ausbedingt, weil ihm die Ausbildung wichtig ist, mit Rausschmiss droht, wenn er nicht macht, was sie will. In Betrieben wird, gerade weil es einen Ausbildungsplatzmangel gibt, zunehmend Druck auf die Auszubildenden ausgeübt, sie werden de facto stückchenweise um ihre Rechte betrogen. Das sind die Realitäten in den Ausbildungsbetrieben. Dem jetzt auch noch das Siegel der Legitimation aufzudrücken, denen noch zu sagen: ?Jawohl, ihr tut recht, lasst es weiter so laufen“, das können wir nicht akzeptieren. Wir müssen uns vielmehr zum Anwalt der Interessen der jungen Menschen machen. Auch wenn es zu wenige Ausbildungsplätze gibt, ist uns die Situation in der Ausbildung nicht egal.
Das ist eine der zentralen Botschaften, die vom heutigen Tag ausgehen muss.
Ich will auch ganz klar sagen, dass wir hier von der FDP eine falsche Rechnung vorgeführt bekommen: dass weniger Jugendarbeitsschutz mehr Arbeitsplätze bedeute. Tatsache ist, dass wir bereits zweimal - 1984 sowie 1996 unter der Regierung Kohl, an der Sie von der FDP ja beteiligt waren -
deutliche Verschlechterungen der Jugendarbeitsschutzbedingungen hatten: Verlängerung der Arbeitszeiten, Schichtdienstverlängerung, all das, was Sie jetzt wieder fordern. Wenn wir uns aber anschauen, wie sich die Anzahl der Ausbildungsplätze im Zeitraum von 1984 über 1996 bis heute entwickelt hat, muss man feststellen: Das ist dramatisch.
Im Jahre 1984 gab es noch circa 720 000 betriebliche Ausbildungsplätze. Im Jahre 1996 gab es in Gesamtdeutschland nur noch ungefähr 600 000 betriebliche Ausbildungsplätze. Im Jahre 2005 gab es nur noch 590 000 betriebliche Ausbildungsplätze.
Das muss uns doch dazu ermuntern, die Ursachen dafür ehrlich zu benennen. Das hat nichts damit zu tun, ob eine Stunde länger gearbeitet wird oder nicht, sondern das hat mit dem gravierenden Strukturwandel und damit zu tun, dass die Ausbildungsquoten in den Großbetrieben halbiert wurden. Das hat auch damit zu tun, dass sich immer mehr Betriebe aus der Ausbildungsverantwortung zurückgezogen haben. In Deutschland bilden mittlerweile nämlich nur noch 23 Prozent der Betriebe aus. Das sind die entscheidenden Skandale, über die wir reden müssen.
Ich sage von meiner Seite: Der Ausbildungspakt hat im letzten Jahr nur gerade so eben und mit größter Mühe sowie übrigens einer massiven staatlichen Hilfe - wir haben die EQJs ausgebaut - funktioniert. Das war okay. Für das Jahr 2007 kann das aber wahrscheinlich nicht das letzte Wort gewesen sein. Wir müssen diesen Ausbildungspakt weiterentwickeln, damit wir den jungen Leuten am Ende auch entsprechende Ausbildungsangebote machen können.
Ein weiterer Punkt. Das Ganze geht ja auf das Saarland zurück. Wir haben heute auch hier gehört, dass es in der Union einige Befürworter gibt. Ich selber komme aus Rheinland-Pfalz, wo die Strukturen, wie Sie wissen, sehr ähnlich wie die im Saarland sind. Es ist sehr interessant, zu beobachten, wie die Realitäten dort aussehen.
Vor wenigen Tagen war ich in der Arbeitsagentur in meinem Wahlkreis. Mir fiel dabei auf, dass der Zuwachs bei den freien Fördermitteln sehr groß war. Ich habe gefragt, warum sie besonders viele Zuwächse bei der Gewährung von Mitteln nach § 10 SGB III haben. Sie berichteten mir: Na ja, wir mussten den Auszubildenden in letzter Zeit sehr oft und mit sehr unkonventionellen Dingen unter die Arme greifen. Wir kaufen ihnen zum Teil Mofas und Mopede oder unterstützen sie dabei.
Ich habe nachgefragt: Mofas und Mopede? Das hätte ich mir auch gewünscht. - Das, was dahinter steckt, ist ganz banal: Die jungen Menschen müssen immer weiter zu ihrem Ausbildungsplatz fahren, nämlich 20 oder auch 30 Kilometer.
Selbstverständlich gibt es weder bei Ihnen im Saarland, wo Herr Müller die Anliegen des DEHOGA unterstützt, noch bei uns in der Eifel einen ausreichenden öffentlichen Personennahverkehr. Dadurch sind die jungen Leute ernstlich gezwungen, mit ihren Mofas - den Achtzigern, wie sie so schön heißen - durch die Gegend zu düsen. Im Sommer ist das vielleicht kein Problem, aber bei einem Wetter wie heute und im tiefen Winter ist das anders.
