79. Sitzung
Berlin, Donnerstag, den 1. Februar 2007
Beginn: 9.00 Uhr
* * * * * * * * V O R A B - V E R Ö F F E N T L I C H U N G * * * * * * * *
* * * * * DER NACH § 117 GOBT AUTORISIERTEN FASSUNG * * * * *
* * * * * * * * VOR DER ENDGÜLTIGEN DRUCKLEGUNG * * * * * * * *
Präsident Dr. Norbert Lammert:
Die Sitzung ist eröffnet.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich begrüße Sie alle herzlich, wünsche Ihnen bzw. uns einen guten Morgen.
Vor Eintritt in die Tagesordnung habe ich einige amtliche Mitteilungen zu machen. Interfraktionell ist vereinbart worden, die verbundene Tagesordnung um die in der Zusatzpunktliste aufgeführten Punkte zu erweitern:
ZP 1 Aktuelle Stunde auf Verlangen der Fraktion der FDP:
Haltung der Bundesregierung zu Forderungen nach der Fortsetzung der Steinkohlesubventionen für einen Sockelbergbau
(siehe 78. Sitzung)
ZP 2 Weitere Überweisungen im vereinfachten Verfahren
(Ergänzung zu TOP 34)
a) Erste Beratung des von den Abgeordneten Irmingard Schewe-Gerigk, Volker Beck (Köln), Kai Gehring und der Fraktion des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Reform des Gesetzes über die Änderung der Vornamen und die Feststellung der Geschlechtszugehörigkeit in besonderen Fällen (Transsexuellengesetz - TSG)
- Drucksache 16/4148 -
Überweisungsvorschlag:
Innenausschuss (f)
Rechtsausschuss
b) Beratung des Antrags der Fraktionen der CDU/CSU, der SPD, der FDP und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN
Diaspora - Potenziale von Migrantinnen und Migranten für die Entwicklung der Herkunftsländer nutzen
- Drucksache 16/4164 -
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung
(f)
Auswärtiger Ausschuss
Innenausschuss
Finanzausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe
Haushaltsausschuss
ZP 3 Weitere abschließende Beratungen ohne Aussprache
(Ergänzung zu TOP 35)
a) Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses (2. Ausschuss)
Sammelübersicht 171 zu Petitionen
- Drucksache 16/4172 -
b) Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses (2. Ausschuss)
Sammelübersicht 172 zu Petitionen
- Drucksache 16/4173 -
c) Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses (2. Ausschuss)
Sammelübersicht 173 zu Petitionen
- Drucksache 16/4174 -
d) Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses (2. Ausschuss)
Sammelübersicht 174 zu Petitionen
- Drucksache 16/4175 -
e) Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses (2. Ausschuss)
Sammelübersicht 175 zu Petitionen
- Drucksache 16/4176 -
f) Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses (2. Ausschuss)
Sammelübersicht 176 zu Petitionen
- Drucksache 16/4177 -
g) Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses (2. Ausschuss)
Sammelübersicht 177 zu Petitionen
- Drucksache 16/4178 -
h) Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses (2. Ausschuss)
Sammelübersicht 178 zu Petitionen
- Drucksache 16/4179 -
i) Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses (2. Ausschuss)
Sammelübersicht 179 zu Petitionen
- Drucksache 16/4180 -
ZP 4 Aktuelle Stunde auf Verlangen der Fraktion der LINKEN:
Protestaktionen der Gewerkschaften zur Heraufsetzung des Rentenalters
ZP 5 Beratung des Antrags der Abgeordneten Cornelia Pieper, Uwe Barth, Patrick Meinhardt, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP
Geistes-, Sozial- und Kulturwissenschaften stärken
- Drucksache 16/4153 -
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung (f)
Auswärtiger Ausschuss
Innenausschuss
Finanzausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Verteidigungsausschuss
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen
Union
Ausschuss für Kultur und Medien
Haushaltsausschuss
ZP 6 Beratung des Antrags der Abgeordneten Dr. Werner Hoyer, Sabine Leutheusser-Schnarrenberger, Harald Leibrecht, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP
Für eine konstruktive Zusammenarbeit mit Russland und einen kritischen Dialog
- Drucksache 16/4165 -
Überweisungsvorschlag:
Auswärtiger Ausschuss (f)
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen
Union
Haushaltsausschuss
ZP 7 Beratung des Berichts des Rechtsausschusses (6. Ausschuss) gemäß § 62 Abs. 2 der Geschäftsordnung
- zu dem Antrag der Abgeordneten Volker Beck (Köln), Irmingard Schewe-Gerigk, Grietje Bettin, weiterer Abgeordneter und der Fraktion des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN
Gleichstellung der eingetragenen Lebenspartnerschaft vollenden
- zu dem Antrag der Abgeordneten Jörg van Essen, Sabine Leutheusser-Schnarrenberger, Michael Kauch, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP
Gleiche Rechte gleiche Pflichten - Benachteiligungen von Lebenspartnerschaften abbauen
- Drucksachen 16/497, 16/565, 16/4057 -
Berichterstattung:
Abgeordneter Andreas Schmidt (Mülheim)
ZP 8 Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für die Angelegenheiten der Europäischen Union (21. Ausschuss) zu der Unterrichtung durch die Bundesregierung
Vorschlag für eine Verordnung des Rates zur Errichtung einer Agentur der Europäischen Union für die Grundrechte
Vorschlag für einen Beschluss des Rates zur Ermächtigung der Agentur der Europäischen Union für die Grundrechte, ihre Tätigkeiten in den Bereichen nach Titel VI des Vertrags über die Europäische Union auszuüben
KOM (2005) 280 endg.; Ratsdok. 10774/05
- Drucksachen 16/150 Nr. 2.65, 16/… -
Berichterstattung:
Abgeordnete Thomas Silberhorn
Josip Juratovic
Michael Link (Heilbronn)
Dr. Hakki Keskin
Omid Nouripour
ZP 9 Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe (17. Ausschuss)
- zu dem Antrag der Abgeordneten Volker Beck (Köln), Rainder Steenblock, Omid Nouripour, weiterer Abgeordneter und der Fraktion des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN
Die Rechte der Bürgerinnen und Bürger in der EU stärken - Mandat der Grundrechteagentur sinnvoll ausgestalten
- zu dem Antrag der Abgeordneten Markus Löning, Michael Link (Heilbronn), Christian Ahrendt, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP
Eine Grundrechteagentur der EU wird nicht gebraucht
- Drucksachen 16/3617, 16/3621, 16/4195 -
Berichterstattung:
Abgeordnete Holger Haibach
Christoph Strässer
Florian Toncar
Volker Beck (Köln)
ZP 10 Beratung des Antrags der Abgeordneten Wolfgang Wieland, Volker Beck (Köln) und der Fraktion des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN
Datenschutz und Bürgerrecht bei der Einführung biometrischer Ausweise wahren
- Drucksache 16/4159 -
Überweisungsvorschlag:
Innenausschuss (f)
Rechtsausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und
Verbraucherschutz
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung
Ausschuss für Tourismus
Ausschuss für Kultur und Medien
ZP 11 Beratung des Antrags der Fraktion des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN
Bekämpfung des Dopings im Sport
- Drucksache 16/4166 -
Überweisungsvorschlag:
Sportausschuss (f)
Innenausschuss
Rechtsausschuss
Ausschuss für Gesundheit
ZP 12 Beratung des Antrags der Abgeordneten Britta Haßelmann, Grietje Bettin, Ekin Deligöz, weiterer Abgeordneter und der Fraktion des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN
Das neue Bild vom Alter - Vielfalt und Potenziale anerkennen
- Drucksache 16/4163 -
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend (f)
Ausschuss für Arbeit und Soziales
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung
ZP 13 Beratung des Antrags der Abgeordneten Rainder Steenblock, Jürgen Trittin, Omid Nouripour, weiterer Abgeordneter und der Fraktion des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN
Berliner Erklärung - Werte und Aufgaben der EU im 21. Jahrhundert
- Drucksache 16/4171 -
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen
Union
ZP 14 Aktuelle Stunde auf Verlangen der Fraktion des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN:
Erneute Verschiebung der Reform der Pflegeversicherung - Auswirkungen auf die Pflegebedürftigen und ihre Angehörigen
Von der Frist für den Beginn der Beratungen soll, soweit erforderlich, abgewichen werden.
Der Tagesordnungspunkt 32 - Attraktivität des Soldatenberufes steigern - soll ohne Debatte an die Ausschüsse überwiesen werden. An der Stelle wird stattdessen der Punkt 24 - Turkmenistan - aufgerufen und sofort abgestimmt. Außerdem sollen der Tagesordnungspunkt 26 schon nach dem Tagesordnungspunkt 16 und der Tagesordnungspunkt 17 erst nach dem Tagesordnungspunkt 23 aufgerufen werden.
Das haben Sie alle sicherlich sorgfältig notiert. Für Rückfragen stehen wir hier oben aber gern zur Verfügung.
Schließlich mache ich noch auf zwei nachträgliche Ausschussüberweisungen im Anhang zur Zusatzpunktliste aufmerksam:
Der in der 23. Sitzung des Deutschen Bundestages überwiesene nachfolgende Gesetzentwurf soll zusätzlich dem Sportausschuss (5. Ausschuss) zur Mitberatung überwiesen werden.
Gesetzentwurf der Abgeordneten Hans-Joachim Otto (Frankfurt), Christoph Waitz, Dr. Claudia Winterstein, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP zur Änderung des Grundgesetzes (Staatsziel Kultur)
- Drucksache 16/387 -
überwiesen:
Rechtsausschuss (f)
Sportausschuss
Ausschuss
für Kultur und Medien
Der in der 71. Sitzung des Deutschen Bundestages überwiesene nachfolgende Antrag soll zusätzlich dem Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung (18. Ausschuss) zur Mitberatung überwiesen werden.
Antrag der Abgeordneten Rainder Steenblock, Jürgen Trittin, Omid Nouripour, weiterer Abgeordneter und der Fraktion des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN
Forderungen an die deutsche EU-Ratspräsidentschaft - Ratspräsidentschaft für eine zukunftsfähige EU nutzen
- Drucksache 16/3327 -
überwiesen:
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
(f)
Auswärtiger Ausschuss
Innenausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung
Sind Sie mit den vorgetragenen Vereinbarungen einverstanden? - Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.
Ich rufe die Tagesordnungspunkte 3 a bis 3 d auf:
3. a) Beratung der Unterrichtung durch die Bundesregierung
Jahreswirtschaftsbericht 2007 der Bundesregierung
Den Aufschwung für Reformen nutzen
- Drucksache 16/4170 -
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie (f)
Finanzausschuss
Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und
Verbraucherschutz
Ausschuss für Arbeit und Soziales
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für Gesundheit
Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung
Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und
Entwicklung
Ausschuss für Tourismus
Haushaltsausschuss
b) Beratung der Unterrichtung durch die Bundesregierung
Jahresgutachten 2006/07 des Sachverständigenrates zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung
- Drucksache 16/3450 -
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie (f)
Finanzausschuss
Ausschuss für Arbeit und Soziales
Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
Ausschuss für Tourismus
Haushaltsausschuss
c) Beratung der Unterrichtung durch die Bundesregierung
Sechzehntes Hauptgutachten der Monopolkommission 2004/2005
- Drucksache 16/2460 -
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie (f)
Finanzausschuss
Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung
Ausschuss für Tourismus
Ausschuss für Kultur und Medien
d) Beratung der Unterrichtung durch die Bundesregierung
Anlagenband
zum Sechzehnten Hauptgutachten der Monopolkommission 2004/2005
- Drucksache 16/2461 -
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie (f)
Finanzausschuss
Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung
Ausschuss für Tourismus
Ausschuss für Kultur und Medien
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für die Aussprache zwei Stunden vorgesehen. - Auch dazu höre ich keinen Widerspruch. Dann können wir so verfahren.
Ich eröffne die Aussprache und erteile das Wort dem Bundesminister für Wirtschaft und Technologie, Michael Glos.
Michael Glos, Bundesminister für Wirtschaft und Technologie:
Herr Präsident! Meine verehrten Kolleginnen und Kollegen! Nun sagen es auch die Statistiker: 2006 war ein sehr erfolgreiches Jahr. Wir hatten ein wirtschaftliches Wachstum von 2,5 Prozent. Wir haben damit die Prognosen aller Pessimisten weit übertroffen. Selbst die amtlichen Prognostiker haben dieses Wachstum nicht vorausgesehen. Es war die höchste Wachstumsrate seit dem Boomjahr 2000.
Ich komme jetzt zur Zukunft. Wir haben sehr gute Aussichten, das Wachstum fortzusetzen. Vor allem eines ist ganz besonders erfreulich: Die Arbeitslosigkeit ist binnen Jahresfrist um 764 000 verringert worden.
Ich bedanke mich in allererster Linie beim deutschen Mittelstand; denn die Arbeitsplätze, die neu und zusätzlich geschaffen worden sind, sind vor allem im Bereich der kleinen und mittleren Unternehmungen entstanden.
Wir haben aber auch große Fortschritte erzielt, was die Konsolidierung unseres öffentlichen Gemeinwesens anbelangt. Die Neuverschuldungsgrenze von 3 Prozent, die der Vertrag von Maastricht vorschreibt, ist nach fünf Jahren nicht wieder verletzt worden, sondern mit 1,9 Prozent wesentlich unterschritten worden. Das ist ein sehr akzeptables Ergebnis.
Deswegen haben wir ein sehr gutes Fundament, um das robuste Wachstum fortzusetzen. Das ist das Verdienst selbstverständlich von vielen, von den Beschäftigten und den Tarifparteien, die in den letzten Jahren Lohnzurückhaltung geübt haben - sonst wäre diese Position nicht zu erreichen gewesen -, aber auch von den Unternehmungen, die sich entsprechend aufgestellt haben, die ihre Bilanzen bereinigt haben und die sich vor allem dem internationalen Wettbewerb verstärkt gestellt haben. Aber es ist natürlich auch ein Verdienst der neuen Bundesregierung.
Unsere wirtschaftspolitische Strategie hat dem Land wieder Zukunftsperspektiven gegeben und vor allen Dingen Vertrauen zurückgebracht. Das Vertrauen ist in der Wirtschaftspolitik ein ungeheuer wertvolles Gut.
Deswegen müssen wir auch den Weg der Reformen weitergehen und insbesondere die Reformen jetzt zügig umsetzen, die wir versprochen haben; ich komme noch darauf. Den Optimismus, den ich teile, vertreten inzwischen Unternehmer, Investoren und zunehmend auch die Verbraucher. Das ist ganz besonders wichtig. Die Stimmen der Skeptiker - da braucht man nur nachzulesen, was allein in diesem Haus im Laufe des letzten Jahres alles gesagt worden ist -, die geglaubt haben, der Aufschwung werde durch die Umsatzsteuererhöhung zunichtegemacht, sind weniger geworden. Ich habe überhaupt nichts dagegen, dass man mahnt. Aber das ging teilweise weit über Mahnungen hinaus. Es war der Versuch, den Aufschwung kaputt zu reden.
An der positiven Tendenz ändern auch aktuelle Nachrichten über den Ifo-Geschäftsklimaindex und den Konsumklimaindex der GfK nichts. Die konjunkturelle Grundtendenz bleibt aufwärtsgerichtet.
Eines macht sich immer deutlicher bemerkbar: Wenn man keine Angst mehr um den Arbeitsplatz hat, dann wird man wieder ausgabefreudiger. Ich bin überzeugt, der private Konsum nimmt zu.
Auch für Investitionen sind die Voraussetzungen hervorragend. Die Kapazitätsauslastung ist inzwischen sehr gut. Die Gewinne entwickeln sich kräftig, vor allem bei exportorientierten Unternehmungen. Wir wissen, dass man nur aus Gewinnen investieren kann. Deswegen sind die Gewinne kein Selbstzweck. Außerdem haben wir Konkurrenz um international anlagesuchendes Kapital. Wir wollen, dass das Kapital nach Deutschland strömt und nicht Deutschland ausweicht, wie das jahrelang der Fall gewesen ist.
Das Wachstum ist bereits im letzten Jahr - das stimmt zusätzlich optimistisch - zu drei Vierteln aus einer anziehenden Inlandsnachfrage entstanden. Dieser Trend setzt sich fort, sodass wir nicht mehr so empfindlich sind, wenn außenwirtschaftliche Entwicklungen nicht so eintreten sollten, wie wir es gegenwärtig prognostizieren. Für 2007 haben deswegen alle Experten ihre Wachstumserwartungen hochgeschraubt. Sie bewegen sich zwischen 1,3 und 2,1 Prozent. Wir von der Bundesregierung stellen uns auf die sichere Seite. Unsere Wachstumsprognose beträgt rund 1 ? Prozent, spitz gerechnet: 1,7. Ich bin optimistisch, dass man im nächsten Jahr wieder sagen kann: Wir haben die Zielmarke überschritten und sind nicht daruntergeblieben.
Wir erwarten eine Zunahme der Zahl der Beschäftigten um 300 000 im Jahr 2007. Das ganz besonders Erfreuliche daran ist: Dieses Wachstum der Beschäftigung wird in allererster Linie im sozialversicherungspflichtigen Bereich stattfinden. Das ist auch für die Konsolidierung der Sozialkassen ganz wichtig. Die Zahl der Arbeitslosen wird im Jahresdurchschnitt weiter um etwa 480 000 auf rund 4 Millionen zurückgehen. Hier besteht die Chance, dass wir möglicherweise im Jahresdurchschnitt unter 4 Millionen bleiben. Aber ganz genau weiß man das selbstverständlich immer erst, wenn das Jahr herum ist.
Wir sind also auf einem guten Weg, keineswegs am Ziel. Wir dürfen die Menschen nicht in der Illusion wiegen, dass alles prima und paletti sei und von selber so weitergehe. Genau das ist nicht der Fall. Wir müssen das Wachstum auch nutzen, um Reformen durchzuführen.
Wir müssen vor allen Dingen aufhören, den Menschen Angst vor Reformen zu machen. Sie haben immer Angst, für sie ändere sich etwas zum Negativen. Aber wenn man spürt, es wächst und es geht voran, dann hat man auch sehr viel mehr Vertrauen in Reformen. Wir leben in einer Welt, die sich, ob man will oder nicht, täglich wandelt. Wir müssen den Wandel positiv mitgestalten, damit wir Deutschen bleiben, was wir sind, nämlich Welthandelsnation Nummer eins und die drittstärkste Nation dieser Erde, was Industrieproduktion anbelangt.
An der Stelle möchte ich sagen: Ich freue mich, dass ich der Präsident von vier europäischen Räten bin. Ich habe inzwischen viel über europäische Politik dazugelernt und darüber, wie es auf europäischer Ebene zugeht. Ich vertrete die Interessen Europas in der Welt mit großer Überzeugung. Aber innerhalb Europas vertrete ich deutsche Interessen.
Ich sehe darin überhaupt keinen Widerspruch. Wenn der deutsche Wachstumsmotor gut läuft, dann ist das gut für Europa. Das passiert aber nicht im luftleeren Raum, sondern man muss immer wieder konkret sagen, wo unsere deutschen Interessen liegen. Manchmal gibt es nämlich konkurrierende Interessen.
Wir wollen die CO2-Emissionen - nach der Mehrheitsmeinung in der Wissenschaft sind diese Emissionen Ursache für die Erderwärmung, die uns immer mehr Sorgen macht -, soweit uns das möglich ist, bekämpfen. Aber wir müssen es in der Weise tun, dass die deutsche Wirtschaft darunter nicht so leidet und dadurch die Beschäftigung in andere Teile der Welt abwandert, wo man sehr viel weniger sorgfältig mit der Umwelt umgeht. Auch das muss man immer wieder ganz deutlich herausstreichen und man muss alles tun, um die Menschen auf diesem Weg mitzunehmen.
Ich möchte noch kurz auf den Bereich der Autos zu sprechen kommen. Natürlich wollen wir, dass der Schadstoffausstoß immer geringer wird. Dazu braucht es neue Entwicklungen und Zeit. Wir können aber kein Diktat der Kommission hinnehmen und wir können auch nicht hinnehmen, dass man alles über einen Kamm schert.
Ein anderes Beispiel, bei dem es um deutsche Interessen geht. Nicht nur die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer der betreffenden Industrie machen sich berechtigte Sorgen, dass der EADS-Konzern, der das europäische Gemeinschaftsflugzeug Airbus baut und der breiter aufgestellt ist und nicht nur den zivilen Flugzeugbau umfasst, schwierige Zeiten durchläuft. Nun ergibt es keinen Sinn - dieses Haus wird sich noch damit beschäftigen -, alle Fehler aufzuzählen, die in der Vergangenheit passiert sind. Sicher sind darunter auch hausgemachte Fehler: im Management und in einzelnen Unternehmensteilen. Wenn es nun um die Sanierung geht, müssen wir natürlich darauf achten, dass dabei die Interessen der deutschen Standorte gewahrt bleiben.
Dafür werde ich mich mit Nachdruck einsetzen, soweit unser öffentliches Gemeinwesen überhaupt darauf Einfluss haben kann. Dieser Einfluss besteht weniger in Subventionen und Hilfen, die direkt aus meinem Haushalt fließen. Wir wissen auch, dass der Verteidigungsminister wesentliche Teile seines Investivhaushaltes für Aufträge an den EADS-Konzern verwendet. Wir müssen natürlich darauf achten, dass unsere Interessen berücksichtigt werden, wenn es um Entscheidungen darüber geht, wo in Zukunft die hochqualifizierten Arbeitsplätze sein werden.
Ich möchte noch zu ein paar Details des Jahreswirtschaftsberichts kommen. Wir müssen natürlich schauen, dass die Investitionsdynamik unserer Wirtschaft erhalten bleibt. Dazu gehört, dass wir weiter Reformen durchführen. Dazu gehört zum Beispiel auch, dass wir die Unternehmensteuerreform, die in das Verhalten der Wirtschaft quasi schon eingepreist ist, zügig umsetzen. Man verlässt sich darauf, dass wir eine Unternehmensteuerreform durchführen und dass wir unsere Steuersätze wettbewerbsfähig machen.
Wir haben nun das Urteil des Bundesverfassungsgerichts vorliegen, das uns auferlegt, Veränderungen im Erbschaftsteuerrecht vorzunehmen. Der Finanzminister wird in den nächsten Tagen sicher noch viel dazu sagen. Ich meine: Jetzt zeigt sich deutlich, wie nötig es gewesen ist, dass wir einen Gesetzentwurf eingebracht haben, durch den die Unternehmensnachfolge erleichtert wird. Angesichts der Tatsache, dass in Zukunft die bebauten Betriebsgrundstücke höher bewertet werden müssen, wäre der Betriebsübergang, was die Kapitalentnahme angeht, insbesondere bei mittleren und kleinen Unternehmen noch sehr viel schwieriger. Deswegen müssen wir schauen, dass wir diese Reform zügig abschließen und dass ein vernünftiges Ergebnis auf den Tisch gelegt wird.
Wir wollen weiter modernisieren. Wir wollen Bürokratie abbauen. Dazu haben wir zwei Mittelstandsentlastungsgesetze eingebracht. Das eine steht schon im Bundesgesetzblatt; das andere befindet sich jetzt im parlamentarischen Verfahren. Damit ist es noch nicht zu Ende; wir werden weiter daran arbeiten. Wir drängen in der Europäischen Union darauf, dass auch dort ein Bürokratieabbau erfolgt. Das 25-Prozent-Ziel, das man sich dort gesetzt hat, ist ein richtiges und konkretes Ziel; es ist zu erreichen. Wir wollen die Unternehmungen nicht ständig mit neuen Regulierungen knebeln, sondern dem unternehmerischen Handeln Raum geben.
Wir wollen vor allen Dingen auch - dafür will ich mich während der Ratspräsidentschaft ganz besonders einsetzen -, dass die Zoll- und Zugangsschranken auf den internationalen Märkten weiter gesenkt bzw. beseitigt werden. Wir möchten, dass die Doharunde der WTO-Verhandlungen erneut an Dynamik gewinnt. Ich bedanke mich bei Frau Bundeskanzlerin Merkel, dass sie sich dafür beim amerikanischen Präsidenten ganz besonders eingesetzt hat. Ich halte das für künftiges Wachstum in Deutschland, Europa und der Welt für unverzichtbar.
Wir wollen auch, dass die Wissensgesellschaft weiter ausgebaut wird. Dafür sind in dieser Legislaturperiode zusätzliche Haushaltsmittel bereitgestellt. Seitens meines Hauses wird gerade damit der mittelständischen Wirtschaft sehr stark geholfen, Forschung und Innovationen zu fördern.
Wir müssen natürlich immer da modernisieren, wo es notwendig ist, und in zukunftsgerichtete Technologien investieren. Dabei kommt es zwangsläufig zu Veränderungen. Ich bin, obwohl es gestern Abend keine volle Einigung gegeben hat, immer noch optimistisch, dass es uns gelingt, die Förderung der deutschen Steinkohle sozialverträglich und kalkulierbar für alle zurückzuführen mit dem Ziel, sie zu beenden. Denn es gibt auf dem Weltmarkt genügend Kohle. Sie ist dort sehr viel billiger einzukaufen. Es ist besser, die Ressourcen, die dort gebunden werden, in zukunftsgerichtete Technologien zu stecken.
Damit bin ich bei meinem letzten Thema: bei der Energie. Die Preissteigerungsrate des letzten Jahres, die mit 1,7 Prozent sehr maßvoll war, beruht zu 0,8 Prozent auf gestiegenen Energiekosten. Daran hat natürlich der hohe Öl- und Gaspreis einen wesentlichen Anteil, aber auch die Tatsache, dass wir innerhalb des Energiemarktes in Deutschland noch nicht genügend Wettbewerb haben.
Es gibt jetzt hoffnungsfrohe Ansätze. Wir werden uns in der Europäischen Union für mehr Wettbewerb einsetzen. Der gemeinsame europäische Energiemarkt ist so wichtig, wie es einmal die Gemeinschaft für Kohle und Stahl, die vor 50 Jahren am Anfang des Prozesses der europäischen Vereinigung stand, war. Bis dahin werden wir auch mit nationalen Maßnahmen dafür sorgen, dass den Verbrauchern nicht übermäßig in die Tasche gegriffen wird.
In diesem Zusammenhang möchte ich all jene, die sagen, das Ganze sei ein Handeln wider die Marktwirtschaft, an Ludwig Erhard erinnern, der immer gesagt hat: Zur sozialen Marktwirtschaft gehört auch, dass man eine entsprechende Kartellgesetzgebung hat, um Oligopolen auf die Finger zu schauen.
