101. Sitzung
Berlin, Freitag, den 25. Mai 2007
Beginn: 9.00 Uhr
* * * * * * * * V O R A B - V E R Ö F F E N T L I C H U N G * * * * * * * *
* * * * * DER NACH § 117 GOBT AUTORISIERTEN FASSUNG * * * * *
* * * * * * * * VOR DER ENDGÜLTIGEN DRUCKLEGUNG * * * * * * * *
Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner:
Guten Morgen, liebe Kolleginnen und Kollegen! Die Sitzung ist eröffnet.
Ich rufe die Tagesordnungspunkte 30 a und 30 b auf:
30. a) - Zweite und dritte Beratung des von den Fraktionen der CDU/CSU und der SPD eingebrachten Entwurfs eines Unternehmensteuerreformgesetzes 2008
- Drucksache 16/4841 -
- Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Unternehmensteuerreformgesetzes 2008
- Drucksache 16/5377 -
aa) Beschlussempfehlung und Bericht des Finanzausschusses (7. Ausschuss)
- Drucksachen 16/5452, 16/5491 -
Berichterstattung:
Abgeordente Peter Rzepka
Reinhard Schultz (Everswinkel)
Dr. Hermann Otto Solms
Dr. Barbara Höll
Christine Scheel
bb) Bericht des Haushaltsausschusses (8. Ausschuss) gemäß § 96 der Geschäftsordnung
- Drucksache 16/5454 -
Berichterstattung:
Abgeordnete Jochen-Konrad Fromme
Carsten Schneider (Erfurt)
Otto Fricke
Dr. Gesine Lötzsch
Anja Hajduk
b) Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Finanzausschusses (7. Ausschuss)
- zu dem Antrag der Abgeordneten Dr. Barbara Höll, Dr. Axel Troost, Werner Dreibus, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der LINKEN
Unternehmen leistungsgerecht besteuern - Einnahmen der öffentlichen Hand stärken
- zu dem Antrag der Abgeordneten Dr. Barbara Höll, Dr. Axel Troost, Werner Dreibus, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der LINKEN
Unternehmen leistungsgerecht besteuern - Einnahmen der öffentlichen Hand stärken
- zu dem Antrag der Abgeordneten Christine Scheel, Dr. Gerhard Schick, Kerstin Andreae, weiterer Abgeordneter und der Fraktion des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN
Unternehmensteuerreform für Investitionen und Arbeitsplätze
- zu dem Antrag der Abgeordneten Christine Scheel, Kerstin Andreae, Dr. Gerhard Schick, weiterer Abgeordneter und der Fraktion des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN
Verlässliche und aussagekräftige Datenbasis für die Ermittlung der Unternehmenssteuern erfassen
- Drucksachen 16/5249, 16/4857, 16/4855, 16/4310,
16/5452, 16/5491 -
Berichterstattung:
Abgeordnete Peter Rzepka
Reinhard Schultz (Everswinkel)
Dr. Hermann Otto Solms
Dr. Barbara Höll
Christine Scheel
Zu dem Entwurf eines Unternehmensteuerreformgesetzes 2008, über den wir später namentlich abstimmen werden, liegt je ein Entschließungsantrag der Koalitionsfraktionen sowie der Fraktion der FDP vor.
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für die Aussprache eineinhalb Stunden vorgesehen. - Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist es so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat der Bundesfinanzminister Peer Steinbrück.
Peer Steinbrück, Bundesminister der Finanzen:
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Dass der Finanzminister in einer Debatte über die Unternehmensteuerreform das Wort ergreift, war mir klar, aber nicht, wann genau.
Vielen Unkenrufen zum Trotz ist der Koalition mit dieser Unternehmensteuerreform inhaltlich ein großer Wurf gelungen. Er zeugt auch von einer sehr guten handwerklichen Regierungsfähigkeit. Die letzten anderthalb Jahre haben bewiesen, dass die Große Koalition handlungsfähig ist.
Ich möchte mich an dieser Stelle sehr herzlich bei all denjenigen bedanken, die in der politischen Arbeitsgruppe mitgearbeitet haben; viele Abgeordnete der beiden Koalitionsfraktionen waren daran beteiligt. Ich möchte meinem ehemaligen hessischen Ministerpräsidenten Koch, der technischen Arbeitsgruppe und den mitwirkenden Parlamentariern danken.
- Aus meiner Sicht ehemaligem Ministerpräsidentenkollegen. Das war doch nicht misszuverstehen.
Wie vor anderthalb Jahren angekündigt, wird diese Unternehmensteuerreform am 1. Januar 2008 in Kraft treten. Wie zu erwarten ist, werden der Deutsche Bundestag und der Bundesrat diese Unternehmensteuerreform vor der Sommerpause verabschieden, sodass die deutsche Wirtschaft und die deutschen Unternehmen ein halbes Jahr lang Zeit haben, sich an den neuen steuerlichen Grundlagen zu orientieren, die für die Unternehmensbesteuerung in der Bundesrepublik Deutschland gelten werden.
Nach einer Reihe von Reformen der Vorgängerregierung unter Gerhard Schröder und der Großen Koalition, die nicht populär gewesen sind und die teilweise noch umstritten sind, gibt es nun einen konjunkturellen Aufschwung, wie es ihn in den letzten 15 Jahren nicht gegeben hat. An diesem Aufschwung haben 850 000 mehr Menschen Teilhabe; das sind diejenigen, die nicht mehr arbeitslos sind. Darunter befinden sich 550 000 Menschen in sozialversicherungspflichtigen Beschäftigungsverhältnissen. Es haben an diesem Aufschwung Millionen von Menschen Teilhabe, die jetzt sicherere Arbeitsplätze haben als noch vor einem oder zwei Jahren. Es haben zunehmend mehr Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer Teilhabe an diesem Aufschwung über erkennbar bessere Tarifabschlüsse, die das größere Wachstum und die höhere Produktivität erlauben.
Die Unternehmensteuerreform wird diesen Aufschwung unterstützen. Sie wird dazu beitragen, dass dieser Aufschwung, diese konjunkturelle Entwicklung verstetigt wird. Wir werden es mit einer Verbesserung des Investitionsklimas zu tun haben. Wir werden es auch damit zu tun haben, dass gleichzeitig die Steuerbasis in Deutschland gesichert und damit die Finanzierung öffentlicher Aufgaben breiter abgesichert wird.
Keines der viel diskutierten Probleme in diesem Haus - die Energieeffizienz, der Klimaschutz, Bildung, Familienförderung, Kinderbetreuung, demografiefestere soziale Sicherungssysteme, die Entschuldung - lösen wir ohne eine solide Wachstumsbasis, ohne leistungsfähige und wettbewerbsfähige Unternehmen in der Bundesrepublik Deutschland, die sich im internationalen Wettbewerb auch von der Steuerseite einigermaßen bewegen und bewähren können.
Wenn sich gelegentlich Teile dieses Hauses nicht nur um die Verteilungsseite des Bruttosozialproduktes, sondern auch um die Entstehungsseite dieses Bruttosozialproduktes kümmern würden, dann müssten sie meine Auffassung teilen, dass wir ein großes Interesse daran haben, dass der Investitionsstandort Deutschland für Unternehmen in Deutschland wie auch für ausländische Investoren attraktiver gemacht wird. Dies gelingt mit dieser Unternehmensteuerreform.
Diese Unternehmensteuerreform sorgt dafür, dass der Investitionsstandort Deutschland attraktiver wird für alle, die hier investieren wollen, für alle, die hier in Deutschland Arbeitsplätze schaffen wollen, für alle, die ihre Wertschöpfung in Deutschland versteuern und nicht etwa ins Ausland verbringen wollen.
Die Steuerbelastung kommt wieder in das europäische Mittelfeld - nicht mehr und nicht weniger. Zumindest mit Blick auf die Besteuerung der Kapitalgesellschaften sind wir mit einer Definitivbesteuerung von über 38 Prozent am unteren Ende gewesen. Die Vorgängerregierung hat mit Blick auf die Personengesellschaften bereits viel getan, um zu einer Entlastung der Personengesellschaften beizutragen. Aber im Zuge dieser Unternehmensteuerreform sind wir noch einmal zu deutlichen Verbesserungen für den die deutsche Wirtschaft im Wesentlichen tragenden deutschen Mittelstand entgegen allen Unkenrufen gekommen.
Eine Bruttoentlastung von 30 Milliarden Euro und dann eine Gegenfinanzierung von 25 Milliarden Euro sind aus mehreren Gründen erforderlich gewesen, vornehmlich aus Haushaltsgründen. Man kann nicht drei Dinge auf einmal haben - einige in diesem Hause vertreten diesen Standpunkt -: gleichzeitig Steuern senken, Investitionen erhöhen und eine Entschuldung der öffentlichen Haushalte durchführen wollen. Dies funktioniert nicht. Das ist einer der Gründe dafür, warum es erforderlich ist, sich über eine Refinanzierung einen Teil dieser Bruttoentlastung wieder zu holen.
Eine weitere Zielsetzung bewegte die Mitglieder der politischen Arbeitsgruppe und die Mitglieder der zuständigen Ausschüsse ebenfalls von vornherein in diesen Beratungen: Wir wollten Gestaltungsmöglichkeiten und Umgehungstatbestände zulasten des Fiskus in Deutschland eindämmen bzw. minimieren. Sie wissen, dass ich in diesem Zusammenhang immer von Verschiebebahnhöfen rede. Es gibt viele Beispiele dafür, wie dies im Einzelnen funktioniert. Ich erspare es mir aus Zeitgründen, dies darzustellen. Es gibt Annahmen darüber, dass der deutsche Fiskus, also letztlich unser Gemeinwesen, pro Jahr hohe zweistellige Milliardenbeträge verliert, weil Gewinne, die in Deutschland erzielt werden, ins Ausland transferiert werden, weil Verluste, die Tochterunternehmen im Ausland erzielen, in Deutschland steuermindernd geltend gemacht werden. Wir verlieren daher Steuereinnahmen, die wir brauchen, um öffentliche Aufgaben zu finanzieren.
Im Vorfeld dieser Unternehmensteuerreform hat es viele Vorschläge gegeben, die von weitaus größeren Entlastungseffekten ausgegangen sind. Ich vermute, dass zumindest die Kolleginnen und Kollegen der FDP der Auffassung sind, man könne Steuerentlastungen in Höhe von 10, 15 oder 20 Milliarden Euro in Kauf nehmen. Ich sehe das anders, gerade vor dem Hintergrund des Konsenses, den wir, bezogen auf eine andere Zielsetzung, gefunden haben, nämlich die Nettokreditaufnahme so schnell wie möglich auf null zu führen und einen Einstieg in die Entschuldung zu finden, um auch unter dem Gesichtspunkt der Generationsgerechtigkeit auf Dauer nicht diesen riesigen Berg von 1,5 Billionen Euro Schulden auf nachfolgende Generationen zu wälzen.
Neben der Zielsetzung einer höheren internationalen Wettbewerbsfähigkeit, einer größeren Europatauglichkeit unseres Unternehmensteuersystems, der Vermeidung allzu großer Steuerausfälle und der Eindämmung von Gestaltungsmöglichkeiten und systematisch-strategisch erschlossener Vermeidungsstrategien sind es zwei weitere Zielsetzungen, die mit dieser Unternehmensteuerreform erreicht werden:
Erstens. Es bleibt bei der Gewerbesteuer.
Zweitens. Die kommunale Einnahmebasis wird durch eine ganze Reihe von Maßnahmen verstetigt.
Dies ist von einer erheblichen Bedeutung; denn der überwiegende Teil der öffentlichen Investitionen wird von den Kommunen getätigt. 60 Prozent der öffentlichen Investitionen werden von den Kommunen getätigt. Das heißt, eine solidere, verlässlichere und kalkulierbarere Einnahmebasis für die Kommunen ist von einer erheblichen Bedeutung. Soweit ich die Stellungnahmen der kommunalen Spitzenverbände verstanden habe, wird dieses Element der Steuerreform von ihnen, insbesondere von den Kommunalpolitikern der beiden Koalitionsparteien, ausdrücklich begrüßt und gewürdigt.
Ich will noch einige Worte dazu verlieren, dass die Mittelstandsfreundlichkeit der Reform in den Beratungen im Koalitionskreis bzw. zwischen den Koalitionsfraktionen noch einmal verstärkt worden ist; das Stichwort lautet ?Investitionsabzugsbetrag“. Es gibt eine ganze Reihe von Maßnahmen, die ich aus Zeitgründen nur erwähne: Thesaurierungspräferenz, Ansparabschreibung - ich könnte diese Aufzählung fortsetzen -, die dazu beitragen, dass der Mittelstand gefördert wird. Das entscheidende Argument ist: Bei den Instrumenten zur Refinanzierung dieser Steuerreform - um auf eine Gesamtentlastung von 5 Milliarden Euro zu kommen - ist der Mittelstand weit unterproportional beteiligt. Der überwiegende Anteil dieser Refinanzierung liegt auf den Schultern der größeren Kapitalgesellschaften.
Ich will zum Abschluss auf zwei Folgearbeiten hinweisen, bei denen ich damit rechne, dass sie in den weiteren Beratungen heute eine Rolle spielen werden. Zum einen werden wir die Unternehmensteuerreform noch in diesem Jahr um eine Regelung für die steuerliche Behandlung von privatem Wagniskapital ergänzen. Sie wissen, dass es dazu einen ersten Eckpunkteentwurf gibt, der weiter debattiert werden soll. Ein solches Wagniskapitalbeteiligungsgesetz soll zeitgleich mit der Unternehmensteuerreform zum 1. Januar des Jahres 2008 verabschiedet werden; das war seinerzeit die Verabredung zwischen den Koalitionsfraktionen. Ich glaube, dass wir gut beraten sind, gerade für technologieorientierte Unternehmen in diesem Zusammenhang etwas zu tun. Ich füge allerdings hinzu: Diejenigen von Ihnen, die mit großem Interesse das zugrunde liegende Gutachten der TU München gelesen haben, werden wissen, dass dieses Gutachten auf Steuereinnahmeverluste in der Dimension von 10 bis 20 Milliarden Euro hinausläuft. Sie werden verstehen, dass der Bundesfinanzminister dem nicht aufgeschlossen gegenübersteht. Das sind Dimensionen, die einfach nicht verkraftbar sind.
Zum anderen liegt Ihnen ein Entschließungsantrag vor, der darauf hinweist, wie das weitere Verfahren im Hinblick auf die Erbschaftsteuer sein soll. Sie wissen, dass das Bundesverfassungsgericht uns verpflichtet hat, bis spätestens 31. Dezember 2008 die Erbschaftsteuer neu zu regeln. Es wird darauf ankommen, dass wir noch in diesem Jahr, möglichst nach der Sommerpause, zu einem Ergebnis kommen, das auch einbezieht, was die Bundesregierung bereits verabredet hat, nämlich die Erleichterung der Unternehmensnachfolge durch die Freistellung der Vererbung von betrieblichem Vermögen.
Ich will zum Schluss einige wenige Worte über die Abgeltungsteuer verlieren. Ich weiß, dass diese Abgeltungsteuer von 25 Prozent verteilungspolitisch umstritten ist. Diese Kritik ist berechtigt.
Es ist nicht ohne Weiteres einzusehen, dass Kapitaleinkünfte - die nicht durch Leistung erzielt werden - einheitlich mit 25 Prozent besteuert werden sollen, während diejenigen, die mit Kopf und Händen arbeiten, es mit Grenzsteuersätzen und mit einer durchschnittlichen steuerlichen Belastung zu tun haben, die weit darüber liegt. Dieser Einwand ist stimmig. Nur, man wird sich den Realitäten stellen müssen. Die Realitäten sehen so aus, dass die Bundesrepublik Deutschland jedes Jahr einen Kapitalabfluss in Milliardenhöhe zu beklagen hat. Das heißt, dieses Kapital wird nicht in Deutschland angelegt, führt demnach nicht zu Zinsen, Dividenden, Kapitaleinkünften jedweder Art, die hier in Deutschland besteuert würden, sondern es ist futsch.
Sie wissen, dass ich es vor diesem Hintergrund immer für logisch gehalten habe, zu sagen: Es ist besser, 25 Prozent auf X zu haben statt 42 Prozent auf gar nix. So simpel ist die Rechnung.
Dieses Argument springt einem, wenn man es pragmatisch sieht, so ins Auge, dass die berechtigten verteilungspolitischen Gesichtspunkte dahinter zurückzustellen sind. Deshalb bin ich ein Befürworter dieser Abgeltungsteuer. Sie wissen, dass es am besten gewesen wäre, wenn Hans Eichel seinerzeit die Steueramnestie gleich mit einer Abgeltungsteuer kombiniert hätte.
Das wäre für den deutschen Fiskus viel besser gewesen.
Ich will noch darauf hinweisen - gerade an die Adresse der FDP -, dass durch die Verbesserungen, die die beiden Koalitionsfraktionen beschlossen haben, die Bürokratiekosten noch einmal deutlich gesenkt worden sind: Die Entlastung der deutschen Wirtschaft liegt bei ungefähr 170 Millionen Euro.
- Diese Entlastung von 170 Millionen Euro denke ich mir nicht aus.
Der Bundestag verabschiedet heute das Werk von anderthalb Jahren. Da ist von hervorragenden Fachleuten, von Bund und Ländern, von kompetenten Parlamentariern und auch von den Ministeriumsspitzen der Länder vieles abgewogen worden, vieles geprüft worden. Einiges ist verworfen worden, einiges ist aufgenommen worden. Diese Unternehmensteuerreform ist nicht leichtfertig zustande gekommen. Das sage ich auch all jenen Kritikern, die teilweise sehr spezifische Interessenlagen als Begründung für eine generelle Ablehnung dieser Unternehmensteuerreform liefern. Wir werden nicht allen spezifischen Interessen hinsichtlich Begünstigungen und Erleichterungen über diese Unternehmensteuerreform entsprechen können. Wir wollten das übrigens auch nicht. Die Bundesregierung und insbesondere die vorbereitende Arbeitsgruppe von Herrn Koch und mir haben immer den Standpunkt vertreten, dass die überwiegende Anzahl der deutschen Unternehmen durch diese Unternehmensteuerreform begünstigt werden soll. Einige, nämlich diejenigen, die ihre Unternehmens- oder Konzernstruktur bisher an Steuervermeidungsstrategien ausgerichtet haben, werden allerdings möglicherweise nicht begünstigt werden.
Dies ist Vorsatz. Das war von vornherein beabsichtigt. Das sage ich diesen Kritikern.
Diese Unternehmensteuerreform ist - daran halte ich fest - eine Investition in und für den Standort Deutschland. Ich bin mir sicher, dass die derzeitige Wachstumsentwicklung, die konjunkturelle Aufhellung, auch hierdurch eine deutliche Unterstützung erfährt.
Ich bedanke mich sehr für die Unterstützung in den letzten anderthalb Jahren.
Vielen Dank.
Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner:
Ich gebe das Wort dem Kollegen Carl-Ludwig Thiele, FDP-Fraktion.
Carl-Ludwig Thiele (FDP):
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Kolleginnen und Kollegen! Sehr geehrter Herr Finanzminister Steinbrück, dass viel Arbeitskraft investiert wurde, bestreiten wir überhaupt nicht. Daran, dass das Ergebnis ein Beitrag zur nächsten Weltausstellung dieses Landes ist, haben wir Liberale aber erhebliche Zweifel.
Vor der letzten Bundestagswahl - das darf bei der Union vielleicht noch einmal in Erinnerung gerufen werden - teilten nahezu alle Parteien die Einsicht, dass unser Steuerrecht einer grundsätzlichen Überarbeitung bedürfe. Die Steuersätze sollten niedriger werden, und das Steuerrecht sollte einfacher und gerechter werden. Hierzu gab es genügend Reformvorschläge, nicht nur der Parteien, nicht nur der FDP. Mit dieser Unternehmensteuerreform verzichtet die Große Koalition darauf, die Steuersätze für alle Bürger und für alle Unternehmen zu senken. Das ist ein Kardinalfehler, der dieser Steuerreform innewohnt.
Mit dieser Steuerreform wird das Steuerrecht komplizierter und ungerechter. Mit dieser Steuerreform wird der Körperschaftsteuersatz von 25 auf 15 Prozent gesenkt. Diese Maßnahme wird seitens der FDP begrüßt. Wir haben ihr im Finanzausschuss zugestimmt.
Die sogenannte Gegenfinanzierung, die Schlechterstellung von Millionen von Steuerpflichtigen, erfolgt aber nicht nur im Körperschaftsteuerrecht, sondern auch im Einkommensteuerrecht. Das bedeutet, dass die Firmen, die als Einzelunternehmen oder Personengesellschaften am Wirtschaftsleben teilnehmen - das sind weit über 80 Prozent der deutschen Unternehmen -, von der Körperschaftsteuersenkung nicht profitieren, aber von der Gegenfinanzierung voll erfasst und häufig schlechter gestellt werden, als das derzeit der Fall ist.
Das ist der Grund, weshalb wir sagen - dabei bleiben wir -: Dieses Gesetz ist mittelstandsfeindlich und ungerecht. Denn es ist überhaupt nicht nachvollziehbar, wer die Entlastung und wer die Belastung erhält. Zudem können wir feststellen, dass, seitdem Ihre Arbeitsgruppe tätig ist - das ist aber keine Folge Ihrer Arbeitsgruppe -, die Steuereinnahmen in unserem Land sprudeln wie noch nie. Trotzdem gibt es im Saldo, nach der Gegenfinanzierung, keine Verbesserung für die Unternehmen in unserem Lande. Das halten wir für falsch; denn Arbeitsplätze müssen geschaffen und Investitionen getätigt werden, und das können nur gesunde Unternehmen in unserem Land leisten.
Diese Reform ist bedauerlicherweise völlig unzusammenhängend. Sie ist ein Bündel von Einzelmaßnahmen, die sich teilweise widersprechen. Sie ist unsystematisch, ungerecht und an vielen Punkten verfassungsrechtlich äußerst bedenklich. Ich möchte einige konkrete Punkte vortragen.
Zu Beginn dieser Wahlperiode wurden die Abschreibungsbedingungen von der Großen Koalition erheblich verbessert, um die Wirtschaft anzukurbeln. Das sollte zu Steuerausfällen für den Staat führen.
- Herr Kollege Schultz, ich glaube, das ist nicht der Fall gewesen; die Steuerquellen sprudeln und sind nicht eingebrochen.
Wir erleben gerade, dass sich die Wirtschaft in Deutschland besser entwickelt und mehr investiert wird. Dies führt dazu, dass der Staat nicht weniger, sondern mehr Steuereinnahmen hat, auch durch eine Verbesserung der Abschreibungsbedingungen. Aber mit diesem Gesetzesentwurf werden die Abschreibungsbedingungen wieder verschlechtert. Das heißt, Investitionen werden erschwert. Gleichwohl soll der Staat bei weniger Investitionen mehr Steuereinnahmen bekommen. Das verstehe, wer will. Wir verstehen das nicht. Wir halten das für den falschen Weg.
Ein weiterer Punkt: Die zunehmende Besteuerung von Kosten und damit die Verbreiterung der Bemessungsgrundlage zieht sich wie ein roter Faden durch die komplette Steuerreform, und - das war der Punkt, auf den Sie im Wesentlichen hinsichtlich der Gegenfinanzierung eingegangen sind, Herr Minister - Sie führen eine Zinsschranke ein mit der Begründung, dass Steueraufkommen deshalb aus Deutschland abfließe, weil international operierende Konzerne das Steuersatzgefälle zwischen Deutschland und anderen Staaten ausnutzten.
Dabei muss man fragen, ob dieses Gemälde wirklich den Tatsachen entspricht. Das in den letzten Jahren explosionsartig gestiegene Körperschaftsteueraufkommen spricht doch dagegen. 2003 hatten wir Körperschaftsteuereinnahmen in Höhe von 8 Milliarden Euro, in diesem Jahr - das wurde gerade festgestellt - haben wir dreimal so viel Körperschaftsteuereinnahmen, nämlich 24 Milliarden Euro. Wo ist da ein Schwund des Steuersubstrates?
Ferner muss an dieser Stelle darauf hingewiesen werden, dass mehr als 90 Prozent der deutschen Unternehmen nicht mit Betrieben oder Teilen ihres Unternehmens im Ausland tätig sind. Mit dieser Zinsschranke treffen Sie in Deutschland tätige Unternehmen und somit Unternehmen, die Sie eigentlich nicht treffen wollen. Um mit der Bibel zu sprechen: Um zehn Ungerechte zu treffen, nehmen Sie in Kauf, dass tausend Gerechte getroffen werden. Das ist absurd.
Ich nenne noch einen Punkt. Die negativen Auswirkungen haben Sie sehr wohl erkannt. Deshalb ist im Finanzausschuss an einer Stelle des Gesetzentwurfes noch etwas geändert worden, nämlich für die öffentliche Hand. Für die öffentliche Hand, das heißt für Unternehmen der öffentlich-rechtlichen Körperschaften, soll diese Zinsschranke nicht gelten. Aber wenn sie für die öffentliche Hand nicht gelten soll, dann frage ich mich, warum sie für die normalen Betriebe in unserem Lande gelten soll, die dadurch massiv belastet werden. Das ist überhaupt nicht einzusehen und zeigt eine gewisse Staatsnähe.
Das Ganze führt dazu, dass die gewinnschwachen, die kapitalschwachen und die forschungsintensiven Unternehmen zusätzlich belastet werden, während die ertragsstarken, international tätigen Unternehmen entlastet werden. Das ist genau die falsche Lenkungswirkung.
- Ich bin jetzt etwas irritiert, Herr Lafontaine, aber wo ich recht habe, habe ich recht. Es freut mich, dass dann auch von Ihrer Seite Applaus kommt.
Nicht zu Unrecht hat die Bundeskanzlerin noch im März dieses Jahres auf der Handwerksmesse in München erklärt, dass dieses Gesetz nicht dazu führen dürfe, dass Forschung in Deutschland erschwert werde und abwandere. In diesem Bereich ist allerdings am Gesetzesentwurf nichts geändert worden, sodass die Einsichtsfähigkeit der Kanzlerin weder im Kabinett noch in der Koalition Verbreitung fand. Das halten wir für bedauerlich.
Ein weiterer Punkt: Die Ausweitung der Bemessungsgrundlage bei der Gewerbesteuer durch die Zurechnung sämtlicher Zinsen und die Finanzierungsanteile aus Mieten, Pachten und Leasingraten ist wirtschaftspolitisch unsinnig. Sie führt dazu, dass Unternehmen, wenn sie keine Erträge erwirtschaften, gleichwohl aus ihrer Substanz Steuern zahlen müssen, weil Kosten zur Bemessungsgrundlage für Steuern erklärt werden. Das ist absurd. Das ist der falsche Weg.
Ich gehe davon aus, dass das nicht der einzige Punkt ist, an dem Sie im Laufe dieser Periode oder danach dieses Gesetz noch fundamental werden verändern müssen, weil es Käse ist.
Unter dem Deckmantel des Mantelkaufes - hier spreche ich einen weiteren Punkt an - wird erschwert, dass sanierungswürdige Unternehmen saniert werden können. Denn wenn die Gesellschafter wechseln - das ist erforderlich, wenn man einen neuen Investor benötigt, um den Betrieb weiterzuführen -, dann können die entstandenen Verluste nicht mehr berücksichtigt werden. Das führt dazu, dass weniger sanierungswürdige Betriebe saniert werden können. Ich verstehe nicht, dass die SPD dem fröhlich die Hand reicht. Denn die Arbeitnehmer in diesen Betrieben haben ein Recht darauf, dass ihre Arbeitsplätze erhalten bleiben. Das machen Sie unmöglich. Das halte ich für absurd.
Bei den Veräußerungsgewinnen werden zukünftig auch Spekulationsgewinne - so werden sie genannt - steuerpflichtig. Das trifft aber auch die private Altersvorsorge. Wir alle wissen: Die Umlageverfahren allein tragen nicht. Wir brauchen private Altersvorsorge. Der Kapitalertrag, der über zehn, 20 oder 30 Jahre angespart wurde, wird dann steuerpflichtig. Die Steuerpflicht umfasst auch die Inflationsgewinne, die zwischenzeitlich einen Teil des Wertzuwachses aufgefressen haben. Dass hierdurch Kapitalbildung für das Alter in unserem Lande erschwert wird, ist eine fundamentale Schwäche dieses Gesetzes.
Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner:
Herr Kollege, jetzt muss ich Sie an Ihre Redezeit erinnern.
Carl-Ludwig Thiele (FDP):
Ich komme zum Ende, Frau Präsidentin.
Das Spannendste ist dann noch die Verknüpfung mit der Erbschaftsteuer. Sie hat mit diesem Gesetz nichts zu tun. Das ist ein reiner Befriedungsakt gegenüber den Linken innerhalb der SPD, der auch von der Union mitgetragen wird. Das führt zu Wischiwaschi-Erklärungen mit der Folge, dass Frau Nahles, die designierte stellvertretende Parteivorsitzende, bei dem Beschluss schon heute erklären kann, dass die Erbschaftsteuer massiv erhöht werden soll. Mit Blick auf die sprudelnden Steuereinnahmen nur von Steuererhöhung zu reden, halten wir für falsch. Wir brauchen auch in diesem Bereich Entlastung.
Herzlichen Dank.
Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner:
Ich gebe das Wort dem Kollegen Dr. Michael Meister, CDU/CSU-Fraktion.
Dr. Michael Meister (CDU/CSU):
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen, liebe Kollegen! Mit dem Unternehmensteuerreformgesetz 2008 liegt uns heute eine wesentliche Strukturreform in dieser Wahlperiode zur Abstimmung vor. Ich glaube, die Koalition dokumentiert damit, dass unser Land und wir als Koalition zur Strukturreform fähig sind und die Kraft zu Veränderungen in diesem Land haben.
Ich will darauf hinweisen, dass man immer eine Gesamtbetrachtung anstellen sollte. Wir haben die Haushaltskonsolidierung auf den Weg gebracht. Wir haben die Konjunktur aus dem Koma geholt, und wir sind jetzt dabei, Wachstum und Beschäftigung nachhaltig auszugestalten, indem wir nicht nur konjunkturelle, sondern auch strukturelle Veränderungen in unserem Land vornehmen. Insofern ist diese Reform ein nachhaltiger Beitrag für mehr Wachstum und Beschäftigung in Deutschland. Deshalb sind wir hier auf dem richtigen Weg, Herr Kollege Thiele.
Ich will ferner feststellen, dass die Unternehmensteuerreform belegt, dass wir in Deutschland in dieser Koalition verlässliche und berechenbare Politik machen. Vertrauen und Planungssicherheit sind wichtige Aspekte jenseits der Inhalte einer Reform, die Grundlage für Investitionsentscheidungen und damit letztendlich für Wachstum und Beschäftigung sind.
Ich möchte an dieser Stelle all den Kollegen Dank sagen, die an der Vorbereitung dieser Reform mitgewirkt haben: Herrn Koch, Herrn Steinbrück und den anderen, die in der Kommission tätig waren. Denn ich glaube, es ist gelungen, bei sehr weit auseinanderliegenden Positionen einen sach- und lösungsorientierten gemeinsamen Vorschlag auf den Tisch zu legen.
Die Reform wird sechs Monate vor ihrem Inkrafttreten beschlossen. Wann hatten wir es bei großen Strukturreformen, dass sich Steuerpflichtige und Verwaltungen so weit im Vorhinein auf die neue Lage einstellen konnten? Auch dies ist eine positive Leistung für unser Land.
Uns wird draußen vorgehalten, es werde eine Reform für die Unternehmen gemacht. Ich will hier die These aufstellen: Wir machen eine Reform für die Menschen. Wir erhöhen die Chancen auf Arbeitsplätze. Wir erhöhen die Chancen auf mehr Wirtschaftswachstum, auf mehr Investitionen und damit letztendlich auf steigende Einkommen und mehr Wohlstand in diesem Land. Daran werden alle teilhaben. Es werden diejenigen teilhaben, die unternehmerisch tätig sind. Es werden die Beschäftigten der Unternehmen teilhaben und auch diejenigen, wie etwa Rentner, deren Einkommensentwicklung an die Entwicklung der Nettolöhne gekoppelt ist. Es ist eine Reform für alle Menschen in diesem Land; wir sollten das nicht falsch, sondern richtig darstellen. Deshalb brauchen wir diese Reform.
Meine Damen und Herren, wenn ich die Kritik der Opposition höre, dann muss ich sagen: Es gibt da nicht allzu viel Substanzielles.
An der einen oder anderen Stelle wird im Detail kritisiert. Erst wurde uns gesagt, es müsse schneller gehen. Jetzt heißt es, es sei nicht ganz der richtige Wurf. Ja, was wollen Sie denn? Ich vermisse Ihren Vorschlag, mit dem Sie geschlossen darstellen, wie man angesichts der Haushaltslage eine Strukturreform in einem solchen Umfang überhaupt vornehmen kann.
Mehr Steuerentlastung fordern, was zu mehr Löchern im Haushalt führt, ist einfach. Aber man muss das Ganze auch in der politischen Darstellung zusammenbekommen. Da fehlt mir ein Vorschlag von Ihnen.
Meine Damen und Herren, die Große Koalition nimmt das Parlament und den Rat von Experten ernst. Wir haben von der ersten Lesung, die im März stattfand, bis zum heutigen Tag über 40 Änderungen an diesem Gesetz vorgenommen. Dies zeigt, dass wir nicht einfach stur mit unserer Mehrheit durch die Wand gehen, sondern dass wir da, wo die Fachleute Veränderungen vorgeschlagen haben, diese ernsthaft geprüft und entsprechend eingearbeitet haben. Dafür möchte ich dem Vorsitzenden des Finanzausschusses und allen beteiligten Kollegen Dank sagen. Ich glaube, auch daran wird deutlich, dass wir dieses Thema von der Sache her betrachten und nicht allein mit Mehrheiten agieren.
Darüber hinaus machen wir den Standort Deutschland wettbewerbsfähig. Wir führen einen Steuertarif ein, der bei unter 30 Prozent liegt. Ich will ausdrücklich sagen: Dieser Steuertarif gilt für alle Unternehmen, unabhängig von ihrer Rechtsform. Wir machen also keine Reform für Kapitalgesellschaften, sondern wir bieten allen Unternehmen unabhängig von ihrer Rechtsform einen Steuersatz auf einbehaltene Gewinne von unter 30 Prozent. Dass wir das in unserem Land schaffen, hätte man sich vor zwei Jahren noch nicht vorstellen können. Aber hier und heute beschließen wir diese Regelung. Das ist in puncto Stärkung der Wettbewerbsfähigkeit unseres Standortes für Unternehmensansiedlungen ein gewaltiger Schritt nach vorn.
Wir tun etwas für den Mittelstand; auch darauf möchte ich hinweisen. Die Thesaurierungsoption habe ich erwähnt. Wir werden außerdem eine Investitionsrücklage einführen. Das wird eine wesentliche Flexibilisierung zur Folge haben. Wir sorgen dafür, dass die Gewerbesteuer besser mit der Einkommensteuer verrechnet werden kann. Vor diesem Hintergrund stelle ich die These auf: Diese Reform ist auch im Interesse des Mittelstands, nicht nur im Interesse der großen Unternehmen in unserem Land. Dafür hat sich die Union nämlich eingesetzt.
Ich möchte ganz deutlich sagen: In Deutschland finden wir eine andere Unternehmenskultur als in anderen Ländern vor. Sie ist geprägt von Familienunternehmen und mittelständischen Unternehmen. Das ist in anderen Ländern nicht der Fall. Natürlich könnten wir unsere Kultur aufgeben und uns vor allen Dingen um Kapitalgesellschaften kümmern. Aber das wollen wir nicht. Wir wollen an der Kultur der Familienunternehmen festhalten. Deshalb haben wir uns bemüht, neue Lösungen zu finden, um auch die Personengesellschaften mitzunehmen.
Es ist nicht nachzuvollziehen, warum Gewinne, die am Standort Deutschland erwirtschaftet wurden, nicht auch hier der Besteuerung unterzogen werden sollten. Man kann sehr lange über die Frage diskutieren, mit welchen Instrumenten man dieses Problem am besten in den Griff bekommt. Selbstverständlich stellt eine Senkung der Steuertarife eine Motivation dar, um diesen Effekt zu vermeiden. Aber wir alle mussten zur Kenntnis nehmen: Das allein reicht nicht aus. Auch die bisherigen Regelungen zur Gesellschafter-fremdfinanzierung reichten nicht aus. Wir müssen dieses Problem auf innovative und kreative Weise lösen.
Herr Kollege Poß, wir haben vereinbart, dass wir zeitnah evaluieren wollen, ob unsere Maßnahmen die richtigen Ergebnisse liefern. Wir müssen uns - im Kontext der Entwicklung in den USA und in Frankreich - der Frage stellen: Wie können wir dafür sorgen, dass Gewinne, die im eigenen Land erwirtschaftet werden, auch im eigenen Land besteuert werden? Es ist ein vernünftiger Gedanke, davon auszugehen, dass dann, wenn wir etwas zur Verfügung stellen, auch hier Steuern zu zahlen sind.
Dadurch, dass wir zukünftig den Gewinn vor Abschreibungen betrachten und darauf die Zinsschranke anwenden, ist eine wesentliche Entspannung und Verbesserung der Situation eingetreten. Auf diese Weise haben wir dafür gesorgt, dass diese Regelung auch aufseiten der Unternehmen als tragbare Lösung angesehen wird.