16- und 17-Jährige müssen zusätzlich zu ihrer eigentlichen Berufsausbildungszeit weite Wege mit einer kleinen Achtziger bzw. einem Moped zurücklegen. Das ist in den ländlichen Regionen in Deutschland kein Einzelfall. Ich frage mich: Wollen wir ihnen noch zusätzliche Arbeitszeit auf die Schultern packen? Ich sage: Nein. An dieser Stelle muss ganz klar auch das Recht der jungen Leute gesehen werden.
Lassen Sie mich als Letztes sagen: Ich höre von Ihnen immer das Wort ?Generationengerechtigkeit“. Die FDP sagt immer wieder, Generationengerechtigkeit habe für sie Priorität. Ich höre das immer dann, wenn es um die Rente geht und Sie den Leuten sagen, dass sie mehr Eigenverantwortung übernehmen müssen. In Wirklichkeit geht es dabei um die privaten Versicherungen, die Profite machen, wenn zusätzliche Lebensversicherungen abgeschlossen werden.
Wenn es bezüglich der Generationengerechtigkeit um die Rechte von jungen Menschen und der jungen Generation geht, dann ist bei Ihnen aber Fehlanzeige.
Sie sollten wirklich versuchen, die Generationengerechtigkeit nicht nur dann auf Ihren Schild zu heben, wenn es einzelnen Interessengruppen nutzt, sondern Sie sollten die Generationengerechtigkeit auch als etwas begreifen, was beim Arbeitsschutz und bei den Arbeitsbedingungen der jungen Menschen in der Ausbildung anfängt.
Vielen Dank.
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms:
Das Wort hat jetzt die Kollegin Gitta Connemann von der CDU/CSU-Fraktion.
Gitta Connemann (CDU/CSU):
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Sie alle kennen bestimmt die Geschichte vom Hans Guckindieluft:
Wenn der Hans zur Schule ging,
Stets sein Blick am Himmel hing.
Nach den Dächern, Wolken, Schwalben
schaut er aufwärts, allenthalben:
Vor die eignen Füße dicht,
Ja, da sah der Bursche nicht.
So heißt es im ?Struwwelpeter“. Ich zitiere daraus heute nicht, weil es um Jugendliche geht, sondern weil mich einige Wortbeiträge, aber auch die vorliegenden Anträge an das Verhalten von Hans erinnern. Sie richten den Blick nur auf das, was sie sehen wollen, aber nicht auf die Realität.
Dabei verdient das Jugendarbeitsschutzgesetz sicherlich eine ernsthaftere Debatte, als sie heute stattgefunden hat. Denn immerhin geht es darin um den Schutz von Jugendlichen vor Überforderung und Gefahren am Ausbildungs- und Arbeitsplatz. So hat das Nachtarbeitsverbot des § 14 den Zweck, den Jugendlichen eine ausreichende Nachtruhe zu sichern.
Eine ausreichende Nachtruhe ist für jeden Menschen lebenswichtig, für junge, in der Entwicklung stehende Menschen ganz besonders.
So heißt es in der amtlichen Begründung zum Gesetz.
Dieses Gesetz stammt aus dem Jahre 1976. Die Erkenntnis, dass Jugendliche eine ausreichende Nachtruhe brauchen, hat an Aktualität nichts verloren. Aber es gilt auch die Erkenntnis, dass Jugendliche von heute sich körperlich und geistig schneller entwickeln als vor 30 Jahren. Das möchte ich ausdrücklich nicht mit deren Freizeitverhalten begründen. Jugendliche gehen sicherlich heute länger aus als früher. Aber mögliche Freizeitaktivitäten und der Schutzzweck dieses Gesetzes stehen nicht auf demselben Blatt.
Es geht ausschließlich darum, welchen Schutzes Jugendliche bedürfen, und zwar angesichts ihrer Reife. Diese entwickelt sich heute schneller. Das hat der Gesetzgeber übrigens erkannt und weitgehend reagiert. Ich erinnere nur an die Herabsetzung der Volljährigkeitsgrenze von 21 auf 18 Jahre. Ein 18-Jähriger ist voll geschäftsfähig - mit allen Konsequenzen. Die Änderungen im Jugendschutzgesetz will ich hier gar nicht anführen. Auch weitere Beispiele ließen sich nennen.
Allein das wäre schon Argument genug, um das Jugendarbeitsschutzgesetz auf seine Aktualität hin zu prüfen. Hinzu kommt aber, dass die Novellierung angemahnt wird, und zwar zum einen von den Ländern und zum anderen auch von Ausbildungsbetrieben. Diese Ausbildungsbetriebe sollten wir ernst nehmen. Ich muss Ihnen sagen: Als ich hier den einen oder anderen Wortbeitrag gehört habe, hat es mich geschaudert, und zwar durchaus auch bei dem, was Sie gesagt haben, Frau Nahles, um das in aller Deutlichkeit zu sagen.