- Vielen Dank. Ich nehme den Beifall gerne entgegen, auch von der ganz linken Seite dieses Hauses.
Lassen Sie mich mit einem herzlichen Dank an diejenigen schließen, die dazu beigetragen haben, dass eine Sorge, die uns bewegt hat und über die wir oft diskutiert haben, etwas geringer geworden ist. An der Steigerung der Zahl der angebotenen Lehr- und Ausbildungsplätze haben viele - auch in diesem Hause - mitgewirkt.
Es gibt hier wunderbare Beispiele. Mich freut ganz besonders - dies darf ich noch ausführen -: Diejenige Handwerkskammer, die zumindest nach den mir vorliegenden Zahlen das Angebot am stärksten gesteigert hat, war die Handwerkskammer von Unterfranken.
Das ist zufälligerweise meine Heimat. Ich bedanke mich bei ihr stellvertretend für alle, die das fast genauso gut gemacht haben.
Danke schön.
Präsident Dr. Norbert Lammert:
Ich erteile das Wort dem Kollegen Rainer Brüderle für die FDP-Fraktion.
Rainer Brüderle (FDP):
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Unsere Handballer sind spitze, unsere Fußballer sind klasse, nur die Kopfballer von der Regierung bleiben auf der Bank sitzen. So wird man nicht Weltmeister.
Herr Bundeswirtschaftsminister, Sie haben den Jahreswirtschaftsbericht mit den Worten ?Den Aufschwung für Reformen nutzen“ überschrieben. Damit haben Sie völlig recht. Sie müssen die Zeit, in der sich die wirtschaftliche Lage verbessert, nutzen, um endlich notwendige Reformen anzupacken. Das Dach repariert man am besten, wenn es draußen nicht heftig regnet. Aber Sie müssen auch handeln. Mit dieser Aussage haben Sie recht. Aber warum handelt die Bundesregierung nicht? Wer hindert sie daran? Wir nicht. Die große Koalition ist eher eine Achse der Reformunwilligen, die anstehenden Reformen werden von ihr nicht angepackt.
Vor lauter Frühlingsgefühlen haben Sie in der Regierung offenbar zu früh die Badehosen angezogen. Draußen sind aber noch Regen und Wind. Wir stellen fest: Das Wirtschaftswachstum schwächt sich gegenüber dem Vorjahr ab, die Massenarbeitslosigkeit ist unverändert hoch, und der Konsum ist gedämpft. Es geht nicht darum, Reformen nur um der Reform willen zu machen, also Aktionismus zu betreiben. Das haben Sie uns bei der Gesundheitsreform zur Genüge vorgeführt.
?Viel Lärm um nichts“ ist noch milde formuliert. Shakespeare würde sich bei dem Vergleich wahrscheinlich im Grabe umdrehen. Nein, Sie haben viel Lärm um nichts Gutes gemacht: um höhere Steuern, um noch mehr Bürokratie, um höhere Kassenbeiträge und um weniger Wettbewerb. Es geht aber um sinnvolle Reformen, die erfolgreiches Wirtschaften auf lange Sicht möglich machen sollen. Da ist nicht alles Gold, was Sie uns als glänzend verkaufen wollen. Sie können das im Hauptgutachten der Monopolkommission nachlesen. Deutsche Unternehmen verlagern nach wie vor in beachtlichem Umfang ihre Aktivitäten ins Ausland. Wir können und wollen nicht mit Niedriglohnländern konkurrieren, aber es muss doch Aufgabe der Politik sein, dafür zu sorgen, dass die Unternehmen ihre Firmensitze nicht wegen zu hoher Steuern oder starrer Arbeitsmärkte ins Ausland verlagern. Wir brauchen andere Rahmenbedingungen.
Herr Glos, ich will Ihr Bemühen um den Bürokratieabbau nicht bestreiten. Die Bürokratiekosten unserer Unternehmen werden auf 46 Milliarden Euro geschätzt. Durch das Mittelstandsentlastungsgesetz haben Sie davon knapp 60 Millionen Euro gestrichen. Es ist nicht verkehrt, statistische Erhebungen für Kleinunternehmen auf drei Stichproben pro Jahr zu beschränken, die Gewinngrenzen für die Buchführungspflicht zu erhöhen und Anfragen ans Gewerberegister zu vereinfachen. All diese Maßnahmen sind richtig, aber sie reichen nicht. Sie müssen umfassend Bürokratie abbauen und die Unternehmen entlasten.
Ich weise auf die Generalunternehmerhaftung hin. Ein Generalunternehmer haftet für seine Subunternehmer, wenn diese Sozialversicherungsbeiträge nicht abführen. Ich weise auf die Bauabzugsteuer hin. 15 Prozent des Rechnungsbetrags müssen, wenn keine bürokratische Freistellungsgenehmigung vorliegt, an den Staat abgeführt werden. Die Motive von Grün-Rot, die Steuerhinterziehung abzuschwächen oder sogar zu unterbinden, waren ehrenwert, herausgekommen ist dabei aber: großer Aufwand und wenig Ergebnis. Deshalb sollten diese Maßnahmen abgeschafft werden.
Das Auslaufen der Steinkohlesubvention in elf Jahren feiern Sie als großen Erfolg. Wer sich das Rauchen abgewöhnen will und sich als Erstes hundert Stangen Zigaretten kauft, hat den falschen Ansatz gewählt. Hier sollten Sie mutiger und engagierter herangehen. Herr Rüttgers versucht ja, noch ein wenig Schwung in die Sache zu bringen. Vielleicht schafft er es zusammen mit der FDP in Nordrhein-Westfalen.
Mit Ihrem Dreiklang - sanieren, reformieren, investieren - sind Sie nicht weit gekommen.
Den Haushalt über Steuererhöhungen sanieren zu wollen, bleibt der falsche Weg. Unser Konzept wäre, den Haushalt über Ausgabenkürzungen, über echtes Sparen, in Ordnung zu bringen, wie es jeder Private macht. Wenn er mehr ausgibt, als er einnimmt, streckt er sich nach der Decke. Sie hingegen erhöhen einfach die Einnahmen, während die Ausgaben relativ starr bleiben.
Auch zur Sicherung eines dauerhaften Wirtschaftswachstums haben wir ein anderes Konzept als Schwarz-Rot. Zu Recht wird herausgestellt, dass die Arbeitsproduktivität ansteigt. Das ist in Zeiten des Aufschwungs aber immer so. Da die Auslastung der Kapazitäten beim Aufschwung zunimmt, Sie also mit den gleichen Maschinen eine höhere Produktion erreichen, bedeutet das eine Steigerung der Arbeitsproduktivität. Wir müssen dafür sorgen, dass das Arbeitsvolumen zunimmt, dass wir mehr Beschäftigung haben. Die Unternehmen brauchen berechenbare Bedingungen. Dann werden die steigenden Umsätze auch von entsprechend steigenden Einstellungszahlen begleitet. Dafür müssen Sie die Voraussetzungen schaffen.
Der Konsum ist durch die Mehrwertsteuererhöhung gedämpft. Der positive Einmaleffekt, der von der Fußballweltmeisterschaft im vergangenen Jahr ausging, greift nicht mehr. Der Ifo-Index und die Zahlen zum Konsumklima verdeutlichen die gedämpfte Stimmung. Die Zahlen kommen nicht von ungefähr. Man kann sie nicht einfach verstecken. Sie zeigen an, dass Sie in diesem Jahr steuerpolitisch auf die Bremse getreten sind, obwohl Sie eigentlich Gas geben müssten, zum Beispiel bei der Unternehmensteuerreform. Davon ist aber nichts erkennbar. Machen Sie Tempo, damit sich der Aufschwung verstetigt, langanhaltend ist und die Beschäftigung endlich umfassend steigt!
Zur Steuervereinfachung geschieht praktisch gar nichts. Das ist eine Fata Morgana der Regierung. Die steuerlich schwierige Situation ist einer der Kernpunkte, warum viele Existenzgründer, kleine und mittlere Unternehmen sowie Mittelständler am Verzweifeln sind. Sie machen das Steuerrecht noch komplizierter, anstatt es zu vereinfachen. Es ist der Gipfel, dass man, wenn man eine Auskunft dazu haben möchte, noch Geld dafür zahlen muss. Das halte ich für Zynismus.
Um zu mehr Beschäftigung, zu mehr Arbeit zu kommen, müssen die Gewerkschaften von ihrem Irrglauben, dass man durch Arbeitszeitverkürzung Vollbeschäftigung erreichen könne, Abstand nehmen. Arbeitszeitverkürzungen, Altersteilzeit und Frühverrentungen waren falsche Wege. Wir müssen das anders anpacken. Eine liberale Politik für mehr Wirtschaftswachstum würde den Unternehmen nicht mehr Bürokratie aufladen, wie Sie es mit dem Antidiskriminierungsgesetz tun. Auch wenn Sie das Etikett ?Wir wollen Bürokratie abbauen“ durch die Gegend tragen, machen Sie genau das Gegenteil: Sie machen es komplizierter.
Sie müssen das Risiko von Neueinstellungen durch vernünftige Arbeitsmarktreformen mindern. Sie müssen den Kündigungsschutz modernisieren, damit die kleinen Unternehmen keine Angst haben, dass sie sich, wenn sich die Wirtschaftslage verschlechtert, von neu eingestellten Mitarbeitern nicht mehr trennen können bzw. es unverhältnismäßig teuer wäre. Betriebliche Bündnisse für Arbeit sind zu ermöglichen. Die Union hat vor der Wahl immer erklärt, dass das erforderlich ist. Jetzt ist davon nichts mehr zu merken.
Es ist ein Irrglaube, mit Mindestlöhnen Vollbeschäftigung erreichen zu können. Herr Müntefering, vielleicht geht man nicht nach Krakau zum Friseur. Vielleicht geht man aber seltener zum Friseur und lässt sich die Haare dann kürzer schneiden. Auch so kann man auf Verteuerung und Verkomplizierung reagieren. Die Mehrwertsteuererhöhung ist bereits eine Konsumbremse. Fügen Sie durch die Einführung des Mindestlohns nicht eine weitere Beschäftigungsbremse hinzu! Der Mindestlohn wird nur zu einem führen: Er wird die Schwarzarbeit fördern. Sie bauen eine Illusion auf.
Ein zu hoher Mindestlohn vernichtet Arbeitsplätze; ein zu niedriger Mindestlohn hat keinen Effekt. Es wäre reiner Zufall, wenn Sie die richtige Höhe beim Mindestlohn treffen würden.
Tarifautonomie braucht mehr Vielfalt. Wir brauchen neue Elemente, wir müssen aus den Schützengräben heraus. Gewinnbeteiligung und Investivlohn können richtige Ansätze sein. Es muss aber Wahlfreiheit herrschen. Man kann zum Beispiel nicht den Investivlohn einführen wollen und dann sagen: Aber die Risiken werden verstaatlicht. Wenn ich einen Anteil an einem Unternehmen besitze, trage ich ein Stück weit auch das Risiko mit. Deshalb kann das nur freiwillig geschehen, nicht zwangsweise. Gewinnbeteiligung oder konjunkturabhängige Elemente bei der Entlohnung wie Einmalzahlungen sind Wege, die eine Entschärfung von Tarifkonflikten bedeuten würden. Moderate Lohnerhöhungen und mehr Beschäftigung sind besser als starke Lohnerhöhungen und das Verharren auf hoher Arbeitslosigkeit.
Sie sehen, es ist viel zu tun. Der Wirtschaftsminister hat mit seinem Motto völlig Recht: den Aufschwung nutzen für Reformen. Nur muss man es auch tun. Der Wirtschaftsminister verdient Unterstützung in der Regierung. Man darf ihn mit seiner mahnenden Stimme nicht allein stehen lassen. Deshalb sollten die Kopfballer der Regierung aufstehen und den Wirtschaftsminister unterstützen. Er hat es verdient. Nur in Selbstlob und Selbstbeweihräucherung zu verharren, ist kein Weg hin zu mehr Beschäftigung.
Präsident Dr. Norbert Lammert:
Nächster Redner ist der Kollege Ludwig Stiegler für die SPD-Fraktion.
Ludwig Stiegler (SPD):
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich habe aufrichtiges Mitleid mit dem Kollegen Brüderle. Gestern Abend habe ich noch einmal seine Rede vom letzten Jahr gelesen. Wenn die Prophezeiungen aus dieser Rede eingetroffen wären, dann hätten wir heute den Weltuntergang. Herr Brüderle, es ist einfach ärgerlich: Die Konjunktur ist Ihrem Pessimismus nicht gefolgt. Sie ist ihren eigenen Weg gegangen. Diesen Weg haben der Wirtschaftsminister und die Koalitionsfraktionen vorgezeichnet.
Sie unken inzwischen sehr einsam in dem Glas, in dem die Wetterfrösche sitzen. Sie sind eine ganz einsame Unke. Bitte kommen Sie da heraus.
Die Institute kommen heraus; auch sie saßen ganz weit unten in dem Glas. Sie beeilen sich jetzt und übertreffen sich gegenseitig. Der Sachverständigenrat schleppt sich heraus. Auch die Presse kommt heraus.
Wenn Sie sich einmal anschauen, was dieser Koalition im letzten Jahr von all den sogenannten Fachleuten prophezeit wurde und wie die Wirtschaft abgebildet wurde, dann sehen Sie, dass genau das Gegenteil von dem eingetreten ist, was dieser geballte Sachverstand uns hat weismachen wollen. Also verlassen wir uns besser auf uns statt auf Ratgeber, die immer nur ihre ideologischen Vorstellungen durch ihre ökonometrischen Modelle rechtfertigen wollen.
Wir waren in der Wirtschaftspolitik erfolgreich. Wir waren in der Finanzpolitik erfolgreich. Wir haben den Haushalt 2006 mutig angepackt. Der Finanzminister ist dafür belohnt worden. Ich sage noch einmal: Dieser Aufschwung war kein Selbstläufer. Manche sagen, es lag an der Weltwirtschaft, und manche sagen, es lag an den Unternehmen.
Das Muster ist immer das gleiche: Geht es schlecht, dann ist die Politik schuld, geht es gut, dann liegt es an der Tüchtigkeit der Manager. Diese Aufteilung machen wir nicht mit. Wir schauen genauer hin. Wer sich den Aufschwung und seine Komponenten im Jahre 2006 ansieht, der erkennt, dass die Politik der Großen Koalition einen enormen Anteil daran hat.
Ich nenne als Beispiel die energetische Gebäudesanierung. Der Haushaltsausschuss hat das Programm noch einmal aufgestockt. 17 Milliarden Euro sind ausgegeben worden. Das entspricht Investitionen in Höhe von 27 Milliarden Euro. Allein das bedeutet ein Wachstum um mehr als einen Prozentpunkt. Wenn man dann noch die Außenwirtschaft mit 0,7 Prozent dazurechnet, dann sieht man, dass es eine gute Wirtschaftspolitik war, die den Aufschwung ermöglicht hat. Wir haben letztes Jahr gesagt: Wir müssen den Kessel anheizen, damit die berühmten drei Schneebälle verdaut werden können. Siehe da, die drei Schneebälle zum 1. Januar dieses Jahres werden verdaut, weil der Kessel heiß ist. Bald können Sie, Herr Brüderle, sogar darin baden, wenn Sie noch ein bisschen warten.
Nicht nur für die energetische Gebäudesanierung danke ich der KfW sehr, sondern auch für die Eigenprogramme der KfW, die eine sehr große Nachfrage induziert haben. Wir haben das Handwerk gefördert. Das Handwerk ist mit unserem Programm hausieren gegangen. Die Handwerker verzeichnen wieder Umsätze und nehmen Einstellungen vor. Der Rückgang wurde gestoppt. Wir haben dem Handwerk eine Renaissance ermöglicht. Auch das war eine politische Entscheidung. Da klatscht sogar Ernst Hinsken.
- Wenn es ums Handwerk geht, halten Niederbayern und Oberpfälzer zusammen.
Ich erinnere an die Sonderabschreibung von Ausrüstungsinvestitionen. Dieses Programm haben wir während der Koalitionsverhandlungen mit dem Verband Deutscher Maschinen- und Anlagenbau besprochen. Wir haben die Wirkungen vorausgesagt, und siehe da: Die Ausrüstungsinvestitionen sind im letzten Jahr deutlich gestiegen, und sie werden auch in diesem Jahr steigen, weil das Programm am Ende dieses Jahres ausläuft. Man wird in diesem Jahr investieren und nach der Unternehmensteuerreform ernten können. Das hat 2006 Impulse gegeben, und es wird auch 2007 Impulse geben.
Oder denken wir an die Infrastruktur, für die der Haushaltsausschuss die Mittel erhöht hat. Der Bauminister hat die Städtebauförderung vorangetrieben. In Ost wie in West ist im Stadtumbau einiges geschehen. Ich danke unseren - das waren noch die rot-grünen - Finanz- und Haushaltspolitikern, die die Gewerbesteuer erhalten haben. Die Kommunen haben wieder Geld und treten wieder als Investoren auf dem Markt auf. Auch das ist eine späte politische Ernte.
Schließlich danke ich den Touristen, die gerade bei der Fußballweltmeisterschaft eine Menge zum Incoming-Tourismus beigetragen und damit gezeigt haben, dass er ein erheblicher Wachstumsträger ist.
Also: Es waren nicht die Helden der Wirtschaft. Da gibt es sogar welche, die sich vom Aufschwung haben überholen lassen. So muss das Handwerk beklagen, dass keine Dämmstoffe mehr geliefert werden, weil die Produktion stockt. Es waren also nicht alle so helle und so optimistisch. Manche waren eher in Brüderle’schem Pessimismus verhangen. Das bremst zurzeit. Doch insgesamt hat die Wirtschaft zusammen mit der Politik in 2006 eine gute Entwicklung geschafft, auf die wir gemeinsam stolz sein können.
1,5 Prozentpunkte des Wachstums sind politisch induziert. Nun ist der Aufschwung selbsttragend. Die Inlandsnachfrage hat fast alle Branchen und Unternehmensgrößen erreicht. Der Außenbeitrag stimmt. Der Arbeitsmarkt ist in Bewegung. Die Großen bauen zwar ab, doch die Kleinen stellen ein. Also lasst uns - da schließe ich mich dem Wirtschaftsminister an - den kleinen und mittleren Unternehmen danken und uns um ihre Belange kümmern!
Die Erwerbstätigenquote hat sich das Jahr über kontinuierlich positiv entwickelt. Brüderle hat gestern gesagt: Das war der milde Winter. Sie haben dabei übersehen, dass wir inzwischen ein Saisonkurzarbeitergeld für die ganzjährige Beschäftigung in der Bauwirtschaft haben. Das wirkt. Ich danke unseren Sozialpolitikern, die das vorbereitet haben, und ich danke auch denen in der Union, die ihre Bedenken am Ende zurückgestellt haben, dass wir dieses Saisonkurzarbeitergeld haben. Hoffentlich können wir es auf andere Branchen ausdehnen. Ich danke vor allem dem Bundesarbeitsminister, dass er dieses Vorhaben so durchgezogen hat. Auch das trägt zur Kontinuität der Beschäftigungsentwicklung bei.
Wir haben den Staatshaushalt unter Kontrolle gebracht. Was ist am Anfang des Jahres geunkt worden! Alles falsch: Wir halten die Maastrichtgrenze ein, und auch die Inflation ist trotz steigender Energiepreise unter Kontrolle. Das muss man immer wieder betonen; da hatten wir schon andere Zeiten mit anderen Problemen.
Aber es gilt auch nach dem Schiller-Jahr:
Des Lebens ungemischte Freude
Ward keinem Irdischen zuteil.
Der Schatten folgt dem Licht, hat Walter Giller einmal gesungen. Das Bruttoinlandprodukt bzw. das Nationaleinkommen ist von der Entstehungsseite her okay. Es ist von der Verwendungsseite her besser geworden: Der private Verbrauch ist gestiegen. Aber die Verteilungsseite des Bruttoinlandprodukts ist nach wie vor ein Problem, das uns nicht ruhen lassen kann. Das Volkseinkommen ist 2006 um 3,1 Prozent gestiegen; je Einwohner sogar um 3,3 Prozent, weil die Bevölkerungszahl etwas gesunken ist. Aber die beiden Komponenten des Volkseinkommens haben sich sehr unterschiedlich entwickelt. Das Arbeitnehmerentgelt mit 1 144 Milliarden Euro ist nur um 1,3 Prozent gewachsen. Die Unternehmens- und Vermögenseinkommen mit 584 Milliarden Euro sind um 6,9 Prozent gewachsen. Schaubild 21 im Jahreswirtschaftsbericht zeigt, wie die Schere an dieser Stelle auseinandergeht. Das kann uns nicht freuen und das darf uns auch nicht ruhen lassen.
Alarmierend ist die Lohnquote. Sie ist von 67,4 Prozent im Jahr 2005 auf 66,2 Prozent im Jahr 2006 heruntergegangen. Im Jahr 2000 waren es noch 72,2 Prozent. Die Lohnquote ist also zu niedrig. Die Bruttolöhne sind 2006 nur schwach um 1,4 Prozent gestiegen, die Nettolöhne nur um 0,3 Prozent. Der durchschnittliche Bruttomonatsverdienst ist nur um 0,7 Prozent gestiegen. Beim Nettoverdienst ist sogar ein Minus von 0,3 Prozent zu verzeichnen. Allerdings wird sich die Lage 2007 bessern, weil die Sozialversicherungsbeiträge per Saldo unter 40 Prozent sinken.
Aber auch diese Entwicklung darf uns nicht ruhen lassen. Die Masseneinkommen stagnieren. Das hat auch makroökonomische Folgen. In diesem Zusammenhang sind folgende Zahlen sehr wichtig: Die monetären Sozialleistungen betrugen 2005 - für 2006 liegen die Zahlen noch nicht vollständig vor - 377,4 Milliarden Euro gegenüber Nettolöhnen in Höhe von 601,4 Milliarden. Dies entspricht einem Verhältnis von etwa 40 zu 60, und das muss sich ändern. Das Volkseinkommen ist noch nicht gerecht verteilt. Daran muss sich etwas ändern. Wir brauchen mehr Beschäftigung und bessere Löhne. Nur dann kommt es zu einem nachhaltigen Wachstum. Das ist unsere Botschaft an die Tarifpartner.
Wir stellen aber fest, dass das Lohndumping zunimmt. Immer mehr Menschen müssen mit Blick auf ihren Lebensunterhalt ihr Einkommen zusätzlich aufstocken. Deshalb müssen die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer in diesem Jahr mindestens durch Einmalzahlungen an den besseren Unternehmensergebnissen beteiligt werden. Es gibt durchaus Argumente dafür, dass das Lohnniveau im internationalen Wettbewerb nicht auf Dauer steigen kann. In einem guten Wirtschaftsjahr muss aber die Beute gerecht geteilt werden. Die Arbeitnehmer können nicht von einem guten Unternehmensergebnis ausgeschlossen werden.
Wir müssen stärker gegen das Lohndumping vorgehen. Ich denke in diesem Zusammenhang an den lizenzierten Bereich der Post. Bei der Post selber sind über 38 000 Arbeitsplätze abgebaut worden. Bei den Lizenznehmern sind zwar etwa 30 000 Arbeitsplätze entstanden, 60 Prozent sind aber prekäre Arbeitsverhältnisse.
- Das hat nicht der Gesetzgeber gemacht. Wir können aber etwas tun. Wir haben ein Postgesetz, und die Lizenznehmer müssen die allgemeinen Arbeitsbedingungen beachten. Wir fordern die Bundesnetzagentur auf, sich um die Löhne und Gehälter im lizenzierten Bereich der Post zu kümmern. Wir wollten mit der Postreform nicht erreichen, dass die Löhne sinken, sondern dass die Leistungen verbessert werden.
Deshalb werden wir auch mit der Union weiter über das Thema Mindestlohn reden.
Herr Brüderle, es geht nicht nur um den Friseur. Auch den Flughafen München wird man nicht nach Krakau oder irgendwo anders hin verlegen können. Deshalb sehe ich nicht ein, dass die Leute oben in Glanz und Glimmer spazieren gehen, während die, die den Flughafen sauberhalten, bei Franz Müntefering anklopfen müssen, um ihren Lebensunterhalt verdienen zu können. So haben wir nicht gewettet.
Wenn ich die Kanzlerin richtig verstehe, dann wollen wir keinen flächendeckenden Mindestlohn. Daraus höre ich als alter Hermeneutiker, dass über nichtflächendeckende Branchenmindestlöhne diskutiert werden kann. Es kann sein, dass ich mich irre,
aber mit einer gewissen hermeneutischen Kreativität kann man das aus dieser Äußerung heraushören. Insofern sage ich mit Franz Beckenbauer: ?Schaun mer mal!“ Wenn der Franz schaut, dann kommt auch etwas dabei heraus. Das gilt für beide Franze. Ich glaube, das können wir schon miteinander angehen.
Meine Damen und Herren, ich habe nur noch einen letzten Punkt, denn die Zeit läuft davon. Wir müssen uns dieses Jahr auch darum kümmern, dass Finanzinvestoren kleine und mittlere Unternehmen nicht ausbeuten. Ich habe wieder eine aktuelle Agenturmeldung auf dem Tisch: M2 Capital will ein Oldenburger Unternehmen, CeWe Color, um 37 Millionen Euro erleichtern. Es geht nicht um Leistungen. Sie tarnen es hier nicht einmal als Beratungsleistung. Nein, sie wollen Beute machen und dem Unternehmen das Geld nehmen, das es bräuchte, um sich von der analogen in die digitale Welt fortzuentwickeln. Solchen Entwicklungen müssen wir einen Riegel vorschieben, meine Damen und Herren! Das kann nicht der Sinn der Wirtschaft sein.
Wir haben mit den Leitlinien 2007 einen guten Wegweiser. Der Staat erhält ein tragfähiges Fundament. Der Wettbewerb und die Investitionsdynamik steigen, die Wissensgesellschaft wird vorangebracht, die Wohlstandsgrundlagen werden damit nachhaltig gesichert, und die Beschäftigungspotenziale werden für die unter 25-Jährigen und die über 50-Jährigen gehoben.
Herr Brüderle, lassen Sie sich für die Rede 2008 etwas einfallen. Irgendwann geht der Pessimismus nicht mehr. Entscheiden Sie sich dann für Lob, Preis und Dank. Das ist die richtige rhetorische Konzeption.
Herzlichen Dank.
Präsident Dr. Norbert Lammert:
Es ist doch ein schöner Beleg für die Solidarität der Demokraten, dass die Vorbereitung von Reden jetzt schon fraktionsübergreifend erfolgt.
- Eben drum.
Das Wort hat nun der Kollege Oskar Lafontaine für die Fraktion Die Linke.