Ich sage ganz offen: Der Beitrag, den diese Unternehmensteuerreform zum Forschungs- und Entwicklungsstandort Deutschland leistet, ist aus meiner Sicht noch nicht hinreichend. Aber im Rahmen der Unternehmensteuerreform werden wir an dieser Stelle nichts mehr ändern können.
Mittlerweile liegt uns allerdings ein im Bundesministerium der Finanzen erarbeitetes Eckpunktepapier vor - dafür möchte ich Ihnen, Herr Finanzminister Steinbrück, ausdrücklich danken -, in dem die Themen Wagniskapital und Unternehmensbeteiligungen behandelt werden und in dem der Frage nachgegangen wird, wie wir Unternehmen in Deutschland in der Gründungs- und Wachstumsphase besser fördern können. Ich glaube, auf dieser Basis können wir uns in der Koalition darüber unterhalten, wie wir dieses Problem lösen.
Ich glaube, wir müssen die gegenwärtigen Vorschläge noch ein wenig optimieren. Im Mittelpunkt müssen folgende Fragen stehen: Wie können Verlustvorträge im Rahmen von Finanzierungsrunden - das ist insbesondere für den Innovationsstandort eine essenzielle Frage - besser mitgenommen werden? Wollen wir uns nur auf das Gründungskapital konzentrieren oder auch die Wachstumsphasen, die Zweit- und Drittrundeneffekte, mitfinanzieren? An dieser Stelle besteht meiner Meinung nach die Notwendigkeit, nachzubessern.
Ich möchte nicht nur bewundern können, was in Luxemburg oder in der Londoner City im Bereich Wagnis- und Risikokapital geschieht.
Ich würde mich freuen, wenn solche Instrumente auch am Finanzplatz Deutschland zur Schaffung von Arbeitsplätzen, Wachstum und Beschäftigung gewinnbringend eingesetzt würden.
An dieser Stelle müssen wir gemeinsam arbeiten und Lösungen entwickeln.
- Da ich weiß, dass der Kollege Oswald ein fleißiger Arbeiter ist,
werden wir das gemeinsam schaffen.
Meine Damen und Herren, mit der Einführung einer Abgeltungsteuer schaffen wir für den Finanzplatz Deutschland attraktive Rahmenbedingungen. Ich teile die Ausführungen, die der Finanzminister zum Thema Steuerehrlichkeit gemacht hat. Ich möchte hinzufügen: An dieser Stelle sorgen wir für eine wesentliche Vereinfachung. Durch die Einführung der Abgeltungsteuer leisten wir einen maßgeblichen Beitrag zum Bürokratieabbau. Auch das sollte gelegentlich einmal festgehalten werden.
Daneben brauchen wir in Deutschland keine so große Kontrolldichte mehr. Die Zahl der Kontenabfragen kann deutlich geringer ausfallen. Auch das ist hinsichtlich der Wahrnehmung unseres Finanzplatzes ein Schritt nach vorne.
Der Kollege Thiele hat auf die Altersvorsorge hingewiesen. Ich teile die Bedenken, dass wir außerhalb der gesetzlichen Rente mehr für die Altersvorsorge tun müssen. Ich will aber auch einmal daran erinnern, dass wir in der letzten Wahlperiode auf dieser Baustelle gemeinsam etwas getan haben. Wir haben die nachgelagerte Besteuerung für die Altersvorsorge eingeführt. Man kann im Detail darüber reden, welche Rahmenbedingungen gesetzt wurden, ein attraktives Angebot für die Altersvorsorge ist über die nachgelagerte Besteuerung aber gegeben. Deshalb bitte ich, in der Diskussion ehrlich zu bleiben. Wer Kapitalanlagen betreibt, dessen Kapitalertrag wird besteuert, und wer Altersvorsorge betreibt, dessen Altersvorsorge wird über die nachgelagerte Besteuerung besteuert. Beides ist attraktiv ausgestaltet. Ich bitte um Ehrlichkeit, sodass wir hier nicht mit falschen Etiketten hantieren; denn ansonsten gleitet die Diskussion auf ein Niveau ab, das hier eigentlich fehl am Platze ist.
Ich will einen weiteren Punkt ansprechen, nämlich die Steuerausfälle. Ich bin zunächst einmal zufrieden, dass die kommunale Ebene diese nicht mitfinanziert. Die 5 Milliarden Euro, über die wir reden, werden voll und ganz vom Bund und von den Ländern aufgebracht. Ich glaube, an dieser Stelle haben wir eine gute Vereinbarung getroffen.
Zu den 5 Milliarden Euro will ich auch sagen, dass sie das Ergebnis einer statischen Betrachtung sind.
In dem Moment, in dem Wachstums- und Beschäftigungseffekte eintreten und die Unternehmen tatsächlich aktiv werden, wird es nicht zu diesen Steuerausfällen von 5 Milliarden Euro kommen, sondern der Haushaltsminister wird eine bessere Bilanz vorlegen können. Ich glaube, dass wir deshalb durch diese Reform am Ende der Zeitschiene kein Minus, sondern ein Plus zu verzeichnen haben werden. Deshalb können wir sie auch guten Gewissens mittragen.
Der Kollege Thiele hat hier über das Körperschaftsteueraufkommen im Laufe der Zeit gesprochen. Weil ich weiß, dass er fachkundig ist, hätte ich mir auch einen Hinweis auf die Unternehmensteuerreform 2000 gewünscht. Deren wesentlicher Effekt war es nämlich, dass sich das Körperschaftsteueraufkommen entsprechend entwickelt hat. Dies in diesem Zusammenhang nicht anzusprechen, rückt die Argumentation an dieser Stelle natürlich in ein etwas diffuses Licht.
- Jawohl, Sie waren auch beteiligt, Frau Scheel, und haben dafür gesorgt, dass wir in Deutschland kein Körperschaftsteueraufkommen hatten und dass die Unternehmen nichts bezahlt haben. Dies geschah aber nicht, weil Sie es wollten, sondern weil Sie als Vorsitzende des Finanzausschusses Fehler gemacht haben, die zu großen Steuerausfällen geführt haben. Eigentlich hätte man an dieser Stelle eine größere fachliche Kompetenz erwarten können.
Meine Damen und Herren, nach der Reform ist vor der Reform. Die Vereinfachung muss trotz der Priorisierung der Unternehmensteuerreform weitergeführt werden. Deshalb werden wir als Unionsfraktion an der Vereinfachung des Steuerrechts dranbleiben. Wir wollen eine weitergehende Vereinfachung.
Für uns steht auch das Thema Gewinnermittlung unterhalb der Besteuerungsebene auf der Tagesordnung. Herr Steinbrück, ich glaube, wir sind uns einig, dass wir uns dieser wichtigen Aufgabe zuwenden und die Frage beantworten müssen, wie es bei der Bilanzierung der Unternehmen im Sinne von mehr Einfachheit, aber auch mehr Klarheit zu einem Gewinn für den Standort kommen kann.
Es liegen schwierige Probleme vor uns. Wir zeigen, dass die Große Koalition zu Strukturreformen fähig ist. Sie ist damit aber nicht am Ende. Weitere große Projekte liegen vor ihr. Ich habe sehr viel Vertrauen, dass wir das gemeinsam schaffen. Ich wünsche mir dafür Ihre Zustimmung und Unterstützung.
Vielen Dank.
Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner:
Nächster Redner ist der Kollege Oskar Lafontaine, Fraktion Die Linke.
Oskar Lafontaine (DIE LINKE):
Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Zunächst ein Wort an Sie, Herr Kollege Kolb, weil Sie so erschrocken waren, dass ich Ihnen Beifall gespendet habe.
Wenn Sie in der Sache recht haben, muss ich Ihnen natürlich Beifall spenden. Ich glaube, wir sollten uns durchaus vorstellen können, dass man auch Kollegen Beifall spenden kann, die normalerweise nicht die Auffassung vertreten, die man selbst vertritt. Zum Parlamentarismus gehört es, dass man dann Beifall spendet, wenn man ein Argument für richtig hält. Das sollten wir auch in Zukunft so halten.
Damit Sie nicht allzu sehr erschrecken: In Grundsatzfragen der Wirtschaftspolitik gibt es durchaus Überschneidungen zwischen meinen und vielleicht auch Ihren Überlegungen mit denen anderer. Wenn es um die Kontrolle wirtschaftlicher Macht geht, stützen wir uns beispielsweise auf Walter Eucken, der die Verhinderung wirtschaftlicher Macht zum Kernanliegen einer Wettbewerbsordnung gemacht hat. Die Verhinderung wirtschaftlicher Macht ist ja kein Thema mehr. Die Kontrolle wirtschaftlicher Macht war noch ein Schwerpunkt der SPD im Godesberger Programm. Aber auch davon ist heute keine Rede mehr.
Wenn es um Ordnungspolitik geht - zum Beispiel bei der Netzprivatisierung -, dann kommen wir nicht auf die Idee, einen Zeitgenossen zu zitieren. Ich zitiere lieber John Stuart Mill, der niemals auf die Idee gekommen wäre, der Marktwirtschaft Bereiche zu unterwerfen, die nicht marktwirtschaftlich zu organisieren sind.
Wenn wir über Vermögensbildung in Arbeitnehmerhand reden - ich komme noch darauf zurück -, dann beziehe ich mich gerne auf Karl-Hermann Flach und Werner Maihofer, die mit dem Freiburger Programm Positionen vorgelegt haben, die ich heute noch unterschreiben könnte. So viel zu den Auflockerungsübungen, die Sie vielleicht überrascht haben.
Wenn es um die Erbschaftsteuer geht, erwähne ich gerne große amerikanische Liberale wie Bill Gates oder Warren Buffett, die eine andere Position als Sie vertreten und der Auffassung sind, dass es Erben sehr wohl zuzumuten ist, sich durch eigene Leistung ein eigenes Vermögen aufzubauen, statt sich auf dem Vermögen der Eltern auszuruhen.
Das macht deutlich, dass man mit unterschiedlicher Sichtweise an bestimmte Fragen herangehen kann; man sollte aber in seiner Denkweise einigermaßen konsequent sein.
Nun zu unserer Position:
Im Gegensatz zu den meisten Vorrednerinnen und Vorrednern bin ich nicht in der Position, der Regierung und denjenigen, die an dem Gesetzentwurf mitgearbeitet haben, meinen Dank für die großartigen Leistungen auszusprechen; vielmehr stelle ich für unsere Fraktion fest: Nach der verteilungspolitischen Entwicklung der letzten Jahre und den vielen Unternehmensteuerreformen, die wir schon beschlossen haben, ist ein weiterer Milliardensegen für die Großkonzerne unvertretbar. Das ist die Position der Linken.
Problematisch ist auch, dass Sie es nicht bei diesem Milliardensegen bewenden lassen wollen. Die nächsten Milliardengeschenke für die Unternehmen werden bereits angekündigt. Mit Erschrecken habe ich festgestellt, dass der Kollege Poß kürzlich öffentlich weitere Senkungen der Lohnnebenkosten angekündigt hat. Ich hoffe, Sie sind richtig zitiert worden.
- Herr Kollege Poß, früher wussten Sie selber, dass eine Senkung der Lohnnebenkosten immer auch ein Milliardengeschenk an die Unternehmen bedeutet.
Nachdem wir in dieser Legislaturperiode schon einmal den Unternehmen durch die Senkung der Lohnnebenkosten ein Milliardengeschenk beschert haben, frage ich mich, warum ein Sozialdemokrat angesichts der Einkommensentwicklung der Arbeitnehmer und Rentner weitere Milliardengeschenke an die Unternehmen fordert. Sie sollten diese Position noch einmal überdenken.
Die CDU/CSU hat bereits angekündigt, dass in einem Jahr die nächste Unternehmensteuerreform ansteht. Ich bin sicher, dass es dazu kommt. Die nächste Unternehmensteuerreform wird die Unternehmen sicherlich nicht nur um 130 Millionen Euro entlasten. Es ist jetzt schon abzusehen, dass die Geschenke an die Unternehmen einen größeren Umfang haben werden. Ich bin bereit, mit Ihnen Wetten abzuschließen, dass wir demnächst in diesem Hause wieder über ein solches Vorhaben diskutieren.
Es geht aber nicht nur um die Senkung der Lohnnebenkosten und um Ihre weiteren Vorhaben in einem Jahr, sondern auch um die Erbschaftsteuerreform. Die Erbschaftsteuer soll bei erfolgreicher Fortführung eines Unternehmens über zehn Jahre vollständig erlassen werden. Auch das sind Milliardengeschenke an die Unternehmen, wie auch immer Sie es definieren.
Wenn es in diesem Lande darum geht, Unternehmen zu bedienen, dann ist die große Mehrheit dieses Hauses dabei. Das steht im krassen Widerspruch zur Einkommensverteilung in diesem Lande. Darauf wollen die Linken aufmerksam machen.
Wenn in diesem Hause immer wieder solche Milliardensegen beschlossen werden, dann frage ich mich trotz der freudigen Einlassung des Bundesfinanzministers, was die Rentnerinnen und Rentner denken, die mit einer Rentenerhöhung um 0,54 Prozent - welch großartige Leistung, Herr Bundesarbeitsminister! - rechnen dürfen. Sie stellen sich die Frage, warum für die Unternehmen Milliarden zur Verfügung stehen, wenn sie selbst nur ein paar Brotkrumen erhalten. Diese Einkommensentwicklung können wir nicht tolerieren.
Sie erwähnen immer wieder stolz die Entwicklung bei den sozialversicherungspflichtigen Arbeitsplätzen. Ich frage mich, wie die Leiharbeiter darüber denken, die unter Tarif in den Betrieben beschäftigt werden und deren Zahl immer weiter zunimmt.
Ich rate dazu, nicht alles durch eine rosarote Brille zu betrachten. Es ist zwar erfreulich, wenn die Wirtschaft in Bewegung kommt - das habe ich mehrfach ausgeführt -, aber es ist unverständlich, dass Sie alles durch eine rosarote Brille betrachten. Was denken insbesondere die 50 000 Bediensteten der Telekom, die zum Teil 40 Prozent Ihres Einkommens einbüßen, wenn sie Ihre Lobeshymnen hören und von den Milliardengeschenken an die Unternehmen erfahren? Diese Frage möchte ich in den Raum stellen.
Ich möchte noch eine weitere Überschneidung ansprechen. Erschrecken Sie jetzt nicht, Herr Kollege Kolb!
Jetzt wäre die Gelegenheit, die vielen kleinen Unternehmen im Einkommensteuertarif zu entlasten, die zum Teil nicht mehr als 30 000 Euro bis 40 000 Euro Jahresgewinn erzielen. Das wäre auch in ökonomischer Hinsicht sehr viel sinnvoller als die Milliardengeschenke an die Großkonzerne, mit denen Sie sich offensichtlich so gut verstehen.
- Herr Kollege Thiele, ich bitte vielmals um Entschuldigung. Ich nehme aber an, es war keine Beleidigung, Sie mit dem Kollegen Kolb zu verwechseln. Das war keine Absicht.
Es wäre jetzt viel sinnvoller, den Einkommensteuertarif zu korrigieren und den sogenannten Mittelstandsbauch zu entfernen. Dies wäre nicht nur sinnvoll für die vielen Kleinbetriebe, die davon profitieren würden. Es wäre ebenfalls sinnvoll für die Facharbeiter, die für uns nach wie vor zu den Leistungsträgern dieser Gesellschaft gehören - nicht nur die Großkonzerne!
Wenn man zu viel Geld hat, dann kann man das machen.
Wenn man schon dabei ist, Unebenheiten im Einkommensteuertarif auszugleichen, dann wäre es auch sinnvoll, einen Inflationsausgleich in den Einkommensteuertarif einzubauen. Das ist in den letzten Jahren vernachlässigt worden. Es gab Jahre, in denen die Bruttozuwächse der Arbeitnehmer unter der Inflationsrate lagen, sodass die damit verbundenen leichten Steuerzuwächse ihr Einkommen noch einmal geschmälert haben. Es gibt in anderen Ländern Beispiele dafür. Ich weiß, dass solche Überlegungen auch einmal in Ihrer Fraktion angestellt worden sind. Neben der Entlastung der Facharbeiter und Kleinstbetriebe wäre eine Korrektur des Einkommensteuertarifs erforderlich.
Ich habe das Freiburger Programm aus folgendem Grund angesprochen: Wenn Sie schon meinen, bei der Erbschaftsteuer hätten Sie weitere Gründe, Milliardengeschenke an die Unternehmen zu geben, dann wäre es doch sinnvoll - wenn Sie ökonomische Gründe heranziehen wollen -, das Vermögen nach zehnjähriger Betriebsfortführung nicht beim Erben zu belassen, sondern Anteilsscheine an die Belegschaften auszugeben. Das wäre wirklich einmal eine Innovation, und es wäre dem Rechnung getragen, was Sie alle wollen, dass nämlich das Kapital im Unternehmen bleibt und die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer am Zuwachs des Produktivkapitals beteiligt werden.
- Ihr Lachen, verehrter Herr Kollege - Ihren Namen kenne ich leider nicht -, zeigt, dass Sie sehr jung sind. Das war vor vielen Jahren Konsens in diesem Hause. Das steht so im Freiburger Programm, wenn Sie das bitte schön noch einmal nachlesen würden. Wenn Sie beispielsweise die Reden von Karl Schiller - ich wende mich jetzt an die SPD-Fraktion in diesem Hause - noch einmal nachlesen, dann werden Sie sehen, dass es ein großes Problem ist, dass der Zuwachs des Produktivvermögens im Laufe einer langjährigen Betriebsführung allein den Anteilseignern zugute kommt, obwohl er doch ebenfalls durch den Fleiß der Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern erarbeitet worden ist.
Warum denken Sie über solche Alternativen überhaupt nicht mehr nach? Die Linke vertritt nach wie vor diese Alternativen.
Nun komme ich zur wunderbaren Betrachtung des Herrn Bundesfinanzminister zur Abgeltungssteuer. Er hat kühn, wie das so seine Art ist, gesagt - wer wollte ihm da widersprechen? -:
25 Prozent auf x sind besser als 42 Prozent auf gar nix.
Das ist logisch; dagegen kann niemand etwas sagen. Nur sind diejenigen, die Geld haben, genauso schlau wie Sie. Die sagen sich, dass 0 Prozent auf x in Luxemburg besser sind als 25 Prozent in Deutschland. Sie sind genauso schlau wie Sie. Wirklich!
- Doch, sie sind so. Sie rechnen so, Herr Steinbrück. Deshalb geht diese wunderbare Rechnung nicht auf.
Im Übrigen ist es für mich wirklich ein Phänomen - wie soll ich Sie anreden? -, verehrte Damen und Herren der Sozialdemokratie,
dass Sie einfach zustimmen, dass die - leistungslosen - Erträge aus dem Geldvermögen steuerlich viel besser behandelt werden als die harte Arbeit der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer.
Ich verstehe eine solche Fehlentwicklung nicht.