So eine verzerrte Wahrnehmung von Ausbildungsbetrieben! Es ist gar keine Frage: Ein Ausbildungsbetrieb, der sich nicht an die Vorschriften des Jugendarbeitsschutzgesetzes hält, wie sie dargestellt worden sind, verhält sich nicht nur nicht korrekt, sondern - ich bitte um Entschuldigung - das ist unter aller Sau, und dann sollte man ihn entsprechend anzeigen.
- Ich komme aus der Landwirtschaft; deswegen darf ich das so nennen.
Aber es geht in diesem Fall darum, ein Gesetz weiterzuentwickeln, und zwar im Sinne von Ausbildung. Denn eine Ausbildung ist das beste Kapital für die Zukunft junger Menschen. Erst diese gibt ihnen das Rückgrat für den Arbeitsmarkt. Da hat sich die Situation sicherlich entspannt; aber es gibt nach wie vor zu wenig Ausbildungsplätze, obwohl in Hotellerie und Gastronomie noch Ausbildungspotenzial vorhanden ist. Es gibt unbesetzte Stellen. Wenn genau diese Ausbildungsbetriebe sagen, sie hätten ein Problem mit einem bestimmten Gesetz, und wenn diese Ausbildungsbetriebe in der Vergangenheit unter Beweis gestellt haben, dass es ihnen wirklich um Ausbildung geht, indem sie auch in schlechten Zeiten immer wieder die Ausbildungsquote erhöht haben, dann sollten wir diese Ausbildungsbetriebe doch wenigstens anhören.
Es gibt die Klage, dass Jugendliche nur bis 22 Uhr arbeiten dürfen. Nur zur Klarstellung: Es geht hier nicht um die Verlängerung der Arbeitszeit, sondern um eine andere Verteilung der Beschäftigungszeiten.
Die entsprechenden Gründe sind genannt worden. Es ist auch gesagt worden, dass Schulabgänger unter 18 durch die Begrenzung auf 22 Uhr schlechtere Chancen haben, und zwar unabhängig vom formalen Schulabschluss, weil entscheidend das Ausbildungseintrittsalter ist. Das ist anhand der Zahlen des DIHK belegbar.
Es gibt weitere Ungereimtheiten. Herr Kollege Hinsken hat schon erwähnt, dass es für Mehrschichtbetriebe Ausnahmen gibt. Für mich persönlich ist nicht nachvollziehbar, wieso man bei einer Fast-Food-Kette bis 23 Uhr arbeiten darf, aber in einem benachbarten Hotelrestaurant nicht.
Hier besteht offensichtlich eine Ungleichbehandlung, die kaum durch den Gesundheitsschutz gerechtfertigt sein kann und die zulasten kleinerer Betriebe geht.
Frau Nahles, Sie haben ja recht, wenn Sie sagen, die Ausbildungsquote bei großen Betrieben sei massiv rückläufig. Wir haben Stabilität am Ausbildungsmarkt wegen der kleinen und mittleren Betriebe. Genau diesen sollten wir deshalb unter die Arme greifen.
Es gibt auf jeden Fall Gründe genug, über eine Novellierung des Jugendarbeitsschutzgesetzes nachzudenken. Die einschlägige EU-Richtlinie schafft Raum dafür. Der Kollege Hinsken hat bereits erwähnt, dass das Nachbarland Österreich davon schon Gebrauch gemacht hat.
Vor diesem Hintergrund hat der Länderausschuss für Arbeitsschutz und Sicherheitstechnik gefordert, das Jugendarbeitsschutzgesetz den heutigen Bedürfnissen anzupassen und zu modernisieren. Die von uns gemeinsam getragene Bundesregierung hat darauf reagiert und eine Bund-Länder-Arbeitsgruppe eingerichtet. Diese wird jetzt prüfen, ob Änderungen erforderlich sind, um die Ausbildungs- und Beschäftigungschancen junger Menschen zu verbessern.
Bei allen Überlegungen muss natürlich die Gewährleistung des Gesundheitsschutzes der Jugendlichen an erster Stelle stehen. Das ist überhaupt keine Frage. Denn eine Aktualisierung darf nicht auf Kosten ihrer Sicherheit gehen. Deswegen muss eine Gesamtprüfung stattfinden. Die Betonung liegt auf ?gesamt“.
In diesem Punkt richtet sich meine Kritik an die FDP.
Herr Kollege Burgbacher und Herr Kollege Kolb, ich schätze Sie als sachliche Kollegen. Aber Sie fordern hier nur eine punktuelle Überprüfung des Gesetzes. Wir brauchen aber eine Gesamtbetrachtung. Das wissen Sie; denn es sind auch Länder in dieser Arbeitsgruppe, an deren Regierung die FDP beteiligt ist. Ihre Forderung ist also nicht ganz nachvollziehbar.