Oskar Lafontaine (DIE LINKE):
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Der Bundeswirtschaftsminister hat das zurückliegende Jahr als ein sehr erfolgreiches Jahr bezeichnet. Wenn man sich bestimmte Zahlen ansieht, kann man zu diesem Urteil kommen. Aber wenn man die Frage stellt, für wen war das ein erfolgreiches Jahr, kommt man vielleicht zu einem ganz anderen Urteil.
Deshalb stelle ich zunächst einmal für meine Fraktion fest, dass es positiv ist, dass die Wirtschaft wächst. Wir haben immer gesagt, dass dies die Voraussetzung dafür ist, um die Situation in Deutschland zu verbessern. Die Wirtschaft wächst. Wer sich nun die Federn dafür an den Hut stecken kann, darüber mag dann gerichtet werden, aber zunächst ist dies positiv.
Positiv ist selbstverständlich auch, dass damit Haushaltskonsolidierungseffekte verbunden sind. Das ist im Interesse einer langfristigen, stetigen Finanzpolitik notwendig. Auch an dieser Stelle ist von unserer Seite nichts zu kritisieren.
Zustimmen werden wir Ihnen auch, Herr Bundeswirtschaftsminister - falls Sie mir einmal Ihr Ohr leihen, es geht immerhin um Ihren Jahreswirtschaftsbericht -, wenn Sie sagen, Sie wollten auf die Kartellgesetzgebung zurückgreifen, wenn sich monopolartige Märkte bilden. Ich hatte an dieser Stelle bereits ausgeführt, dass für diese Denkart nicht in erster Linie Ludwig Erhard herangezogen werden muss, sondern Walter Eucken, der das sehr viel radikaler formuliert hat. Er sagte einmal: Es geht nicht um die Kontrolle wirtschaftlicher Macht - das ist die sozialdemokratische Position des Godesberger Programms; lange her -, es geht um die Verhinderung wirtschaftlicher Macht. Meine Damen und Herren, mit dieser Position fände Eucken bei den meisten Parteien in diesem Hohen Haus keinen Platz mehr.
Soweit zu den positiven Würdigungen des Jahreswirtschaftsberichtes. Nun komme ich zu dem, was ebenfalls gesehen werden muss. Wenn die Wirtschaft wächst, wenn der Wohlstand wächst, stellt sich nämlich die Frage: Wo kommt das an? Und da ist das letzte Jahr eben kein gutes Jahr gewesen. Was der Kollege Stiegler vorgetragen hat, waren gute Absichtserklärungen, die den Kern des Problems nicht trafen. Das letzte Jahr und auch Ihre Projektion für dieses Jahr sind im Grunde genommen, wenn man Leistungen und Verteilung des Einkommens ansieht, eine einzige bodenlose Unverschämtheit und Frechheit.
Sie haben im letzten Jahr den Zuwachs des Wirtschaftswachstums klar verteilt: Die Einkommen aus Unternehmertätigkeit und Vermögen sind um 6,9 Prozent gewachsen, das Arbeitnehmerentgelt ist um 1,3 Prozent gewachsen, und wenn Sie die Preissteigerung dazu in Relation setzen, die mit 1,7 Prozent angegeben wird, ist das eine einzige katastrophale Bilanz.
Alles, was Sie hier mit großem Getue an großen Erfolgen in der Wirtschaftspolitik vorlegen, geht an der großen Mehrheit der Menschen vorbei. Die Dreistigkeit ist darin begründet, dass das einfach so zur Kenntnis genommen wird, wenn auch - wie vorhin gehört - mit einigen Ausführungen, die aber keine Relevanz haben, weil nichts unternommen wird, daran etwas zu verändern.
Ich lese Ihnen einmal Ihre eigenen Zahlen vor: Die Arbeitnehmerentgelte sind 2005 um 0,7 Prozent zurückgegangen, während Unternehmens- und Vermögenseinkommen ein Plus von 6,2 Prozent aufweisen. Im letzten Jahr wiesen die Arbeitnehmerentgelte ein Plus von 1,3 Prozent auf, während die Unternehmens- und Vermögenseinkommen um 6,9 Prozent stiegen. Nun sagen Sie: Unsere Absicht ist, das in diesem Jahr fortzusetzen. - Das ist der Skandal Ihrer Regierungspolitik.
- Herr Kollege Stiegler, Sie irren sich: Das ist keine Prognose, sondern eine Projektion, eine Absichtserklärung der Bundesregierung. Sie geht davon aus, dass die Arbeitnehmerentgelte in diesem Jahr ein Plus von 1,4 Prozent und die Einkommen aus Unternehmertätigkeit und Vermögen ein Plus von 5,0 Prozent - das ist wahrscheinlich noch niedrig angesetzt - aufweisen werden.
Das Fazit lautet: In diesem Lande lohnt sich Leistung nicht.
Für qualifizierte Arbeit wird bestraft, während der leistungslose Besitz prämiiert und mit ständig steigenden Einkommen belohnt wird. Das ist die Bilanz Ihrer Wirtschaftspolitik. Sie tun nichts, um daran irgendetwas zu verändern. Vielmehr setzen Sie die Umverteilungspolitik der letzten Jahre fort. Vielleicht begreifen Sie das nicht. Auf der einen Seite wollen Sie eine Unternehmensteuerreform durchführen nach dem Motto: Die Unternehmer haben noch nicht genug und müssen daher um weitere 10 Milliarden Euro entlastet werden. Dadurch wird die Verteilung noch ungleicher. Auf der anderen Seite machen Sie sogenannte Reformen, die zu Sozialkürzungen führen. Das ist die ganze Ratio Ihrer Politik. Die bisherige Umverteilungspolitik wird in diesem Haus ohne Sinn und Verstand fortgesetzt.
Es ist immerhin gut, dass hier noch niemand Jubelarien gesungen hat, weil es nur noch 4,247 Millionen Arbeitslose gibt. Es ist positiv, dass sich der Wirtschaftsminister - er ist noch immer in ein angenehmes Gespräch vertieft - dies verkniffen hat. Aber es reicht nicht, dass ein Redner der SPD die schiefe Verteilung beklagt. Vielmehr muss darüber nachgedacht werden, was diese schiefe Verteilung verursacht. Das Problem ist, dass die große Mehrheit der Menschen weiß: Wenn Sie das Wort ?Reform“ in den Mund nehmen, meinen Sie ausschließlich Sozialabbau. Die Menschen werden dadurch zunehmend verunsichert und fürchten sich vor Reformen.
Ich möchte Reformen nennen, die aus unserer Sicht notwendig sind und nicht zu weiteren Sozialkürzungen führen. Eine sinnvolle Reform wäre die Einführung eines gesetzlichen Mindestlohns. Es nutzt nichts, ständig das Lohndumping zu beklagen, wenn man nichts unternimmt, um die brutale Ausbeutung, die mittlerweile in Deutschland stattfindet, zu unterbinden.
Kürzlich ist durch die Presse gegangen, dass ein Hotel in Hamburg eine Reinigungskraft für 1,92 Euro pro Stunde beschäftigt hat. Das ist doch ein gesellschaftlicher Skandal.
Warum sitzt die Mehrheit dieses Hauses hier tatenlos herum und unternimmt nichts dagegen? Warum sind wir nach wie vor so anmaßend, zu glauben, dass wir alles besser wüssten als unsere europäischen Nachbarn? Wenn in vielen europäischen Staaten das Lohndumping durch Mindestlöhne bekämpft wird, wenn in unseren Nachbarstaaten Belgien, den Niederlanden, Frankreich und Großbritannien - ich könnte noch mehr Länder nennen - Mindestlöhne von 8 Euro pro Stunde gelten, dann ist es höchste Zeit, entsprechende Reformen in Deutschland durchzuführen.
Ich komme zur Verteilungspolitik. Herr Kollege Stiegler, Sie werden Ihr Händchen noch heben, wenn es um die Zustimmung zur Unternehmensteuersenkung geht. Nach all den vielen Milliardengeschenken, die in den letzten Jahren gemacht wurden, frage ich Sie: Wo bleiben denn die Arbeitnehmer? Sie haben doch Ihr Händchen gehoben, als es um die Zustimmung zur Mehrwertsteuererhöhung ging, die die Kaufkraft der großen Mehrheit des Volkes schwächt. Ihre Ausführungen hier sind doch total unglaubwürdig. Wenn Sie die ungerechte Verteilung beklagen, dann tun Sie doch endlich etwas!
Statt der Mehrwertsteuererhöhung wäre eine Reform notwendig gewesen. Beispielsweise bräuchten wir in Deutschland eine ähnliche Vermögensbesteuerung wie in anderen großen Industriestaaten. Hätten wir eine Vermögensbesteuerung wie Frankreich oder die USA, dann läge der Anteil des Aufkommens aus der Vermögensteuer am Bruttosozialprodukt bei über 3 Prozent. Das entspräche einem Plus von 50 Milliarden Euro. Hätten wir eine Vermögensbesteuerung wie Großbritannien, dann hätten wir ein Plus von 70 Milliarden Euro. Allein daran kann man erkennen, dass Ihre vielen Sozialabbauprogramme ein einziger Betrug waren. Sie sind doch die Ursache dafür, dass sich die Verteilung in Deutschland völlig falsch entwickelt hat.
Sie bieten der Bevölkerung nur Sprechblasen an. Beispielsweise hat Herr Rüttgers eine längere Bezugsdauer beim Arbeitslosengeld I für Ältere gefordert. Dazu wird gesagt: Das können wir eigentlich nicht bezahlen, allenfalls dann, wenn die Jüngeren weniger bekommen; das macht 1,8 Milliarden Euro. Wie unglaubwürdig ist eine solche Politik! Allein eine ordentliche Vermögensbesteuerung würde Sie spielend in die Lage versetzen, alle sozialen Ferkeleien in den letzten Jahren zurückzunehmen. So einfach ist das, wenn man bereit ist, die Prozentrechnung anzuwenden.
Fritz Kuhn (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Meine Fraktion freut sich, wenn die Arbeitslosigkeit abgebaut wird. Wir haben gute Daten, und daran wollen wir nicht herumkritteln. Dass die Dividende von Reformen der vergangenen Regierung von dieser Bundesregierung eingestrichen wird, nehmen wir als Schicksal hin. Es kann auch einmal anders gehen. Dazu haben wir ein gelassenes Verhältnis.
Dennoch waren in Ihren Ausführungen, Herr Glos, Elemente von Schönrednerei, die ich nicht durchgehen lassen will. Sie haben - im Kontrast zur Diskussion über die Mehrwertsteuererhöhung des letzten Jahres - gesagt, das sei gar nicht so schlimm und der Aufschwung habe nur eine kleine Delle. Aber der Binnenmarkt bietet Anlass zur Sorge. Das Wachstum des Binnenmarkts wird von 0,6 Prozent im vergangenen Jahr auf 0,3 Prozent in diesem Jahr zurückgehen. Die Inflation ist höher als der Einkommenszuwachs der normalen Beschäftigten. Das heißt, dass dieser Aufschwung in erster Linie ein Export- und Investitionsgüteraufschwung ist, aber keiner des Binnenmarktes -
Herr Stiegler, Sie könnten sich auch einmal einen neuen roten Pullover kaufen -,
ist ein klares Faktum. Darüber sollte man sich jedenfalls als Wirtschaftsminister Sorgen machen.
Herr Glos, aus der heutigen Lage würde folgen - Herr Brüderle hat das angesprochen -, dass man in der Phase des Aufschwungs die notwendigen Reformen durchführt, die anstehen, weil Reformen leichter im Aufschwung als im Abschwung zu machen sind. Das haben wir in den vergangenen Jahren gesehen. Daran müssen sich der Jahreswirtschaftsbericht und die Politik, die Sie gegenwärtig betreiben, messen lassen.
Übrigens, manche Ziele haben Sie nicht erreicht. Sie haben nicht erreicht, die Lohnnebenkosten unter 40 Prozent zu drücken.
Herr Glos ist ein Rechenwitzbold. Er kommt auf die Zahl von 39,7 Prozent, weil er den Beitrag für die Krankenversicherung in Höhe von 0,9 Prozent, der 2004 beschlossen wurde und den die Arbeitnehmer allein bezahlen, einfach herausgerechnet hat. Dann können Sie gleich den Arbeitnehmeranteil herausrechnen; dann kommen Sie auf 20,3 Prozent und haben einen Riesenerfolg erzielt. Ich glaube, das Parlament lässt sich nicht für blöde verkaufen und nicht von Ihren Taschenspielertricks, Herr Glos, täuschen. Sie haben bislang das Ziel verfehlt, unter 40 Prozent zu kommen, weil die Lohnnebenkosten wegen der Erhöhung der Beiträge zur Rentenversicherung und zur Krankenversicherung steigen. Das ist niemandem verborgen geblieben.
Kommen wir jetzt zu den Reformen. Morgen reden wir über die Gesundheitsreform, die nicht nur von meiner Fraktion, sondern auch von allen Sachverständigen als Murks bezeichnet wird, weil sie keines der Probleme unseres Gesundheitssystems wirklich löst. Sie bringt nicht mehr Wettbewerb und nicht mehr Qualität, sondern eine chronische Unterfinanzierung des Systems, die von den Menschen entweder über Beiträge oder mit der kleinen Kopfpauschale zu bezahlen ist. Hier haben Sie den Reformspielraum, der vorhanden ist, nicht genutzt.
Bei einem anderen Thema, nämlich der Arbeitmarktpolitik, droht uns, dass der nächste Murks angefügt wird. Wenn Sie auf die Idee kommen, Mindestlöhne mit einem flächendeckenden Kombilohnansatz zu kombinieren, dann verbinden Sie etwas, was nicht zusammenpasst, und erreichen mit viel Geld, dass im Arbeitsmarkt überhaupt nichts passiert. Wir wissen, dass wir heute im Sozialgesetzbuch II und III genügend Modelle und Einzelpunkte haben, mit denen man für Menschen, die aufgrund spezifischer Probleme dauerarbeitslos sind, so etwas wie einen Kombilohn generieren kann. Machen Sie das aber flächendeckend, dann haben Sie riesige Mitnahmeeffekte und werden mit dem Kombilohn nichts erreichen.
Deswegen appellieren wir an Sie: Kommen Sie zu einer undogmatischen Betrachtungsweise dessen, was am Arbeitsmarkt notwendig ist. Ich möchte drei Dinge nennen, die notwendig sind.
Erstens: gezielteres Fördern der Dauerarbeitslosen. Da stehen wir immer noch auf der Bremse.
Zweitens: ein möglichst branchenspezifischer Mindestlohn für Problemgruppen am Arbeitsmarkt. Ich will Ihnen eine Problemgruppe nennen, die für mich im Vordergrund steht - das kann man nach unterschiedlichen Methoden beurteilen -: Die Zeitarbeit und Leiharbeit ist eine Branche, die sich in unserer Wirtschaft zunehmend zu einem Lohndumpingbereich entwickelt. Zum Teil werden normale Belegschaften entlassen, weil man weiß, man bekommt stattdessen Zeitarbeiter mit geringeren Einkommen, die die gleiche Arbeit tun. Deswegen ist das ein Bereich, in dem Sie den Mindestlohn einführen können, ohne dass er die Schwarzarbeit verstärkt und ohne dass es irgendeinen wirtschaftlichen Schaden für die Beschäftigung bringt.
Im dritten Bereich, Herr Glos, tun Sie gar nichts - und Herr Müntefering auch nicht -: Das ist die effektive Bekämpfung der Schwarzarbeit. Wir müssen im unteren Bereich die Lohnnebenkosten senken; denn wir haben rechnerisch 5 Millionen Vollerwerbsarbeitsplätze in der Schwarzarbeit. Diese befinden sich nicht wegen der hohen Löhne in der Schwarzarbeit, sondern weil in diesem Bereich die hohen Lohnzusatzkosten besonders durchschlagen. Wenn eine Handwerkerstunde in Berlin 40 Euro kostet, die Sie netto verdient haben müssen, um sie legal zu finanzieren, dann wissen Sie, warum wir mit den derzeitigen Strukturen systematisch Erwerbsarbeitsplätze in die Schwarzarbeit drängen. An diesen Stellen, Herr Glos, müssen Sie einsteigen.
Ich nenne hier noch den Punkt Unternehmensteuerreform. Es gibt keinen vernünftigen Grund, warum man in der jetzigen Situation, auch international, die Unternehmensteuerreform - bei der es richtig ist, die Sätze zu senken - so machen müsste, dass man die Unternehmen um 8 Milliarden Euro netto entlastet.
Das nehmen die Unternehmen mit und sagen kurz Danke schön, wenn sie bei Ihnen vorbeikommen; aber zusätzliche Investitionen können wir damit nicht generieren. Dieses Geld würden wir dringend für Forschung, Bildung und Ausbildung in Deutschland brauchen. Da ziehen Sie es ab. Das wird sich in Zukunft meines Erachtens rächen.
Unsere These heißt: Sie nutzen die Chancen dieses Aufschwungs für die notwendigen Reformen in Deutschland nicht. Das hat einen systematischen Grund, und zwar den, dass Sie bei jeder Strukturreform in dieser Großen Koalition keine gemeinsame Richtung definieren. Vielmehr wollen die einen immer dieses und die anderen immer jenes; wenn es einigermaßen gut geht, dann murksen sie das zusammen, und dabei kommt nichts Halbes und nichts Ganzes heraus. Das sagen mir die Kolleginnen und Kollegen von der CDU/CSU und die Genossinnen und Genossen sagen es im privaten Gespräch auch.
Es ist also klar, dass die Zusammenarbeit, die zwischen ihnen stattfindet, hier vielleicht atmosphärisch nett sein mag, aber eine Reformrichtung bringt sie der Bundesrepublik Deutschland nicht.
Herr Glos, Ihre Wirtschaftspolitik, die Sie in der Koalition verantworten, ist ordnungspolitisch diffus. Manchmal finde ich übrigens, dass Sie als Wirtschaftsminister völlig den richtigen Punkt treffen, zum Beispiel wenn es bei der Frage der Energieerzeuger darum geht, den Betrieb der Netze und das Einspeisen in die Netze zu trennen, wie es die EU ja vorgeschlagen hat. Da sind Sie auf der richtigen Seite. Aber Sie können in dieser Regierung auf eines immer wetten: Einer zieht immer konsequent in die andere Richtung, in diesem Fall Herr Steinmeier oder die SPD, weil sie an den großen Energieerzeugern sehr hängt.
Ordnungspolitische Klarheit erwächst daraus nicht. Es wäre für die Entwicklung der sozialen Marktwirtschaft in Deutschland wichtig und richtig, dass wieder einmal jemand sagt: Wir wollen wirklichen Wettbewerb. Im Hinblick auf natürliche Monopole heißt dies - das gilt übrigens auch für die Bahn -, Herr Glos, dass es nicht gut ist, wenn einer über die Infrastruktur verfügt und dadurch indirekt regeln kann, zu welchen Bedingungen die Wettbewerber diese Infrastruktur nutzen können. Da wünsche ich Ihnen mehr ordnungspolitische Klarheit. Sie können es sich sparen, immer wieder Erhard, Eucken oder wen auch immer zu zitieren, wenn Sie in der Ordnungspolitik so schwanken, wie es diese Große Koalition tut.
Beim Thema Innovation sind Sie völlig schwach, Herr Glos. Die Autodiskussion, die Sie in den letzten zwei Wochen veranstaltet haben, ist ein Beleg dafür. Das will ich Ihnen ausführlich erläutern. Übrigens, die EU hat nicht das gesagt, wovon Sie behauptet haben, sie habe es gesagt.
Umweltkommissar Dimas hat gesagt: Wir wollen, dass die Flotte der europäischen Pkw bis 2012 einen durchschnittlichen CO2-Ausstoß von 120 Gramm hat. Die deutsche und die europäische Automobilindustrie haben im Rahmen der freiwilligen Selbstverpflichtung im Hinblick auf 2008 und 2012 von 140 Gramm gesprochen. Dimas hat weder gesagt, es müsse nationenscharf geschehen, noch gesagt, es müsse herstellerscharf geschehen. Das haben Sie mit der Vorstellung hypostasiert, wir müssten einen vielleicht drohenden Angriff abwehren. Doch von einem solchen Angriff war seitens der EU gar nicht die Rede. Selbstverständlich muss man auf der EU-Ebene über das 120-Gramm-Ziel verhandeln und die Frage stellen, welche Fahrzeugklasse welchen Beitrag zur Erreichung dieses Ziels leisten kann. Es hätte einen einfachen Weg gegeben. Klar ist doch: Diejenigen, die heute sehr viel verbrauchen, müssten einen größeren Beitrag leisten als diejenigen, die sehr wenig verbrauchen.
Die deutsche Autodiskussion hat eine gute Tradition. Herr Glos, 1984 wurde der Katalysator eingeführt.
Damals wurde wortwörtlich derselbe Mist gesagt, den Sie jetzt erzählen. Damals hat es geheißen: 100 000 Arbeitsplätze gehen verloren, wenn beschlossen wird, dass der Katalysator verpflichtend ist; denn die Japaner haben einen günstigeren Katalysator. Man hat damals mit genau der gleichen Argumentation versucht, den technischen Fortschritt auszubremsen. Beim Dieselrußfilter war es nicht viel anders.
Ich will auf Folgendes hinaus, Herr Glos: Wenn Sie nach dem Versagen der freiwilligen Selbstverpflichtung auf dem Gebiet der Innovationspolitik keine klare ordnungspolitische Vorgabe machen, dann schaden Sie der deutschen Automobilindustrie, und zwar deswegen, weil sie nicht gezwungen wird, die fortschrittliche Technik herzustellen, die die Weltmärkte brauchen.
Schauen Sie doch nach Kalifornien! Schauen Sie doch in die Länder, die Autos importieren! Sie alle spüren und sagen inzwischen: Nur die fortschrittlichste Kraftfahrzeugstechnik mit den sparsamsten Motoren ist noch exportfähig. Wenn Sie auf die Bremse treten, dann machen Sie diesen Export kaputt. Natürlich kann man auch mit einem anderen Reifendruck und Ähnlichem etwas erreichen; aber die Zukunft des Autolandes Deutschland - das ist mittlerweile die Botschaft - kann nur gewährleistet werden, wenn wir die unter ökologischen Gesichtspunkten besten Fahrzeuge auf den Markt bringen. Dabei agieren Sie, Herr Verheugen und wie sie alle heißen als Bremser der technischen Entwicklung. Was Innovationen angeht, gilt für diese Bundesregierung: Fehlanzeige!
Sie haben zum Thema Korruptionsbekämpfung nichts gesagt. Wenn wir die Korruptionsbekämpfung in Deutschland nicht ernst nehmen, wenn wir keine andere Kultur der Aufsicht über die großen deutschen Aktiengesellschaften bekommen, dann werden wir wirtschaftlichen Schaden erleiden. Die Themen ?Wechsel vom Vorstand in den Aufsichtsrat“, ?Zahl der Aufsichtsratsmandate, die jemand haben darf“ und ?Korruptionsregister“ gehören unbedingt auf die Tagesordnung, wenn wir unsere Exportchancen und die Chance, dass deutsche Unternehmen an den Börsen gut notiert sind, bewahren wollen.
Präsident Dr. Norbert Lammert:
Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Glos?
Fritz Kuhn (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Ja, bitte, Herr Glos.
Michael Glos (CDU/CSU):
Herr Kuhn, es hat leider ein bisschen gedauert, bis ich durchgedrungen bin.
Sie wissen über 1984 so gut Bescheid. Daher möchte ich Sie fragen, ob Sie wissen, wer damals der zuständige Minister war, der den Katalysator durchgesetzt hat, und welcher Partei er angehörte.
Fritz Kuhn (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Ich will auf etwas anderes hinaus, Herr Glos.
- Ja, ja. - Mit Ihrer Frage versuchen Sie, davon abzulenken.
Die deutsche Diskussion über das Auto findet immer nach folgendem Motto statt: Bei technischen Veränderungen besteht die Gefahr, dass wir eine große Zahl von Arbeitsplätzen verlieren. Das hat in den letzten 20 Jahren immer nach dem gleichen Mechanismus funktioniert, übrigens auch beim bleifreien Benzin.
Ich möchte auf einen weiteren Punkt hinweisen: Die Diskussion, die wir heute führen, wurde fast wortgleich bereits im Jahre 1984 geführt.
Ich hätte mir vom heutigen Wirtschaftsminister gewünscht, dass er die Bedeutung von Klimaschutz und Klimapolitik verstanden hat und sagt: Leute, lasst uns nicht über das Ob einer neuen Fahrzeugtechnik streiten, sondern nur über das Wie.
Lasst uns in Brüssel Verhandlungen darüber führen, wie man dieses Vorhaben am besten umsetzen kann. - Aber Sie, Herr Glos, sind einen anderen Weg gegangen. Sie haben sich an die ?Bild“-Zeitung, die ?Bild am Sonntag“ und andere Medien gewandt. Sie haben sich wahrscheinlich gedacht: Autofahrer gibt es ziemlich viele; also wiederhole ich die alte Leier und tue so, als könne man den Fahrzeugfortschritt unterbinden.
Jetzt will ich meine Rede fortsetzen.
- Ja.
Michael Glos (CDU/CSU):
Herr Kollege Kuhn, sind Sie bereit, von mir die Antwort auf meine Frage entgegenzunehmen?
Ich meinte den damaligen Innenminister, der zugleich auch Umweltminister war: Dr. Fritz Zimmermann von der CSU.
Fritz Kuhn (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Ich bin von dieser Information überwältigt und danke Ihnen herzlich, Herr Glos.
Nun will ich ernsthaft auf das zu sprechen kommen, was schiefläuft. Frau Merkel, ich kann nicht nachvollziehen, warum Sie die Diskussion über die europäisch-amerikanische Freihandelszone bzw. über den Binnenmarkt angefangen haben. Zunächst war von einer Freihandelszone die Rede. Dann haben Sie gemerkt, dass das in die falsche Richtung geht. Diese Diskussion führt wirklich in die Irre. Dass diese Debatte geführt wird, ist auch in den USA nicht besonders gut angekommen.
Sie müssen Folgendes tun: dafür sorgen, dass im Rahmen der WTO endlich die Doharunde abgeschlossen wird. Sie dürfen nicht sagen: Das machen wir vielleicht. Sie müssen ein klares Bekenntnis abgeben, dass die viel zu hohen Agrarsubventionen in Europa und in den USA systematisch abgebaut werden müssen. Denn sie sind das Haupthindernis, das dazu geführt hat, dass wir in der Doharunde nicht weitergekommen sind. Herr Glos, übrigens wäre es in ordnungs- bzw. wirtschaftspolitischer Hinsicht wichtig, auch darauf hinzuweisen, dass es im Agrarsektor Unmengen von falschen Subventionen gibt. Dabei handelt es sich um Geld, das wir auch zulasten der Entwicklung der armen Länder ausgeben. Das sollten wir nicht tun.