Als ich gerätselt habe, wie das wohl weitergehen wird und wie die einzelnen Fraktionen wohl abstimmen werden, ist mir zufällig ein Bericht der ?Welt Online“ in die Hand gefallen, der mit dem Titel ?Wirtschaft investiert am liebsten in die CDU“ überschrieben war. Ich zitiere:
Im Wahljahr 2005 hat die CDU ihre Spendeneinnahmen fast verdoppelt. Wie aus dem Rechenschaftsbericht der Parteien hervorgeht, geben Wirtschaftsgrößen und Unternehmen am liebsten Geld für die Union. Und die FDP ...
Dann steht weiter in dem Artikel, dass die SPD und die Grünen etwas weniger bekommen. Die Linke bekommt natürlich nichts.
Ich habe das gelesen und mich mit der Frage geplagt, wieso wir eigentlich nichts bekommen.
Wir dachten, dass die Wirtschaft irgendwie - -
Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner:
Herr Kollege Lafontaine, gestatten Sie eine Zwischenfrage der Kollegin Künast?
Oskar Lafontaine (DIE LINKE):
Selbstverständlich. Bitte schön, Frau Kollegin Künast.
Renate Künast (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Sehr geehrter Herr Kollege, bei dem Satz, Sie, die Linke, bekämen nichts, ging mir ein historisches Licht auf. Sind Sie eigentlich sicher, dass Sie alles, was Sie aus SED-Zeiten illegal mitgenommen haben, zurückgegeben haben?
Oskar Lafontaine (DIE LINKE):
Frau Kollegin Künast, ich kenne die Entwicklung etwas besser als jeder andere, weil ich damals im Zentrum war. Deshalb wäre ich an Ihrer Stelle generell etwas vorsichtig und insbesondere hier noch vorsichtiger.
Sie haben keine Blockpartei geschluckt und insofern auch kein Vermögen. Aber hier sind Parteien vertreten, die ebenfalls eine Blockpartei oder sogar zwei Blockparteien geschluckt haben, die Vermögen hatten. Sie sollten also Ihre Frage den Richtigen stellen.
Die Linkspartei wurde juristisch so verfolgt und gejagt, dass sie unterschreiben musste, dass jeder Betrag, der auftaucht, dreifach zurückgezahlt wird. Hören Sie also mit diesen Verdächtigungen auf!
Ihr Ablenkungsversuch ist allzu durchsichtig, Frau Kollegin Künast. Auch Ihre Partei ist in der erwähnten wunderbaren Liste aufgeführt. Es ergibt sich ein merkwürdiger Zufall: Das Abstimmungsverhalten der betreffenden Parteien spiegelt in etwa die freundliche Gesinnung der Wirtschaft gegenüber diesen Parteien wider.
Das ist natürlich ein reiner Zufall. Aber ich werde weiter darüber nachdenken.
Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner:
Ich gebe das Wort der Kollegin Christine Scheel, Bündnis 90/Die Grünen.
Christine Scheel (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Zu dieser Therapiestunde sage ich besser nichts.
Ich möchte gerne auf das eingehen, was Herr Meister gesagt hat. Er hat gesagt, die Große Koalition habe die Konjunktur aus dem Keller geholt. Ich sage dazu: Trotz dieser Großen Koalition ist die Konjunktur gut, weil die Menschen in diesem Land arbeiten und weil vor allem die Auftragslage der Unternehmen gut ist. Wohlgemerkt: trotz dieser Koalition.
Herr Meister, ich bin froh, sieben Jahre Finanzausschussvorsitzende gewesen zu sein; denn in dieser Zeit sind genau die Entscheidungen gefallen, mit denen die Strukturen grundlegend verändert worden sind, sodass wir heute vernünftige Bedingungen auf dem Arbeitsmarkt und im Steuerrecht vorfinden.
Ihre Behauptung, Sie hätten eine wesentliche Strukturreform durchgeführt, ist reine Augenwischerei. Der vorliegende Gesetzentwurf ist Stückwerk. In Wirklichkeit stimmen Sie - sowohl aufseiten der Union als auch aufseiten der SPD - diesem Gesetzentwurf in großen Teilen nur mit zusammengebissenen Zähnen zu.
Denn wie wir alle wissen, herrscht ein sehr großes Unwohlsein angesichts der unkalkulierbaren Auswirkungen dieser Reform auf die Unternehmen, aber auch auf die Steuereinnahmen. Um diesen Risiken zu begegnen, haben Sie schon angekündigt, dass Sie eine Vielzahl von Überprüfungen vornehmen werden. Deswegen ist es völlig übertrieben, heute zu sagen: Wir haben eine supergroße Strukturreform durchgeführt. Das bedeutet, nach der Reform ist vor der Reform. Ich behaupte, dass diese Reform nicht lange Bestand haben wird. Es wird in zwei bis drei Jahren substanzielle Korrekturen geben.
Wir Grüne haben immer darauf hingewiesen, dass diese Reform enorme Mängel hat. Ich mache das einmal an fünf Beispielen deutlich. Erstens. Die Finanzierung ist nicht solide. Zweitens. Die Mittelstandslücke ist nicht geschlossen worden. Drittens. Die Finanzierung ist unsystematisch und investitionsfeindlich. Viertens. Die Vorzüge der Abgeltungsteuer wurden demontiert. Fünftens. Die Aktiensparer werden massiv zur Kasse gebeten.
Dann zu sagen, diese Reform sei gut, ist einfach falsch.
Ich werde die einzelnen Punkte belegen. Die Reform ist nicht solide finanziert. Das sagen die Kommunen und die Länder; denn die müssen die Milliardenausfälle verkraften. Ob Steuermehreinnahmen in Höhe von 4 Milliarden Euro in dieses Land kommen, weil Sie auf die Rückverlagerung von Gewinnen aus dem Ausland hoffen, ist zweifelhaft. Das ist das Prinzip Hoffnung. Das hat mit der Realität sehr wenig zu tun.
Die Datenbasis ist schlecht. Das wissen wir. Sie setzen darauf - das, so finde ich, ist das Schwierige an der Situation -, dass konjunkturbedingte Steuermehreinnahmen die Finanzlöcher dieser Reform verdecken werden. So wird die SPD-Linke nämlich nie erfahren, was diese Reform wirklich gekostet hat. Wenn die Konjunktur weiter anhält, wird das verwischt. Sie haben gesagt, dass Sie auf den Bestand der Konjunktur hoffen. Damit geben Sie zu, dass es Finanzrisiken auf allen Ebenen bei dieser Reform gibt.
Der zweite Mangel: Die Reform hat eine Mittelstandslücke. Sie behaupten immer, das stimme nicht. Alle reden von der Entlastung der Kapitalgesellschaften. Was ist denn eigentlich mit den kleinen und mittleren Unternehmen, die eine andere Rechtsform haben und die 80 Prozent der Arbeitsplätze in diesem Land stellen und 70 Prozent der Ausbildungsplätze in Deutschland schaffen? Ich weiß, das sind alles altbekannte Zahlen, aber sie verdeutlichen eine Tatsache, die heißt: Eine Unternehmensteuerreform, mit der Wachstum und Beschäftigung in der Zukunft geschaffen und erhalten werden sollen, darf nicht an diesen kleinen und mittleren Unternehmen vorbei gemacht werden.
Genau das tut diese Große Koalition, und sie geht noch weiter; denn die Entlastung von international operierenden Unternehmen wird zu großen Teilen auch von den kleinen Unternehmen in der Bundesrepublik bezahlt. Das ist unfair, und das ist der Punkt, den wir hier an dieser Stelle massiv kritisieren.
Wir haben uns die Zahlen vom Zentralverband des Deutschen Handwerks und vom Deutschen Industrie- und Handelskammertag sehr genau angesehen und stellen fest, dass Ihre Aussage, die Sie hier getroffen haben, nämlich dass diese Unternehmen etwas davon hätten, sie thesaurieren und zum Beispiel den Investitionsabzugsbetrag in Anspruch nehmen könnten, genauer betrachtet werden muss. Wenn man sich die Zahlen anschaut, dann sieht man, dass maximal 12 Prozent aller Unternehmen überhaupt von diesen Maßnahmen profitieren werden. Aber die anderen 88 Prozent zahlen das mit. Das ist nicht in Ordnung.
Die Finanzierung der Reform ist unsystematisch, und sie ist investitionsfeindlich. Sie ist konzeptionslos, und sie ist zusammengestoppelt. Die Finanzierungsmaßnahmen gefährden - diese Kritik haben wir schon in der ersten Lesung vorgetragen - Forschung und Entwicklung hier am Standort. Sie machen das Steuerrecht komplizierter und bürokratischer. In Ihrem Gesetzentwurf sind 23 neue Mitteilungspflichten vorgesehen. Das spricht eine eigene Sprache. 23 neue Mitteilungspflichten bedeuten mehr Bürokratie für die Unternehmen. Die radikale Kürzung der Sofortabschreibungen auf geringwertige Wirtschaftsgüter belastet 5 Millionen Unternehmen in diesem Land mit mehr Bürokratie. Das ist der Punkt, an dem Anspruch und Wirklichkeit enorm auseinanderfallen.
Wir sehen auch, dass die neuen Regeln und die Entscheidungen, die jetzt im Zusammenhang mit den Änderungsanträgen im Finanzausschuss getroffen worden sind, zahlreiche Fußangeln für die Steuerpflichtigen bereithalten. Zukünftig entscheidet noch stärker als die Höhe des Einkommens die Qualität des Steuerberaters oder der Steuerberaterin über die Höhe der Steuerlast. Das kann doch nicht wahr sein angesichts der Tatsache, dass Sie davon reden, mehr Transparenz und eine Vereinfachung im Steuerrecht schaffen zu wollen. Am Ende weiß niemand wer, wie die tatsächliche Einkommenssituation ist. Sie aber stellen sich hin und behaupten, alles besser gemacht zu haben. Die Qualität des Steuerberaters wird darüber entscheiden, wie viele Steuern bezahlt werden,
und das ist nicht in Ordnung für die Zukunft; vielmehr sollte die Leistungsfähigkeit ausschlaggebend sein. Diese Einschätzung hat in der Sachverständigenanhörung eine breite Mehrheit der Experten geteilt. Hier etwas anderes darzustellen, grenzt schon wirklich an Realitätsverlust.
Sie haben auch die Vorzüge der Abgeltungsteuer benannt. Das vom Finanzminister hier formulierte Ansinnen, zu Vereinfachung, mehr Transparenz und Gleichbehandlung aller Kapitaleinkünfte zu kommen, ist richtig. Aber was haben Sie daraus gemacht? Sie haben dafür gesorgt, dass Gewinne durch die Veräußerung von Aktien einer Sonderbehandlung unterliegen. Diese Abgeltungsteuer hat beispielsweise haarsträubende Auswirkungen auf die Unternehmensfinanzierung: Durch die Ausgestaltung der Abgeltungsteuer werden Eigenkapitalfinanzierungen mit fast 50 Prozent doppelt so hoch besteuert wie Fremdkapitalfinanzierungen, die mit 25 Prozent besteuert werden. Das ist eine massive steuerliche Benachteiligung. Es lohnt jetzt noch mehr, mit Krediten als mit Eigenkapital zu finanzieren. Die Start-ups, die Wagniskapital dringend brauchen, werden zunehmend leer ausgehen. Das kommt hinzu.
Das heißt, Sie haben hier völlig unsystematische Finanzierungsvorschläge gemacht, um die Wirkung Ihrer merkwürdigen Zinsschranke - dieses eigenartige Produkt, das in Wirklichkeit kaum jemand versteht - zu mildern. Auf der anderen Seite haben Sie eine Gegenfinanzierung vorgenommen, die wahrscheinlich Verwerfungen auf den Finanzmärkten auslösen wird, über die Sie sich noch die Haare raufen werden.
Wir meinen außerdem, dass Schwarz-Rot gegen Personen, die langfristig Geld in Aktien anlegen, völlig ungerechtfertigt vorgeht. Ihr erster Schritt war, den Sparerfreibetrag zu halbieren. Ihr zweiter Schritt war, den zu versteuernden Anteil an Dividenden zu verdoppeln. Ihr dritter Schritt war, festzulegen, dass beim Verkauf von Aktien anfallende Veräußerungsgewinne - auch solche, die langfristig erzielt worden sind - zu einem Viertel besteuert werden. Auch das ist Ausdruck einer unkalkulierbaren Politik. Es schadet der Aktienkultur in Deutschland. Wir befürchten, dass auch die private Altersvorsorge dadurch Schaden nehmen wird. Es kann doch nicht sein, dass Sie die Bürger jahrelang auffordern, Altersvorsorge zu betreiben, um anschließend die Steuerkeule zu schwingen. Das ist nicht in Ordnung, und es ist unfair gegenüber den Menschen in diesem Land, die in den letzten Jahren etwas für ihre Altersvorsorge getan haben und dies fortsetzen möchten.
An die Adresse der SPD gerichtet, möchte ich sagen: Sie irren, wenn Sie glauben, es gehe hier immer nur um die Besserverdienenden. Vielmehr geht es auch um Kleinsparer, um diejenigen, die vermögenswirksame Leistungen beziehen, und um diejenigen, die - Herr Beck hat das gesagt - Produktivkapital in Arbeitnehmerhand entstehen lassen wollen. Durch die von Ihnen hier getroffenen Maßnahmen wird genau das Gegenteil dessen passieren, was gewollt ist.
Abschließend möchte ich noch eine Bemerkung machen. Zu dem vorliegenden Gesetzentwurf gibt es einen Entschließungsantrag zur Reform der Erbschaftsteuer. Die SPD ist nur dann bereit, diesem Gesetzesentwurf heute zuzustimmen, wenn dieser Entschließungsantrag angenommen wird. Ich kann Ihnen nur sagen: Dieses Papier hätten Sie sich sparen können. Die Annahme dieses Entschließungsantrags schafft keinerlei Rechtssicherheit. Ich finde, es ist eine politische Frechheit, in dieser Situation - kleine und mittlere Unternehmen sollen an Nachfolger übergeben werden und Erbschaftsfolgen stehen an - einen Entschließungsantrag vorzulegen, dessen Annahme nichts als einen Placeboeffekt zur Folge hat. Das zeigt im Prinzip nur, dass das Misstrauen in der Großen Koalition sehr groß ist. Dieser Entschließungsantrag hilft denjenigen, die auf ein solches Gesetz warten und die endlich Rechtssicherheit haben wollen, überhaupt nicht.
Danke schön.
Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner:
Ich gebe das Wort dem Kollegen Joachim Poß, SPD-Fraktion.
Joachim Poß (SPD):
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Frau Kollegin Scheel, ich verstehe Ihre Aufregung gar nicht. Sie müssten doch mit uns darin übereinstimmen, dass es richtig ist, auch in Zukunft die Erbschaftsteuer zur Finanzierung des Gemeinwesens in Deutschland - zur Finanzierung von Bildung und Betreuung - einzusetzen. Angesichts dessen müssten Sie diesem Entschließungsantrag doch zustimmen.
Sie regen sich an der falschen Stelle auf. Ich verstehe das gar nicht. Ich kann Ihnen auch nicht ersparen, zu sagen, dass Sie die Ergebnisse der gemeinsamen Arbeit in sehr kurzer Zeit offenbar vergessen haben. Wir haben doch gemeinsam dafür gesorgt,
dass kleine und mittlere Unternehmen, die im Jahr 1998 noch eine effektive Steuerbelastung von 25,2 Prozent hatten, im Jahr 2005 nur noch 19 Prozent Steuern gezahlt haben.
Es ist doch ein Erfolg gewesen, dass wir die Anrechenbarkeit der Gewerbesteuer auf die Einkommensteuerschuld realisiert haben. Ich verstehe gar nicht, wie Sie hier agieren. Sie verleugnen das, was Sie an Positivem bewirkt haben. Diese Arbeit und die Weichenstellungen, die wir in der rot-grünen Koalition vorgenommen haben, haben natürlich mit dem gegenwärtigen Aufschwung zu tun.
Ebenso ist nicht zu leugnen, dass das ?Binnenkonjunkturprogramm“, das wir in der Großen Koalition aufgelegt haben, sehr wohl die Binnenkonjunktur beflügelt hat. Wenn man die Länderanteile mitrechnet, sind es 37 Milliarden Euro gewesen. Fragen Sie doch bei der KfW und woanders! Natürlich hat die Politik den gegenwärtigen Wirtschaftsaufschwung befördert, und das ist auch gut so. Dazu kann man stehen.
Ein Wort vielleicht zu Herrn Lafontaine. Es lohnt sich nicht, glaube ich, mehr an ihn zu verschwenden. - Herr Lafontaine, die SPD ist seit 143 Jahren der Aufklärung verpflichtet, nicht der Täuschung. Bei Ihnen ist das umgekehrt.
- Bei Ihnen ist es aber Absicht; Sie sind ja nicht sachunkundig.
Was ist der eigentliche Skandal? Der Skandal ist, dass Sie und andere von Milliardengeschenken sprechen, wo es um ganz etwas anderes geht. Es geht darum - Sie kennen sicherlich die Studie des DIW -, dass auf der Grundlage des geltenden Rechts bis zu 100 Milliarden Euro an Gewinnen, die bei uns in Deutschland erwirtschaftet werden, im Ausland zur Versteuerung ankommen. Weil es uns gemeinschaftlich nicht gelungen ist - das ist schon seit Ihrer Zeit als Finanzminister so -, in Europa einen Rahmen zu schaffen, der das verhindert. Das ist die Realität, und diese Realität müssen wir verändern.
Selbst wenn Sie eine absolute Mehrheit in Bundestag und Bundesrat hätten, müssten Sie den Status quo verändern, um die Gerechtigkeitslücke, mit der wir es gegenwärtig zu tun haben, zu schließen.
Es wird DAX-Unternehmen geben - wir wollen da keine Namen nennen -, die jetzt zum ersten Mal richtig Steuern zahlen werden, die jetzt nämlich das Gemeinwesen nicht mitfinanzieren. Das ist auch der Kern dessen, was wir in sehr konstruktiver Atmosphäre in der Großen Koalition, in einer Arbeitsgruppe mit Roland Koch und Peer Steinbrück an der Spitze, zustande gebracht haben. Wir haben uns um die wirklichen Probleme gekümmert. Wir haben auf ideologische Schaukämpfe verzichtet. In diesem Geist lief es auch im Finanzausschuss des Deutschen Bundestages. Es gab nur wenige substanzielle Veränderungen - trotz lautstarker Forderungen verschiedenster Lobbygruppen nach weitaus größeren Eingriffen in die geplante Reform.
Fakt ist, auch daran muss man erinnern: Die Gewinnsituation ist glänzend. Das führt Gott sei Dank dazu, dass die Unternehmen derzeit - Herr Thiele, offenbar missfällt Ihnen das - so viel Steuern zur Finanzierung des Gemeinwesens zahlen wie seit Jahren oder Jahrzehnten nicht mehr. Und das ist auch gut so.