Aufgabe der Arbeitsgruppe ist die Erarbeitung eines umfassenden Berichtes, der das Für und Wider insgesamt abwägt. Nur auf einer solchen Grundlage kann die Entscheidung gefällt werden, ob und wie das Jugendarbeitsschutzgesetz novelliert werden sollte. So stellt sich eine verantwortungsvolle Politik dar.
Meine Damen und Herren von der Linken, Sie haben bereits in der Vergangenheit gezeigt, dass es Ihnen darum nicht geht. Auch in diesem Fall ist es so. Auch heute zeichnen Sie sich durch eine Bewusstseinstrübung aus, die schon sprichwörtlich und eigentlich ermüdend ist. Das einzig Interessante an Ihren Initiativen ist inzwischen die Frage, mit welcher Kostümierung Sie diese begleiten.
T-Shirts, Tüten und Eisenkugeln; heute ist es der rote Button. Ich halte der Jugendabteilung des DGB-Bezirksverbandes Berlin-Brandenburg zugute, dass es dieser wirklich um den Gesundheitsschutz junger Menschen bei der Arbeit geht. Ihnen, meine Damen und Herren von der Linken, nehme ich das nicht ab. Das zeigt mir schon ein Blick auf Ihre Bundestagshomepage. Dort fordern Sie, die Grenze für das aktive und passive Wahlrecht auf 16 Jahre zu senken. Nach Ihrer Vorstellung dürfte also ein 16-Jähriger Mitglied des Deutschen Bundestages sein. Ein Mandat hat Pflichten, beispielsweise die Vertretung von vielen Menschen auch nach 22 Uhr. Ein 16-Jähriger könnte also noch um 23 Uhr als Abgeordneter tätig sein, aber nicht als Koch.
Das zeigt die Absurdität Ihres Antrages.
Ich bin froh, dass sich die Bundesregierung verantwortungsvoll zeigt. Wir brauchen eine vorurteilsfreie Prüfung - für Gesundheitsschutz und mehr Ausbildungsplätze.
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms:
Als letzter Redner zu diesem Tagesordnungspunkt hat der Kollege Willi Brase von der SPD-Fraktion das Wort.
Willi Brase (SPD):
Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Sehr geehrte Damen und Herren! Für mögliche 2 000 Ausbildungsplätze, verbunden mit dem Hinweis, dass angeblich so viele junge Leute mit Abi im Hotel- und Gaststättengewerbe als Auszubildende beschäftigt sind - nach Angaben der Bundesagentur für Arbeit sind es gerade einmal 1,3 Prozent -, leichtfertig das Jugendarbeitsschutzgesetz zu ändern, halte ich für den falschen Weg. Das sollten wir nicht machen.
Es fällt auf, dass immer dann, wenn betriebliche Ausbildungsplätze fehlen, gefordert wird - manchmal ist es ja schon fast egal, wie die wirtschaftliche Lage aussieht -: Wir müssen die Schutzrechte verändern. Ich sage dazu: verschlechtern. Dann wird gefordert: Wir müssen die Ausbildungsvergütungen senken. Manchmal wird auch gefordert: Wir müssen die Löhne nach unten drücken. Ich kann all denen, die das fordern, nur sagen: Gehen Sie nach Kamp-Lintfort und Bocholt zu den bei BenQ beschäftigten Arbeitnehmern! Die werden Ihnen sagen, welche bitteren Pillen sie in den letzten Monaten haben schlucken müssen. Es kann für uns kein Weg sein, so eine Politik zu machen.
Wir sehen keinen Handlungsbedarf, am bestehenden Jugendarbeitsschutzgesetz etwas zu verändern, und deshalb auch keine großartige Notwendigkeit, hier und heute auf das Arbeitspapier der saarländischen Regierung einzugehen. Mich erstaunt und wundert es, warum das Bundesland Saarland, das sagt: ?Wir brauchen mehr Ausbildungsplätze und wollen deshalb das Jugendarbeitsschutzgesetz ein Stück weit verändern“ - ich sage: zuungunsten der Jugendlichen verschlechtern -, nicht von den Möglichkeiten des Berufsbildungsgesetzes, das wir mit breitester Mehrheit beschlossen haben, Gebrauch macht. Ich erinnere zum Beispiel an den § 43 Abs. 2, der es in bestimmten Fällen endlich ermöglicht, eine vollzeitschulische Ausbildung unter Anerkennung als Berufsausbildung und mit Zulassung zur Kammerprüfung auf den Weg zu bringen.
Ich sage das deshalb, weil das Saarland nach einer Umfrage der Kultusministerkonferenz mittlerweile das einzige Bundesland ist, das in diesem Bereich nicht handeln will. Dazu sage ich: Lieber dort handeln, anstatt am Jugendarbeitsschutz herumzumäkeln!