Mein nächster Punkt ist ein Thema, das bei Ihnen, Herr Glos, nie eine Rolle spielt. Deswegen will ich es zum Schluss meiner Rede ansprechen. Bei einem internationalen Vergleich, was in den Ländern, die stärker wachsen als wir, die Wachstumsmotoren sind, sagen Ihnen die Experten: Eine entscheidende Weichenstellung für Wachstum ist, wie hoch in einem Land die Erwerbsarbeitsquote der Frauen ist. Hier stehen wir nach wie vor schlecht da. In Deutschland beiträgt sie gegenwärtig 60 Prozent, in Norwegen und Dänemark allerdings 72 Prozent. Sie müssen zur Kenntnis nehmen, dass die Frage, wie viele Frauen arbeiten, ein Wachstumstreiber ist, und Sie müssen aus gesellschaftspolitischem und steuerpolitischem Blickwinkel fragen, wo Hindernisse bestehen.
In Deutschland gibt es zwei Hindernisse: erstens das Ehegattensplitting, durch das die nicht arbeitenden Frauen steuerlich zu stark begünstigt werden, sodass es als Bremse wirkt, am Erwerbsarbeitsmarkt aufzutreten, und zweitens die noch immer schlechte Kinderbetreuungssituation, vor allem für Kinder unter drei Jahren. Hier müsste ein Wirtschaftsminister, der verstanden hat, wodurch Wachstumsimpulse gesetzt werden können, ebenso ansetzen wie bei den Investitionen. Nach meiner Überzeugung haben Sie das nicht bzw. zu wenig getan.
Ich möchte zum Schluss kommen. Herr Glos, auf der Optimismusschiene fahren wir gerne mit. Dennoch fordern wir Sie auf, im nächsten Jahr eine konsequente Reformpolitik zu betreiben, durch die die Situation der Wirtschaft, der Beschäftigten und auch der Verbraucher, des dritten Marktteilnehmers, verbessert wird. Sie müssen einschneidende Reformen auf den Weg bringen.
Dann würden Sie unserem Land etwas Gutes tun. Wir werden Sie auf diesem Weg kritisch begleiten und unterstützen. Aber in die Suppe des Aufschwungs zu spucken, ist nicht unser Ding.
Vielen Dank.
Präsident Dr. Norbert Lammert:
Nächster Redner ist der Kollege Dr. Michael Meister für die CDU/CSU-Fraktion.
Dr. Michael Meister (CDU/CSU):
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Jeder, der in diesem Haus und in Deutschland auf einen fortgesetzten Aufschwung setzt, kann den Bundeswirtschaftsminister nur beglückwünschen. Die wirtschaftspolitische Strategie des vergangenen Jahres zeigt Erfolge. Wer sich die erste Runde der Debatte heute Morgen hier angehört hat, der konnte feststellen, dass es bei aller Kritik keine schlüssige Alternative zur Strategie der Bundesregierung gibt.
Der Erfolg hat offenkundig viele Väter; das haben wir heute Morgen gehört. Ich möchte ausdrücklich bestätigen, dass auch ich das so sehe. Die Arbeitnehmer haben sich in den vergangenen Jahren eingebracht, indem sie sich zum Beispiel bei den Lohnforderungen zurückgenommen haben. Die Unternehmer entscheiden sich wieder mutig für Investitionen in diesem Land und tragen damit zum Aufschwung bei. Aber auch die Politik hat vor einem Jahr in Genshagen auf der Basis Sanieren, Investieren, Reformieren einen Grundstein gelegt, womit sie wieder Vertrauen und Verlässlichkeit für die Arbeitnehmer und die Unternehmer in diesem Land geschaffen hat. Deshalb sind alle drei - Arbeitnehmer, Unternehmer und Politik - für dieses Erfolgsergebnis des Jahres 2006 verantwortlich.
Ich rate uns dringend dazu, dass wir diese Gemeinsamkeit weiterführen, wenn wir in Deutschland weiterhin Erfolg haben wollen, und uns nach dem ersten Jahr jetzt nicht darüber streiten, wer den größten Anteil an dem Erfolg hat, sondern darauf setzen, dass die Gemeinsamkeit erhalten bleibt, sodass wir an dieser Stelle auch in der Zukunft gemeinsam Erfolg haben.
Die Zahlen sprechen für sich: 2,5 Prozent Wachstum - wer das hier vor einem Jahr bei der Debatte angekündigt hätte, wäre mehr als belächelt worden - und ein Rückgang der Arbeitslosenzahl um eine dreiviertel Million binnen eines Jahres; wer das hier angekündigt hätte, wäre ausgelacht worden. Dies haben wir erreicht. Nach den realistischen Prognosen für das laufende Jahr wird das Wachstum beibehalten und die Arbeitslosenzahl um eine halbe Million weiter zurückgehen. Diese Fortschritte in unserem Land sollten wir nicht kleinreden. Ich glaube, einen wichtigen Anteil daran hat die Große Koalition, indem sie einen Stimmungsumschwung geschaffen, neues Vertrauen geweckt und durch eine klare wirtschaftspolitische Strategie Handlungsfähigkeit bewiesen hat.
Es gibt hier und da natürlich Berufskritiker - das haben wir heute Morgen auch gehört -, die grundsätzlich für Kritik bezahlt werden. Das ist in Ordnung, das müssen wir akzeptieren. Ich glaube aber, wenn wir uns das Verhalten der Wirtschaftssubjekte anschauen, derjenigen, die wirklich Wirtschaft betreiben, dann wird klar, dass sie eine andere Sprache sprechen. Die Binnenkonjunktur ist zum zweiten Standbein des Aufschwungs geworden. Wir müssen uns klarmachen, dass wir innerhalb von zwei Jahren über eine Million mehr Beschäftigte in Deutschland haben werden. Das bedeutet, dass mehr Menschen Einkommen haben werden, das auch wieder ausgegeben wird, was zum Binnenwachstum weiter beitragen wird. Über die Mehrbeschäftigung stärken wir die Binnenkonjunktur in Deutschland. Der Ansatz, den wir verfolgen, ist also richtig.
Wenn wir uns den IfO-Geschäftsklima-Index anschauen, dann stellen wir fest, dass sich die Geschäftserwartungen vier Monate hintereinander verbessert haben. Auch das zeigt, dass das Vertrauen in die Politik gewachsen ist. Die Investitionsnachfrage ist ebenfalls gestiegen. Die Unternehmen investieren doch nur, wenn sie wissen, dass sich das in Zukunft rentieren wird. Das zeigt auch, dass Vertrauen in die Politik und in die Rahmenbedingungen vorhanden ist.
Wir brauchen jetzt keine Politik der ruhigen Hand, sondern ein entschlossenes Umsetzen der Reformen, die wir uns vorgenommen haben. Ich glaube, deshalb ist es wichtig, dass wir uns jetzt nicht ausruhen; denn das Ausruhen nach dem Jahr 2000 hat dazu geführt, dass die Arbeitslosenzahl plötzlich massiv angestiegen ist, dass das Wachstum abgerutscht ist und dass wir massive Probleme mit unseren Staatshaushalten bekamen. Deshalb müssen wir eine andere Strategie fahren. Es ist mehrfach gesagt worden - ich bestätige das aus Sicht der Union auch -: bei Sonnenschein auf die Reformbaustelle. Herr Brüderle, Sie müssen sich aber entscheiden. Sie haben erst gesagt, dass man bei Sonnenschein auf die Baustelle muss, und dann haben Sie gesagt, dass es noch regnet. Nein, im Hinblick auf die Konjunktur scheint die Sonne momentan. Deshalb gehen wir auf die Baustelle. Sie können sich gerne weiter zu Hause vor dem Regen schützen. Dagegen haben wir nichts.
Ich möchte hier ausdrücklich auch einmal darauf hinweisen: An erster Stelle darf nicht die Frage stehen, wie wir den Mangel besser verteilen, sondern wir müssen über die Frage reden, wie wir den Mangel am besten reduzieren. Hier unterscheiden wir uns von einigen in diesem Haus, die den Mangel gerecht verteilen wollen. Nein, wir wollen dafür sorgen, dass die Mangelerscheinungen in unserem Lande verschwinden. Daran arbeiten wir.
Der Kollege Stiegler hat darauf hingewiesen, dass wir in 2006 eine Menge getan haben. Die verschiedenen Maßnahmen haben dazu geführt, dass die Konjunktur angesprungen ist und gut läuft.
In diesem Bereich haben wir sehr viel auf den Weg gebracht, und es hat Wirkung gezeigt.
Was wir neben einem guten Lauf der Konjunktur in unserem Land jetzt brauchen, ist eine vernünftige Strukturveränderung, damit das Ganze nachhaltig tragfähig wird und das Potenzialwachstum in Deutschland steigt. Deshalb ist es richtig, dass wir uns jetzt zum Beispiel des Arbeitsmarktes annehmen. Ich will an dieser Stelle die Diskussion einmal vom Kopf auf die Füße stellen.
Es wird immer wieder behauptet, das Ganze sei zunächst einmal eine Einkommens- bzw. Lohnfrage. Für mich hat erste Priorität nach wie vor die Frage: Wie viel Beschäftigung haben wir im Land, und was können wir dafür tun, dass wir zu mehr Beschäftigung kommen? Wenn wir mehr Arbeit haben, haben wir mehr Wohlstand, und über mehr Wohlstand können wir auch mehr soziale Sicherheit finanzieren. Es darf nicht umgekehrt die Frage diskutiert werden: Wie greifen wir möglichst stark in den Arbeitsmarkt ein, um ihn zu behindern und damit in die Situation zu kommen, dass es weniger Arbeit, weniger Einkommen und damit weniger Wohlstand gibt?
Also muss diese Debatte vom Kopf auf die Füße gestellt werden. Es geht nicht darum, den Arbeitsmarkt zu stören, sondern darum, ihn funktionsfähiger zu machen und damit zu mehr Wohlstand der Menschen in Deutschland beizutragen.
Wenn wir über Strukturreformen reden, muss ich einmal festhalten: Wir haben in diesen Tagen eine Weichenstellung vorgenommen, die in ihrer Dimension nicht zu übertreffen ist. Das ist die Einigung in der Koalition zur Zukunft der deutschen Steinkohle.
An dieser Stelle ist eine Weichenstellung erfolgt, mit der wir den größten Subventionsabbau in der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland festlegen. Bei aller Kritik, die hieran schon wieder im Detail geäußert wird, wäre es vernünftig, das erst einmal zur Kenntnis zu nehmen.
Es gab viele Aktive in der Politik, die sich in wechselnden Regierungskonstellationen dieses Themas angenommen haben und nicht zum Ziel gekommen sind. Jetzt ist eine Vereinbarung getroffen worden, die das zu einem festen Datum zum Abschluss führen wird. Das ist ein positives Signal für alle Beteiligten. Wir erreichen Planungssicherheit für die Kumpel. Sie erhalten das Signal: Es kommt zu einem sozialverträglichen Ausstieg aus der Steinkohlensubventionierung. - Wir erreichen Verlässlichkeit für die öffentlichen Haushalte, indem wir einen klaren Zeitplan und einen klaren Verlauf signalisieren. Wir erreichen Planungssicherheit für die betroffenen Regionen, indem wir ihnen sagen, wie der Strukturwandel gestaltet werden kann. Wir erreichen letztlich auch Planungssicherheit für das betroffene Unternehmen, indem wir den Weg zum Börsengang eröffnen. Hiermit schaffen wir langfristig klare Rahmenbedingungen. Das sollte einmal gewürdigt werden und nicht immer nur mit Detailkritik an der einen oder anderen Stelle bedacht werden.
Als ich 1994 in den Deutschen Bundestag kam, hat mich meine Fraktion zunächst einmal in den Ausschuss für Post und Telekommunikation geschickt.
Ich habe deshalb damals aktiv an der sogenannten Postreform teilnehmen dürfen und will, weil auch das heute Morgen angesprochen worden ist, einfach einmal feststellen: Nach nahezu 13 Jahren hat sich diese Reform als Erfolgsgeschichte für unser Land erwiesen. Wir haben heute mehr Leistung, mehr Qualität, günstigere Preise und bessere Dienstleistungen.
Deshalb müssen wir in der aktuellen Diskussion daran festhalten, dass es darum geht, diese Erfolgsgeschichte fortzuschreiben und sie nicht beim letzten Schritt zu stören. Deshalb werbe ich dafür, dass wir an diesem Erfolgsweg festhalten und so erreichen, dass wir national eine gute Versorgung unserer Bevölkerung haben und international auch ein dominierender Spieler in diesem Markt sind.
Sie haben heute Morgen das Stichwort Bürokratieabbau angesprochen. Uns im Deutschen Bundestag liegt jetzt das erste Gesetz vor, in dem im Vorblatt genannt ist, wie hoch die zusätzlichen Bürokratielasten sind bzw., in diesem speziellen Gesetz, in welchem Maß ein Abbau an Bürokratiekosten stattfindet. Das ist für uns als Mitglieder des Deutschen Bundestages ein qualitativer Sprung nach vorne, weil wir über die Bürokratie nicht mehr nur theoretisch debattieren: ?Gibt es mehr oder weniger Bürokratie, macht man es besser oder schlechter?“, sondern eine klare Ansage seitens der Bundesregierung haben, was dieses zweite Mittelstandsentlastungsgesetz konkret an Entlastung für die Unternehmen, aber auch für die öffentliche Verwaltung bringt.
Jetzt kann man natürlich sagen: Dieser Betrag ist bescheiden. - Ich bin mir mit dem Kollegen Stiegler, mit der SPD-Fraktion und mit meiner Fraktion darüber einig, dass wir der Bundesregierung dabei helfen werden, das Gesetz noch etwas anzureichern, sodass auch hierdurch schon mehr Bürokratieabbau stattfinden wird.
Der qualitative Sprung für uns alle an dieser Stelle ist aber: Wir können messen. Wir sollten diese Möglichkeit nutzen. Die EU hat gesagt: Wir wollen 25 Prozent Bürokratieabbau. - Wir in Deutschland sollten nicht unter dieser Stange durchlaufen, sondern über diese Hürde springen. Deshalb sollten wir uns vornehmen, das Ziel ?25 Prozent weniger Bürokratie in diesem Land“ zu erreichen.
Wenn wir dieses Ziel einmal erreicht haben werden, wird es damit aber nicht getan sein. Ich werbe an dieser Stelle um Nachhaltigkeit auch beim Bürokratieabbau. Wir sollten wie folgt verfahren: Wir legen sozusagen einen Deckel darauf. Jeder, der in Zukunft ein neues Gesetz vorlegt, mit dem neue Bürokratie geschaffen wird, muss an anderer Stelle Bürokratie abbauen, damit es nicht bei einem Einmaleffekt bleibt, sondern in diesem Land Bürokratiekosten dauerhaft begrenzt werden. Wenn wir mit solchen Mechanismen und Strategien arbeiten, dann können wir auf die Sonntagsreden zu dem Thema verzichten und endlich qualitativen Bürokratieabbau in Deutschland betreiben und so, ohne Geld in die Hand zu nehmen, für Entlastung der öffentlichen Verwaltung und der Bürger sorgen, meine Damen und Herren.
Ich sage ausdrücklich: Auch das kann Politik nicht alleine leisten, sondern wir brauchen den Bürger. Denn wenn wir Bürokratie abbauen sollen, muss der Bürger in diesem Land bereit sein, selbst mehr Verantwortung zu übernehmen, statt auf den Staat und die öffentliche Hand zu schauen.
Auch an dieser Stelle flankieren wir. Ich nenne die Debatte über das Gemeinnützigkeitsrecht, die wir momentan führen. Wir wollen für den Bürger in diesem Land, der bereit ist, für seinen Staat, für die Gesellschaft mehr zu tun, bessere Rahmenbedingungen schaffen. Wir diskutieren momentan in der Koalition über steuerliche Rahmenbedingungen. Ich glaube aber, wir dürfen nicht beim Steuerrecht stehen bleiben. Wir müssen auch die Bürokratie im Vereinsrecht hinterfragen und über das Haftungsrecht für diejenigen sprechen, die ehrenamtlich tätig sind. Wir müssen die Frage stellen, inwieweit wir jemandem, der Verantwortung übernimmt, auch noch haftungsrechtliche Bedingungen aufbürden, mit denen er sich zusätzlich zu seinem Einsatz auseinandersetzen muss. Ich plädiere dafür, dass wir, wenn wir für Bürgerengagement werben, den Bürgern auch Rahmenbedingungen geben, die ihnen dieses Engagement für unsere Gesellschaft möglich machen, meine Damen und Herren.
Zum Abschluss: Sehr oft wird eingefordert, wir müssten bei der Unternehmensteuer etwas tun. Vor 18 Monaten gab es einen Jobgipfel, auf dem sich die Fraktionsvorsitzenden mit dem damaligen Bundeskanzler verständigt haben. Aber wer sich jetzt einmal die Eckpunkte der Unternehmensteuerreform, die seit 2. November vorliegen, anschaut und diese mit den Ergebnissen des Jobgipfels vergleicht, der sieht, dass zwar auch wir die Sätze etwas gesenkt haben, dass diese Unternehmensteuerreform jetzt aber auch strukturelle Verbesserungen bringt. Ich glaube, da sind wir in den letzten 18 Monaten einen gewaltigen Schritt vorangekommen. Es liegt jetzt an uns, diesen Fortschritt der strukturellen Verbesserung in den nächsten fünf Monaten in der Gesetzgebung umzusetzen und ins Gesetzbuch zu bringen. Dazu wollen wir einen Beitrag leisten, damit die Menschen sehen, dass sie sich darauf verlassen können, dass die Reformen, über die gesprochen wird, auch umgesetzt werden und dass ihnen damit auch klare Ansagen für die Zukunft gegeben werden.
Vielen Dank, meine Damen und Herren, für die Aufmerksamkeit.
Präsident Dr. Norbert Lammert:
Ich erteile das Wort nun dem Kollegen Martin Zeil für die FDP-Fraktion.
Martin Zeil (FDP):
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Es ist ja erstaunlich, Herr Kollege Meister, dass jemand, der gerade vor 16 Monaten von der Oppositionsbank in die Regierungskoalition gewechselt ist, sich jetzt hier über Berufskritiker erhebt.
Es ist genauso falsch, von Berufskritikern zu sprechen, wie sich hier als Hofjubler zu betätigen, Herr Kollege Meister.
Außerdem hat man bei Ihnen den Eindruck, auch bei Ihren Reden, dass Ihnen der Ehrgeiz in der Wirtschaftspolitik abhandengekommen ist. Sie loben eine Wachstumsprognose von 1,7 Prozent als Riesenerfolg. Wenn ich das einmal mit den Daten anderer Länder in der Welt vergleiche, dann kann ich nur sagen, dass ich mir hier auch bei Ihnen einen wesentlich höheren Anspruch wünsche, meine Damen und Herren.
Es fehlt ja nicht am guten Willen. Das zeigen auch die schönen Worte im Jahreswirtschaftsbericht. Aber die Realität wird doch mehr von den Protektionisten und den Verfechtern einer Reformpause bestimmt. Gerade bei Rot-Schwarz müsste der Wirtschaftsminister als Lordsiegelbewahrer der sozialen Marktwirtschaft seine Stimme laut erheben. Doch diese Stimme ist aus unserer Sicht oft zu zaghaft, zu widersprüchlich, verhallt ungehört und ist manchmal gar nicht zu hören.
Ich komme aus einem wunderbaren Land - Bayern -,
in dem der Mittelstand eine große Rolle spielt. Dort haben die Menschen ein feines Gespür für den Unterschied zwischen Anspruch und Wirklichkeit. Es reicht eben nicht, den Mittelstand in Reden zu loben, ihn dann aber bei der Umsetzung von EU-Recht, der Abwehr von Bürokratielasten oder der Gegenfinanzierung der Unternehmensteuerreform im Stich zu lassen, meine Damen und Herren.
Herr Kollege Meister, Sie haben das Thema Bürokratieabbau angesprochen. Ihre Ausführungen waren interessant. Es wäre aber schön gewesen, wenn Sie dafür gesorgt hätten, dass Ihre Vorstellungen in Bezug auf den Normenkontrollrat, die Sie heute haben, damals bei der Verabschiedung des Gesetzes umgesetzt worden wären. Die Erfahrungen zeigen ja, dass der Normenkontrollrat ein allzu stumpfes Schwert ist; dafür haben Sie gesorgt. In der Presse war schon vom ?kastrierten Hund“ die Rede. Sie haben das quantitative Ziel einer Reduzierung um 25 Prozent angesprochen. Wir haben damals entsprechende Regelungen vorgeschlagen, die Sie aber abgelehnt haben. Jetzt verstecken Sie sich hinter der EU. - Auch das Gesetz zur Gesundheitsreform, das große Auswirkungen auf den Mittelstand hat, ist dem Normenkontrollrat nicht vorgelegt worden. Das ist ein großer Fehler.
Lassen Sie mich noch zu einigen Wettbewerbsfragen Stellung nehmen. In Sachen Wettbewerb und Energiepolitik hat die Monopolkommission den Weg gewiesen. Es war aber die EU-Kommission und nicht der Wirtschaftsminister, die kürzlich mit weitreichenden Vorschlägen an die Öffentlichkeit getreten ist. Hier ist es ähnlich wie beim Energiemix: Sie liegen in Fragen des Wettbewerbs offenbar so weit auseinander, dass Deutschland, das zurzeit die Ratspräsidentschaft innehat, in dieser wichtigen Zukunftsfrage völlig kraft- und konzeptionslos agiert.
Mit der von Ihnen und vorhin auch vom Minister hochgelobten GWB-Novelle bäckt man kleine Semmeln, wie man bei uns in Bayern sagen würde. Sie konzentriert sich auf eine sektorspezifische Preiskontrolle und auf die untaugliche Einbeziehung von Untereinstandspreisen. Mit Preiskontrollen allein schaffen Sie jedoch noch lange keinen Wettbewerb.
Auch auf anderen Gebieten feiern die Vorstellungen der Protektionisten in Ihren Reihen fröhliche Urständ. Herr Kollege Meister hat über die Postdienstleistungen gesprochen. Der Jahreswirtschaftsbericht bekennt sich zur vollständigen Öffnung. Aber in der Koalition wird diese Öffnung wieder infrage gestellt. Es ist schon schlimm genug, wenn eine Regierung auf diese Weise demonstriert, dass sie nicht weiß, was sie will. Noch schlimmer ist es aber, wenn durch dieses Verhalten Zukunftschancen gerade des Mittelstandes verspielt werden.
Der Bundeswirtschaftsminister hat auch die Automobilindustrie, eine Schlüsselindustrie unseres Landes, angesprochen. Das Schlimme ist, dass Sie hier jenseits von Sachfragen keine einheitliche Meinung haben. Noch schlimmer ist, dass Sie kein Konzept haben. Man erkennt überhaupt nicht, worauf Sie hinauswollen. Das muss angesichts der Dringlichkeit dieses Themas wirklich beunruhigen.
Lassen Sie mich noch auf ein anderes Wettbewerbsthema zu sprechen kommen. Bei der Gesundheitsreform haben wir es schwarz auf weiß, dass die Regierung, auch der Wirtschaftsminister, überhaupt nicht erkannt hat, wo hier die Wettbewerbsprobleme liegen. Erst auf Hinweis des Wissenschaftlichen Beirats wurde das Problem der Nichtanwendung der Gesetze zum Schutze des Wettbewerbs überhaupt bekannt. Der Beirat schreibt:
Ihr Ministerium hat die Zuständigkeit für das GWB. Es verteidigt insoweit eine stolze Tradition. Wir halten Ihr Einschreiten für unerlässlich.
Die Antwort ist entlarvend. Sie lässt sich so zusammenfassen: Leider haben wir geschlafen; jetzt können wir nur noch eine Hilfsoperation machen. Aber das Ziel, nämlich die Zuständigkeit der Kartellbehörden sicherzustellen, wird nicht erreicht. - Einen stärkeren Beweis dafür, dass diese stolze, gerade unter liberalen Wirtschaftsministern begründete Tradition Vergangenheit ist - das ist wirklich ein Armutszeugnis -, kann es wohl nicht geben.
Otto Graf Lambsdorff, dessen 80. Geburtstag wir am Montag gefeiert haben, hat den Zustand der Regierung mit dem schönen Satz beschrieben: Das ist nicht Eintracht in Vielfalt, sondern Zwietracht in Einfalt.
Ein echter Aufbruch zu mehr Marktwirtschaft und Wettbewerb steht noch aus.
Präsident Dr. Norbert Lammert:
Für die SPD spricht nun der Kollege Rainer Wend.
Dr. Rainer Wend (SPD):
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die Diskussion heute Morgen gibt mir die Gelegenheit - diese Notwendigkeit ergibt sich für mich daraus -, ein paar Worte zum Thema Staatsverständnis auf den beiden unterschiedlichen Seiten des politischen Spektrums zu verlieren.
Herr Kollege Lafontaine, Sie haben in Ihrer Rede eben sinngemäß gesagt - ich verdichte und verkürze -, man müsse ja nur die Unternehmensteuern stärker erhöhen und die Vermögensteuer wieder erheben, dann werde es in Sachen Gerechtigkeit und Wirtschaft in Deutschland besser werden.
Darauf erwidere ich Ihnen Folgendes, Herr Kollege Lafontaine: Wer in einer Welt, in der mit Niedrigstunternehmensteuern Konzernzentralen nach Irland bzw. Dublin gelockt werden, in der die Slowakei mit Niedrigstlöhnen Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer in ihren Grenzgebieten zu unseren Lasten nach vorne bringen will, in der in Indien Callcenter mit qualifizierten und preiswerten Kräften entstehen und uns die Arbeitsplätze hier weggeholt werden, in der China Rohstoffe mit der Folge gigantischer Preiserhöhungen aufkauft, in der es um einen Wettbewerb um Investitionen und Arbeitsplätze geht, behauptet, man könne mal so einfach mit einer Vermögensteuer und höheren Unternehmensteuern die Lage in Deutschland in Ordnung bringen, hat in der Wirtschaftspolitik in den letzten 20 Jahren nichts dazugelernt und ist im Turm der 70er-Jahre geblieben.
Es ist ja noch schlimmer: Herr Lafontaine, Sie wollen das zwar nicht; aber objektiv tragen solche Parolen dazu bei, dass in unserem Land Demokratieverdrossenheit und Demokratiefeindlichkeit wachsen,
weil Sie die Illusion erwecken, es gäbe hier für unseren Staat und unsere Gesellschaft Handlungsmöglichkeiten. Das sind Fehlinformationen. Sie sind aus kurzfristigen Interessen populistisch, und Sie versagen bei der differenzierten Wirtschaftsdebatte in unserer Gesellschaft.