Das entspricht dem Maßstab der Besteuerung nach der wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit. Daran gibt es nichts zu kritisieren. Wer gut verdient, soll auch Steuern zahlen. Das tun die Unternehmen Gott sei Dank. Allein bei der Gewerbesteuer waren das im letzten Jahr 38 Milliarden Euro brutto.
Also: Es geht nicht um einen Milliardensegen für Konzerne, sondern um die Schließung der Gerechtigkeitslücke, wie ich das beschrieben habe. Wir haben die Länder im Vorfeld einbezogen. Das führt dazu, dass wir auf Verhandlungen im Vermittlungsausschuss verzichten können. Das hat auch Vorteile. Die Konstellation der Großen Koalition war hilfreich, um die ideologischen Beschränkungen und Polarisierungen zu überwinden, die die steuerpolitische Debatte im Land in den vergangenen Jahren geprägt haben.
Diese Standortdebatte war irrational. Sie hat dem Standort - das muss man eindeutig sagen - eher geschadet. Von all den Reformvorschlägen, die da gemacht worden sind, galten nur diejenigen als mutig, die zu möglichst großen Einnahmeausfällen für Bund, Länder und Gemeinden geführt hätten. Ich will jetzt eigentlich keine Beispiele nennen. Aber die Vorschläge des Sachverständigenrats oder der Stiftung Marktwirtschaft hätten zu Ausfällen von bis zu 40 Milliarden Euro geführt. Das ist für uns nicht darstellbar. Das ist weder für die Länder noch für die Kommunen, noch für den Bund zu verkraften. Deswegen haben wir ein Reformkonzept gezimmert, das wirklich an die Probleme herangeht und nicht so viel kostet.
Die Diskussion über die 5 Milliarden Euro ist eine Diskussion mit Scheingenauigkeit. Natürlich stimmt das: Wir haben derzeit eine Dynamik in der wirtschaftlichen Entwicklung, die genau dazu führen wird, dass wir bei der Gewerbesteuer schon im Jahr 2009 in absoluten Zahlen ein höheres Aufkommen haben werden als im Jahr 2007. Bei der Körperschaftsteuer spätestens 2010, möglicherweise aber schon 2009. Deswegen trifft diese Debatte, die auch in der SPD geführt wurde - man braucht hier kein Schattenboxen zu veranstalten -, nicht den Kern dessen, worum es hier geht. Es geht uns um die Sicherung der deutschen Steuerbasis bei gleichzeitiger Verbesserung der Wettbewerbsfähigkeit und bei gleichzeitiger Förderung von Investitionen in Deutschland, die wiederum Arbeitsplätze sichern und helfen, neue zu schaffen. Das ist der Kern der Reform, für die wir hier stehen. Die Sozialdemokraten können stolz auf diese Reform sein.
Deshalb stehen wir auch zu dem, was wir mit dem Koalitionspartner vereinbart haben. Es gibt keine zu hohe effektive Belastung. Darüber brauchen wir gar nicht zu reden. Es geht hier um nominale Steuersätze. Das DIW und auch andere Institutionen sagen: Leute, wenn ihr das verändern wollt, dann müsst ihr mit den nominalen Steuersätzen runter, dann müsst ihr entsprechende Instrumente schaffen. Wie diese wirken werden, wird man abwarten müssen. Ich bin hier vorsichtig. Es ist die Frage, wie die Zinsschranke wirken wird. Wir machen die Gewerbesteuer mit den Hinzurechnungen stabiler. Das ist eine sozialdemokratische Vorstellung, für die einige - unter anderem ich - seit drei Jahrzehnten kämpfen. Das, was bislang nicht durchzusetzen war, setzen wir jetzt in der Großen Koalition durch. Nicht umsonst äußert sich der Städtetag so positiv über das, was wir hier erarbeitet haben.
Er weiß, dass die Kommunen jetzt aus der Gefahr sind, in der sie sich seit Jahrzehnten befunden haben. Diese Gefahr bestand darin, mit einer Gewerbesteuer leben zu müssen, die immer ertragsabhängiger und immer konjunkturanfälliger wurde. Jetzt haben wir das Gegenteil erreicht. Das, was hier realisiert wurde, ist ein starkes Stück sozialdemokratischer Steuerpolitik.
- Daher Ihre Kritik. Ich will nicht sagen, ich bin stolz darauf, denn das wäre das falsche Wort, aber als jemand, der seit 27 Jahren genau das will, was wir heute verabschieden, bin ich damit einverstanden. Das werden Sie verstehen. Wir sind im Sinne der Programmatik vorangekommen, die im Jahre 2003 in unserer Partei beschlossen worden ist. Gemessen an diesen Maßstäben, sind wir vorangekommen. Ich sage, das ist gut so. Wir beseitigen eine Gerechtigkeitslücke.
Es gibt keine Mittelstandslücke. Darauf ist der Kollege Dr. Meister schon eingegangen. Mit der Gewerbesteuer haben wir jetzt die eigentliche Unternehmensteuer. Die Bedeutung der Körperschaftsteuer nimmt ab, weil sie so gestaltungsanfällig ist und weil der Europäische Gerichtshof uns ein Urteil nach dem anderen beschert, die alle zu Steuerausfällen führen werden. Der Europäische Gerichtshof nimmt überhaupt keine Rücksicht auf die Haushaltssituation. Das, was wir heute verabschieden, ist eine Selbstschutzmaßnahme für den Standort Deutschland. Auch deshalb ist es neben all den anderen Argumenten, auf die ich eingegangen bin und die genannt worden sind, richtig, am heutigen Morgen Ja zu sagen.
Es liegt ein Entschließungsantrag zur Erbschaftsteuer vor. Dazu habe ich eingangs schon etwas gesagt. Auch mit diesem sind wir sehr einverstanden. Der Antrag enthält alle Festlegungen, die wir 2003 auf dem Bochumer Parteitag im Zusammenhang mit der Erbschaftsteuer beschlossen haben. Wir bekräftigen auch bei der Erbschaftsteuer den Maßstab der Besteuerung nach der wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit.
- Gibt es da etwas zu kritisieren, Frau Scheel? Wenn dieser Maßstab bekräftigt wird, dann ist das doch wohl richtig. Wir wollen doch das Gleiche wie Sie. Wir wollen Regelungen, die den Betriebsübergang nicht erschweren. Darauf wird man sich doch verständigen können. In einen Entschließungsantrag kann man kein Gesetz schreiben. Dort kann man nur Eckpunkte aufgreifen.
Über das Aufkommen waren wir im Dissens. Wir werden sehen, wie sich das entwickelt. Das hängt von der Ausgestaltung ab. Wir werden sehen, welche Bewertungen die Länder vornehmen.
Die Länder sind auf einem guten Weg. Ich glaube, es gibt in diesen Tagen in Husum schon einen Zwischenbericht. Ich bin zuversichtlich, dass wir in der Großen Koalition auch das schaffen werden. Jedenfalls ist die Unsicherheit aus der öffentlichen Debatte genommen worden. Durch den Entschließungsantrag wird die Unsicherheit noch weiter genommen.
Mein Fazit lautet also: Die Unternehmensteuerreform ist kein Wunschkonzert für Lobbyisten geworden. Sie ist kein Geschenk an Konzerne und reiche Anleger, sondern ein solides Stück Arbeit der Großen Koalition. Wir sind die wirklichen Probleme mit Entschlossenheit und Augenmaß angegangen, wobei insbesondere den Bedürfnissen des Mittelstandes Rechnung getragen wurde. Gleiches gilt für die weitere Konsolidierung der öffentlichen Haushalte. Das Ding kann sich sehen lassen.
Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner:
Ich gebe das Wort dem Kollegen Dr. Hermann Otto Solms, FDP-Fraktion.
Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Ich möchte mich zunächst entschuldigen, dass ich zu spät gekommen bin. Das war verkehrsbedingt; in Berlin war die Autobahn gesperrt, und ich saß im Stau.
Zu dieser Reform ist zu sagen: Der Name ?Reform“ ist eine glatte Übertreibung. Es ist keine Reform, sondern ein Steueränderungsgesetz mit guten und schlechten Teilen. Der gute Teil ist einfach zusammengefasst: Das ist die Tarifsenkung der Körperschaftsteuer um 10 Prozentpunkte auf 15 Prozent. Damit, Herr Finanzminister, geben Sie ausdrücklich zu, dass die Forderung der FDP nach einer wettbewerbsfähigen Besteuerung in Europa und in der globalisierten Welt richtig war, dass wir die deutschen Unternehmen nicht höher besteuern dürfen, als sie in den anderen Industriestaaten im Durchschnitt besteuert würden. Insofern ist das eine richtige Entscheidung.
Aber jetzt kommt der andere Aspekt dieser Steuerreform, nämlich: Sie darf nichts kosten; die Steuersenkung darf die Haushalte der öffentlichen Hand nicht belasten. Das ist die Quadratur des Steuerkreises; das ist überhaupt nicht machbar. Weil das nicht machbar ist, kommt so ein Murks heraus wie der, den Sie uns hier vorlegen.
Dieser Aspekt führt nämlich dazu, dass Sie, anstatt die Bemessungsgrundlage zu verbreitern - da ist ja auch nicht mehr sehr viel übriggeblieben, und an die Bestandteile, die noch da sind, trauen Sie sich nicht heran, beispielsweise die Steuerfreiheit der Sonntags-, Feiertags- und Nachtarbeitszuschläge -, neue Steuertatbestände erfinden. Sie gehen dazu über, systematisch Kostenelemente in die Besteuerungsgrundlage einzubauen, in der Gewerbesteuer genauso wie in der Körperschaftsteuer und der Einkommensteuer.
Das hat fatale Auswirkungen;
denn von der Steuerentlastung wird am Ende nichts übrig bleiben. Bei den 5 Milliarden Euro, um die sich die SPD gestritten hat, können Sie ganz ruhig bleiben:
Es wird ein Steuermehraufkommen geben, keine Steuerentlastung. Nur, das Verheerende an diesen Vorschlägen ist, dass Sie damit in die Wirtschaftsstrukturen, die Unternehmensstrukturen, die Finanzierungsstrukturen der Unternehmen eingreifen; Sie behandeln und belasten die Unternehmen vollkommen unterschiedlich. Das führt erstens dazu, dass die Unternehmen, die Wirtschaft ihre Steuerentlastung selbst bezahlen müssen, und zweitens dazu, dass ausgerechnet die Unternehmen belastet werden, die das auf keinen Fall vertragen können: Die kapitalschwachen, erwerbsschwachen, gewinnschwachen Unternehmen, die forschungsintensiven Unternehmen, die jungen Unternehmen, die noch kein Eigenkapital aufbauen konnten, werden die Zeche bezahlen. Das werden Sie noch bitter bereuen; das sage ich Ihnen.
Seit wann weiß denn der Finanzminister besser, wie ein Unternehmen optimal finanziert wird, als das Unternehmen selber? Das ist ein völlig neuer Ansatz. Sie greifen direkt in die Finanzierungsstrukturen der Unternehmen ein.
Ich will ein paar Beispiele nennen, bei denen die negativen Auswirkungen zum Tragen kommen:
Die Handelsunternehmen haben geklagt. Sie haben im letzten Moment noch einmal geschrieben. Warum die Klage? Weil die Immobilien der Handelsunternehmen gemietet oder geleast sind. Nun werden die Miet- und Leasingkosten Bestandteil der Besteuerungsgrundlage. Das ist eine fundamentale Belastung für die Handelsunternehmen und wird sich ganz schädlich auch auf den Ausbau und Erhalt der Innenstädte auswirken.
Die Leasinggesellschaften verlieren teilweise ihre Existenzgrundlage. Sie haben uns gesagt, sie werden ihren Sitz ins Ausland verlagern müssen, wenn das umgesetzt wird, was im Gesetzentwurf steht.
Große Personenunternehmen werden trotz der Thesaurierungsrücklage schlechter als Kapitalgesellschaften behandelt. Die Mittelstandslücke bleibt sehr wohl; was Herr Meister gesagt hat, stimmt nicht. Der Bundeswirtschaftsminister hat recht, der das auf den Tisch gebracht hat. Natürlich bleibt eine Mittelstandslücke. Sie wird durch die Veränderungen, die Sie jetzt vorgenommen haben, nur etwas kleiner. Überhaupt bestätigen Sie durch Ihre Veränderungen, dass unsere Kritikpunkte berechtigt waren. Nur, wenn Sie negative Auswirkungen reduzieren, bleibt das Ganze ja immer noch negativ; es wird nichts Positives daraus. Deswegen sind diese Änderungsvorschläge in Ordnung, aber sie lösen das Problem nicht.
Ich habe von der Mittelstandslücke gesprochen. Aber die jungen Unternehmen oder Unternehmen in Existenznot, Sanierungsfälle, werden aufgrund der Mantelkaufentscheidungen nicht mehr saniert werden können. Dann werden die Vermögensgegenstände herausgekauft, das Unternehmen geht unter, und die Arbeitnehmer bleiben auf der Strecke. Das ist die Konsequenz Ihrer Politik.
Die Aktiensparer werden belastet. Das Investieren ins Risiko wird nahezu doppelt so hoch besteuert wie das Investieren in risikoarme Zinsprodukte. Dadurch dass Sie das Halbeinkünfteverfahren abgeschafft haben, muss der Aktionär die Dividende versteuern. Diese wird also erst im Unternehmen mit 30 Prozent besteuert, dann bei der Ausschüttung noch einmal mit 25 Prozent Abgeltungsteuer. Dann muss man noch den Soli und die Kirchensteuer hinzurechnen. Schon liegt man bei 50 Prozent. Ist das etwa vernünftig? Mit Ihrer Reform bewirken Sie eine totale Fehllenkung der Kapitalströme in Deutschland.
Schließlich bleibt auch der liberale Rechtsstaat auf der Strecke, weil Sie Ihre Zusage, dass das Kontenabrufverfahren eingestellt wird, nicht einhalten werden. Sie verschaffen dem Fiskus sogar Vorteile gegenüber anderen Gläubigern, was die Vollstreckung angeht. Denn der Fiskus kann zugreifen, bevor die anderen Gläubiger informiert sind.
Abschließend möchte ich sagen: Wir haben der Steuerreform 2000, die unter Rot-Grün und Herrn Eichel auf den Weg gebracht wurde, zugestimmt und ihr im Bundesrat sogar zur Mehrheit verholfen. Es ist also nicht so, dass wir kategorisch alles ablehnen, was auf dem Tisch liegt. Aber dieser Reform können wir nicht zustimmen.
Herr Kollege Meister, wir haben - es ist nicht so, dass wir nichts vorgelegt haben - einen Entwurf für eine integrierte Reform der Unternehmensteuer sowie der Einkommen- und Lohnsteuer im Bundestag eingebracht; er liegt nun im Finanzausschuss. Das ist eine echte Reform. Aber dafür gibt es keine Mehrheit. Deswegen ergibt es keinen Sinn, weiter darüber zu beraten.
Wir warten auf die nächste Wahl und die nächste Legislaturperiode. Ich sage Ihnen, dass es eine Beteiligung der FDP an einer Regierung nur geben wird, wenn damit eine echte Reform in Richtung eines einfachen und verständlichen Steuerrechts verbunden ist, durch die alle Bürger und Unternehmen entlastet werden.
Vielen Dank für die Aufmerksamkeit.
Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner:
Nächster Redner ist der Kollege Georg Fahrenschon, CDU/CSU-Fraktion.
Georg Fahrenschon (CDU/CSU):
Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Das Ziel der heute zur Abstimmung vorliegenden Reform der Besteuerung von Unternehmen ab dem 1. Januar 2008 ist es, die Rahmenbedingungen für Wachstum und Beschäftigung zu verbessern. Denn mit der Reform wollen wir bestehende Arbeitsplätze sichern und darüber hinaus neue Unternehmen mit neuen Arbeitsplätzen für Deutschland gewinnen.
Wir wollen die Attraktivität des Investitionsstandortes Deutschland im internationalen Wettbewerb verbessern. Das gelingt uns auch; denn mit der Senkung der Gesamtsteuerbelastung für Unternehmen um 10 Prozentpunkte auf unter 30 Prozent - genauer gesagt: auf 29,83 Prozent - liegen wir im Vergleich mit den wichtigen Industriestandorten Europas endlich wieder im Mittelfeld:
Frankreich 33,1 Prozent, Italien 32,8 Prozent und die Niederlande 31,2 Prozent. Deutschland liegt sogar noch darunter.
Das ist das Signal. Unser Fazit lautet daher: Wir haben das Ziel erreicht.
Bezogen auf die einbehaltenen Gewinne gibt es keinen Unterschied mehr zwischen Kapitalgesellschaften einerseits und Personengesellschaften andererseits.
Mit der heutigen Schlussabstimmung ist allerdings die finanzpolitische Arbeit in Deutschland nicht beendet. Die Unternehmensteuerreform stellt einen guten und wichtigen Zwischenstand, aber eben nur einen Zwischenstand dar. Wir halten uns deshalb auch an die Ideen und Initiativen des Bundeswirtschaftsministers Michael Glos.
An dieser Stelle dürfen wir uns nicht auf unseren Lorbeeren ausruhen. Das nächste Ziel in der Finanzpolitik muss die Senkung der Einkommensteuerbelastung sein.
Denn was für die Unternehmensteuerreform 2008 gilt, gilt natürlich auch als Argument für sinkende Einkommensteuern. Eine geringe Steuerlast erhöht erstens die Investitionsbereitschaft im Mittelstand, der überwiegend im System der Einkommensteuer veranlagt wird, und zweitens die Attraktivität des Standortes für alle Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer.
Angesichts der überdurchschnittlichen Wachstumsentwicklung und einer erfolgreich fortschreitender Konsolidierung des Bundeshaushaltes geht es an dieser Stelle nicht um Populismus oder um den großzügigen Spendieronkel, sondern es geht um die Tatsache, dass eine Senkung der Einkommensteuerlast auch aus haushalterischen und aus ökonomischen Gesichtspunkten der einzig richtige Weg ist.
Bezogen auf die Ihnen heute zur Abstimmung vorliegende Reform der Unternehmensbesteuerung standen von Anfang an drei Eckpunkte fest:
Erstens. Wir wollten die Gesamtsteuerbelastung auf unter 30 Prozent senken.
Zweitens. Im Entstehungsjahr waren uns angesichts des Zieles der Haushaltskonsolidierung keine höheren Ausfälle als 5 Milliarden Euro möglich, ohne dabei die kommunale Ebene zu belasten.
Drittens. Wir wollten im Vergleich zu früheren Reformen von Steuersystematiken bereits mindestens ein halbes Jahr vor Inkrafttreten dieser Reform die gesetzgeberischen Arbeiten beendet haben, damit sich die Wirtschaft und die steuerberatenden Berufe und alle anderen Beteiligten gut auf die neuen Systeme vorbereiten können.