Wir begrüßen ausdrücklich, dass sich die Gewerkschaftsjugend - ob nun auf regionaler, bezirklicher oder Bundesebene - mit Unterstützung der Jusos dieses Themas annimmt. Es ist noch nicht allzu lange her, da war über die Homepage www.azubi.de eine teilweise erschütternde Auflistung einzusehen, zu welchen ausbildungsfremden Tätigkeiten Auszubildende in sehr vielen Fällen - natürlich unter Druck - herangezogen wurden,
weil wir kein Überangebot an Ausbildungsplätzen haben. Angesichts der Tätigkeiten, die Auszubildende teilweise sogar in Verletzung des bestehenden Jugendarbeitsschutzgesetzes zu übernehmen haben, kann ich nur sagen: Wir sind gut beraten, dieser Sache nachzugehen und nicht leichtfertig Änderungen voranzutreiben, die das Ausmaß dieser Verstöße nachher möglicherweise noch vergrößern.
Mir ist es wichtig, festzustellen, dass die Frage des Arbeitsschutzes oder des Gesundheitsschutzes im Arbeitsleben eine Angelegenheit ist, die - meine Kollegin Frau Nahles hat darauf hingewiesen - nicht nur für junge Leute wichtig ist. Eine vernünftige betriebliche Gesundheitspolitik ist vielmehr während des gesamten Ausbildungs- und Arbeitslebens notwendig. Wenn wir wollen, dass die Menschen, sowohl was die Wochenarbeitszeit als auch teilweise die Lebensarbeitszeit angeht, länger arbeiten, dann müssen wir diesen Aspekt wesentlich stärker nach vorne bringen. Wir hoffen, dass es Franz Müntefering während der EU-Ratspräsidentschaft gelingt, das Bewusstsein, wie wichtig gutes und gesundes Arbeiten ist, auch im EU-Kontext zu stärken. Prävention muss die Perspektive der Zukunft sein, nicht die Verschlechterung der Arbeitsbedingungen der Menschen und schon gar nicht die der Auszubildenden.
Das Beste, was wir machen können, ist, dass wir die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer dazu ermuntern und aufrufen, da, wo sie es wollen und können, Betriebs- und Personalräte sowie Jugend- und Auszubildendenvertretungen zu bilden. Denn diese haben nach dem Gesetz die Aufgabe, mit dafür zu sorgen, dass Schutzvorschriften eingehalten und ausbildungsfremde Arbeiten verhindert werden. Überall dort, wo Betriebsräte sind, kann auch der Jugendarbeitsschutz vernünftig eingehalten werden. Wir möchten die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer ausdrücklich dazu ermuntern und auffordern, Betriebs- und Personalräte zu bilden.
Die Fraktion Die Linke hat in ihrem vorliegenden Gesetzentwurf gefordert, den Geltungsbereich des Jugendarbeitsschutzgesetzes auf Jugendliche bis 21 Jahre auszuweiten; dazu ist einiges gesagt worden. Es ist schwierig, zu sagen: Wir weiten den Geltungsbereich des Jugendarbeitsschutzgesetzes auf ein höheres Alter, also für Jugendliche bis 21 Jahre, aus. Da stellt sich für mich die Frage: Wie ist das im Kontext mit der Volljährigkeit ab 18 Jahre zu sehen? Ich konnte mit 18 Jahren noch nicht wählen. Ich hätte mich gefreut, wenn ich das gedurft hätte. Ich konnte aber schon mit 18 Jahren zur Bundeswehr gehen. Es gibt Zivildienstleistende, die 19 oder 20 Jahre alt sind. Manche Zivildienstleistende werden auch zur Nachtarbeit eingesetzt. Das ist bei einigen Organisationen notwendig. Wenn man leichtfertig beschließen würde, den Geltungsbereich des Jugendarbeitsschutzgesetzes auf Jugendliche bis 21 Jahre zu erweitern, dann würde das in diesem Bereich zu Problemen führen.
Ich will auf Folgendes hinaus: Bevor man zu einer Erweiterung des Geltungsbereichs des Gesetzes kommt, sollte man genauer darauf achten, welche Wirkungen damit für den gesamten Bereich verbunden wären. Wir wissen, dass sich 17-Jährige in der Regel darauf freuen, dass sie bald 18 werden, weil sie dann volljährig und voll geschäftsfähig sind. Damit stehen sie voll ihre Frau bzw. ihren Mann. Ich finde, dass das nach wie vor der beste Weg ist. Deshalb sehen wir derzeit keine Notwendigkeit, den Geltungsbereich des Gesetzes auf Jugendliche bis 21 Jahre zu erhöhen.
Es wird immer wieder gefordert, Ausbildungshemmnisse zu beseitigen, und behauptet, dazu gehöre auch das Jugendarbeitsschutzgesetz. Bis heute gibt es aber keine verlässliche Statistik, die belegt, dass mit weniger Jugendarbeitsschutz in massivem Umfang zusätzliche Ausbildungsplätze in der Bundesrepublik entstehen.