Präsident Dr. Norbert Lammert:
Kollege Wend, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Lafontaine?
Dr. Rainer Wend (SPD):
Das kann ich jetzt schlecht verweigern.
Oskar Lafontaine (DIE LINKE):
Herr Kollege Wend, ich kenne Ihre Position. Ich weiß, dass Sie das, was Sie hier vorgetragen haben, auch ernst meinen.
Dr. Rainer Wend (SPD):
Das ist wahr.
Oskar Lafontaine (DIE LINKE):
Deshalb habe ich versucht, pädagogisch vorzugehen. Ich hatte Ihnen vorgeschlagen, die Vermögensteuer so wie beispielsweise in Frankreich, in den Vereinigten Staaten oder in Großbritannien und die Mindestlohnregelung so wie in den meisten europäischen Staaten zu gestalten. Auch diese Staaten sind auf dieser Welt; ich nehme an, das ist Ihnen bekannt. Was ist Ihr Gegenargument, Herr Kollege Wend?
Dr. Rainer Wend (SPD):
Herr Weltökonom, ich darf mich zunächst sehr herzlich für Ihre pädagogische Belehrung bedanken und möchte Ihnen, ohne belehrend wirken zu wollen, sagen: Demjenigen, der sich einzelne Punkte - ob im Lohnbereich oder bei der Steuer, also mal eben in Amerika die Vermögensteuer - herausgreift, ohne zu berücksichtigen, wie die Steuerlage bei Erträgen und anderen Dingen in den Vereinigten Staaten ist, der Rosinenpickerei betreibt, um sozusagen seine eigene Ideologie zu legitimieren, werfe ich vor, Herr Lafontaine, dass er aus kurzfristigen wahltaktischen Interessen heraus populistisch ist und sich einer differenzierten Wirtschaftsdebatte in unserer Gesellschaft verweigert.
Auch zur anderen Seite dieses Hauses ist in Sachen Staatsverständnis etwas zu sagen. Ich berichte Ihnen einmal vom Jahresempfang der Industrie- und Handelskammer in Bielefeld. Der Präsident dieser Industrie- und Handelskammer hat die Wirtschaftsdaten wunderbar geschildert und dargestellt, wie gut alles geworden sei und dass die Situation im Hinblick auf die Wirtschaftsentwicklung und die Arbeitsplätze besser geworden sei. Dann hat er gefragt: Wer hat das alles zu verantworten? Daraufhin hat er geantwortet: Die Politik - er differenziert gar nicht mehr - hat damit gar nichts zu tun. Wir in der Wirtschaft haben es geschafft, dass alles gut geworden ist.
Dazu hatte ich drei Überlegungen: Als Erstes war ich ein bisschen demotiviert. Ich muss meinen Kollegen und Freunden von der IG Metall die Rente mit 67 erläutern, ich muss bei der Arbeiterwohlfahrt über die Arbeitsmarktreformen reden. Wozu mache ich das alles? Denn dies ist ja anscheinend völlig unerheblich für die wirtschaftliche Entwicklung.
Als Zweites war ich darüber besorgt, wie es mit unserer Wirtschaft weitergeht. Denn das intellektuelle Niveau, zu sagen: ?Wenn es schlecht läuft, ist die Politik schuld, und wenn es gut läuft, dann ist die Wirtschaft dafür verantwortlich“,
macht mir Sorgen dahin gehend, wie solche, die das sagen, die Wirtschaft unseres Landes weiterführen wollen.
Als Drittes war ich ein bisschen verärgert. Ich sage mit großem Ernst: Die Demokratieverdrossenheit, die damit auch von Teilen der Wirtschaft gefördert wird, kann ich nicht für richtig halten. Das ist nicht in Ordnung. Jeder muss sich um seine eigenen Dinge kümmern. Die Politik muss ihre Aufgaben bewältigen, und die Wirtschaft muss ihre Aufgaben bewältigen. Beide sollten an die Arbeit gehen.
Lassen Sie mich etwas zum Thema Steinkohle sagen. Ich halte den Kompromiss für vertretbar. Es ist ein schwieriger Kompromiss; dennoch können wir ihm zustimmen. Wir haben uns darauf geeinigt, bis zum Jahr 2018 sozialverträglich aus dem Steinkohlenbergbau auszusteigen, im Jahr 2012 aber noch einmal darüber nachzudenken. Ich meine, alle sollten zu diesem Kompromiss stehen. Meine Bitte an Sie, Frau Bundeskanzlerin, ist: Sagen Sie Ihrem Stoiber von Nordrhein-Westfalen, dass es keinen Sinn macht, Verständigungen immer wieder infrage zu stellen.
Eine Große Koalition lebt von Verlässlichkeit. Dazu gehört auch, getroffene Vereinbarungen umzusetzen.
Wir stehen trotz aller Schwierigkeiten, die wir mit diesem Kompromiss haben, zu dem, was wir politisch entschieden haben. Wir erwarten, dass auch CDU/CSU zu diesem politischen Kompromiss stehen. Bitte erweisen Sie sich als verlässlicher Koalitionspartner! Nur wenn wir bei solch schwierigen Verabredungen zusammenstehen, werden wir diese Koalition zum Erfolg führen können.
Ich habe bereits versucht, anhand einiger Schlagzeilen deutlich zu machen, dass wir in einer Welt leben, die komplizierter geworden ist und keine einfachen Lösungen für ihre Probleme findet. Die Koalition hat sich die Sanierung des Haushalts und die Reformierung der sozialen Sicherungssysteme vorgenommen. Das sind schwierige Aufgaben, die wir nicht als Selbstzweck angehen, sondern um den Investitionsstandort verlässlich zu machen und an die neuen Verhältnisse anzupassen. Wir wollen in Bildung und Forschung investieren, weil in der Wissensgesellschaft die Zukunft liegt. Das sind die richtigen Überschriften für unsere Politik.
Wir wissen, dass wir in dieser Koalition zu Kompromissen gezwungen sind. Wir stehen zu diesen Kompromissen, auch wenn sie uns manchmal schwerfallen. Diesen Weg wollen wir bis zum Ende der Legislaturperiode gehen. Erste Erfolge sind sichtbar, und wir sind davon überzeugt, dass weitere Erfolge in der Gesellschafts- und Wirtschaftspolitik eintreten werden. Wir Sozialdemokraten erweisen uns als verlässlicher Koalitionspartner. Lassen Sie uns gemeinsam diese erfolgreiche Politik weiter betreiben!
Präsident Dr. Norbert Lammert:
Das Wort erhält nun der Kollege Roland Claus für die Fraktion Die Linke.
Roland Claus (DIE LINKE):
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich will über den Zusammenhang von Jahreswirtschaftsbericht und wirtschaftlicher Lage in Ostdeutschland reden.
Sie haben als Bundesregierung Ihren Bericht mit dem Titel ?Den Aufschwung für Reformen nutzen“ überschrieben. Dazu kann ich Ihnen, meine Damen und Herren von der Regierung, nur sagen: Die Mehrheit der Bevölkerung wird das als knallharte Drohung verstehen.
Ihr gefühlter und zum Teil auch gemessener Aufschwung kommt nicht an. Der Bundeswirtschaftsminister hat uns heute wieder einmal erklärt, dass die Leute keine Angst mehr um ihren Arbeitsplatz haben. Darauf muss ich erwidern: Sie haben den Deutschen Bundestag mit dem wirklichen Leben verwechselt.
Ich kann auch verstehen, dass die Koalition ihre Schwierigkeiten hat, wenn mein Kollege Oskar Lafontaine hier einige Wahrheiten sagt. Dass die Bundeskanzlerin bei seiner Rede quasi eine improvisierte Kabinettssitzung einberuft, um nicht zuhören zu müssen, ist jedoch kein Zeichen von Stärke und Souveränität, sondern von Schwäche im Umgang mit kritischen Argumenten.
In Ostdeutschland ist die Zufriedenheit der Bevölkerung - das ist zugegebenermaßen eine etwas vage Kategorie, aber jeder wird sie täglich in sich abfragen - innerhalb weniger Monate von 59 auf 39 Prozent gesunken. Auch für die Wirtschaft gilt: Der Osten ist nicht das Gestern der Republik, sondern das Morgen.
Vielen Dank.
Präsident Dr. Norbert Lammert:
Nächster Redner ist der Kollege Laurenz Meyer für die CDU/CSU-Fraktion.
Laurenz Meyer (Hamm) (CDU/CSU):
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Über die wirtschaftspolitischen Theorien, die hier zum Teil vertreten werden, insbesondere von der Linken, kann man sich nur wundern. Kollege Wend hat einiges Richtige dazu gesagt. Ich will den Wirtschaftsverlauf einmal aus unserer Sicht darstellen und sagen, weswegen wir große Chancen haben.
Wir haben einen Riesenzuwachs an Arbeitsplätzen und haben damit den Trend umgekehrt. Ich sage ganz offen, Herr Wirtschaftsminister: Ich persönlich habe zu Beginn des vergangenen Jahres den in der Finanzplanung unterstellten Ansatz eines Zuwachses von 200 000 sozialversicherungspflichtigen Arbeitsplätzen für sehr riskant gehalten.
Von vorher Jahr für Jahr 400 000 minus auf 200 000 plus - das ist eine gewaltige Umkehr. Wir haben aber nicht 200 000 zusätzliche Arbeitsplätze geschaffen, sondern fast 350 000. Damit gibt es circa 800 000 Arbeitslose weniger. Meine Damen und Herren auch von der Linken, Sie sollten das wahrnehmen. Dazu müssen Sie den Kopf gebrauchen. Die Situation ist so.
Das eigentlich Wichtige an dieser Veränderung ist, dass mehr Menschen Arbeit gefunden haben. Gott sei es gelobt! Aber noch wichtiger ist, dass aufgrund dieser Tatsache jetzt weniger Menschen in Deutschland Angst haben, ihren Arbeitsplatz zu verlieren. Das Angstsparen, dass jeder jeden noch verfügbaren Euro lieber auf die Seite legt, weil er nicht weiß, was nächsten Monat ist, ist zurückgegangen; die verhältnismäßig sehr hohe deutsche Sparquote ist gesunken. Im Inland wird wieder mehr Geld ausgegeben. Das trägt den Aufschwung zusätzlich. Nicht nur die Kaufkraft durch zusätzliche Beschäftigung, auch der Rückgang des Angstsparens und der Verlust der Angst um den Arbeitsplatz sind die selbsttragenden Elemente, die jetzt zusätzlichen Schub geben. Deswegen können wir guter Hoffnung sein, dass sich der Arbeitsmarkt in diesem Jahr noch stärker bewegt als im letzten Jahr.
Ich habe die Bitte an die SPD-Kollegen, noch einmal nachzudenken und mit uns in Gesprächen zu überlegen, was wir tun können, ohne etwas einzureißen. Unser Arbeitsmarkt hat leider Gottes ein gewisses Maß an Starrheit; das haben die Diskussionen in der Kommission unter Herrn Müntefering gezeigt. Es gibt zurzeit nur zwei Ventile: das eine sind die 400-Euro-Jobs, das andere ist die Zeitarbeit. Die Arbeitgeber flüchten in diese beiden Bereiche. Daher gibt es hier einen starken Zuwachs, aber zu wenige Einstellungen in den Betrieben selbst.
Wir sollten deshalb darüber nachdenken, wie wir - und zwar mit sozialer Sicherheit für alle, die Arbeit haben - einen Weg finden, der es ermöglicht, dass diejenigen, die Arbeit suchen, schneller eingestellt werden.
Ein weiterer Gesichtspunkt ist, dass wir auf dem Arbeitsmarkt ein riesiges Potenzial, was offene Stellen angeht, zu verzeichnen haben. Die Zahlen belegen eine großartige Veränderung: Es gibt 800 000 offene Stellen. Das muss uns aber in unserem Engagement beflügeln, die Vermittlungstätigkeit noch stärker anzukurbeln. 800 000 offene Stellen und noch 4 Millionen Arbeitslose - es macht mich unruhig, dass diese Stellen nicht schneller besetzt werden. Hier muss sich mehr tun.
Wir müssen konstatieren, dass wir inzwischen in verschiedenen Teilen Deutschlands einen Facharbeitermangel haben, der sehr unterschiedlich strukturiert ist. Die Situationen in Ostdeutschland und Westdeutschland unterscheiden sich hier etwas. Übrigens, noch einmal an die Linke gesagt: Es sollte Ihnen zu denken geben, dass die Länder, die am schlechtesten dastehen, die sind, in denen Sie eine Zeit lang Verantwortung getragen haben. Das müsste in Ihren Köpfen irgendwann einmal ankommen.
Wir müssen überlegen - das ist meine Bitte an die Kollegen; hier wende ich mich insbesondere an Herrn Stiegler und Herrn Wend -, ob wir nicht den Kombilohn als zusätzlichen Ansatzpunkt brauchen. Vor dem Hintergrund der Bedürfnisse, die wir haben, wäre es denkbar, Arbeitnehmern, die noch nicht die erforderliche Qualifikation für eine offene Facharbeiterstelle haben, während der Qualifizierungsphase einen Kombilohn zu zahlen. Dabei geht es nicht darum, die Unternehmen aus ihrer Verantwortung für die Weiterbildung zu entlassen. Aber wir müssen denen, die uns Sorgen machen, denen, die nicht so qualifiziert sind, dass sie gleich auf dem Arbeitsmarkt unterkommen, besonders helfen.
In diesem Zusammenhang noch zwei Punkte: Wir haben nach Aussagen der Arbeitsagentur inzwischen 6 Millionen Vollzeitarbeitsplätze in der Schwarzarbeit. Was heißt das? Das heißt für mich, es gibt genügend Arbeit in Deutschland, aber nicht genügend bezahlbare Arbeit.
Das heißt, wir müssen die Anreizsysteme so verändern, dass zumindest ein Teil dieser Schwarzarbeit - wir reden nie von der gesamten Schwarzarbeit - in legale, sozialversicherungspflichtige Arbeitsplätze umgewandelt werden kann.
Es gibt einen ganz konkreten Vorschlag, über den wir reden sollten; ich weiß, Herr Kuhn, dass Sie eigene, auch diskussionswürdige Vorstellungen entwickelt haben. Wir haben allein in den Privathaushalten in Deutschland über 4 Millionen Beschäftigungsverhältnisse, davon 120 000 gemeldete, also sozialversicherungspflichtige. Wir reden von einem Verhältnis von 4 Millionen zu 120 000! Im letzten Jahr haben wir bereits einen ersten Anreiz gesetzt, diese Beschäftigungsverhältnisse zu legalisieren, indem wir eine Beschäftigung im Privathaushalt mit einer relativ geringen Summe absetzungsfähig gemacht haben. Ich habe an alle Kollegen die Bitte, gemeinsam darüber nachzudenken, wie wir es als Große Koalition in dieser Legislaturperiode schaffen können, Privathaushalte wie Unternehmen zu behandeln, damit hier legale, sozialversicherungspflichtige Arbeitsplätze entstehen.
Zurzeit findet jemand, der arbeitslos wird und Arbeitslosengeld I bekommt, schnell wieder Arbeit. Sehr viel weniger Leute als früher erleben den Übergang vom Arbeitslosengeld I zum Arbeitslosengeld II. Das kann jedoch nur der erste Schritt sein. Nach wie vor finden zu wenige, die Arbeitslosengeld II beziehen, wieder einen sozialversicherungspflichtigen Arbeitsplatz. Das ist die Gruppe derer, der unsere Hauptsorge gelten muss, wenn wir unsere Wertvorstellungen als Christdemokraten ernst nehmen. Bei der SPD sehe ich das vom Ansatz her ähnlich. Wir müssen gerade für die weniger Qualifizierten, die keine Berufsausbildung oder keine abgeschlossene Schulausbildung haben, Möglichkeiten schaffen. Das ist die Problemgruppe, die auch von einer Verbesserung der konjunkturellen Entwicklung nicht automatisch ergriffen wird. Mit Mindestlöhnen, wie sie diskutiert werden, eröffnen wir dieser Gruppe aber keine Chancen.
Besser ist es, dafür zu sorgen, dass die Menschen - sei es zunächst auch nur für einen Stundenlohn von 5 Euro - in den Arbeitsmarkt kommen. Durch eine Kombination von eigenem Einkommen und Sozialtransfers könnten wir sicherstellen, dass die Menschen und ihre Familien mit einem Mindesteinkommen ein existenzwürdiges Leben führen können. Das ist unsere Konzeption. Wir glauben, dass es besser ist, die Menschen zunächst in den Arbeitsmarkt zu bringen, als sie draußen stehen zu lassen. Es macht keinen Sinn, wie Herr Lafontaine und andere es tun, in erster Linie zuzusehen, dass die, die sich auf dem Arbeitsmarkt befinden, möglichst viel haben. Vielmehr müssen möglichst viele selber Geld verdienen können, weil das eine Frage der Würde des einzelnen Menschen ist.
- Wenn ich so einen Blödsinn höre! Wenn es darum ginge, dass die Würde des Menschen vom Einkommen des Einzelnen abhängig ist, dann müsste Herr Ackermann von der Deutschen Bank in Deutschland derjenige mit der größten Würde sein. Was Sie da erzählen, ist doch grober Unfug.
Lassen Sie mich abschließend auf die Energiepolitik zu sprechen kommen.
Wir müssen langsam aufpassen, Herr Wirtschaftsminister - darüber haben wir gestern bereits im Wirtschaftsausschuss diskutiert -, dass die verschiedenen Instrumente, die wir einsetzen - Anreizregulierung, Kartellrecht und die Regelungen hinsichtlich der CO2-Emissionen; dabei bin ich völlig anderer Meinung als Sie, Herr Zeil -, nicht mit den Vorschlägen auf europäischer Ebene kollidieren und dass wir nicht unseren Standort überfordern, indem wir in Deutschland Standortrisiken vor dem Hintergrund unseres spezifischen Produktionshintergrunds eingehen.
- Umso besser, wenn ich Sie nicht missverstanden habe.
Ich möchte Sie darauf aufmerksam machen, dass die Diskrepanz zwischen den Meldungen des Umweltministers im Zusammenhang mit den CO2-Emissionen nach Brüssel und den Forderungen Brüssels uns gegenüber einer Größenordnung von 40 Millionen Tonnen entspricht und damit - sei es Zufall oder nicht - haargenau die Menge an CO2-Emissionen ausmacht, die wir vermeiden können, wenn wir den vorliegenden Anträgen entsprechend die Kernkraftwerke bis 2012 laufen lassen würden. Wir werden uns mit dieser Frage noch weiter beschäftigen müssen.
Noch eine letzte Bemerkung zur Kohle: Was gestern in der Aktuellen Stunde die Kollegen der SPD zum Teil vorgetragen haben, nämlich dass die endgültige Entscheidung erst 2012 falle, halte ich für falsch,
und zwar aus zwei Gründen: Erstens ist der Bundestag jederzeit mit einer entsprechenden Mehrheit in der Lage, eine bereits getroffene Entscheidung wieder zu kippen, wenn sich die Rahmenbedingungen völlig ändern. Viel wichtiger ist aber zweitens - das hat das eingangs von mir erwähnte Beispiel der Stilllegung der Zeche Sophia Jacoba im Rheinland gezeigt -, dass wir einen langfristigen Termin brauchen, auf den sich alle Betroffenen einstellen können. Dann ändert sich die psychologische Wahrnehmung vor Ort, und es wird auf das Neue hingearbeitet.
Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner:
Herr Kollege Meyer!
Laurenz Meyer (Hamm) (CDU/CSU):
Ich komme zum Schluss. - Dann wird auf das Neue hingearbeitet, statt nur das Althergebrachte zu verteidigen.
Deshalb halte ich es für falsch, wenn der Eindruck erweckt wird, als wenn nur der erste Schritt erfolgt wäre. Wir haben es mit einer endgültigen Entscheidung zu tun, die der Bundestag jederzeit bei fundamentaler Änderung der Rahmendaten revidieren kann.
Auch alle anderen Argumente sind inzwischen weitgehend - -
Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner:
Herr Kollege, ich darf Sie an Ihr Versprechen erinnern.
Laurenz Meyer (Hamm) (CDU/CSU):
Ich bin beim letzten Satz, Frau Präsidentin. - Auch alle anderen Argumente sind weitgehend erledigt, liebe Kolleginnen und Kollegen von der SPD - spätestens seitdem die RAG vor wenigen Wochen den größten Bergbauzulieferer, den wir in der Bundesrepublik hatten, an die amerikanische Konkurrenz verkauft und die Kokerei in Dortmund geschlossen hat.
Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner:
Herr Kollege, das waren jetzt mindestens fünf Schlusssätze. Ich muss Sie jetzt an Ihr Versprechen erinnern.
Sie haben Ihre Redezeit um zwei Minuten überzogen.
Laurenz Meyer (Hamm) (CDU/CSU):
Ich bin Ihnen dankbar, dass Sie mich darauf aufmerksam machen, Frau Präsidentin, und schließe damit.
Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner:
Das Wort hat der Kollege Joachim Poß, SPD-Fraktion.
Joachim Poß (SPD):
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Zu einer guten Koalition gehört, Herr Kollege Meyer, dass man sich ausspricht und offen die Meinung sagt. Deshalb will ich erstens zu Ihren letzten Bemerkungen feststellen: Sorgen Sie bei Ihrem nordrhein-westfälischen Parteifreund Rüttgers dafür, dass endlich Planungssicherheit für die Bergleute und die Kohle geschaffen werden kann! Das wäre Ihre Aufgabe. Sie sollten hier keine Ablenkungsdiskussion führen. Herr Rüttgers ist derjenige, der quer im Stall steht.
Zweitens. Zur Offenheit gehört auch, Kollege Meister, dass man keine Legenden entstehen lässt. Sie haben von der Gefahr der Politik der ruhigen Hand im Jahr 2000 gesprochen. Im Jahr 2000 hatten wir ein Wirtschaftswachstum von 2,9 Prozent. Dann kamen der Crash an den Börsen und Finanzmärkten im Frühjahr 2001 und die Unsicherheit durch Nine-Eleven. Das hat uns wirtschaftspolitisch zurückgeworfen, nicht die Politik der ruhigen Hand. Daran will ich in diesem Zusammenhang erinnern.
Der dritte Punkt ist - auch dabei bin ich für einen sehr offenen und konstruktiven Umgang innerhalb der Koalition -, wie wir mit wichtigen Themen umgehen, zum Beispiel mit der Erbschaftsteuer.
- Sie wollen sie abschaffen. Das ist klar. - Nachdem wir einen Kompromiss geschmiedet hatten, kam jetzt ein Urteil, das sicher viele von uns so erwartet haben. Zu dem, was Herr Glos gestern in der Pressekonferenz und heute gesagt hat, möchte ich einen CDU-Finanzminister zitieren, den in seiner Kompetenz wohl unbestrittenen Gerhard Stratthaus, der laut heutigem ?Handelsblatt“ gesagt hat:
Es muss so schnell wie möglich Rechtssicherheit mit neuen Bewertungsregeln geschaffen werden, auf denen eine Verschonung von Betriebsvermögen aufbauen kann.
Ich bin genau dieser Meinung.
Die SPD steht auch eindeutig zu der Vereinbarung der Schonung des Betriebsübergangs. Daran hat sich nichts geändert. Aber wir können eine Regelung nicht auf eine verfassungswidrige Grundlage aufsetzen. Ich glaube, das geht schon aus rechtsstaatlichen Gründen nicht, von anderen, politischen Gründen will ich gar nicht erst sprechen.
Darüber müssen wir uns in der Koalition und müssen sich Bund und Länder - auch jenseits der Parteien - in den nächsten Tagen und Wochen verständigen. Wir wissen ja, dass die Ländermehrheit im Herbst letzten Jahres im Finanzausschuss des Bundesrates ein Votum abgegeben hat, das man im Weiteren berücksichtigen muss.
Noch eine Bemerkung zu einem meiner Vorredner: Der Kollege Lafontaine hat in seiner Bilanz der Politik der letzten Jahre, die er hier unter Verteilungsaspekten angestellt hat, manche fundamentalen Daten gänzlich ausgeklinkt, zum Bespiel den Umstand, dass die Unternehmen in der Bundesrepublik Deutschland im letzten Jahr so viele Steuern gezahlt haben wie noch nie. Wesentlich waren die - reaktivierte - Körperschaftsteuer und die Gewerbesteuer mit einem Aufkommen von 38 Milliarden Euro. Es wurde schon erwähnt: Das versetzt die Kommunen in die Lage, über die Schuldentilgung hinaus verstärkt zu investieren. Warum wird das in Ihrem Zerrbild nie erwähnt? Das gehört auch zu den Erfolgen unserer Politik, für die wir 2003 gestritten haben.
Warum fehlt denn in der Bilanz von Lafontaine und anderen, dass durch unsere Steuersenkungen bei der Einkommensteuer in den letzten Jahren ein Arbeitnehmer, verheiratet, zwei Kinder, unter Berücksichtigung des Kindergeldes ein Jahreseinkommen von 37 600 Euro haben kann und trotzdem keine Steuern zahlen muss? Warum fehlt das denn in dieser Bilanz? Sie suchen sich wirklich nur das zusammen, was Ihnen gerade so in den Kram passt.
Wir können die Verantwortung der Gewerkschaften für die Lohnfindung politisch nicht ersetzen und wollen das auch nicht. Unser Beitrag muss es sein - das ist auch in der Rede von Herrn Meyer hier angeklungen -, schon in der Suchphase und beim Austausch von Meinungen zu klären, was der Staat zur Rahmensetzung beitragen kann. Ich finde es gar nicht schlimm, wenn man das hier so offen diskutiert, wie Sie das haben anklingen lassen, und bin ganz zuversichtlich, dass wir da, genauso wie in anderen Fällen, zu guten Lösungen kommen werden.
Noch ein Wort zur Vermögensteuer - leider ist Oskar Lafontaine nicht mehr im Saal -: Die Chance auf Wiedereinführung der Vermögensteuer hat bis zum März 1999 bestanden, bis zu dem Zeitpunkt, als unsere relative Bundesratsmehrheit durch die Wahlniederlage in Hessen verloren gegangen ist. Der damalige SPD-Vorsitzende und Finanzminister, der die Vermögensteuer bis März 1999 hätte durchsetzen können, hieß Oskar Lafontaine. Der hat in dieser Frage - das kann ich als jemand, der als Ohren- und Augenzeuge in den Koalitionsgremien unmittelbar beteiligt war, sagen - kräftig gewackelt. Andere in der SPD waren dagegen, das gehört auch mit zur historischen Wahrheit. Aber er hat kräftig gewackelt. Lafontaine kann sich in dieser Frage hier nicht hinstellen und die Backen aufblasen, er ist in dieser Frage nicht glaubwürdig.