Alle diese drei Ziele haben wir erreicht. Wir haben darüber hinaus im Verlauf der parlamentarischen Beratungen noch an der einen oder anderen Stelle Verbesserungen erzielen können. Mit dem heute vorliegenden Gesetzentwurf haben wir für den deutschen Mittelstand, die landwirtschaftlichen Bereiche sowie investitionsoffensive Branchen wie Forschung und Entwicklung noch einmal Verbesserungen durchsetzen können. Ich bedanke mich an dieser Stelle bei allen Beteiligten für die Arbeiten an den Details, die wir meines Erachtens zur Zufriedenheit abschließen konnten.
Ich will auf nur wenige Punkte eingehen: Auf der Seite der Gegenfinanzierung wird die Beschränkung des Zinsabzugs auf 30 Prozent des Gewinns vor Steuern und Zinsaufwendungen um die Rechenbasis Steuern, Zinsaufwendungen und Abschreibungen, EBITDA, erweitert. Das ist ein gutes und wichtiges Zeichen, weil wir der betriebswirtschaftlichen Notwendigkeit Rechnung tragen, dass Investitionen teilweise auch fremdfinanziert werden müssen. Insbesondere wird durch diese Veränderung die Wirkung der Zinsschranke für wesentliche Branchen, auf dem Finanzmarkt für die Leasingbranche, im Norden für die Werften, aber auch für das Factoring und Public-Private-Partnership-Projekte, deutlich.
Bei der Gewerbesteuer ging der Referentenentwurf pauschal von einer Hinzurechnung von 25 Prozent aller Zinsen, Skonti und Boni sowie der Finanzierungsanteile aus Mieten, Pachten und Leasingraten aus. Bei dem pauschalen Satz auf Mobilien konnten wir uns auf einen niedrigeren Satz, auf einen Satz von 20 Prozent, einigen. Auch die Einbeziehung von Skonti und Boni ist hier vom Tisch.
Der Gesetzentwurf sah ursprünglich zudem vor, dass bilanzierende Betriebe mit einem Betriebsvermögen von bis zu 210 000 Euro in den Genuss der neuen Investitionsabzugsregelung nach § 7 g EStG kommen. Hier konnten wir gemeinsam das Größenmerkmal auf 235 000 Euro erhöhen und die Investitionsfrist auf drei Jahre verlängern. Das ist ein wichtiges Zeichen für den deutschen Mittelstand.
Für den Bereich der Landwirtschaft konnte durchgesetzt werden, dass die Betriebsgröße nicht mehr durch den Wohnungswert des Landwirts beeinflusst wird. Damit wird der relevante Einheitswert in der Regel um 90 Prozent entlastet. Dies ist ebenfalls von nicht unerheblicher Bedeutung für die deutsche Landwirtschaft.
Trotz dieser guten Ergebnisse unserer Beratungen bleibt natürlich eine Handvoll von Arbeitsfeldern offen, Stichwort: Private Equity. Aus Sicht der CDU/CSU-Bundestagsfraktion sind die vom BMF vorgelegten Eckpunkte zwar ein erster Schritt. Aber die Vorschläge des BMF markieren erst den Anfang der Debatte und nicht den Schluss.
Im Hinblick auf die Stichworte ?Verlustverrechnung“ und ?Mantelkauf“ muss es aufgrund der zentralen betriebswirtschaftlichen Funktion der Verlustverrechnung das Ziel sein, die Verluste mindestens in Höhe der vorhandenen stillen Reserve auch in Zukunft nutzbar zu machen, weil wir sonst den Unternehmen die Möglichkeit zu wichtigen Entwicklungen verwehren. Das kann nicht unser Ziel sein, wenn wir für Wachstum und Beschäftigung in Deutschland sind.
Bezogen auf das Thema ?Funktionsverlagerung“ haben wir selbstverständlich Verständnis für weltweit abgestimmte Verfahren. Aber wir haben in der Vergangenheit richtig gehandelt, wenn wir europäische Richtlinien an keiner einzigen Stelle über eine Eins-zu-eins-Umsetzung hinaus umgesetzt haben. Deshalb werden wir in Zukunft gemeinsam mit dem Bundesrat darauf achten, in diesem Punkt keinen deutschen Sonderweg zuzulassen.
Stichwort Erbschaftsteuer. Die Ihnen vorliegende Entschließung setzt den Rahmen für die weiteren Beratungen. Der Kollege Poß hat zu Recht darauf hingewiesen, dass die Länderfinanzminister auf ihrer Jahrestagung die Arbeiten abschließen werden. Aber eines ist für die CSU/CDU-Bundestagsfraktion klar: Mehreinnahmen aus der Erbschaftsteuer haben wir nicht vereinbart; der Text der Koalitionsvereinbarung lautet anders.
Last, but not least bleibt - insbesondere, aber nicht nur im Zusammenhang mit der Veränderung der Grenze dafür, was geringwertige Wirtschaftsgüter sind - das Thema Bürokratieabbau aktuell. Daran werden wir uns heute nicht messen lassen können, weil wir eine Gegenfinanzierung brauchten. Aber die Frage des Abbaus von Bürokratie im deutschen Steuersystem wird uns auch in Zukunft beschäftigen.
Ich will zum Schluss nochmals betonen: Neben den erfolgreichen Arbeiten an der Unternehmensbesteuerung steht unserer Auffassung nach angesichts verbesserter Konjunktur- und Haushaltslage eine Senkung der Einkommensteuer - entweder über die Anpassung der Freibeträge oder über die Senkung des Eingangssteuersatzes - auf der Tagesordnung.
Gerade während der jetzigen, positiven konjunkturellen Lage ist es nicht nur möglich, sondern auch nötig, beide Ziele - die Konsolidierung des Staatshaushalts einerseits und eine Entlastung der Bürger durch eine Senkung der Einkommensteuer andererseits - weiter zu verfolgen. Dies müssen wir zumindest beginnen.
Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner:
Herr Kollege, Sie müssen zum Ende kommen.
Georg Fahrenschon (CDU/CSU):
Frau Präsidentin, ich komme zum Schluss. - Vor dem Hintergrund dessen, dass angesichts der Steuermehreinnahmen mittlerweile Wunschlisten kursieren, möchte ich für die CSU-Landesgruppe festhalten: Wir sind eher daran interessiert, eine Diskussion über zukünftige Steuersenkungen zu führen -
Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner:
Herr Kollege!
Georg Fahrenschon (CDU/CSU):
- als eine Debatte über weitere Ausgabenerhöhungen.
Herzlichen Dank.
Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner:
Nächster Redner ist der Kollege Reinhard Schultz, SPD-Fraktion.
Reinhard Schultz (Everswinkel) (SPD):
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Es ist sicherlich keine prägende Eigenschaft des Kollegen Fahrenschon, den ich als sachlichen und sachkundigen Mitkämpfer auf allen Steuergebieten, insbesondere auf dem Gebiet der Unternehmensteuern, sehr schätze,
mit einer Friedenspalme herumzulaufen. Eher fordert er uns zu neuen Auseinandersetzungen heraus. Deswegen möchte ich zunächst einmal anmerken: Wir sollten froh und glücklich sein, dass wir diese bedeutende Reform der Großen Koalition - im Gegensatz zu manch anderen Reformen - in dieser Legislaturperiode sachorientiert, konstruktiv, still und leise und im Ergebnis gut über die Bühne gebracht haben.
Natürlich, nach dem Spiel ist vor dem Spiel. Ich werde keine Prognosen darüber abgeben, ob in der Mitte des nächsten Jahrzehnts noch einmal über die Einkommensteuer geredet wird oder, gegebenenfalls früher, über die Belastung von Arbeitnehmern durch Sozialversicherungsbeiträge. Was ich allerdings schon sagen kann, ist: Im Zusammenhang mit Private Equity wird es mit Sicherheit nicht dazu kommen, dass durch unternehmerische Entscheidungen initiierte große Verluste über das Steuerrecht und somit durch die Gemeinschaft, durch den Fiskus abgesichert werden. Das wird nicht passieren.
Das zur Abgrenzung des Terrains und der Claims.
Ich glaube, dass die Unternehmensteuerreform eine steuerpolitische Antwort auf die Globalisierung ist, ähnlich wie die Reform der Sozialversicherungssysteme eine Antwort auf die Herausforderung des veränderten Altersaufbaus ist. Erst durch die Globalisierung, durch global aufgestellte Unternehmen und durch den Steuerwettbewerb einzelner Länder konnte es zu Verschiebebahnhöfen kommen, wurden die Unternehmen in die Lage versetzt, zu entscheiden, wo sie Steuern bezahlen wollen. Wir wollen die Internationalisierung unserer Wirtschaft, wir sind stolz auf ihre Wettbewerbsfähigkeit. Aber wir wollen auch, dass sich erfolgreiche deutsche Konzerne an der Finanzierung der Staatsausgaben angemessen beteiligen.
Ich denke, das erreichen wir mit dieser Steuerreform. Für die willkürliche Fremdfinanzierung schaffen wir Grenzen und Regeln.
- Wenn sich Herr Scholz und Ihr Fraktionsvorsitzender etwas zu erzählen haben, höre ich natürlich gerne zu.
- Es wird schon wichtig sein; das denke ich mir auch.
Durch die vernünftige Bewertung der in das Ausland verbrachten Patente und Verfahren sowie durch eine Nachbesteuerung von Nutzungsrechten und Lizenzgeschäften ziehen wir Grenzen ein. Wir erreichen dadurch, dass alle, Bund, Städte und Gemeinden, von den wirtschaftlichen Früchten der Globalisierung profitieren und nicht einige arm und nackt am Rande stehen, während andere sich ausschließlich privat bereichern.
Wir wissen, dass es einen weltweiten Steuerwettbewerb zwischen den Wirtschaftsstandorten gibt. Deswegen stehen wir zur Unternehmensteuerreform und zur Senkung des Steuersatzes auf unter 30 Prozent. Auch ich glaube, dass wir mit einem Steuersatz von unter 30 Prozent auf einem guten Mittelfeldplatz liegen. Angesichts unserer Infrastruktur, der Qualifikation unserer Arbeitskräfte und der Sicherheit in diesem Land ist Deutschland insgesamt gesehen sehr attraktiv, und zwar sowohl für deutsche Unternehmen als auch für ausländische Investoren.
Wir wissen, dass die Körperschaftsteuer gestaltungsanfällig ist und auch künftig unter Wettbewerbsdruck stehen wird. Deswegen haben wir die Verhältnisse zwischen Körperschaftsteuer und Gewerbesteuer umgekehrt. Wir haben die Gewerbesteuer aufgebohrt und zur eigentlichen Unternehmensteuer gemacht. Das ist die große strukturelle Veränderung, die wir mit der Unternehmensteuerreform vornehmen.
Durch maßvolle Hinzurechnung von Zinsen, Pachten, Leasingraten und Lizenzgebühren haben wir die Gewerbesteuer weitgehend konjunkturunanfällig gemacht. Wir haben stabile finanzwirtschaftliche Rahmenbedingungen für unsere Städte und Gemeinden geschaffen.
Bedenken wir, dass sich im Jahr 2005, vor der Bundestagswahl, die großen politischen Lager gegenüberstanden, von denen eines die Gewerbesteuer vollständig abschaffen wollte. Darüber kann man sich heute eigentlich nur noch die Augen reiben. Die Gewerbesteuer wird so stark sein wie noch nie. Angesichts ihrer Bedeutung für das Steueraufkommen insgesamt wird sie in den nächsten Jahrzehnten nicht so schnell wieder zur Disposition gestellt werden können. Auch das ist ein ganz wichtiges Ergebnis dieser Operation.
Die deutschen Unternehmen brauchen eine bessere Eigenkapitalausstattung und mehr Investitionskraft. Das gilt insbesondere für den Mittelstand, und zwar sowohl für die Körperschaften als auch für die Personenunternehmen. Das, was wir zustande gebracht haben, die verbesserte Besteuerung thesaurierter Gewinne von Körperschaften und Personenunternehmen, ist eine Einladung zum Investieren. Durch den Investitionsabzugsbetrag haben wir ferner dafür gesorgt, dass nicht so ertragsstarke Unternehmen leichter investieren können. Auch das ist eine Strukturreform.
Personenunternehmen sind von der Gewerbesteuer in Zukunft so gut wie überhaupt nicht mehr betroffen. Sofern man Einkommensteuerzahler ist, wird sie vollständig neutralisiert. Auch das ist ein Ergebnis, das man den Unternehmen einmal offen mitteilen sollte.
Der Mittelstand ist Gewinner der Unternehmensteuerreform. Er wird echt und dauerhaft entlastet. Manche, insbesondere die FDP, sprechen von der sogenannten ?Mittelstandslücke“. Sie entpuppt sich bei näherer Betrachtung als demagogischer Flop.
Mit der Unternehmensteuerreform haben wir insgesamt 30 Milliarden Euro umgeschichtet. Wir haben 30 Milliarden Euro in die Steuersatzsenkung gesteckt. 25 Milliarden Euro haben wir aufwachsend in die Gegenfinanzierung gesteckt. Dabei mussten natürlich Operationen vorgenommen werden, die sich für einige Betroffene zunächst einmal unangenehm auswirken können. Ich sage aber ganz deutlich: In einer wachsenden, stabilen Konjunktur, bei einem Aufschwung, wie wir ihn zurzeit erleben, ist es angesichts sehr niedriger Steuersätze nicht zwingend erforderlich, Investitionen durch die Aufrechterhaltung der degressiven Abschreibung zu fördern. Bei einem solchen Aufschwung finanzieren sich Investitionen selbst.
Das ist auch keine Aussage bis ans Ende aller Tage, aber im Rahmen eines Aufschwungs - da bin ich ein alter Keynesianer - ist es nicht zwingend erforderlich. Da ist der niedrige Steuersatz die zentrale Einladung.
Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner:
Herr Kollege, denken Sie bitte an Ihre Redezeit.
Reinhard Schultz (Everswinkel) (SPD):
Ja. - Ich denke: Starkes Wirtschaftswachstum, starke Unternehmen, steigendes Eigenkapital, hohe Investitionen, mehr Beschäftigung und zugleich stabile öffentliche Haushalte und gut ausgestattete Städte und Gemeinden - das ist ein Bild von einer schönen Zukunft für unser Land. Dazu trägt die Unternehmensteuerreform entscheidend bei.
Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner:
Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir haben jetzt noch einen Redner mit neun Minuten Redezeit. Im Saal sind genügend Plätze für alle Kolleginnen und Kollegen vorhanden. Diejenigen, die sich unterhalten wollen, mögen das bitte außerhalb des Saales tun.
Ich gebe dem letzten Redner, dem Kollegen Otto Bernhardt, CDU/CSU, das Wort.
Otto Bernhardt (CDU/CSU):
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Wir verabschieden heute eines der ganz großen Reformvorhaben der Großen Koalition.
Ich habe in dieser Debatte in den Beiträgen der Redner der drei Oppositionsfraktionen keine schlüssige Alternative zu unserem Reformprojekt gehört.
Es reicht nicht, Herr Kollege Solms, sich hierhin zu stellen und zu sagen: Die Senkung der Körperschaftsteuer von 25 auf 15 Prozent tragen wir mit - Sie wissen, dass das 20 Milliarden Euro kostet -, die Gegenfinanzierung aber nicht. Das ist keine verantwortungsvolle Politik. Ich bin von den Freien Demokraten tief enttäuscht.
Wir standen vor folgender schwierigen Frage: Sie wissen, dass wir in Deutschland mit einer nominellen Besteuerung von circa 39 Prozent die Spitzenposition in Europa haben. Sie kennen die Veröffentlichungen des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung, die besagen, dass dieser Tatbestand dazu führt, dass Gewinne in Höhe von etwa 100 Milliarden Euro in Deutschland entstehen, aber nicht in Deutschland versteuert werden. Vor diesem Hintergrund war es notwendig - ich glaube, das wird hier mit Ausnahme der Linken von niemandem bezweifelt -, die nominellen Steuersätze auf unter 30 Prozent zu senken.
Wir sind uns sicher einig, dass wir diese Vergünstigung auch auf die Personengesellschaften übertragen müssen. Diese beiden Wohltaten - Kollege Poß hat darauf hingewiesen - kosten Steuerausfälle in Höhe von 30 Milliarden Euro. Das ist nicht finanzierbar. Wir haben von Anfang an gesagt: Das Ziel ?Sanierung der öffentlichen Finanzen“ hat eine hohe Bedeutung. Deshalb haben wir uns in der Großen Koalition geeinigt, von diesen 30 Milliarden Euro 25 Milliarden Euro gegenzufinanzieren; so nennen es die Fachleute. Das war eine schwierige Aufgabe. Ich finde, es ist eine tolle Leistung, dass es der Großen Koalition gelungen ist, dieses Ziel zu erreichen und heute ein Reformwerk vorzulegen, das nur die vereinbarten Steuerverluste in Höhe von 5 Milliarden Euro mit sich bringt.
Ich habe in der ersten Lesung von dieser Stelle aus für meine Fraktion gesagt, dass wir bei fünf Punkten Diskussionsbedarf haben. Ich kann heute sagen, dass wir bei all diesen fünf Punkten zu Veränderungen gekommen sind, ohne die 5 Milliarden Euro infrage zu stellen. Die entscheidende Veränderung bezog sich auf das Instrument der Zinsschranke. Es ist nicht so, dass es dieses Instrument im Rest der Welt nicht gibt - ganz im Gegenteil -, aber die ursprüngliche Form brachte die Gefahr mit sich, dass Firmen, die besonders viel investieren, ?bestraft“ werden. Deshalb haben wir in die Bemessungsgrundlage die Abschreibung mit einbezogen. Das war der Wunsch der Fachwelt. Ich glaube, nun kann man mit der Zinsschranke einigermaßen leben.
Zweiter Punkt. Wir alle waren entsetzt über die hohen Bürokratiekosten, die im ursprünglichen Entwurf genannt worden sind. Ich kann heute die Aussage machen,
dass das neue Gesetz zu weniger Bürokratiekosten führt als die jetzige Rechtslage. Das ist ein hervorragendes Ergebnis, auf das wir von der Großen Koalition stolz sind.
Dritter Punkt. Ich kann das Thema Mittelstandslücke nicht mehr hören.
Es entspricht nicht den Tatsachen. Das wird auch durch Wiederholungen nicht wahr. Das Europäische Zentrum für Wirtschaftsforschung - nicht wir, nicht die Sozialdemokraten - hat ganz klar gesagt: Diese Steuerreform kommt im Wesentlichen gerade dem Mittelstand zugute, weil die Gegenfinanzierungsmaßnahmen den Mittelstand nicht treffen. Wir haben die Maßnahmen für den Mittelstand weiter verbessert. Vor diesem Hintergrund ist dies ein mittelstandsfreundliches Gesetz. Darauf legen wir Wert. Sonst hätten unsere Mittelständler nicht zugestimmt.