- Es gibt deshalb keine Statistik, weil dieser Punkt nicht entscheidend ist. Entscheidend sind verschiedene andere Faktoren wie die Erwartungen der Unternehmen, was Wachstum und Beschäftigung angeht. Des Weiteren finden teilweise Verdrängungsprozesse statt, die wir in den Griff bekommen müssen.
Wir können doch nicht darüber diskutieren, dass wir zukünftig das Ausbildungsalter in der beruflichen Bildung weiter anheben wollen. Wir müssen es in den nächsten Wochen, Monaten und Jahren vielmehr schaffen, das Ausbildungseinstiegsalter wieder zu senken. Diesen Weg müssen wir gehen.
Wenn auf Landesebene im Bildungsbereich die Verkürzung der Schulzeit bis zum Abitur von 13 auf zwölf Jahre geregelt würde, dann hätte das zur Folge, dass das Ausbildungseinstiegsalter entsprechend sinkt. Wenn wir diskutieren, dass in der schulischen Bildung manches verbessert werden muss, um die Fähigkeiten der jungen Leute hinsichtlich der Ausbildung wieder zu erweitern, dann geht es darum, dass sie nach zehn Jahren Pflichtschuljahren in die betriebliche Ausbildung eintreten können. Das ist der richtige Weg. Es hat keinen Sinn, das Jugendarbeitsschutzgesetz zu verschlechtern.
Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms:
Ich schließe die Aussprache.
Interfraktionell wird Überweisung der Gesetzentwürfe auf den Drucksachen16/2094 und 16/3016 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Gibt es anderweitige Vorschläge? - Das ist nicht der Fall. Dann sind die Überweisungen so beschlossen.
Ich rufe die Tagesordnungspunkte 28 a bis 28 c sowie Zusatzpunkt 3 auf:
28. a) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Umsetzung der Richtlinie des Europäischen Parlaments und des Rates über die Umwelthaftung zur Vermeidung und Sanierung von Umweltschäden
- Drucksache 16/3806 -
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
(f)
Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und
Verbraucherschutz
Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung
b) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Regelung des Statusrechts der Beamtinnen und Beamten in den Ländern (Beamtenstatusgesetz - BeamtStG)
- Drucksachen 16/4027, 16/4038 -
Überweisungsvorschlag:
Innenausschuss (f)
Rechtsausschuss
Verteidigungsausschuss
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung
c) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu der Vereinbarung vom 11. April 2006 zwischen der Regierung der Bundesrepublik Deutschland und der Regierung der Republik Polen über die Durchführung des Übereinkommens vom 25. Februar 1991 über die Umweltverträglichkeitsprüfung im grenzüberschreitenden Rahmen (Vertragsgesetz zur Deutsch-Polnischen UVP-Vereinbarung)
- Drucksache 16/4011 -
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
ZP 3 Beratung der Unterrichtung durch die deutsche Delegation des Deutschen Bundestages zur Euromediterranen Parlamentarischen Versammlung
Gründungsversammlung der Euromediterranen Parlamentarischen Versammlung am 22./23. März 2004 in Athen, Griechenland
- Drucksache 15/3414 -
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
(f)
Auswärtiger Ausschuss
Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe
Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und
Entwicklung
Es handelt sich um Überweisungen im vereinfachten Verfahren ohne Debatte.
Interfraktionell wird vorgeschlagen, die Vorlagen an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse zu überweisen. Zu Tagesordnungspunkt 28 b liegt inzwischen die Gegenäußerung der Bundesregierung zu der Stellungnahme des Bundesrates auf Drucksache 16/4038 vor, die wie die Vorlage auf Drucksache 16/4027 überwiesen werden soll. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall. Dann ist so beschlossen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 29 auf:
Beratung der Vierten Beschlussempfehlung des Wahlprüfungsausschusses
zu 11 gegen die Gültigkeit der Wahl zum 16. Deutschen Bundestag eingegangenen Wahleinsprüchen
- Drucksache 16/3900 -
Berichterstattung:
Abgeordnete Dr. Carl-Christian Dressel
Ernst Burgbacher
Hans-Christian Ströbele
Es handelt sich um die Beschlussfassung zu einer Vorlage, zu der keine Aussprache vorgesehen ist. Wird das Wort zur Berichterstattung gewünscht? - Das ist der Fall. Das Wort hat der Vorsitzende des Wahlprüfungsausschusses, der Abgeordnete Strobl. - Bitte schön.