Ich freue mich darüber, dass offenbar zunehmend Konsens darüber besteht, dass wir bei der Konsolidierung der öffentlichen Haushalte nur über Wirtschaftswachstum vorankommen können. Das hat sich im letzten Jahr gezeigt: Auf Bundesebene hatten wir Steuermehreinnahmen von fast 10 Milliarden Euro, die gänzlich in die Senkung der Nettokreditaufnahme gesteckt wurden. Auch damit hat vor einem Jahr, wenn wir ehrlich sind, keiner gerechnet. Weil diese Strategie, nicht nur die Binnenkonjunktur zu stimulieren, zum Beispiel über unser 25-Milliarden-Impulsprogramm, sondern auch konjunkturgerechte Konsolidierung zu betreiben, 2006 so erfolgreich war - ich füge in Klammern hinzu: und im Bundesrat nicht blockiert wurde -, sollten wir diesen Policy Mix beibehalten. Wir wären schlecht beraten - ich sage das nicht nur mit Blick auf die Bundesbank, sondern auch mit Blick auf einige Stimmen aus der Koalition -, mit überzogenen einseitigen Sparanstrengungen zulasten der Binnennachfrage das, was wir erreicht haben, jetzt wieder zunichtezumachen. Ich bin hier sehr für Differenzierung. Aber ich glaube, unsere Verantwortung besteht darin, zu sehen, mit welchem Policy Mix wir unsere Ziele erreichen können. Den erfolgreichen Weg des Jahres 2006 - Wachstum, Beschäftigung und Konsolidierung - sollten wir 2007 und darüber hinaus fortsetzen. Das heißt für mich, es muss alles vermieden werden, zum Beispiel Investitionen durch Kürzungen zu beschädigen. Der Staat muss alles, was im Rahmen seiner Möglichkeiten ist - die Wahrheit ist, dass das nicht allzu viel ist -, dafür tun, die Weichen so zu stellen, dass wir unseren Beitrag zur weiteren Stabilisierung der konjunkturellen Entwicklung leisten können.
Danke schön.
Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner:
Letzter Redner in dieser Debatte ist der Kollege Garrelt Duin, SPD-Fraktion.
Garrelt Duin (SPD):
Frau Präsidentin! Sehr verehrte Kolleginnen und Kollegen! Der Kollege Poß hat gerade sehr ausdrücklich darauf hingewiesen, wie wichtig es ist, dass wir die richtigen Schwerpunkte setzen. Um in der Arbeitsmarktpolitik sowie der Haushalts- und Finanzpolitik erfolgreich zu sein, brauchen wir eine nachhaltige Wirtschaftspolitik und ein nachhaltiges Wirtschaftswachstum. Ich habe schon in der Debatte während der Aktuellen Stunde in der letzten Sitzungswoche, als es um ein ähnliches Thema wie heute ging, gesagt, dass wir in Deutschland eine Standortdebatte brauchen, in der nicht einseitig auf vermeintliche Starrheiten des Arbeitsmarktes hingewiesen wird und die nicht auf Kosten und Steuern ausgerichtet ist, sondern in der die Bedingungen für einen wirklichen Qualitätswettbewerb in den Mittelpunkt gestellt werden.
Innovation ist der Schlüssel zur wirtschaftlichen Weiterentwicklung in einem Hochlohnland wie Deutschland, was wir weiterhin bleiben wollen. Innovationen kommen aus den Universitäten, vielen mittelständischen Betrieben, die unter anderem als Zulieferer tätig sind und eigene Produkte für den Markt entwickeln, und der Industrie. Viele qualifizierte Dienstleistungen hängen unmittelbar von der Industrie ab. Zunehmend mehr Industrieprodukte enthalten einen hohen Anteil an Wissen und Dienstleistungen. Europa und insbesondere Deutschland brauchen deswegen auch in Zukunft eine starke Industrie als Basis einer wissensintensiven und wettbewerbsfähigen Volkswirtschaft. Wir setzen dabei nicht auf die Konservierung überholter Strukturen, sondern auf den Ausbau der qualitativen Vorsprünge.
Wir müssen die industrielle Struktur unserer Ökonomie auf die knapper werdenden Ressourcen einstellen. Sie haben recht: Das hat viel mit der Kohle zu tun. Wir müssen uns auf die Veränderungen in diesem Bereich einstellen. Das haben wir getan.
Es wird aber deutlich - darauf hat Herr Wend vorhin zu Recht hingewiesen -, dass wir einen Dissens in der Frage haben, was die Politik, der Staat dabei machen kann. Der Staat kann und darf meines Erachtens Märkte nicht ersetzen und keine konkreten Produkte vorgeben. Aber er kann als Pionier Leitmärkten entscheidende Impulse geben. Er muss industriepolitische Prioritäten setzen und sich in Partnerschaft mit Wirtschaft und Wissenschaft auf strategische Felder konzentrieren. Man kann drei Dinge tun: die staatliche Nachfrage organisieren - auf diesem Feld müssen wir noch stärker werden -, die ordnungspolitischen Rahmenbedingungen optimieren und - Herr Kuhn, hier gebe ich Ihnen ausdrücklich recht - mit ambitionierten Grenzwerten in diesem Bereich, die rechtzeitig angekündigt werden, um Planungssicherheit zu schaffen, Innovationen auslösen.
Wir haben in den letzten Tagen eine öffentliche Diskussion über den Beitrag der europäischen und damit nicht zuletzt der deutschen Automobilindustrie zum Klimaschutz erlebt. Ich will als Mitglied der Gruppe CARS 21, die in Europa einige Dinge vereinbart hat, in Erinnerung rufen, dass die europäische Automobilindustrie im Jahr 1999 eine Selbstverpflichtung zum Klimaschutz abgegeben hat, wonach für das Jahr 2008 ein durchschnittlicher CO2-Ausstoß von 140 Gramm pro Kilometer für die gesamte europäische Fahrzeugflotte erreicht werden soll. Danach wird bis zum Jahr 2012 - so die Selbstverpflichtung der europäischen Automobilindustrie - eine weitere Senkung auf 120 Gramm Kohlendioxid pro Kilometer in Aussicht gestellt.
Die Koalitionsfraktionen haben sich bereits im Koalitionsvertrag ausdrücklich zu diesen Abgasgrenzwerten für CO2 bekannt. Es gibt überhaupt keinen Zweifel, dass wir, wenn die Autoindustrie in Europa ihre Selbstverpflichtung nicht einhält, auf europäischer Ebene selbstverständlich für eine entsprechende Gesetzgebung sorgen werden. Für die SPD-Bundestagsfraktion ist völlig klar, dass dieser Beitrag der europäischen Automobilindustrie zum Erreichen der europäischen Klimaschutzziele ebenso notwendig ist wie für die europäischen Verbraucher. Klar ist aber auch - auch das steht im Koalitionsvertrag; Herr Zeil, Sie haben darauf Bezug genommen -, dass das Ziel von 120 Gramm CO2 nicht allein durch die Veränderung der Fahrzeugtechnik erreicht werden kann, sondern anteilig auch durch eine erhöhte Beimischung zum Beispiel von Biokraftstoffen. Diese muss angerechnet werden. Außerdem muss klar sein, dass alle Fahrzeuge in Europa zum Erreichen dieses Ziels beitragen müssen, die großen, aber auch die mittleren und die kleinen. Es geht also um die Beteiligung aller Fahrzeugklassen. Es darf nicht sein, dass einige Unternehmen, weil sie kleine Fahrzeuge bauen, gar nichts für das Klima zu tun brauchen, und alle anderen, vorzugsweise die deutsche Fahrzeugindustrie, die gesamte Aufgabe schultern müssen.
Diese Haltung wird sowohl von Herrn Glos als auch von Herrn Umweltminister Gabriel und im Übrigen auch von Herrn Verheugen vertreten. Die Unterschiede, die manchmal in den Medien künstlich aufgebaut werden, entsprechen schlichtweg nicht der Realität. Es geht um eine differenzierte Herangehensweise.
Lassen Sie mich abschließend, da wir über Europa und die Möglichkeiten des Einflusses sprechen, in der Kürze der mir verbleibenden Zeit das Thema Airbus aufgreifen, weil auch der Minister dieses angesprochen hat. Ich glaube, wir haben zwei Möglichkeiten. Wir können an Frankreich appellieren, dass die Franzosen den staatlichen Einfluss, den sie auf industriepolitische Entscheidungen in ihrem Land nehmen, ein bisschen drosseln mögen, so wie wir das auch tun. Sie mögen sich also auf ein defensives Verhalten einlassen. Wir können auch an den Weihnachtsmann glauben.
Ich glaube, dass wir einen anderen Weg gehen müssen: Mit der gleichen Klarheit, Härte und Intensität, wie das in Frankreich gemacht wird, sollten wir, was Airbus angeht, im Sinne der Beschäftigten an den deutschen Standorten agieren.
Was Herr Enders in diesen Tagen auf einem parlamentarischen Abend in Berlin gesagt hat, war dem nicht zuträglich und hat eher für Verwirrung und Unsicherheit gesorgt als für Klarheit. Ich wünsche, dass Sie, Herr Glos, und alle anderen erfolgreich sind im Sinne der Arbeitsplätze in unserem Land.
Vielen Dank.
Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner:
Ich schließe die Aussprache.
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlagen auf den Drucksachen 16/4170, 16/3450, 16/2460 und 16/2461 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall. Dann sind die Überweisungen so beschlossen.
Ich rufe die Tagesordnungspunkte 4 a bis 4 d auf:
a) Beratung des Antrags der Abgeordneten Dr. Christian Ruck, Anette Hübinger, Dr. Wolf Bauer, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der CDU/CSU sowie der Abgeordneten Dr. Sascha Raabe, Gabriele Groneberg, Dr. Bärbel Kofler, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD
Die deutsche G8- und EU-Präsidentschaft - neue Impulse für die Entwicklungspolitik
- Drucksache 16/4160 -
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung
(f)
Auswärtiger Ausschuss
Rechtsausschuss
Finanzausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Verteidigungsausschuss
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen
Union
Ausschuss für Kultur und Medien
Haushaltsausschuss
b) Beratung der Unterrichtung durch die Bundesregierung
Zwölfter Bericht zur Entwicklungspolitik der Bundesregierung
- Drucksache 15/5815 -
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung
(f)
Auswärtiger Ausschuss
Sportausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung
Ausschuss für Tourismus
Ausschuss für Kultur und Medien
Haushaltsausschuss
c) Beratung des Antrags der Abgeordneten Hellmut Königshaus, Dr. Karl Addicks, Harald Leibrecht, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP
Die Entwicklungszusammenarbeit mit Schwellenländern auf eine neue Grundlage stellen
- Drucksache 16/3839 -
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung
(f)
Auswärtiger Ausschuss
Rechtsausschuss
Finanzausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Verteidigungsausschuss
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen
Union
Ausschuss für Kultur und Medien
Haushaltsausschuss
d) Beratung des Antrags der Abgeordneten Thilo Hoppe, Ute Koczy, Jürgen Trittin, weiterer Abgeordneter und der Fraktion des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN
Reformen für eine gerechte Globalisierung - Deutsche G8-Präsidentschaft für Klimaschutz und nachhaltige Entwicklung nutzen
- Drucksache 16/4151 -
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung
(f)
Auswärtiger Ausschuss
Rechtsausschuss
Finanzausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Verteidigungsausschuss
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen
Union
Ausschuss für Kultur und Medien
Haushaltsausschuss
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die Aussprache eine Stunde vorgesehen. - Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat die Bundesministerin Heidemarie Wieczorek-Zeul.
Heidemarie Wieczorek-Zeul, Bundesministerin für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung:
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die beiden Präsidentschaften, die EU-Präsidentschaft und die G-8-Präsidentschaft, sind für Deutschland und diese Bundesregierung eine einmalige und außergewöhnliche Chance, unsere globale Verantwortung deutlich zu dokumentieren und Schlussfolgerungen auch für die praktische internationale Arbeit zu ziehen.
Dabei geht es vor allen Dingen auch darum, dass nachhaltige Entwicklung, sozialer Ausgleich, Bewahrung der Umwelt, partnerschaftliche Verantwortung und die Umsetzung der Milleniumsentwicklungsziele verwirklicht werden.
Insgesamt ist für beide Präsidentschaften Afrika das verbindende - ich möchte sagen - Topthema dieser Präsidentschaften. Ich möchte an der Stelle dem Bundespräsidenten sehr herzlich danken, dass er Afrika mit seiner ?Partnerschaft für Afrika“ immer wieder auch auf die Agenda Deutschlands setzt und damit die Verbundenheit mit unserem Nachbarkontinent deutlich macht. Ich danke ihm sehr für dieses Engagement.
Bei seiner letzten Reise stand das Thema der Zusammenarbeit der jungen Generation auf beiden Kontinenten im Mittelpunkt. Zur Erinnerung: Fast die Hälfte aller Menschen in Afrika ist unter 18 Jahre alt. Wir sollten und wollen dazu beitragen, dass diesen Jugendlichen Stimme und Zukunft gegeben wird.
Ich möchte zum Zweiten daran erinnern - auch den Kollegen Tauss - -
- Ja, guten Morgen! Nehmen Sie schon einmal Platz.
Das geht jetzt aber nicht von meiner Zeit ab, sondern von seiner!
Liebe Kolleginnen und Kollegen, Konflikte, Hunger und Aids sind nur eine Seite der Medaille. Afrika ist auch ein Kontinent von positiven Botschaften. Afrika entwickelt höhere Wachstumsraten und demokratischere Strukturen. Ich will an dieser Stelle ausdrücklich ein Lob sagen: Ich finde es hervorragend, dass die Afrikanische Union zum zweiten Mal dem sudanesischen Präsidenten Bashir die AU-Präsidentschaft verweigert hat und stattdessen den ghanaischen Präsidenten Kufuor zum Präsidenten gewählt hat.
Glückwunsch, das ist eine weise Entscheidung.
Ein Afrikaziel unserer Doppelpräsidentschaft ist ein Pakt für nachhaltiges Wirtschaftswachstum, verbunden mit nachhaltigen Investitionen. Wir wollen zum Beispiel mit der Weltbank dafür sorgen, dass es einen regionalen Mikrofinanzfonds gibt, der den armen Bevölkerungsgruppen in Afrika den Zugang zu Krediten und damit zu neuen Lebenschancen ermöglicht. Wir wollen die Wirtschaftspartnerschaftsabkommen, die die Europäische Union mit den afrikanischen, karibischen und pazifischen Staaten abschließt, entwicklungsförderlich gestalten. Es geht nicht an, dass die 50 ärmsten Länder nur über ein halbes Prozent des Welthandels verfügen. Das muss geändert werden; diese Länder müssen ihren gerechten Anteil am Handel erhalten.
Wir unterstützen gute Regierungsführung und verweisen darauf, dass es einen Überprüfungsmechanismus innerhalb der afrikanischen Länder gibt, den wir besonders unter dem Gesichtspunkt der Bekämpfung von Korruption unterstützen.
Nicht zuletzt wollen wir gerade während unserer G-8- und EU-Ratspräsidentschaft dazu beitragen, HIV/Aids zu bekämpfen. Es ist ein Skandal, liebe Kolleginnen und Kollegen, dass mittlerweile im südlichen Afrika 70 Prozent aller Infizierten Frauen sind. Wir wollen, dass ein Schwerpunkt bei der Bekämpfung von HIV/Aids bei den Frauen gesetzt wird und dass Frauen und Kinder gerettet werden. Das ist wichtig und das wollen wir zu einem Schwerpunkt unserer Arbeit machen.
Ich möchte im Übrigen darauf hinweisen, dass es nachher, zwei Tagesordnungspunkte weiter, noch eine Debatte zur Genitalverstümmelung von Frauen gibt. Ich will an dieser Stelle sagen: Unser Ministerium ist engagiert im Kampf gegen diese widerwärtige Menschenrechtsverletzung an Frauen. Wir unterstützen die afrikanischen Staaten und vor allen Dingen die Nichtregierungsorganisationen im Kampf dagegen. Es ist zum Beispiel in Benin gelungen, das Abschwören von der Genitalverstümmelung durch alle Gesellschaftsgruppen zu erreichen. Das ist ein riesengroßer Fortschritt, den wir auch in anderen Ländern erreichen wollen.
Wir wollen unsere Entwicklungspolitik an den folgenden Kriterien orientieren: Die Effektivität muss gesteigert werden. Wir wollen eine bessere Arbeitsteilung zwischen der Europäischen Union und den Mitgliedstaaten. Dazu werden wir ganz konkrete Vorschläge vorlegen und hoffentlich auch im Rat der Entwicklungsminister beschließen lassen. Selbstverständlich wollen wir auch den Stufenplan zur Steigerung der Finanzmittel für die Entwicklungszusammenarbeit umsetzen. Ich will darauf hinweisen, dass beim Gipfel in Gleneagles alle Staats- und Regierungschefs zugesagt haben, dass bis zum Jahr 2010 die Mittel für die Entwicklungszusammenarbeit für Afrika verdoppelt werden sollen. Auch dem sind wir verpflichtet, und das hat entsprechende Konsequenzen, die wir mittragen müssen und auch wollen.
Klima und Energie. Wir wissen - nicht erst seit dem Bericht von Nicholas Stern -, dass der Klimawandel besonders zulasten der ärmsten Entwicklungsländer und der Länder in Afrika geht, die für die entsprechenden Belastungen durch den CO2-Ausstoß in keiner Weise verantwortlich sind. Eines unserer zentralen Ziele ist, eine nachhaltige Energieversorgung, Energieeffizienz sowie den sofortigen und konsequenten Ausbau erneuerbarer Energien - eine der zentralen Aufgaben gerade mit Blick auf die afrikanischen Länder - voranzubringen.
Gleichzeitig wollen wir den Entwicklungsländern helfen, mit dem Klimawandel fertig zu werden und ihre Wälder zu erhalten. Unser Planet Erde hat keine Zukunft ohne den Schutz unserer Lebensgrundlagen und ohne den Schutz der Biodiversität. Das muss jedem klar sein, auch uns selbst!
Wir wollen strategische Partnerschaften aufbauen; wir tun dies schon jetzt. In diesem Kontext steht die Kooperation mit China. Wir können den Klimawandel nur gemeinsam mit China eindämmen. Wenn wir erneuerbare Energien in China fördern, dann sind das - auch im Hinblick auf unsere eigene Zukunft - gut angelegte Investitionen. Das muss immer wieder klargemacht werden. Unabhängig davon gibt es aus afrikanischen Ländern - dankenswerterweise - immer mehr Kritik am Vorgehen Chinas in Afrika. Die Zerstörung lokaler Industrie- und Arbeitsmärkte wird zu Recht beklagt. Diese Kritik unterstützen wir, und wir üben sie auch im Gespräch mit der chinesischen Seite. Sie ist bitter notwendig.
Wir brauchen den Dialog mit der Zivilgesellschaft. Deshalb bitte ich alle Anhänger der Zivilgesellschaft in unserem Land, für die Heiligendamm ein Merkposten ist, diese Ziele gemeinsam zu unterstützen. Sie wissen: Auf dem Gipfel von Köln 1999 wurde die Entschuldung der ärmsten Länder beschlossen. In Gleneagles gab es einen weiteren Erlass der Schulden der ärmsten Länder. Heiligendamm muss die Versprechen erfüllen und einen Nachhaltigkeitspakt mit unserem Nachbarkontinent Afrika schließen.
Ich komme zum Schluss. Amartya Sen hat zum Thema ?Auswirkungen der Globalisierung“ gesagt:
Wer der Globalisierung ihren Stachel nehmen will, muss dafür sorgen, dass ihr gewaltiger Nutzen gerechter verteilt wird - nicht in dieser unausgewogenen und ungleichen Weise wie jetzt.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, das ist auch unsere Zukunftsfrage. Wir wollen ihre Beantwortung während unserer Präsidentschaften entschlossen angehen und einen praktischen Beitrag zur Lösung der damit verbundenen Probleme leisten.
Vielen Dank.
Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner:
Das Wort hat der Kollege Hellmut Königshaus, FDP-Fraktion.
Hellmut Königshaus (FDP): Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Das ist wirklich ein Jammer: Endlich einmal eine Kernzeitdebatte zur Entwicklungspolitik, endlich einmal die Gelegenheit, auch die Kollegen aus anderen Bereichen mit diesem wichtigen Thema zu befassen, und nun das. Die Bundesregierung legt uns hier einen Bericht vor, der wirklich reichlich angestaubt ist: Er stammt aus dem Mai 2005. Ich wiederhole: Mai 2005. Man sieht daran, welche dynamische Entwicklung die Entwicklungspolitik unter der Kanzlerin Merkel offenbar genommen hat. Frau Ministerin, herzlichen Glückwunsch! Sie haben es geschafft, die rot-grüne Politik in diesem Bereich völlig ungestört fortzusetzen. Auch das muss man erst einmal schaffen.
Außerdem liegen Anträge der Koalition und der Grünen vor. Beide wurden ganz offenkundig aus dem Fundus zusammengeklaubt. Was darin steht, das sind wirklich lauter olle Kamellen. Das ist wirklich schade. Gut, dass wenigstens unser Antrag tagesaktuell ist: Er befasst sich wirklich mit dem von Ihnen angesprochenen Thema der Schwellenländerpolitik.
Die Schwellenländer, insbesondere Indien und China, haben sich doch wirtschaftlich weiß Gott rasant entwickelt. Sie sind inzwischen längst zu echten Wettbewerbern für die europäische und insbesondere für die deutsche Wirtschaft geworden. Mit ihrer enormen Wirtschaftskraft haben sie teilweise mehr Einfluss auf die Entwicklung in der Welt als mancher G-8-Staat. Dennoch behandeln wir diese Länder nach wie vor so, als habe sich dort in der Vergangenheit nichts getan.
Deshalb - dies stellen wir in unserem Antrag sehr ausführlich dar -, Kollege Tauss, müssen wir unsere Politik gegenüber den Schwellenländern auf eine neue Grundlage stellen.
Angesichts der in manchen dieser Länder angehäuften Devisenreserven wirken unsere Zahlungen trotz ihrer wirklich beträchtlichen Größenordnung geradezu grotesk. Die Devisenreserven Chinas beispielsweise sind - natürlich nur dem Betrag nach - größer als der Schuldenberg des Herrn Steinbrück; das will weiß Gott etwas heißen.
Es ist aber nicht etwa so, dass der chinesische Finanzminister dem Herrn Steinbrück hilft. Nein, es ist genau umgekehrt: Herr Steinbrück macht zulasten unserer Kinder und folgender Generationen Schulden, um Geld nach China zu schaufeln. Für wie blöd müssen uns die Chinesen eigentlich halten, wenn wir sagen, dass wir eine solche Politik in die Zukunft perpetuieren wollen?
Die Inder, Brasilianer und Südafrikaner sagen sich: Solange ihr uns Geld gebt, nehmen wir es dankend an; nötig ist es allerdings nicht. - Gewiss, auch in diesen Ländern gibt es Armut; das ist ganz klar. Aber sie benötigen nicht in erster Linie Geld; das haben sie. Was sie brauchen, ist technische Hilfe. Dafür können sie bezahlen. Dazu sind sie auch bereit. Dieses Geld sollten wir auch annehmen.
China beispielsweise ist inzwischen zu einem der wichtigsten Geber in Afrika geworden. Aber China geht anders vor als wir, die wir ethische Ziele verfolgen. Nein, die Chinesen pumpen Geld nach Afrika und treten dort generös in Spendierhosen auf. Gleichzeitig schicken wir Geld nach China. China gewinnt in Afrika an Einfluss und sichert seine Rohstoffbasis, während wir dort in zunehmendem Maße beides verlieren, weil wir unser ohnehin nur gepumptes Geld nach China schicken, anstatt dort unsere Interessen zu vertreten.
Ich habe die Ministerin so verstanden, als müssten wir mit unserer Entwicklungszusammenarbeit in China unser Klima verteidigen. - Dort meldet sich jemand zu einer Zwischenfrage, Frau Präsidentin. - Dazu kann ich Ihnen nur sagen: Wenn wir der chinesischen Politik in Afrika, dem Raubbau, den China dort betreibt, und der Rücksichtslosigkeit, mit der das Land vorgeht, in den Arm fallen, tun wir mehr für das Weltklima als mit jedem Windpark, den wir in China aufbauen.
Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner:
Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage der Kollegin Koczy?
Hellmut Königshaus (FDP):
Aber selbstverständlich, insbesondere von der Kollegin Koczy.
Ute Koczy (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Herr Kollege, vor Kurzem fand eine Veranstaltung der GKKE, der katholischen und der evangelischen Kirche, zum Thema Armutsbekämpfung statt. Beide Kirchen haben dazu aufgefordert, den Blick darauf zu richten, dass in den vier Schwellenländern bzw. sogenannten Ankerländern China, Indien, Brasilien und Südafrika die Hälfte aller Armen weltweit lebt. Wie stehen Sie zu der Aufforderung der Kirchen, dass die Armutsbekämpfung in Ländern wie Indien und China auch in Zukunft von deutscher Seite zu unterstützen ist?
Hellmut Königshaus (FDP):
Ich habe überhaupt nichts dagegen, dass wir hierzu einen Beitrag leisten.
Aber natürlich muss auch eine angemessene Eigenbeteiligung stattfinden. Es ist doch nicht einzusehen, dass die chinesische Staatswirtschaft die halbe amerikanische Wirtschaft aufkauft und wir in irgendwelchen staubigen Regionen Chinas Armutsbekämpfung betreiben. Das muss nicht sein.
- Weil ich diesen Zuruf gehört habe, sage ich: Das hat nichts mit Stammtisch zu tun.
- Nein, das ist auch nicht Brüderle. Brüderle befasst sich mit diesem Thema nicht mehr.
Dieses Thema haben wir in unserer Diskussion längst geklärt. Für jedermann ist klar, dass wir uns nicht Geld pumpen können, um Ländern wie China das Schuldenmachen zu ersparen und ihre eigenen Probleme zu lösen. Aber wir dürfen die wirklich Bedürftigen, die sich nicht selbst helfen können, nicht zugunsten einer solchen Politik vernachlässigen. Das wäre nicht fair.
Deshalb wollen wir diese Politik nicht fortsetzen. In unserem Antrag fordern wir genau das, was auch die meisten Kollegen von der Union, wie ich weiß, unterstützen - offenbar ist der Kollege Kampeter der Einzige, der das offen aussprechen darf -: Schluss mit diesem Unfug!