Der vierte Punkt ist ein sehr schwieriger. Er betrifft die Frage der Vernichtung von Verlustvorträgen. Hier haben wir ein Spezialproblem. Das bezieht sich auf Wagniskapital bei Existenzgründungen und Unternehmungen, die für Wagniskapital infrage kommen. Wir werden im Private-Equity-Gesetz die notwendigen Voraussetzungen dafür schaffen, dass in diesen Fällen die Verlustvorträge erhalten bleiben, wie sie auch bei Sanierungen erhalten bleiben; auch das haben wir geregelt.
Letzter Punkt, die Funktionsverlagerung. Hierzu haben wir uns innerhalb der Großen Koalition darauf geeinigt - so steht es im Bericht des Finanzausschusses -, dass sich die deutschen Maßstäbe für die Funktionsverlagerung am europäischen Standard zu orientieren haben. Ich glaube, auch damit kann man hervorragend leben.
Meine Damen und Herren, ich glaube allerdings, dass Frau Professor Hey Recht hat, wenn sie in einem Kommentar schreibt: Diese Steuersenkungen geben uns nur einen Freiraum für einige Jahre. - Sie können jetzt schon feststellen, dass andere europäische Länder folgen. Vor diesem Hintergrund unterstützen wir das Bemühen des Bundesfinanzministers, innerhalb der EU dafür zu sorgen, dass die Bemessungsgrundlage für die Besteuerung und möglichst auch die Steuersätze in einem bestimmten Rahmen festgelegt werden. Auf Dauer können wir die Sätze nicht weiter senken. Sonst werden wir mit dem Ziel der Staatssanierung in Konflikt kommen.
Das ist ein sehr wichtiger Punkt für alle weiteren Überlegungen.
Zwei große Ziele haben wir mit diesem Gesetz erreicht, ein drittes nicht: Wir haben erstens erreicht, dass die Steuersätze in Deutschland für Firmen jetzt im europäischen Standard liegen. Wir haben zweitens erreicht, dass wir mit der Abgeltungsteuer ein modernes Instrument für die Besteuerung von Kapitalerträgen haben.
Ein drittes Ziel haben wir nicht erreicht, und da ist die Kritik berechtigt. Wir wollten eine gemeinsame Bemessungsgrundlage für die Körperschaftsteuer und für die Gewerbesteuer schaffen. Aber die Meinungen innerhalb der Großen Koalition gingen zu weit auseinander, um zu einer entsprechenden Lösung zu kommen; dies bedauern wir. Aber ein Gesetz darf auch einen Schönheitsfehler haben, wenn der Rest in Ordnung ist.
Ich stelle abschließend fest: Die Große Koalition legt heute ein zukunftsweisendes Konzept zur Unternehmensbesteuerung vor. Dieses Konzept wird den Wirtschaftsstandort Deutschland weiter stärken. Es ist letztlich ein Beitrag zur Sicherung vorhandener und zur Schaffung neuer Arbeitsplätze.
Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner:
Wir kommen zur Abstimmung über die von den Fraktionen der CDU/CSU und der SPD sowie von der Bundesregierung eingebrachten Entwürfe eines Unternehmensteuerreformgesetzes 2008. Zu dieser Abstimmung liegt uns eine Vielzahl persönlicher Erklärungen nach § 31 unserer Geschäftsordnung vor.
Der Finanzausschuss empfiehlt unter Nr. 1 seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 16/5452, die genannten Gesetzentwürfe der Fraktionen der CDU/CSU und der SPD auf Drucksache 16/4841 sowie der Bundesregierung auf Drucksache 16/5377 zusammenzuführen und als Entwurf eines Unternehmensteuerreformgesetzes 2008 in der Ausschussfassung anzunehmen.
Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf in der Ausschussfassung zustimmen wollen, um das Handzeichen. - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist damit in zweiter Beratung mit den Stimmen der Koalition bei Gegenstimmen der Opposition angenommen.
und Schlussabstimmung. Die Fraktionen der CDU/CSU und der SPD verlangen namentliche Abstimmung. Ich weise darauf hin, dass nach dieser namentlichen Abstimmung weitere Abstimmungen folgen.
Ich bitte die Schriftführerinnen und Schriftführer, die vorgesehenen Plätze einzunehmen. Sind die Plätze an den Urnen besetzt? - Das ist der Fall. Ich eröffne die Abstimmung.
Ist ein Mitglied des Hauses anwesend, das seine Stimme noch nicht abgegeben hat? - Das ist nicht der Fall. Ich schließe die Abstimmung und bitte die Schriftführerinnen und Schriftführer, mit der Auszählung zu beginnen. Das Ergebnis der namentlichen Abstimmung wird Ihnen später bekannt gegeben.
Ich bitte die Kolleginnen und Kollegen, die Plätze einzunehmen, weil ich die Abstimmungen fortsetzen möchte. - Das gilt auch für die Kolleginnen und Kollegen vor der Bank der CDU/CSU.
Wir kommen zur Abstimmung über die Entschließungsanträge.
Wer stimmt für den Entschließungsantrag der Fraktionen der CDU/CSU und der SPD auf Drucksache 16/5480? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Der Entschließungsantrag ist mit den Stimmen von SPD und CDU/CSU bei Gegenstimmen der FDP und einiger der Fraktion Die Linke sowie Enthaltung einiger der Fraktion Die Linke und Enthaltung der Fraktion des Bündnisses 90/Die Grünen angenommen.
Wer stimmt für den Entschließungsantrag der Fraktion der FDP auf Drucksache 16/5481? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Der Entschließungsantrag ist bei Zustimmung der FDP gegen die Stimmen des Rests des Hauses abgelehnt.
Wir setzen die Abstimmungen zu der Beschlussempfehlung des Finanzausschusses auf Drucksache 16/5452 fort.
Der Ausschuss empfiehlt unter Nr. 2 seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 16/5452 die Ablehnung des Antrags der Fraktion Die Linke auf Drucksache 16/5249 mit dem Titel ?Unternehmen leistungsgerecht besteuern - Einnahmen der öffentlichen Hand stärken“. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung ist mit den Stimmen von SPD, Bündnis 90/Die Grünen, CDU/CSU und FDP bei Gegenstimmen der Fraktion Die Linke angenommen.
Unter Nr. 3 seiner Beschlussempfehlung empfiehlt der Ausschuss, den Antrag der Fraktion Die Linke auf Drucksache 16/4857 mit dem Titel ?Unternehmen leistungsgerecht besteuern - Einnahmen der öffentlichen Hand stärken“ für erledigt zu erklären. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung ist mit den Stimmen des ganzen Hauses angenommen.
Weiterhin empfiehlt der Ausschuss unter Nr. 4 seiner Beschlussempfehlung die Ablehnung des Antrags der Fraktion des Bündnisses 90/Die Grünen auf Drucksache 16/4855 mit dem Titel ?Unternehmensteuerreform für Investitionen und Arbeitsplätze“. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung ist mit den Stimmen der Fraktionen Die Linke, der SPD und der CDU/CSU bei Gegenstimmen des Bündnisses 90/Die Grünen und Enthaltung der FDP angenommen.
Schließlich empfiehlt der Ausschuss unter Nr. 5 seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 16/5452 die Ablehnung des Antrags der Fraktion des Bündnisses 90/Die Grünen auf Drucksache 16/4310 mit dem Titel ?Verlässliche und aussagekräftige Datenbasis für die Ermittlung der Unternehmensteuern erfassen“. -?Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung ist mit den Stimmen der Koalition bei Gegenstimmen der Opposition angenommen.
Ich rufe Tagesordnungspunkt 31 auf:
Unterrichtung durch den Parlamentarischen Beirat für nachhaltige Entwicklung
Bericht des Parlamentarischen Beirats für nachhaltige Entwicklung
?Demographischer Wandel und nachhaltige Infrastrukturplanung“
- Drucksache 16/4900 -
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung (f)
Finanzausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und
Verbraucherschutz
Ausschuss für Arbeit und Soziales
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und
Entwicklung
Ausschuss für Tourismus
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die Aussprache eine Stunde vorgesehen. - Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat der Parlamentarische Staatssekretär Achim Großmann.
Achim Großmann, Parl. Staatssekretär beim Bundesminister für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung:
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die Bundesregierung ist dem Parlamentarischen Beirat dafür dankbar, dass er sich dem wichtigen Thema ?Demografischer Wandel“ zugewandt und dem Bundestag einen Bericht vorgelegt hat.
Wenngleich sich der Bericht mit seinen Empfehlungen auf die nachhaltige Infrastrukturplanung - also Stadt- und Raumentwicklung, Mobilität und technische, leitungsgebundene Infrastruktur - konzentriert, so will ich von Beginn an unterstreichen, dass eine erfolgreiche Gestaltung des demografischen Wandels nur dann gelingt, wenn sie politik-, ressort- und ebenenübergreifend erfolgt. Sie muss auf der Grundlage eines Gesamtkonzepts stattfinden.
Die Zahlen des Statistischen Bundesamtes zur Prognose der Bevölkerungsentwicklung bis 2050 sind besorgniserregend. Sie gehen davon aus, dass die Bevölkerung in ganz Deutschland bei Fortsetzung der aktuellen demografischen Entwicklung von fast 82,5 Millionen Einwohnern im Jahr 2005 auf bis zu knapp 69 Millionen Einwohner im Jahr 2050 abnehmen wird. In den alten Ländern wird eine Abnahme um 14 Prozent erwartet. Ein besonders dramatischer Bevölkerungsrückgang ist in den neuen Ländern abzusehen. Bis 2050 - so die Zahlen des Statistischen Bundesamtes - wird von einem weiteren Rückgang um fast ein Drittel ausgegangen. Ausgehend vom Zeitpunkt der Wiedervereinigung würde sich damit die Bevölkerungszahl in den neuen Bundesländern bis 2050 halbieren.
Der allgemeine Bevölkerungsrückgang geht mit einem deutlichen Rückgang der Zahl der Menschen im erwerbsfähigen Alter einher. 2050 wird nach den Prognosen nur noch etwa jeder zweite Einwohner im erwerbsfähigen Alter sein. In Ostdeutschland werden dann auf 100 Erwerbsfähige nicht mehr wie heute 35, sondern 80 Rentnerinnen und Rentner kommen.
Parallel zum Bevölkerungsrückgang und zur Alterung werden weiterhin innerdeutsche Wanderungen zwischen den alten und den neuen Ländern sowie innerhalb der einzelnen Länder mit einem Wanderungsgewinn zugunsten wachstumsstärkerer Regionen stattfinden. Dieser Trend wird die Problemlage in den peripheren Regionen zusätzlich verschärfen. Die Siedlungsdichte in den ländlichen Regionen wird weiter abnehmen, was unmittelbare Konsequenzen für die Wirtschaftlichkeit, Tragfähigkeit und Erreichbarkeit der verkehrlichen, technischen und sozialen Infrastrukturen vor Ort hat.
Alle diese Fakten liegen vor. Wir haben also - und zwar schon seit geraumer Zeit - kein Erkenntnisproblem mehr. Dennoch werden sich diese langfristigen Entwicklungen auch durch eine noch so erfolgreiche Politik kaum verhindern, sondern nur abmildern lassen. Erst in einer sehr langfristigen Perspektive könnte erfolgreiche Politik zu einer Trendwende hin zu einer höheren Geburtenrate und damit zu einem Sinken des Durchschnittsalters führen. Entscheidende Voraussetzung dafür bleibt aber, dass die Menschen in unserem Land Zutrauen in die Politik, in die Zukunftsfähigkeit unserer Gesellschaft und mithin auch in ihre eigene Lebensplanung haben.
Unsere Politik muss unter dem Primat des sozialen und regionalen Zusammenhalts in unserer Gesellschaft eine Doppelstrategie verfolgen: Einerseits müssen wir uns damit beschäftigen, wie wir Strukturen der Daseinsvorsorge bündeln und anpassen und dabei noch kreativere, flexiblere und mobilere Lösungen einsetzen können. Dazu werden wir unser raumordnerisches Prinzip der zentralen Orte fortentwickeln und mehr regionale Kooperationen der Leistungserbringer in der Daseinsvorsorge vor Ort anregen. Mit dem Beschluss der Raumordnungsministerkonferenz im vergangenen Jahr zu den neuen Leitbildern der Raumordnung haben wir einen ersten Schritt in diese Richtung unternommen.
Darüber hinaus hat das Bundesministerium für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung in den vergangenen Jahren bereits seine Programme und Modellprojekte auf diese neue Zielsetzung ausgerichtet. Ich nenne zum Beispiel die Städtebauförderung und die Stärkung der Innenstädte, den Stadtumbau Ost und West mit der Fördermöglichkeit des Rückbaus technischer Infrastrukturen, die Programme Soziale Stadt und Experimenteller Wohnungs- und Städtebau, bei denen es um kind-, alters- und familiengerechte Städte geht, alternative ÖPNV- und Mobilitätskonzepte und neue Anforderungen an die Verkehrssicherheit und Fahrzeugtechnik im Zuge der Alterung der Bevölkerung.
Im Sommer 2007 wird das BMVBS zudem mit zwei von der demografischen Entwicklung besonders betroffenen Regionen in den neuen Ländern ein Projekt zur Zukunftsgestaltung der Daseinsvorsorge in diesen Gebieten starten. Dieses Projekt findet bereits großen Zuspruch und soll Best-Practice-Ansätze für andere Regionen in den alten und den neuen Ländern liefern.
Ferner hält die Bundesregierung an ihrem Ziel fest, dass 2008 bei 98 Prozent aller deutschen Haushalte breitbandiger Internetzugang über Festnetz, Kabel oder terrestrische Funktechnologie möglich sein soll. Trotz einer bereits heute hohen Gesamtverfügbarkeit haben immer noch über 1 Million Haushalte in Deutschland keine kostengünstige Breitbandanschlussmöglichkeit. Fast 700 Gemeinden sind nur über Satellit mit breitbandigem Internet versorgbar. Jetzt geht es um die ländlichen Regionen, die sogenannten weißen Flecken. Die Bundesregierung wird zur weiteren Erschließung Unterstützung bei der Inanspruchnahme öffentlicher Fördermittel anbieten; ich denke zum Beispiel an die Struktur- und Regionalfonds der EU. Denn Breitbandzugänge ermöglichen eine bessere Teilnahme aller Bürgerinnen und Bürger an unserer Informations- und Wissensgesellschaft. Das wird immer wichtiger.
Ich habe von einer Doppelstrategie gesprochen. Deshalb will ich auch den zweiten Ansatz schildern. Wir müssen mit unserer Infrastrukturpolitik aktive Standortpolitik im Interesse der Regionen und ihrer Zukunftsfähigkeit betreiben. Die Aufwertung der Städte und Regionen, die Stärkung der Wachstumszentren und die Anbindung der sie umgebenden Regionen sind im globalen Wettbewerb wirtschafts- und gesellschaftspolitisch von höchster Priorität.
Städte und Regionen sind Zentren der Innovation und konzentrieren die Stärken Deutschlands im internationalen Wettbewerb. Ohne lebenswerte Städte und Regionen mit einer attraktiven Infrastruktur werden wichtige Rahmenbedingungen für eine positive wirtschaftliche Entwicklung und für die Schaffung gleichwertiger Lebensverhältnisse in unserem Land nicht mehr erfüllt. Das gilt für die Entwicklung ansässiger und die Gewinnung neuer Unternehmen genauso wie für das Halten und das Gewinnen von Fachkräften.
Die vielfältigen Auswirkungen der Bevölkerungsentwicklung sind vielerorts als Tatsachen anerkannt. Als kontinuierlicher Prozess erfordert dies aber ständig neue Antworten, die langfristig orientierte Strategien, Konzepte und Maßnahmen immer wieder auf den Prüfstand stellen. Alle Politikfelder und -ebenen einschließlich ihrer Investitions- und Förderinstrumente müssen demografiefest gemacht werden. Die Überprüfung dieser Instrumente muss in immer kürzeren Abständen stattfinden, weil sich immer schneller Trends entwickeln, die in diese Prognosen eingearbeitet werden müssen; sonst gehen wir in die falsche Richtung. Anpassungen und Umbau müssen schrittweise, aber mit zunehmender Verbindlichkeit und fachlicher Integration angegangen werden. Die Bündelung von Kräften, die Qualitätssicherung und die regionale Anpassung der Infrastruktur rücken dabei in den Mittelpunkt.
Die Bundesregierung hat bereits eine Vielzahl der Empfehlungen des Parlamentarischen Beirats aufgegriffen und wird diese in Zukunft weiterhin aktiv bearbeiten. Gerade die Infrastrukturpolitik wird im Interesse der Nachhaltigkeit weiterhin ihren Beitrag sowohl für Anpassungs- wie auch für Präventionsstrategien leisten.
Vielen Dank, dass Sie mir zugehört haben.
Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt:
Bevor ich dem nächsten Redner das Wort erteile, komme ich zurück zum Tagesordnungspunkt 30 a und gebe das von den Schriftführerinnen und Schriftführern ermittelte Ergebnis der namentlichen Abstimmung über den Entwurf des Unternehmensteuerreformgesetzes 2008 bekannt: Abgegebene Stimmen: 557. Mit Ja haben gestimmt: 391. Mit Nein haben gestimmt: 149. Enthaltungen: 17. Der Gesetzentwurf ist damit angenommen.
Damit kommen wir zurück zur Debatte. Ich erteile das Wort dem Kollegen Patrick Döring für die FDP-Fraktion.
Patrick Döring (FDP):
Frau Präsidentin, herzlichen Dank! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die erneute Einrichtung und Vergrößerung des Parlamentarischen Beirats für nachhaltige Entwicklung zu Beginn dieser Legislaturperiode war - wenn ich das richtig überblickt habe - nicht von Anfang an unumstritten. Ich denke aber, mit dem ersten Bericht über unsere Arbeit haben wir deutlich gemacht, dass es bei einem solch wichtigen Thema über alle Fraktionsgrenzen hinweg - der Herr Staatssekretär hat das angedeutet - tatsächlich zu gemeinsamen Positionen in Bezug darauf kommen kann, wie wir zukünftig die demografische Entwicklung und die Planung und Umplanung unserer Infrastruktur in Deutschland aufeinander abstimmen können. Ich glaube, das ist schon einmal ein gutes Ergebnis.
Ich will nicht verschweigen, dass es bei der Ausgestaltung im Detail natürlich zwischen den Fraktionen Unterschiede geben wird. Diese erste Debatte und die weitere Debatte in den Fachausschüssen werden aber deutlich machen, dass wir an vielem über die Fraktionsgrenzen hinweg weiter gemeinsam arbeiten werden.
Wir haben bisher die demografische Entwicklung - der Staatssekretär hat gesagt, wir hätten an dieser Stelle kein Erkenntnisproblem; darin stimme ich ihm ausdrücklich zu - überwiegend unter sozialpolitischen Aspekten betrachtet. Uns ist es besonders wichtig, dass wir erkennen, dass wir die technische Infrastruktur und die Verkehrsinfrastruktur in Deutschland in den langen Planungsräumen, in denen wir arbeiten, wahrscheinlich nicht an diese Entwicklung anpassen werden können. Ich beginne mit dem Bundesverkehrswegeplan. Es ist fraglich, ob dieses Instrument mit seinen langen Planungszeiträumen noch geeignet ist, wirksam auf die Anforderungen wachsender und schrumpfender Regionen, wachsender und schrumpfender Städte zu reagieren. Ich fände es spannend, wenn wir auch darüber im Fachausschuss diskutierten.