Thomas Strobl (Heilbronn) (CDU/CSU):
Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Jeder Wahlberechtigte kann innerhalb von zwei Monaten nach dem Wahltag beim Deutschen Bundestag Einspruch gegen die Gültigkeit der Bundestagswahl einlegen. Insgesamt 195 solcher Wahleinsprüche sind nach der Bundestagswahl am 18. September 2005 eingegangen. 157 dieser Einsprüche hat der Bundestag bereits im letzten Jahr zurückgewiesen. Heute empfiehlt Ihnen der Wahlprüfungsausschuss die Zurückweisung weiterer elf Einsprüche. Neun davon betreffen die Kandidatur von Mitgliedern der WASG auf Listen der Linkspartei. Diese Wahlkooperation beider Parteien hat - nicht nur unter Staats- und Verfassungsrechtlern, sondern auch in der Öffentlichkeit - zu mitunter hitzigen Diskussionen geführt. Deshalb erlaube ich mir als Vorsitzender des Wahlprüfungsausschusses, unsere Beschlussempfehlungen mit einigen grundsätzlichen Bemerkungen kurz zu erläutern. Zugleich nutze ich die Gelegenheit für ein kleines Resümee unserer bisherigen Wahlprüfung und für einige grundsätzliche Anmerkungen zum Wahlprüfungsverfahren.
Ein erfolgreicher Wahleinspruch kann gravierende Folgen haben, nämlich eine Wiederholung der Bundestagswahl. Aus diesem Grunde sind die Anforderungen an eine Ungültigkeitserklärung der Wahl hoch. Erstens muss ein Verstoß gegen Vorgaben des Wahlrechts, ein sogenannter Wahlfehler, vorliegen. Zweitens muss dieser Wahlfehler mandatsrelevant sein. Das heißt, der Rechtsverstoß muss sich nachweisbar auf die Sitzverteilung im Deutschen Bundestag ausgewirkt haben oder mit einer gewissen Wahrscheinlichkeit zumindest ausgewirkt haben können. Diese hohen Hürden, Wahlfehler und Mandatsrelevanz, sind verantwortlich dafür, dass bisher noch nie eine Bundestagswahl für ungültig erklärt wurde, weder vom Deutschen Bundestag noch vom Bundesverfassungsgericht, das in zweiter Instanz für die Wahlprüfung zuständig ist, da alle Wahlprüfungsentscheidungen, die der Deutsche Bundestag trifft, vor dem Bundesverfassungsgericht in Karlsruhe angegriffen werden können.
Nun wäre es ein großes Missverständnis, anzunehmen, die Wahlprüfung sei praktisch bedeutungslos, da noch nie eine Bundestagswahl für ungültig erklärt wurde. Das Gegenteil ist der Fall; denn allein schon die Überprüfung der Vorbereitung und Durchführung der Wahl auf ihre Rechtmäßigkeit und erst recht die Aufdeckung von Wahlfehlern tragen dazu bei, dass die Wahlbehörden bei künftigen Wahlen sorgfältiger agieren und dass sich Wahlfehler nicht regelmäßig wiederholen. Deshalb geht der Wahlprüfungsausschuss jedem zulässigen Einspruch gründlich nach, auch wenn die fehlende Mandatsrelevanz des behaupteten Wahlfehlers auf der Hand liegen mag. Bei der Prüfung eines Einspruchs werden häufig Fragen im Hinblick auf die Praxistauglichkeit bestimmter Wahlrechtsvorschriften aufgeworfen. Es entspricht einer bewährten Praxis, die Bundesregierung dann in Form sogenannter Prüfbitten zu entsprechenden Reformüberlegungen zu veranlassen. Das Wahlprüfverfahren wird damit zum Impulsgeber für eine Fortentwicklung unseres Wahlrechts!
Das Gesagte spiegelt sich auch in den heute zur Entscheidung anstehenden Einsprüchen betreffend die Kandidatur von Mitgliedern der WASG auf Listen der Linkspartei wider. Der Ausschuss empfiehlt Ihnen die Zurückweisung dieser Einsprüche, weil er einen Wahlfehler, also einen Verstoß gegen das Wahlrecht, nicht feststellen konnte. Zwar geht das Bundeswahlgesetz davon aus, dass Listen nur von jeweils einer Partei eingereicht werden können. Es schreibt - anders als das Landtagswahlrecht in Schleswig-Holstein oder in Mecklenburg-Vorpommern - aber nicht vor, dass nur Mitglieder der einreichenden Partei über deren Liste kandidieren dürfen. Der Umstand, dass überhaupt Mitglieder der WASG auf den Listen der Linkspartei kandidierten, stand als solcher der Zulässigkeit dieser Listen also nicht entgegen.
Art und Umfang der Platzierung von WASG-Mitgliedern auf den Listen rechtfertigen nach Auffassung des Ausschusses auch nicht die Annahme, dass es sich nur noch formal um Listen der Linkspartei, materiell aber um die 5-Prozent-Klausel aushebelnde gemeinsame Listen beider Parteien gehandelt hätte. So fanden sich jeweils auf den ersten fünf Plätzen, die die aussichtsreichsten sind, stets mehr Mitglieder der Linkspartei als solche der WASG. Aufgrund der auf die Bildung einer gemeinsamen Partei ausgerichteten nachweisbaren Anstrengungen beider Parteien stellten sich die Listen als hinreichend homogen dar.