Wer hindert Sie eigentlich daran, hier eine Kurskorrektur vorzunehmen, die weiterhin nötige Hilfe an eine Eigenbeteiligung zu binden und unsere Aufmerksamkeit tatsächlich den wirklich Bedürftigen zuzuwenden? Stimmen Sie unserem Antrag zu, verwerfen Sie Ihre beiden Patchwork-Anträge und werfen Sie den Bericht der Bundesregierung dorthin, wo er hingehört: ins Archiv des Vergessens!
Wahrscheinlich wird die Bundesregierung in der Lage sein, irgendwann einen neuen Bericht abzugeben, in dem über das, was die Ministerin uns eben hier mitgeteilt hat, Auskunft gegeben wird. Vielleicht können wir dann über die Schlagworte hinaus, die sie hier aufgezählt hat, auch etwas Substanzielles hören.
Was wollen Sie aus diesem Bericht aus dem Jahr 2005 hier denn noch erörtern? Das sind zwei Jahre alte olle Kamellen, die natürlich rot-grün durchwirkt sind. Sie stammen ja aus dieser Zeit. Der Neuigkeitswert besteht allenfalls darin, dass die Große Koalition unter Beteiligung und Führung der Union diese rot-grüne Politik jetzt offenbar als ihre eigene zu verkaufen gedenkt. Das kann doch wohl auch aus Ihrer Sicht nicht richtig sein.
Um diesen Bericht angemessen zu würdigen, genügt es eigentlich, den damaligen Oppositionsabgeordneten Dr. Ruck zu zitieren. Er hat beispielsweise am 8. Mai 2003 hier zu dieser Politik ausgerufen: Sie, Frau Ministerin, hüpfen von einem Elend oder Krisenherd zum anderen, nach dem Motto: Ziel ist, was Publicity schafft. Dem ist gerade in Bezug auf diesen Bericht überhaupt nichts hinzuzufügen.
Nun aber zu dem Antrag der Koalition. Wie peinlich! Im Rubrum als Erster gleich wieder der Kollege Dr. Ruck, der heute Koalitionsabgeordneter ist. Auch dort ist inhaltlich alles wieder wie unter Rot-Grün gehabt. Dieser Bericht ist aktueller, als man auf den ersten Blick glaubt, wenn man Ihren Bericht liest. Die Textbausteine wurden in den letzen Tagen allerdings ganz offenbar wieder überstürzt auf dem Wühltisch mit den vorhandenen Papieren zusammengestoppelt. Folgerichtig gehen Sie mit Ihrem Antrag auch an den drängenden aktuellen Herausforderungen vorbei.
Während beispielsweise die Kanzlerin, die jetzt nicht da ist, die Bedeutung der zivilen Komponente in Afghanistan immer wieder betont und während hier in Berlin das internationale Koordinierungskomitee zum Wiederaufbau Afghanistans tagt, bekommen Sie es fertig, einen Antrag zur Entwicklungspolitik vorzulegen, in dem das Wort Afghanistan nicht einmal in einer Fußnote auftaucht. Das sollen neue Impulse für die Entwicklungspolitik sein? Schauen Sie einmal nach! Fehlanzeige! Keine Impulse! Nirgendwo!
Man hat den Eindruck, dass Sie vielleicht zu lange auf Impulse der Bundesregierung gewartet haben. Aber da kam natürlich nichts. Deshalb haben Sie offenbar gestern noch schnell etwas zusammentragen lassen und nennen es nun Antrag. Nebenbei bemerkt: Eingang gestern Nachmittag. Der erste Monat der Präsidentschaft war da schon vorbei. Guten Morgen, meine Damen und Herren!
Bei den Grünen war es ähnlich. Sie legten allerdings immerhin schon gestern Vormittag Ihren Antrag vor: eine gedrängte Zehnjahresliste aller Ihrer Anträge, die Sie immer schon gestellt haben.
Die Absicht, die Sie haben und hatten, war aber schlicht und einfach, das Thema nicht allein der FDP zu überlassen.
Deshalb haben Sie solche Papiere zusammengestellt.
So, wie Sie das hier betrieben haben, so lieblos, so zusammengestoppelt, so zusammenhanglos, kann man weiß Gott nicht für Entwicklungspolitik werben. Nutzen Sie die Chancen, die Sie jetzt haben, und kommen Sie mit Inhalten rüber! Dann können wir in Zukunft in der Entwicklungspolitik auch gemeinsam etwas bewirken.
Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit.
Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner:
Das Wort hat der Kollege Dr. Christian Ruck, CDU/CSU-Fraktion.
Dr. Christian Ruck (CDU/CSU):
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Herr Königshaus, ich fand Sie heute sehr aufgeregt und hektisch, sogar ein bisschen überaufgeregt.
Deswegen sind Ihnen auch manche Dinge herausgeplatzt, die Sie normalerweise so nicht gesagt hätten. Das nehmen wir Ihnen nicht übel.
Sie gestatten aber, dass ich genau das, was Sie angemahnt haben, auch tun möchte, nämlich den Zusammenhang zu dem herzustellen, über das wir heute diskutieren.
In der Tat: Durch die Globalisierung und das Ende des Ost-West-Konflikts wurde die Welt verändert. Das zwingt uns natürlich, auch die Weichen in der Entwicklungspolitik neu zu stellen. Das Ende des Ost-West-Konflikts war natürlich ein großer Segen - das ist akzeptiert -, aber es hat gerade in Entwicklungs- und Transformationsländern dramatische Entwicklungen ausgelöst, die neue Probleme bringen oder alte verschärfen. Wir sehen auf der einen Seite Länder mit Tendenzen zu Staatszerfall, zu Bürgerkriegen, zu politischen Wirren, zu Stagnation und Perspektivlosigkeit und auf der anderen Seite, nicht zuletzt durch die Erfolge der Entwicklungshilfe und der Entwicklungszusammenarbeit auch Deutschlands, kleine und große Entwicklungsländer, die erstaunliche Fortschritte machen, die sogenannten Schwellenländer, die uns jetzt aber - so paradox das ist - neue Probleme bereiten, etwa die Verschärfung des Wettbewerbs um Rohstoffe, Märkte und Energiequellen.
Besorgniserregend ist, dass die Kluft zwischen den erfolgreichen Industrie- und Schwellenländern einerseits und den erfolglosen Entwicklungsländern andererseits sowie die Kluft innerhalb dieser Länder wächst. So gibt es wirklich schreckliches Elend auf der einen Seite und märchenhaften Reichtum auf der anderen Seite. Daraus ergibt sich die Konsequenz, dass unsere Welt zunehmend aus dem Gleichgewicht gerät.
Globalisierung heißt in diesem Zusammenhang, dass wir als Deutsche und Europäer von den gewaltigen Umbrüchen auf diesen Kontinenten zunehmend unmittelbar und hautnah betroffen sind und auch stärker darauf reagieren müssen. Wirtschaftliche und ökologische Risiken, steigende Migration, wachsende soziale Spannungen bis hin zu unmittelbarer Bedrohung unserer Sicherheit, alles das erzwingt eine aktivere deutsche und europäische Politik auch gegenüber den Entwicklungsländern bis hin zu Friedenseinsätzen der Bundeswehr.
Die Entwicklungspolitik nimmt dabei eine Schlüsselrolle ein, und zu dieser Schlüsselrolle bekennen wir uns. Sie muss nämlich helfen, politische und wirtschaftliche Strukturen in den Entwicklungsländern zu verbessern. Sie muss Entwicklungsperspektiven für die Menschen eröffnen, Spannungen mildern und globale Gefahren dort abwehren, wo sie entstehen. Das ist die Aufgabe einer modernen Entwicklungspolitik.
Vor diesem Hintergrund hat die internationale Gemeinschaft auf guten Konferenzen eine ganze Reihe von guten Beschlüssen gefasst. Zu nennen sind die Millenniumserklärung, Monterrey, die Afrikainitiativen der G 8, der Johannisburggipfel, die Erklärung von Paris zur Verbesserung der Effizienz. Das alles war gut und richtig. Das alles war mit ein Ergebnis einer engagierten deutschen politischen Beteiligung. Aber von den Beschlüssen zur Umsetzung ist es noch ein weiter Weg. Gerade auch deswegen ruhen viele Hoffnungen auf uns, auf Deutschland, die wir heuer den G-8-Gipfel beherbergen und die EU-Ratspräsidentschaft innehaben.
Herr Königshaus, ich muss Ihnen übrigens eines sagen: Ihr plumper Trick, um die Koalitionspartner, die inzwischen in bewährter Weise zusammenarbeiten, auseinanderzudividieren - das kennen wir von Juso- und JU-Zeiten -, wird hier nicht helfen. Sie werden sich an uns die Zähne ausbeißen.
- Ja.
Wahr ist - das können auch Sie nachlesen -: Bundeskanzlerin Angela Merkel hat die Entwicklungspolitik - das war auch schon Thema ihrer ersten Regierungserklärung; ich nenne in diesem Zusammenhang auch den gestrigen Unionskongress -
stärker als alle ihre Vorgänger zu einem Fokus ihres Regierungshandelns gemacht. Das sieht man auch am Entwicklungshaushalt, der in den letzten zwei Jahren um mehr als eine halbe Milliarde Euro gestiegen ist.
Weitere Steigerungen sind im Busch.
Daran haben auch Sie nichts zu mäkeln.
Gemeinsam haben wir erkämpft - daran sieht man, dass die Entwicklungspolitik ein viel stärkeres Gewicht erhalten hat -, dass ganz wichtige Themen unserer Tagesordnungen auch auf den Tagesordnungen der Ratspräsidentschaft und des G-8-Gipfels stehen. Es sind zentrale Elemente und Aspekte unserer Entwicklungspolitik. Zum einen geht es um eine bessere Arbeitsteilung und Koordinierung. Wir müssen in diesem Jahr einen entscheidenden Schritt - dies ist doch auch Ihr Anliegen - auf dem Weg zu einer transparenteren, effizienteren und schlüssigeren Aufgaben- und Arbeitsteilung, vor allem zwischen der EU und den Mitgliedstaaten, vorankommen.
Davon sind wir noch ein gutes Stück entfernt. Wir möchten Sie, Frau Ministerin, zu den Fortschritten, die sich abzeichnen, beglückwünschen, aber auch dazu ermutigen, diesen Kampf eisern fortzuführen. Unsere Rückendeckung haben Sie.
Ein Beispiel - wir kennen es alle - ist doch, dass viele ärmere Entwicklungsländer mit schwachen Strukturen schon allein dadurch plattgemacht werden, dass 40 oder 50 Geberdelegationen kommen und sie fragen, was sie wollen. Da ist noch kein Spatenstich passiert, und die Länder sind - durch unsere Hilfe - schon am Ende.
Das muss sich ändern.
Wichtig ist auch, dass bei den Handelsbeziehungen zwischen Europa und den Entwicklungsländern Fortschritte erzielt werden. Das ist auch richtig gesagt worden. Dabei geht es nicht nur um Liberalisierung. Es geht darum, dass man durch Liberalisierung Wachstumseffekte erzeugt, die natürlich auch den Armen in den Entwicklungsländern zugutekommen müssen.
- Wenn Sie mir eine Zwischenfrage stellen, kann ich Ihnen das ausführlich erläutern.
Richtig ist auch, dass Klima- und Energiefragen in den Fokus rücken. Zu Recht ist der Stern-Report erwähnt worden. Er macht uns in dramatischer Weise klar, dass wir uns auch auf diesem Gebiet stärker anstrengen müssen. Das gilt ebenso für die Entwicklungs- und die Schwellenländer.
Für uns ist auch der Dialog mit Afrika ganz wichtig. Afrika wird im Fokus von G 8 und EU stehen. Aber entscheidend ist, dass wir nicht nur über Finanzen sprechen und darüber, was wir für Afrika tun können, sondern dass wir die Afrikaner auch fragen: Was ist mit eurer Regierungsführung? Was ist mit euren Vorschlägen? Was sind eure Beiträge, um euren eigenen Kontinent besser in den Griff zu bekommen?
Natürlich dürfen wir gerade in Bezug auf Afrika nicht die Augen vor Fortschritten verschließen, vor Fortschritten bei Wachstumsraten, aber auch in Demokratiefragen. Viele von uns waren in Ghana. Ghana ist ein gutes Beispiel, aber es gibt auch andere gute Beispiele. Nach wie vor gilt das Wort des ehemaligen Weltbankvizepräsidenten Richard, der vor zwei Jahren im Ausschuss gesagt hat: Die Armutsbekämpfung in Afrika kommt deswegen nicht voran, weil es in Afrika die meisten Ländern mit schlechter Regierungsführung gibt. - Ich glaube, dass wir auch dieses Thema zur Sprache bringen müssen und von den Afrikanern Lösungsvorschläge fordern müssen.
Das ist ein wichtiger Punkt; denn - auch das war Tenor unseres gestrigen Kongresses - die entscheidende Frage in der Entwicklungspolitik ist nicht so sehr das Geld, sondern die Frage: Gibt es entwicklungsorientierte Regierungen und Eliten, gibt es Good Governance in diesen Ländern? Und gibt es auch bei uns Good Governance, zum Beispiel in Handelsfragen und anderen Dingen?
Ich glaube, dass wir auch uns als Industrieländer gerade mit Blick auf Afrika fragen müssen, wie wir die Wildwestmethoden bei der Ausbeutung von Rohstoffen in Afrika abstellen wollen, wie wir den Afrikanern dazu verhelfen können, dass sie den Reichtum, den sie im Boden haben, ordentlich und für ihre eigene Bevölkerung gewinnbringend abbauen können. Da spielen natürlich China und andere Schwellenländer - China ist ja nur der böse Vorzeigeknabe - eine wichtige Rolle. Man muss zwischen der berechtigten und der unberechtigten Kritik an diesen Ländern unterscheiden. Unberechtigt ist, ihnen vorzuwerfen, dass sie allmählich das machen, was wir schon immer gemacht haben.
Berechtigt ist aber die Forderung, dass sie mit uns zusammen einen Verhaltenskodex entwickeln, der auch unseren entwicklungspolitischen Vorstellungen von Menschenwürde und Demokratie entspricht und nicht Good Governance und Bad Governance durcheinanderbringt, wie es bei den Chinesen der Fall ist. Das ist der Punkt.
Für mich - auch das möchte ich Ihnen sagen, Herr Königshaus - ist es die falsche Strategie, angesichts des Verhaltens der Chinesen beleidigt zu sein. Ich bin auch nicht für eine offene politische Kriegserklärung. Ich bin fest davon überzeugt - nach unserem gestrigen Kongress umso mehr -, dass wir mit einer intensiveren Zusammenarbeit und auch einem offenen Dialog eine gute Chance haben, Einfluss auf die Politik dieser Länder, sogar auf die Politik Chinas, zu nehmen.
Herr Königshaus, ich rate Ihnen, einmal eine nüchterne Analyse von dem zu erstellen, was wir bereits mit Kreditfinanzierung und anderen Maßnahmen auf den Weg gebracht haben.
Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner:
Herr Kollege, darf ich Sie ebenfalls an Ihre Redezeit erinnern?
Dr. Christian Ruck (CDU/CSU):
Ich bedanke mich für den Hinweis, Frau Präsidentin. Ich befinde mich bereits im Sinkflug.
Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner:
Es muss aber ein schneller Sinkflug sein.
Dr. Christian Ruck (CDU/CSU):
Jawohl. - Vor diesem Hintergrund wünsche ich unserer Kanzlerin und allen beteiligten Ministerinnen und Ministern eine glückliche Hand und viel Erfolg beim Bohren dicker Bretter. Denn eine solche Gelegenheit kommt so schnell nicht wieder. Ich wünsche viel Erfolg bei der EU-Ratspräsidentschaft und beim G-8-Gipfel.
Vielen Dank.
Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner:
Nächster Redner ist der Kollege Hüseyin Aydin, Fraktion Die Linke.
Hüseyin-Kenan Aydin (DIE LINKE):
Meine Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die unsoziale Politik der Bundesregierung ist unpopulär. Der Außenminister steht auf der Kippe. Da kommt die aktuelle G-8-Präsidentschaft gerade recht, um sich wenigstens auf internationalem Parkett als Speerspitze der Armutsbekämpfung darzustellen.
Auf dem G-8-Gipfel vor zwei Jahren wurde den 18 höchstverschuldeten Ländern ein Teilerlass ihrer Schulden versprochen. Geschehen ist aber so gut wie nichts. Nach Angaben der Weltbank flossen 2004 über 333 Milliarden US-Dollar an Kreditrückzahlungen aus dem Süden in den Norden. Das war mehr als viermal so viel wie die kombinierte Entwicklungshilfe aller Industriestaaten zusammen.
Ich betone: Die eigentlichen Kredite sind längst zurückgezahlt worden. Doch die armen Länder stöhnen weiter unter der Last der Zinsen. Bei Geld hört die Freundschaft auf. Ich sage Ihnen: Auch von Heiligendamm ist nichts zu erwarten.
Die so genannte Entschuldungsinitiative der G 8 ist nichts als eine große Augenwischerei.
Das erklärt, warum Deutschland effektiv weniger als je zuvor in die Entwicklungszusammenarbeit steckt.
Frau Merkel, ich muss heute in der Zeitung lesen, dass Sie darüber nachdenken, auch noch Militäreinsätze wie im Kongo aus dem Topf der Entwicklungshilfe zu zahlen. Während das Geld für Gesundheit und Bildung fehlt, erklären Sie dreist, Deutschland würde die Millenniumsziele erreichen. Der vorliegende Antrag der Regierungsparteien reiht sich nahtlos in diese Beschönigungspolitik ein. Sie wollen uns tatsächlich weismachen, dass die G 8 sich ?zu einer wichtigen Institution des internationalen Entwicklungsdialogs entwickelt“ haben.
Wie dieser Dialog aussah, ist hinlänglich bekannt: Die Staaten der G 8 dominieren die multilateralen Finanzinstitutionen IWF und Weltbank. Sie haben diesen Einfluss genutzt, um die armen Länder zu erpressen. Im Zuge der sogenannten Strukturanpassungsprogramme der 80er- und 90er-Jahre wurden afrikanische Staaten gezwungen, öffentliche Unternehmen zu privatisieren. Heute wird diese Politik unter dem zynischen Namen Armutsreduzierung fortgesetzt. Doch arm bleibt arm.
Davon konnte ich mir in der letzten Woche aus Anlass des Weltsozialforums in Kenia ein Bild machen. Mithilfe der korrupten Regierungen Moi und nun auch Kibaki konnte sich das internationale Kapital profitträchtige Unternehmen wie die staatliche Fluglinie unter den Nagel reißen. Die Kehrseite ist: Der Verkauf von staatlichen Betrieben hat in den letzten zehn Jahren 80 000 Arbeitsplätze gekostet. Die Armut nimmt zu; die Slums wachsen. Die Aidsraten steigen rapide in die Höhe. In einem Elendsviertel von Nairobi leben 500 000 Kinder zwischen sechs und 15 Jahren. Doch dort gibt es nur vier Schulen. UN-Generalsekretär Ban hat gestern diesen Slum besucht und seine Betroffenheit erklärt. Doch die Menschen brauchen keine Worte, sondern Taten.
Außer Frage steht: Die deutsche Entwicklungshilfe leistet in Kenia gute Arbeit. Doch leider wird die engagierte Arbeit der Entwicklungshelfer durch die aggressive Marktöffnungspolitik der G 8 völlig konterkariert. Die Bundesregierung ist daran aktiv beteiligt. Derzeit wird aus Mitteln deutscher Entwicklungszusammenarbeit die Wasserversorgung in Kenia aufgebaut, um sie später an profitorientierte Unternehmen zu veräußern. Wozu das geführt hat, kann man sich im Nachbarland Tansania anschauen.
Die Regierungsparteien versprechen in ihrem Antrag neue Impulse für die Entwicklungspolitik. Doch all das, was sie uns vorsetzen, ist der gleiche alte neoliberale Quark. Die Linke sagt Nein zu einer Politik, die nur den Konzernen auf der Welt nutzt.
Vielen Dank.
Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner:
Nächster Redner ist der Kollege Thilo Hoppe, Bündnis 90/Die Grünen.
Thilo Hoppe (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich habe den Eindruck, in dieser Debatte sagt jeder das, was er schon immer einmal sagen wollte oder schon in anderen Debatten gesagt hat.
Ich möchte mich jetzt stark auf die große Chance beziehen, die sich durch die Doppelpräsidentschaft in der G 8 und der EU bietet. Deutschland könnte und müsste neue Impulse setzen, und zwar nicht nur für die Entwicklungspolitik, auf die sich die Koalition in ihrem Antrag beschränkt, sondern auch für den Klimaschutz, die internationale Abrüstung, einen neuen Ordnungsrahmen und neue durchsetzungsfähige Spielregeln in der Globalisierung.
Doch leider ist die Bundesregierung dabei, diese Chance zu vertun. In den Reden, die wir heute oder auch zum Beispiel gestern von der Bundeskanzlerin auf dem entwicklungspolitischen Kongress der CDU/CSU-Fraktion gehört haben, wurde zwar viel Richtiges gesagt.
- Das kann ich unterstreichen; da habe ich mich kaum an irgendwelchen Äußerungen stoßen können. - Aber Entwicklungsrhetorik allein reicht nicht. Den schönen Worten müssen auch Taten folgen.
- Warten wir einmal den Haushalt ab. Sie vertrösten uns schon seit Monaten.
Sie haben die Debatte im Sommer verzögert, als es um die Einführung der Flugticket-Tax, um innovative Finanzierungsinstrumente ging. Da wurde immer wieder gesagt: Wir sind dabei; da ist etwas im Busche. - Wir haben nun lange darauf gewartet, dass der Vorhang gelichtet und präsentiert wird,
welche innovativen Finanzierungsinstrumente, zum Beispiel die Tobin Tax, die Kerosinsteuer oder zumindest die Flugticketabgabe, Deutschland einführt. Aber nichts geschieht. Fehlanzeige! Entwicklungsrhetorik allein reicht nicht aus.
Gewisse Themen, die weltweit eine große Rolle spielen, kamen heute überhaupt nicht vor. Im Koalitionsantrag wird die G 8 gelobt und deren Wohltaten gepriesen. Aber die international intensiv geführte Debatte über die Legitimität der G 8, darüber, dass sie ihren Horizont eigentlich überschritten hat, wird überhaupt nicht aufgegriffen. Die in Heiligendamm versammelten Staatschefs repräsentieren gerade einmal 13 Prozent der Weltbevölkerung. Dieser Klub der Reichen maßt sich an, über die Zukunft der Welt zu entscheiden. Ohne die stärkere Einbeziehung der Schwellen- und Entwicklungsländer lässt sich mittlerweile keine der Zukunftsfragen befriedigend anpacken.
Wir brauchen sehr dringend ernsthafte Anstöße für eine Debatte darüber, wie die G 8 transformiert werden kann. Im Grunde genommen muss diese Debatte dahin zielen, die Strukturen der Vereinten Nationen zu stärken.
Dazu gibt es interessante Vorschläge, die noch überhaupt keine Rolle gespielt haben. Ein Panel, das noch Kofi Annan eingesetzt hat, hat konkrete Vorschläge auf den Tisch gelegt, wie der ECOSOC, der Wirtschafts- und Sozialrat der Vereinten Nationen, der zugegebenermaßen noch ein Schattendasein fristet, kräftig aufgewertet werden kann. Diese Governance-Debatte wollen wir führen. Sie steht auch im Zentrum unseres Antrags.
Man kann es natürlich auch so wie die Linke machen, die sagt: Die G 8 dürfte es eigentlich gar nicht geben.
Deswegen setzen wir uns mit den Inhalten des G-8-Treffens gar nicht auseinander und richten keine Forderungen an die G 8. - Wir gehen den Weg, dass wir diese Governance-Debatte führen und die Legitimation der G 8 infrage stellen, uns aber auch zur real existierenden G 8 verhalten und sie mit unseren inhaltlichen Forderungen konfrontieren.
In diesem Zusammenhang ist die größte Herausforderung die Klimakatastrophe. Sie wird hauptsächlich von den Industrienationen verursacht, und die Ärmsten der Armen müssen sie ausbaden;
auch das kam gestern auf dem Kongress der CDU/CSU-Fraktion auf den Tisch. Wenn es uns nicht gelingt, die Erderwärmung auf 2 Grad zu begrenzen - auch das enthält große Risiken -, dann wird es in Afrika - darüber haben gestern Wissenschaftler berichtet - Ernteausfälle von 25 bis 40 Prozent geben. Das hat dramatische Auswirkungen auf die Zahl der Hungernden.
Alle G-8-Staaten, auch die USA, müssen sich zu verbindlichen CO2-Reduzierungszielen verpflichten. Wie kann Deutschland jedoch Impulse geben und eine Vorreiterrolle einnehmen, wenn es nicht einmal die Hausaufgaben im eigenen Land erledigt, wenn es sich eine peinliche Diskussion mit der EU-Kommission leistet, die Automobilindustrie in Schutz nimmt und keine verbindlichen Reduzierungsvorgaben macht?
Zum Thema Abrüstung. Die G-8-Staaten sind für die weltweit höchsten Militärausgaben verantwortlich. Gibt es Impulse für eine neue Runde der Abrüstungspolitik? Fehlanzeige! Besonders beim gefährlichen Atomdeal zwischen den USA und Indien könnte Deutschland einiges aufhalten. Aber dieser Themenbereich wird völlig ausgeblendet.
Zum Thema Finanzmärkte. Hier haben die Risiken - auch durch die Hedgefonds und Private Equity Fonds - deutlich zugenommen. Die Forderung nach mehr Transparenz reicht hier nicht aus, vielmehr brauchen wir eine Debatte über internationale Standards in der Finanzkontrolle.
Auch zum Thema Austrocknung der Steueroasen finden wir im Antrag der Koalition nichts. Hier müssen die G 8 voranschreiten, sie müssen neue Impulse geben. Dass das nicht geschieht, liegt vielleicht daran, dass viele Nutznießer dieser Steueroasen in den G-8-Staaten zu finden sind.
Nun zum Thema Entwicklungspolitik, das in der heutigen Debatte von den meisten Rednern in den Vordergrund gestellt worden ist. Entwicklungsrhetorik reicht nicht aus. Sie sprechen die notwendigen Reformen an; dabei kann ich Sie unterstützen. Sie sind notwendig und richtig. Wir brauchen bessere Regierungsführungen in den Entwicklungsländern, wir müssen Reforminitiativen wie die NEPAD-Initiative unterstützen. Darüber hinaus brauchen wir Reformen bei den Instrumenten unserer Entwicklungszusammenarbeit, und schließlich brauchen wir Reformen bei den Strukturen des Welthandels.
Dass Sie die Reformdebatte so stark in den Vordergrund stellen, erhärtet den Verdacht, dass Sie auf der finanziellen Ebene nichts zu bieten haben. Sie wollen davon ablenken, dass wir das 0,7-Prozent-Ziel bei der Entwicklungshilfe nicht erreichen werden. Darüber hinaus haben Sie keinen Plan zur Erreichung des Millenniumsziels vorgelegt. Das muss aufgearbeitet werden, sonst steht Deutschland als Gastgeber mit leeren Händen da.
Wir haben einen großen Forderungskatalog vorgelegt und konkrete Vorschläge unterbreitet. Dazu gehören unter anderem die Einbeziehung des Tropenwaldschutzes in das Kioto-plus-Abkommen, eine verschärfte Aufsicht über die internationalen Finanzmärkte, aber auch neue Anstöße in der internationalen Abrüstungspolitik und neue Finanzierungsinstrumente in der Entwicklungspolitik. Unsere umfassenden Forderungen haben wir vorgelegt. Ich kann Ihnen nur raten: Greifen Sie diese Vorschläge auf!
Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner:
Nächster Redner ist der Kollege Walter Riester, SPD-Fraktion.
Anette Hübinger (CDU/CSU):
Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Liebe Ministerin! ?Die deutsche G-8- und EU-Präsidentschaft - neue Impulse für die Entwicklungspolitik“ - der Titel unseres Antrages macht deutlich, welche Bedeutung wir der deutschen G-8- und EU-Ratspräsidentschaft für die Entwicklungspolitik beimessen. Wir sehen in den Präsidentschaften die Möglichkeit, wichtige Impulse für die Entwicklungspolitik zu geben, die man mit Fug und Recht als Querschnittsaufgabe bezeichnen kann.
Unsere Welt befindet sich in einem tiefgreifenden Wandel. Es gibt Entwicklungsländer, die sich dynamisch entwickeln und bemerkenswerte Wachstumspfade beschreiten. Andere Länder hingegen sind von Bürgerkrieg und Staatszerfall bedroht. Als Vertreter dieses Parlaments fällt mir langsam kein Argument mehr ein, wenn ich von Vertretern des Europarates gefragt werde, warum wir die Sozialcharta nicht einmal gezeichnet haben. Ich weiß es nicht.
Ich sage sehr deutlich: Wenn bis zum Ende der deutschen EU-Ratspräsidentschaft keine Entscheidung darüber fällt, werde ich eine parlamentarische Anfrage an die Regierung stellen. Auch das ist Verantwortung.
Ich habe mich außerordentlich über eine bemerkenswerte Rede gefreut, die unsere Bundeskanzlerin im November in Berlin zum Thema ?Globalisierung fair gestalten“ gehalten hat. Sie hat gesagt, wie wichtig es ist, dass man auf die WTO wirklich bauen kann - ich zitiere sie -:
Die Welthandelsorganisation ist eine sehr mächtige Organisation. Deshalb finde ich, dass man gerade hier über ökologische und soziale Dinge sprechen muss. Die Welthandelsorganisation kennt als eine der wenigen multilateralen Organisationen richtige Sanktionsmechanismen, sodass die Einhaltung der Standards auch hinterher eingeklagt werden kann.
Ich war bei der Rede anwesend. Ich hatte überhaupt nicht den Eindruck, dass das Entwicklungs- oder Handelsrhetorik ist. Sie erschien mir sehr glaubwürdig.
Trotzdem möchte ich auf Folgendes hinweisen: Vor 30 Jahren - jetzt greife ich noch weiter zurück - hat die OECD Leitsätze beschlossen - wir haben dazugehört -, nach denen multinationale Unternehmen an Menschenrechtsgesichtspunkten zu messen sind. Jedes Unterzeichnerland hat zu diesem Zweck eine nationale Kontaktstelle eingerichtet. In Deutschland ist sie beim Wirtschaftsministerium, im Bereich des Außenhandels, angesiedelt. Diese Stelle hat einen Arbeitskreis eingerichtet, dem Vertreter von sieben Ministerien, der Wirtschaftsverbände, der Gewerkschaften und der Nichtregierungsorganisationen angehören. Seit mehreren Jahren hört man aus diesem Bereich die Klage - ich nehme an, sie wird nicht nur mir gegenüber geäußert -, dass es nicht nur schleppend vorangeht, sondern ein hohes Maß an Intransparenz vorherrscht. Neun große Unternehmen stehen im Moment unter dem Vorwurf, Menschenrechte verletzt zu haben. Korruptionsvorwürfe sind ebenso im Spiel wie der Vorwurf von groben Arbeitsrechtsverletzungen. Hier geht es nicht um ein paar Mittelständler, sondern um große, namhafte Unternehmen.
An diesem Punkt komme ich zur Glaubwürdigkeit. Ich bin der Meinung, dass unsere Arbeit transparent sein muss und dass unsere Erklärungen von uns selbst in der Praxis konsequent umgesetzt werden müssen. Nur dann ist es glaubwürdig, wenn wir sagen, dass wir die Globalisierung sozial gestalten wollen.
Ich möchte in diesem Zusammenhang auf die Überarbeitung der EU-Vergaberichtlinien hinweisen. Damit werden wir demnächst konfrontiert sein. Die EU-Vergaberichtlinien sehen vor - und es wird Sie nicht überraschen, dass ich das für sehr gut halte -:
Die Auftraggeber können zusätzliche Bedingungen für die Ausführung des Auftrags vorschreiben, sofern diese mit dem Gemeinschaftsrecht vereinbar sind und in der Bekanntmachung ... oder in den Verdingungsunterlagen angegeben werden. Die Bedingungen für die Ausführung eines Auftrags können insbesondere soziale und umweltbezogene Aspekte betreffen.
Ich nehme an, dass wir das wollen. Zwischen der Entwicklungsministerin, dem Umweltminister und dem Wirtschaftminister gibt es aber eine heftige Auseinandersetzung, die ich kaum nachvollziehen kann. Ich kann dem Wirtschaftministerium nur raten, einen Blick in die österreichischen oder in die französischen Ausschreibungsrichtlinien zu werfen, selbst wenn es ihm nicht um soziale Aspekte geht. Diese Länder wissen, wie sie ihre nationale Wirtschaft vor einem Unterbietungswettbewerb schützen, der mit unsoliden Methoden geführt wird. Demnächst werden wir vor diesem Problem stehen.
Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner:
Herr Kollege.
Walter Riester (SPD):
Das Signal ist angekommen. Ich kann meine Rede auch beenden.
Das war ein Beitrag zu der Frage, wie die Rhetorik mit der Praxis in Übereinstimmung gebracht werden kann. Lassen Sie uns gemeinsam dafür eintreten!
Danke schön.
Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner:
Das Wort hat die Kollegin Heike Hänsel, Fraktion Die Linke.
Heike Hänsel (DIE LINKE):
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Frau Wieczorek-Zeul, Sie haben gesagt, Afrika sei das Topthema der Entwicklungspolitik. Ich bringe Ihnen eine Botschaft von vielen zivilgesellschaftlichen Gruppen aus Afrika mit. Die zentrale Botschaft des Weltsozialforums, das letzte Woche in Kenia, Nairobi, mit mehr als 50 000 Teilnehmern stattgefunden hat, lautet: Die Handelspolitik der Europäischen Union bedroht die Existenzgrundlage vieler Menschen in den Ländern Afrikas. Im Mittelpunkt der Kritik dieser Gruppen stehen die Verhandlungen über die Wirtschaftspartnerschaftsabkommen, die sogenannten EPAs, die eine weitgehende Marktöffnung und Zollsenkungen in den afrikanischen, karibischen und pazifischen Staaten vorsehen, und zwar vor allem in sensiblen Bereichen wie öffentlicher Beschaffung, Investitionsschutz und Wettbewerb. Bereits jetzt können viele Kleinbauern, Händler und vor allem Händlerinnen nicht mehr mit den hochsubventionierten Billigprodukten aus der EU auf ihren heimischen Märkten konkurrieren. In ganz Westafrika zum Beispiel bekommt man weit und breit nur europäisches Geflügel bzw. Hähnchenabfälle zu kaufen. Das, was wir an der chinesischen Regierung kritisieren, betreiben wir bereits seit Jahren auf diesem Kontinent. Dies würde durch die EPAs massiv verschärft.
Deshalb gab es zum Abschluss des Weltsozialforums eine große Demonstration, die mit den folgenden konkreten Forderungen zur Vertretung der Europäischen Kommission zog: Stopp der aktuellen EPA-Verhandlungen! Wir brauchen ein neues Verhandlungsmandat, das entwicklungspolitische statt handelspolitische Schwerpunkte setzt. Diese Verhandlungen müssen offen und transparent geführt werden.
Ich fordere die Bundesregierung hiermit auf, sich im Rahmen der EU-Ratspräsidentschaft für einen Stopp der aktuellen EPA-Verhandlungen einzusetzen. Das wäre in meinen Augen der glaubwürdigste Beitrag zur Entwicklungspolitik. Dies ist in Ihrem Antrag allerdings überhaupt nicht zu finden.
Die Länder des Südens, unter anderem Afrikas, leiden nach wie vor unter der enormen Schuldenlast. Mein Kollege Hüseyin Aydin ist bereits darauf eingegangen. Die kenianische Friedensnobelpreisträgerin Wangari Maathai kritisierte auf dem Weltsozialforum: Wir haben Entschuldung von den G-8-Staaten gefordert, bisher haben wir nur Mogelpackungen bekommen.
Deswegen fordern wir als Linksfraktion endlich umfassende und vor allem ernsthafte Entschuldungsinitiativen, die nicht an neoliberale Marktforderungen geknüpft sind, sondern an Strategien zur Armutsbekämpfung. Wir haben viele Vorschläge gemacht, unter anderem die Streichung illegitimer Schulden. Die haben Sie abgelehnt.
Die G-8-Staaten - das stimmt, Herr Hoppe - repräsentieren gerade einmal 13 Prozent der Weltbevölkerung. Wir hinterfragen die demokratische Legitimation dieser Treffen. Da haben Sie Recht.
Worin begründet sich eigentlich deren Legitimation? Durch militärische und wirtschaftliche Macht.
Sie marginalisieren die Vereinten Nationen. Deshalb fordern auch wir eine Umverlagerung der globalen Herausforderungen, zum Beispiel Entwicklungs-, Energie-, Ressourcen- und Abrüstungsfragen, zu den Vereinten Nationen.
Ich muss sagen, Herr Hoppe: Sie waren sieben Jahre lang an der Regierung beteiligt. Wir haben keinerlei Initiativen vonseiten der Grünen, vonseiten grüner Minister, die jetzt hier sitzen, bezüglich der Reform der G-8-Staaten und einer Abkehr von dieser dominanten, exklusiven Politik erlebt.
Sie haben - wie alle anderen - an den G-8-Gipfeln teilgenommen.
Wir glauben, dass eine andere Entwicklungspolitik möglich ist. Deshalb mobilisieren wir gemeinsam mit vielen zivilgesellschaftlichen Gruppen gegen den G-8-Gipfel im Juni in Deutschland.
Danke.
Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner:
Nächste Rednerin ist die Kollegin Anette Hübinger, CDU/CSU-Fraktion.
Anette Hübinger (CDU/CSU):
Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Liebe Ministerin! ?Die deutsche G-8- und EU-Präsidentschaft - neue Impulse für die Entwicklungspolitik“ - der Titel unseres Antrages macht deutlich, welche Bedeutung wir der deutschen G-8- und EU-Ratspräsidentschaft für die Entwicklungspolitik beimessen. Wir sehen in den Präsidentschaften die Möglichkeit, wichtige Impulse für die Entwicklungspolitik zu geben, die man mit Fug und Recht als Querschnittsaufgabe bezeichnen kann.
Unsere Welt befindet sich in einem tiefgreifenden Wandel. Es gibt Entwicklungsländer, die sich dynamisch entwickeln und bemerkenswerte Wachstumspfade beschreiten. Andere Länder hingegen sind von Bürgerkrieg und Staatszerfall bedroht. Wir als CDU/CSU-Fraktion sehen uns aufgrund unserer abendländischen Kultur und aufgrund unserer christlichen Werte verpflichtet, Elend und Not zu lindern und die Menschen in den ärmsten Ländern zu befähigen, ihre eigenen Potenziale und Kapazitäten zu nutzen.
Die Verabschiedung der Millenniumsziele hat eine verstärkte Diskussion über die Wirksamkeit der eingesetzten Mittel ausgelöst. Unser ehrgeiziges Ziel, bis 2015 die Armut zu halbieren, wird wesentlich davon abhängen, wie wir die Entwicklungszusammenarbeit in Zukunft gestalten. Für die Erreichung der ODA-Quote werden wir weiterhin kämpfen. Das beweist nicht zuletzt die Erhöhung der im Haushalt bereitgestellten Mittel um 16 Prozent innerhalb von zwei Jahren - eine Erhöhung, wie wir sie seit Jahren nicht hatten.
Mit gleicher Vehemenz müssen wir den Wirkungsgrad der europäischen Entwicklungszusammenarbeit überprüfen. In diesem Zusammenhang möchte ich drei Bereiche ansprechen: Erstens. Wir begrüßen ausdrücklich, dass die deutsche Ratspräsidentschaft die Verbesserung der Arbeitsteilung auf europäischer Ebene zu einem Schwerpunkt erklärt hat.
Denn die bestehende Fragmentierung beeinträchtigt die Wirksamkeit der europäischen Entwicklungszusammenarbeit. Wir müssen uns untereinander besser absprechen zu und einem pragmatischen Ansatz bei der Arbeits- und Lastenteilung kommen. Die EU sollte nicht als 28. Geber auftreten.
Das europäische Vergabeverfahren muss im Interesse der Entwicklungsländer entbürokratisiert und beschleunigt werden. Des Weiteren brauchen wir für multilaterale Investitionen bessere Monitoring- und Evaluierungsinstrumente.
In der Europäischen Sicherheits- und Verteidigungspolitik ist man schon einen Schritt weiter. Mithilfe der EU-Battle-Groups ist die Fähigkeit der Mitgliedstaaten der Europäischen Union zu rascher Krisenreaktion deutlich verbessert worden. Um nachhaltig zu wirken, müssen diese Einsätze von entwicklungspolitischen Maßnahmen, die über die Zeit des Militäreinsatzes hinausgehen, begleitet werden. Denn erst die anschließende Entwicklungszusammenarbeit ermöglicht die weiterführende Stabilität und gibt den dort lebenden Menschen Zukunftsperspektiven.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, es wird deutlich, dass eine moderne Entwicklungszusammenarbeit nur durch koordiniertes Miteinander funktioniert.
National wie auf europäischer Ebene ist eine ressortübergreifende Arbeit für den Erfolg von Entwicklungspolitik unerlässlich.
Zweitens. Die Beziehungen zwischen der Europäischen Union und den Ländern in Afrika, der Karibik und dem pazifischen Raum haben eine lange Tradition. Seit dem Lomé-Abkommen von 1975 ist die Globalisierung in großen Schritten vorangegangen. Während der deutschen Ratspräsidentschaft wird es verschiedene Ministertreffen geben, um die 2008 in Kraft tretenden Wirtschaftspartnerschaftsabkommen zwischen den oben genannten Regionen und der EU erfolgreich zu beenden. Erstmals werden handels- und entwicklungspolitische Ansätze miteinander verknüpft, um dadurch eine nachhaltige wirtschaftliche Entwicklung in diesen Ländern zu fördern. Denn die Abschottung der Märkte und die bisher gewährten Handelspräferenzen haben nicht zu den erhofften Entwicklungen in diesen Ländern geführt.
Vor dem Hintergrund des momentanen Stillstands der Doharunde gewinnt der erfolgreiche Abschluss der Verhandlungen zwischen der EU und den AKP-Staaten umso mehr an Bedeutung. Es wäre ein deutliches Signal an die Blockierer der Doharunde, wenn dennoch multilaterale Verträge im Interesse der Entwicklungsländer geschlossen werden könnten. Multilaterale Verträge sind besser überprüfbar und haben eine höhere Verlässlichkeit für die Akteure. Das ist besonders im Hinblick auf die Erhöhung von Investitionen der Privatwirtschaft in Entwicklungsländern wichtig.
Drittens. Im Umgang mit Rohstoffen und Ressourcen sind international gültige Standards heute unabdingbar. Die 2003 ins Leben gerufene EITI-Initiative - eine Initiative, die sich für mehr Transparenz im Umgang mit Rohstoffen einsetzt - versucht, die Korruption in Entwicklungsländern zu bekämpfen und Good Governance zu stärken. Wir beobachten, dass gerade rohstoffreiche Entwicklungsländer sehr korruptionsanfällig sind und so trotz guter Ausgangsbedingungen Entwicklung fast unmöglich ist. Für den Aufbau funktionierender Strukturen, die eine nachhaltige Entwicklung ermöglichen, sind Rechtstaatlichkeit und Demokratieverständnis Voraussetzungen. Das heißt auch, dass wir im Dialog mit unseren Partnerländern Missstände und Probleme offen ansprechen.
Die Folgen der Klimaveränderung sind eines der größten Probleme, das uns alle berührt. Der Vorschlag der Europäischen Kommission, den Energieverbrauch bis 2020 um 30 Prozent zu reduzieren, zeigt, dass wir unseren Beitrag leisten wollen. Wenn man jedoch berücksichtigt, dass der Anteil der Europäischen Union an den gesamten CO2-Emissionen 15 Prozent beträgt - das heißt, 85 Prozent werden woanders emittiert -, brauchen wir eine verstärkte globale Verantwortung.
Die deutsche EU-Ratspräsidentschaft steht vor großen Aufgaben. Die Rolle der Europäischen Union wird in Zukunft auch davon abhängen, wie wir es schaffen, die Herausforderungen in dieser Welt gemeinsam anzugehen. Gerade im Hinblick auf unseren Nachbarkontinent Afrika, auf dem der entwicklungspolitische Schwerpunkt dieser Ratspräsidentschaft liegt, stehen wir vor gewaltigen Anstrengungen. Nur, wenn wir diese Aufgabe gemeinsam in der EU und partnerschaftlich mit Afrika angehen, werden wir Erfolge erzielen.
Das afrikanische Sprichwort ?Wenn du schnell vorwärtskommen willst, dann gehe alleine; wenn du weit gehen willst, dann gehe zusammen“ sollten wir beherzigen.
Die Modernisierung der Entwicklungspolitik ist ein wichtiger Weg, den wir gemeinsam mit unseren Partnern gehen wollen.
Ich bedanke mich für die Aufmerksamkeit.
Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner:
Das Wort hat der Kollege Sascha Raabe, SPD-Fraktion.
Dr. Sascha Raabe (SPD):
Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Am Anfang dieser Debatte haben einige Redner die Entwicklungszusammenarbeit der Koalition angegriffen. Diese Angriffe waren aus meiner Sicht nicht nur polemisch, sondern gehen auch an der Sache vorbei. Denn dass wir in der Koalition die rot-grüne Regierungspolitik in diesem Bereich fortsetzen,
ist doch nicht zu kritisieren, Herr Königshaus. Das steht schließlich in Kontinuität zu dem, was durch unsere Ministerin eingeleitet wurde.
- Darüber sollte man nicht lachen; das können Sie Fastnacht tun. Sie hätten etwas mehr nachdenken sollen. Wir verstehen Entwicklungszusammenarbeit nämlich nicht mehr nur als reine Projektarbeit, sondern wir setzen sie gemeinsam mit der Union in der Erkenntnis fort, dass wir einerseits Hilfe zur Selbsthilfe leisten und andererseits die notwendigen Rahmenbedingungen im Hinblick auf den Welthandel schaffen müssen. Das betrifft auch die Punkte, die Walter Riester genannt hat.
Das alles führen wir in einem modernen Verständnis von Entwicklungszusammenarbeit weiter. Deswegen schaufeln wir auch nicht einfach Geld nach China, wie Sie behauptet haben. Vielmehr verfolgen wir dort auch ein egoistisches Leitmotiv. Denn wenn wir dem Energiehunger dieser Nation, die zusammen mit Indien über 2 Milliarden Einwohner zählt - das ist ein Vielfaches der Einwohnerzahlen von Europa und den USA -, in der Form gerecht werden wollen, dass uns noch Luft zum Atmen bleibt, dann ist die Luft für uns genauso wichtig wie für die ärmsten Menschen in China und Indien. Deswegen werden wir diese Länder auch weiter motivieren, auf saubere Energien zu setzen. Das ist ebenso in unserem Interesse wie im Interesse der Armen dort.
Herr Hoppe, Sie haben einige Male versucht, einen ebenfalls wichtigen Teil unserer Politik zu kritisieren. Dabei geht es um die Frage, wie wir die ODA-Quote so steigern können, wie wir es vereinbart haben. Sie beklagen immer wieder, dass wir uns noch nicht auf eine Flugticketabgabe festgelegt haben. Wichtig ist aber, dass wir Geld zur Verfügung stellen.
Wir haben in den letzten beiden Haushalten je 300 Millionen Euro mehr für Entwicklungszusammenarbeit ausgegeben.
Das entspricht einem Plus von jeweils 8 Prozent pro Haushaltsjahr. Daran zeigt sich, dass wir auf einem guten Pfad sind. Es ist verständlich, dass Sie sich damit erkennbar schwertun, weil das keinen Angriffspunkt für Sie bietet.
Herr Aydin, zur ODA-Quote gehört auch in einem gewissen Maße der Schuldenerlass. Sie haben in Ihrer Rede gesagt, der Schuldenerlass habe nichts gebracht. Das ist sehr zynisch. Sagen Sie das den über 15 Millionen Kindern in Afrika, die wegen des Schuldenerlasses jetzt eine Grundschule besuchen können! Sagen Sie den Eltern, den Familien und den Menschen, denen wir dort geholfen haben, dass Ihrer Meinung nach der Schuldenerlass nichts gebracht hat!
Auch ich bin in den Elendsvierteln von Nairobi gewesen. Die Armut dort ist tatsächlich so, wie wir es uns in Deutschland nicht vorstellen können: keine Straßen, eine Abwasserrinne, wo es nach Kot und Urin riecht, kein Trinkwasser. Die Menschen dort leben wirklich im tiefsten Elend. Das macht betroffen.
Aber man darf die Erfolge deutscher Entwicklungszusammenarbeit auch nicht kleinreden. Wir haben dort Projekte, mit denen es zum Beispiel die KfW und die GTZ 18 000 Frauen pro Jahr ermöglichen, dass sie ihre Kinder für einen ganz geringen Betrag in einer Klinik gebären können, egal ob sie einen Kaiserschnitt benötigen oder was auch immer. Wir machen dort Familienplanung. Wir haben durch den Global Fund für Aids dort eine Krankenstation. Mir wurde gesagt, noch vor ein, zwei Jahren gab es Sammelplätze, von wo man die Toten, jeden Tag zehn bis 15, einfach weggeschafft hat. Das gibt es heute nicht mehr, auch dank deutscher Entwicklungszusammenarbeit.
Wir bauen auch soziale Sicherungssysteme im Gesundheitswesen bis in die Dörfer hinein auf.
Ich glaube, an der Stelle muss man auch unseren deutschen Entwicklungshelfern, sowohl den staatlichen als auch denen der Nichtregierungsorganisationen, einmal ein herzliches Dankeschön für ihr Engagement aussprechen.
Dann zum Punkt der Wasserversorgung, Herr Aydin: Unser Entwicklungsverständnis ist ein anderes als Ihres. Wir wollen nicht wie Sie immer nur Almosen und Geld geben, sondern wir wollen, dass sich die Menschen selbst helfen können.
Deswegen investieren wir auch in Infrastrukturmaßnahmen. Dazu gehört auch, dass wir die Wasserversorgung so aufbauen wollen, dass sich diese Systeme am Ende selbst tragen können, natürlich sozial gestaffelt, sodass sich auch die Ärmsten Wasser leisten können und die Reichen mehr bezahlen. Wie ist es denn im Augenblick? In vielen Bereichen gibt es gar keine Trinkwasserversorgung, sondern es kommen in vielen Vierteln private Händler mit völlig überzogenen Preisen und liefern teures Trinkwasser in schlechter Qualität. Deswegen ist es richtig, dass wir dort mit Krediten und finanzieller Zusammenarbeit dazu beitragen, dass eine sich selbst tragende Wasserversorgung aufgebaut wird.
Ihre Kritik daran, dass wir Kredite vergeben und nicht nur Geld schenken, trifft auch nicht das Selbstverständnis der Menschen in den Entwicklungsländern. Denn sie sind stolz. Deshalb werden wir auch weiter darauf achten, dass wir Kredite vergeben, die an Armutsbekämpfungsprogramme gebunden sind. Wir machen auch nicht nur blinden Schuldenerlass. Die Entwicklungsländer zahlen uns mit Stolz und erhobenem Haupt das Geld zurück. Das ist doch der richtige Weg. Herr Yunus hat nicht umsonst den Friedensnobelpreis für die Vergabe von Mikrokrediten bekommen. Denn er verschenkt auch nicht einfach das Geld an die Ärmsten, sondern er gibt ihnen die Möglichkeit einer Starthilfe, damit sie sich selbst mit kleinen Unternehmen in die Lage versetzen können - -
- Ja, eine Zwischenfrage?
Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner:
Nein, ich lasse keine Zwischenfrage mehr zu, weil Ihre Redezeit überschritten ist.
Dr. Sascha Raabe (SPD):
Dann lassen Sie mich noch einen Abschlusssatz sagen. Es ist wichtig, dass wir den Menschen nicht die Würde nehmen, denn die Menschen sind fleißig. Auch in Nairobi konnte ich mich davon überzeugen, wie fleißig die Ärmsten der Armen in den Slums sind, sie arbeiten, sie wollen von ihrer eigenen Hände Arbeit leben. Dazu wollen wir sie in die Lage versetzen. Da ist ein Kredit besser, als dauerhaft zu glauben, man könnte das Geld verschenken. Denn die Menschen wollen ihr Leben mit Würde selbst bestimmen. Dabei wollen wir ihnen helfen, und deshalb werden wir diese Politik fortführen.
Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner:
Ich schließe die Aussprache.
Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlagen auf den Drucksachen 16/4160, 15/5815, 16/3839 und 16/4151 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? - Ich sehe, das ist der Fall. Dann ist die Überweisung so beschlossen.
[Der folgende Berichtsteil - und damit der gesamte Stenografische Bericht der 79. Sitzung - wird morgen,
Freitag, den 2. Februar 2007,
an dieser Stelle veröffentlicht.]