Dass Ihnen der Ausschuss die Zurückweisung der Einsprüche empfiehlt, heißt indessen nicht, dass sich damit die Frage, ob und gegebenenfalls in welchem Umfange eine Partei Nichtmitglieder auf ihre Listen setzen darf, ein für allemal erledigt hätte. Vielmehr wird noch - das ist in der Beschlussempfehlung ausdrücklich vermerkt - darüber zu reden sein, ob insoweit für künftige Bundestagswahlen nähere gesetzliche Vorgaben gemacht werden sollten.
De lege ferenda wäre freilich denkbar, dass nur Mitglieder der einreichenden Partei über deren Liste kandidieren dürfen.
Die große Aufmerksamkeit, die die Wahlkooperation von Linkspartei und WASG zu Recht gefunden hat, darf indessen nicht den Eindruck vermitteln, es handle sich dabei um das einzige bedeutende Thema der Wahlprüfung in dieser Wahlperiode. Vielmehr betrafen auch die bereits zurückgewiesenen Einsprüche wichtige Themen und warfen die Frage nach gesetzgeberischen Maßnahmen auf. Zu erinnern ist in diesem Zusammenhang sowohl an die Nachwahl in Dresden im Oktober 2005 als auch an die Versendung von mehr als 10 000 falschen Stimmzetteln an die Briefwähler der beiden Dortmunder Wahlkreise. Es gibt seitens des Bundesrates bereits einen Gesetzentwurf bzw. eine Entschließung, in der die Bundesregierung zur Überprüfung der einschlägigen Wahlrechtsbestimmungen aufgefordert wird. Ferner hat der Deutsche Bundestag die Bundesregierung anlässlich einschlägiger Wahleinsprüche gebeten, zu prüfen, wie sichergestellt werden kann, dass nur Wahlberechtigte an Bundestagswahlen teilnehmen. Hintergrund ist, dass nach dem seit 2000 geltenden Staatsangehörigkeitsrecht auch Deutsche, die im Inland leben, die deutsche Staatsangehörigkeit verlieren können, wenn sie eine ausländische Staatsangehörigkeit, zum Beispiel die türkische, annehmen. Hier ist von mehreren Tausend Fällen die Rede, in denen Deutsche durch die Annahme der türkischen Staatsbürgerschaft die deutsche Staatsbürgerschaft verloren und trotzdem an der Bundestagswahl teilgenommen haben sollen. Zu erwähnen sind weiterhin die Einsprüche, die die Zulässigkeit des Einsatzes von Wahlgeräten zum Gegenstand hatten. Sie zeugen, ebenso wie eine zurzeit anhängige öffentliche Petition, von einem offenbar weitverbreiteten Misstrauen gegen diese Form der Erleichterung der Abgabe und Zählung der Stimmen.
Bevor ich zum Schluss komme, möchte ich mich bei den Kolleginnen und Kollegen im Wahlprüfungsausschuss für die kollegiale Zusammenarbeit und beim Sekretariat des Ausschusses für die geleistete Unterstützung ganz herzlich bedanken. Ausdrücklich möchte ich dem langjährigen Sekretär des 1. Ausschusses, Herrn Dr. Winkelmann, danken. Er hat sich nicht nur um die Fortentwicklung des Wahlrechtes, sondern auch um die Fortentwicklung des Parlamentsrechtes hoch verdient gemacht.
Ich bitte Sie nun, liebe Kolleginnen und Kollegen, der Beschlussempfehlung zuzustimmen.
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms:
Vielen Dank für die Berichterstattung, Herr Kollege Strobl.
Wir kommen zur Abstimmung. Die Fraktion des Bündnisses 90/Die Grünen hat Einzelabstimmung zu den Empfehlungen des Ausschusses zu den Anlagen 1 bis 9 einerseits sowie 10 und 11 andererseits verlangt. Ich darf darauf hinweisen, dass in den Anlagen 1 bis 9 Entscheidungen enthalten sind, die die Zulassung der Landeslisten der Linkspartei/PDS betreffen. Bevor wir abstimmen, weise ich darauf hin, dass bei Nichtzustimmung zu den Ausschussbeschlussempfehlungen diese gemäß § 13 des Wahlprüfungsgesetzes als an den Wahlprüfungsausschuss zurückverwiesen gelten.
Wer stimmt für die Beschlussempfehlung des Wahlprüfungsausschusses zu den Anlagen 1 bis 9 auf Drucksache 16/3900? - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Die Beschlussempfehlung ist bei Enthaltung der Fraktion des Bündnisses 90/Die Grünen mit den Stimmen aller anderen Fraktionen angenommen.
Wer stimmt für die Beschlussempfehlung zu den Anlagen 10 und 11? - Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Diese Beschlussempfehlung ist einstimmig angenommen. Damit ist die Beschlussempfehlung auf Drucksache 16/3900 insgesamt angenommen.
[Der folgende Berichtsteil - und damit der gesamte Stenografische Bericht der 76. Sitzung - wird morgen,
Freitag, den 19. Januar 2007,
an dieser Stelle veröffentlicht.]