Das Gleiche gilt für die Entwicklung in unseren Städten. Wir haben wachsende und schrumpfende Städte in ganz unterschiedlichen Regionen Deutschlands. Wir haben besondere Probleme in den Ballungsräumen in Nordrhein-Westfalen. Gleichzeitig gibt es sich entleerende ländliche Räume in einigen Regionen. Aus meiner früheren kommunalpolitischen Tätigkeit möchte ich ein Beispiel nennen: Während wir in der Landeshauptstadt Hannover noch darüber diskutiert haben, ob die U-Bahn alle vier oder alle fünf Minuten fahren soll, gab es 20 Kilometer weiter gar keinen Nahverkehr mehr. Diese Disparitäten, diese Zerklüftungen gilt es ebenfalls durch Politik zu überwinden.
Wir werden darauf achten müssen, dass die ländlichen Räume weiter angebunden und versorgt sind. Bei aller Harmonie haben wir an dieser Stelle häufig kontrovers diskutiert. Der Kollege Scheuer, der einen ländlichen Wahlkreis hat, hat oft die Fahne des ländlichen Raumes hochgehalten, wie wir meinen: zu Recht.
Denn wir kommen in die Situation, dass viele unserer starren Verkehrssysteme insbesondere im öffentlichen Personennahverkehr wahrscheinlich nicht mehr in allen ländlichen Regionen kostengünstig aufrechterhalten werden können. Wir müssen uns daher fragen - Stichwort ?Regionalisierungsmittel“ -, ob man mit den dafür verwendeten Mitteln nicht eine andere Art Verkehr im ländlichen Raum organisieren kann. Auch das wird eine Herausforderung in den nächsten Diskussionen in diesem Haus sein.
Kommen wir zur Entwicklung unserer Städte. Der Herr Staatssekretär hat gestern darauf hingewiesen, dass wir mit dem Planungsbeschleunigungsgesetz gemeinsam viel für die innere Entwicklung auf den Weg gebracht haben. Der Trend zur Reurbanisierung in unserem Land ist nur zu begrüßen. Wir stellen fest, dass inzwischen drei von fünf Europäern in Städten wohnen und dass wir in Deutschland in den letzten Jahren vielleicht beim Thema innerstädtische Entwicklung ein bisschen hinterhergehinkt sind. Auch das macht der vorliegende Bericht deutlich. Viele der laufenden Programme wurden bereits angesprochen. Die Sorge meiner Fraktion ist, dass wir bei einigen dieser Programme zu sehr auf die Kommunen und die kommunalen Unternehmen schauen und zu wenig auf die eigentlich wichtigen Akteure in unseren Städten, auf Handel, Gewerbe sowie private Wohnungs- und Immobilienbesitzer.
Ich persönlich bin der Auffassung: Die drei Säulen der Nachhaltigkeit - Ökonomie, Ökologie und Soziales - sind in kaum einem anderen Wirtschaftszweig so eng miteinander verzahnt wie in der Wohnungswirtschaft; denn kein Mieter hat ein Interesse daran, in einem abgleitenden Stadtteil zu wohnen und zu bleiben. Deshalb entwickeln sich gerade die Quartiere, die wir zurzeit mit einem hohen staatlichen Anteil aufwerten wollen, eher zu Bürgerquartieren. Ich weise aber in dieser politischen Debatte darauf hin, dass das Miteinander von einzelnen, kleinteilig agierenden Akteuren und Kommunalpolitik vom Bund bestenfalls angestoßen und finanziell gefördert werden kann, dass aber das Leben von dieser Kooperation vor Ort gestaltet werden muss.
Wenn wir es schaffen, die vorhandenen Programme so umzubauen, dass wir mit ihnen die Ziele erreichen, die wir in dem vorliegenden Bericht versucht haben zu skizzieren, wenn wir anerkennen - das haben wir gestern überwiegend einmütig besprochen -, dass Subsidiarität und kommunale Eigenverantwortung gewahrt bleiben müssen, wenn wir darauf achten, dass unsere Förderinstrumente nicht einseitig einen Akteur oder einen Verkehrsträger motivieren, sich zu entwickeln, sondern für die Entwicklung neuer, flexibler Systeme insbesondere für den ländlichen Raum in den Bereichen Schiene und Straße sorgen, und wenn wir die Belange der Akteure in den Städten, im Wohnungswesen sowie in Handel und Gewerbe berücksichtigen, wird es uns gelingen, unsere Infrastruktur nachhaltiger zu entwickeln. Das ist das Ziel, und das ist das Ziel auch meiner Fraktion.
Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt:
Nächster Redner ist der Kollege Dr. Andreas Scheuer für die CDU/CSU-Fraktion.
Dr. Andreas Scheuer (CDU/CSU):
Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Vorneweg muss man für die Öffentlichkeit sagen: Wir haben mit dem Parlamentarischen Beirat für nachhaltige Entwicklung ein Gremium, das manchmal außerhalb der öffentlichen Aufmerksamkeit Arbeitsberichte vorlegt. Man muss dazu sagen, dass es viele Gremien im Deutschen Bundestag gibt, die über den nächsten Wahltag hinaus schauen. Die Stellungnahmen und Arbeitsberichte, die wir vorlegen, sind kein Selbstzweck. Wir sitzen auf diesen schönen Stühlen nicht unsere Zeit ab und beschäftigen uns nicht mit uns selbst, sondern wir versuchen, für die Bürgerinnen und Bürger das Beste zu erreichen. Dazu gehört die demokratische Streitkultur. Der Parlamentarische Beirat für nachhaltige Entwicklung ist aber ein Gremium, in dem fraktionsübergreifend versucht wird, Kompromisse zu schließen und gemeinsame Arbeitsberichte vorzulegen.
- Frau Bulling-Schröter, wenn da ein ?Aha“ von der Linksfraktion kommt, dann muss ich sagen, dass es ausnahmsweise auch einmal Herr Heilmann geschafft hat, konstruktiv zu sein.
Das, was ich festgestellt habe, betrifft alle Fraktionen. Ich denke, wir haben einen guten Arbeitsbericht vorgelegt. Herr Staatssekretär, wir haben auch einen Anforderungskatalog erstellt. Herr Kollege Döring, ich bedanke mich für das Lob und kann dieses Lob als Koordinator dieser Runde zurückgeben. Alle Berichterstatter der Fraktionen haben bei dem Thema ?Demografischer Wandel und nachhaltige Infrastrukturplanung“ sehr konstruktiv zusammengearbeitet. Das möchte ich an dieser Stelle deutlich sagen, und ich möchte mich sehr herzlich dafür bedanken.
Verehrte Kolleginnen und Kollegen, liebe Bundesregierung, lieber Herr Staatssekretär, wir haben Ihnen einen Aufgabenkatalog gegeben. Wir haben uns wirklich viel Zeit genommen. In vielen Anhörungen - wir werden noch einige Arbeitsberichte zu den Stichworten Generationenbilanz und Nachhaltigkeitsprüfung vorlegen - haben wir uns sehr dezidiert mit dem Thema Demografie und Infrastruktur beschäftigt. Wir werden das in den federführenden Verkehrsausschuss eingeben.
Herr Kollege Goldmann, Sie haben völlig überraschend für mich Ihren Fraktionskollegen Döring mit einem Zwischenruf in Bezug auf die Kompetenzen von Kommunen und Bund kritisiert. Ich denke, der Deutsche Bundestag hat schon das Recht, sich einzumischen, wenn es um interkommunale Zusammenarbeit geht und wenn wir koordinieren und Anreizsysteme, nicht Strafsysteme, für Kommunen und auch Bundesländer schaffen, um wirkliche Strukturpolitik zu betreiben. Ich komme aus dem Freistaat Bayern - man hört es nicht wirklich - und bemühe mich, das immer deutlich zu machen.
- Danke, Frau Kollegin, ich stehe dazu, und ich bin stolz darauf. - Wir haben in der Expertenanhörung mehrmals gehört - auch der Herr Staatssekretär hat es in seiner Rede gesagt -, dass gerade in den neuen Bundesländern besorgniserregende Wanderungsbewegungen stattfinden. Wir müssen die Chancengerechtigkeit der jungen Generation aufrechterhalten. Darüber müssen wir offen diskutieren. Im Freistaat Bayern haben wir Strukturpolitik betrieben. Der ländliche Raum hat eine Chance. Der ländliche Raum hat Lebensqualität. Der ländliche Raum bietet Investoren günstige Bedingungen.
- Herr Goldmann, die Fraktionen stimmen darin überein. Vielleicht hat sich das nach Erscheinen des fraktionsübergreifenden Arbeitsberichts noch nicht herumgesprochen. Sie als erfahrener Kommunalpolitiker werden mir sicherlich zustimmen, wenn ich behaupte, dass wir, der Deutsche Bundestag, die Möglichkeit haben müssen, uns mit kommunalen Zusammenhängen, mit Strukturpolitik - Stichwort ?ländlicher Raum und Stadtentwicklung“ - zu beschäftigen. Ich verweise auf alle Anreizsysteme - ich denke nicht an Strafsysteme -, die uns zur Verfügung stehen.
Gestern Abend wurde hier zu später Stunde - es war nach 22 Uhr; das Fernsehen hat schon nicht mehr übertragen - über städtische Umweltpolitik diskutiert. Dazu sage ich ganz eindeutig - Herr Kollege Goldmann, Sie sind schon in Lauerstellung, um eine Zwischenfrage zu stellen; Frau Präsidentin, ich lasse sie zu; lassen Sie mich diesen Gedanken aber noch zu Ende führen -: Wir dürfen uns von der Europäischen Union nicht aufoktroyieren lassen, eine Citymaut einzuführen oder bestimmte Themen zu behandeln. Darüber kann man in Deutschland auf kommunaler Ebene, auf Länderebene und hier im Deutschen Bundestag besser als irgendwo anders entscheiden.
Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt:
Herr Kollege Goldmann, Sie haben das Wort zu einer Zwischenfrage.
Hans-Michael Goldmann (FDP):
Zunächst einmal möchte ich feststellen: Ich bin weder in einer Lauerstellung, noch habe ich meinen Kollegen Döring hier kritisiert.
Es geht mir um den Ansatz. Die Entwicklung des ländlichen Raumes wird weitestgehend über Landesraumordnungsprogramme geregelt. Zu meinem großen Bedauern wird die Entwicklung von Metropolregionen dagegen sehr stark über Bundesaktivitäten geregelt. Ist es nicht klüger, den Entwicklungen in den ländlichen Räumen dadurch mehr Geltung zu verschaffen, dass man aufhört, sie sozusagen von oben zu steuern? Halten Sie das Prinzip ?von oben nach unten“ für das bessere? Ich stelle diese Frage auch vor dem Hintergrund, dass wir eine substanzielle Föderalismusreform durchgeführt haben, die unter anderem regelt, welche Aufgaben Länder und Kommunen haben.
Dr. Andreas Scheuer (CDU/CSU):
Herr Kollege Goldmann, die FDP-Fraktion wird im Parlamentarischen Beirat für nachhaltige Entwicklung durch die Kollegen Döring und Kauch repräsentiert. Ich lade Sie im Namen aller Fraktionen ganz herzlich ein, an einer Beiratssitzung oder an einer vom Beirat durchgeführten Anhörung einfach einmal teilzunehmen.
Was Ihre Frage angeht: Ich bin für das Prinzip der Subsidiarität, der Stärkung der kleinen Einheiten und der unteren Ebenen. Wir haben mit dem Parlamentarischen Beirat aber ein Gremium, dessen Arbeit darauf angelegt ist, über den nächsten Wahltag hinauszudenken. Die Politik muss immer wieder den Vorwurf zur Kenntnis nehmen, dass sie nur bis zum nächsten Wahltermin denkt. Das stimmt so nicht. Wir versuchen wirklich, fundamentale Entscheidungen zu treffen, durch die die Weichen für die nächsten zehn oder 15 Jahre richtig gestellt werden. Wir machen uns Gedanken - auch im Deutschen Bundestag gibt es kein Denkverbot, was Kommunalpolitik betrifft - über strukturpolitische Entscheidungen, die keinerlei Bestrafung von Ländern und Kommunen vorsehen. Wir wollen das Prinzip der Subsidiarität stärken.
Die Anhörung des Parlamentarischen Beirats zum Thema ?Demographie und Infrastruktur“ hat besorgniserregende Entwicklungen aufgezeigt; ich verweise auf die Aussagen des Bundesamtes für Bauwesen und Raumordnung. Jeder, der sich das Protokoll dieser Anhörung durchliest und erfährt, wie sich unser Land bis 2030 entwickelt, stellt fest: Dieses Thema muss uns alle miteinander bewegen. Jeder von uns, der an dieser Anhörung teilgenommen hat, ist kreidebleich geworden und hat zur Kenntnis nehmen müssen, dass sich Landschaften in Deutschland in weiße Flecken verwandeln werden. Im Zentrum unserer Diskussion steht, dass wir uns dieser Themen annehmen und unsere Besorgtheit zum Anlass nehmen, die richtigen Schlussfolgerungen zu ziehen.
- Herr Kollege Hinsken, herzlichen Dank für den Applaus.
Abschließend möchte ich sehr deutlich sagen, Herr Staatssekretär, dass wir uns Gedanken darüber machen müssen, wie der im Kanzleramt angesiedelte Nachhaltigkeitsrat der Bundesregierung stärker in die Öffentlichkeit treten kann. Sie haben die Staatssekretärsebene dadurch gestärkt, dass Sie das Thema Nachhaltigkeit ins Zentrum der Betrachtungen gerückt haben. Der Nachhaltigkeitsrat der Bundesregierung nennt im Indikatorenbericht 21 Indikatoren. Meine Damen und Herren, liebe Zuhörer, durch diesen Indikatorenbericht schafft es die Politik, transparenter, nachprüfbarer und für den Bürger verständlicher zu werden. Wir haben mit Schlüsselbegriffen zu übergeordneten Kapiteln erreicht, dass eine Bundesregierung auch nach der Politik - nicht nur nach Emotionen, sondern auch nach dem politischen Handeln - bewertet wird. Das ist ein zentraler Punkt, dessen sich auch der Nachhaltigkeitsbeirat des Deutschen Bundestages annehmen wird. Wir haben dazu schon eine Referentenbesprechung gehabt.
Wir müssen im Deutschen Bundestag auch Gremien haben, die versuchen, Themen mit Bedeutung über die nächsten zehn Jahre hinaus aufzugreifen, mutig zu sein und fraktionsübergreifend zu arbeiten. Ich weiß, dass viele heilige Kühe der einzelnen Fraktionen für diesen Arbeitsbericht geschlachtet werden mussten, weil es eben ein Kompromiss ist. Ich sage für meine Fraktion: In der zweiten Runde, wenn es in den federführenden Ausschuss geht, hat jede Fraktion die Möglichkeit, separat Anträge zu stellen. Herr Heilmann, dann können Sie beweisen, ob Ihre Fraktion in ihrer Verteilungseuphorie im Jetzt auch die Fähigkeit hat, den Nachhaltigkeitsbegriff wirklich zu leben.
Herzlichen Dank für die Aufmerksamkeit.
Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt:
Das Wort hat nun der Kollege Lutz Heilmann für die Fraktion Die Linke.
Lutz Heilmann (DIE LINKE):
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Werte Gäste! Ich danke meinem Kollegen Scheuer für das Lob.
Ich werde mir das zu Herzen nehmen und trotzdem auch ein paar kritische Bemerkungen zu dem Thema machen.
Der demografische Wandel ist eine ernsthafte Herausforderung für Deutschland. Ich sage bewusst ?Herausforderung“ und nicht ?Problem“, weil sich daraus auch Chancen eröffnen.
Wir haben es neben der massiven Alterung der Bevölkerung mit einem Bevölkerungsrückgang zu tun. Ich als Umweltpolitiker sehe in diesem Bevölkerungsrückgang auch eine Chance. Wenn Straßen zurückgebaut werden, werden zerschnittene Lebensräume von Tieren und Pflanzen wiederhergestellt. Der Natur wird wortwörtlich wieder mehr Raum gegeben. Dazu müssen wir uns aber von den Konzepten der Vergangenheit verabschieden und innovative Lösungen vorantreiben.
Mir ist es wichtig, dass schrumpfende Regionen Entwicklungsmöglichkeiten erhalten. Es kann nicht angehen, dass wir ganze Dörfer und Kleinstädte aufgeben; im Gegenteil: Wir müssen uns dem Wandel stellen und zugleich die Lebensqualität aufrechterhalten. Dazu will der Bericht des Beirats einen Beitrag leisten.
Der Bericht beschränkt sich auf die technischen Infrastrukturen. Das heißt aber selbstverständlich nicht, dass die sozialen Infrastrukturen weniger wichtig sind. Wir brauchen natürlich soziale Einrichtungen wie Kitas oder Schulen. Sie sind für lebenswerte Gemeinden genauso von Bedeutung wie die technische Ausstattung. Für die Menschen ist es wichtig - um nur ein Beispiel zu nennen -, dass ihre Kinder zu Fuß zur Schule kommen. Liebe Kolleginnen und Kollegen, Sie kennen die Diskussion aus Ihren Wahlkreisen. Bei mir in Lübeck sind die Schulwege ein wichtiges Thema für die Menschen. Es geht ihnen darum, wie weit ihre Kinder zur Schule laufen müssen.
Grundsätzlich können wir eines feststellen: Bei den Bürgerinnen und Bürgern kommt die Veränderung der Bevölkerungsstruktur mehr und mehr an. Leider wird fast ausschließlich über die sozialen Sicherungssysteme diskutiert. Ein Stichwort ist: Wer zahlt unsere Rente? Vor den weiteren Folgen für die Gemeinden verschließen viele aber die Augen. Das ist nach Jahrzehnten des Wachstums, vor allem im Westen, verständlich. Dennoch kann es so nicht weitergehen. Wir müssen den Tatsachen ins Auge sehen und begreifen, dass es nicht in allen Regionen Wachstum im herkömmlichen Sinne geben kann und wird.
Fakt ist: Wir müssen uns den Herausforderungen stellen. Ich sage Ihnen: Der Westen kann dabei einiges vom Osten lernen.
Dort ist der demografische Wandel, unterstützt durch Ihre Politik und durch Ihre politischen Fehlentscheidungen im Zusammenhang mit dem Anschluss der DDR an die Bundesrepublik, in vollem Gange. Im Westen findet die gleiche Entwicklung zeitversetzt statt.
Die Vorhersagen für manche Regionen in meinem Bundesland Schleswig-Holstein sind nicht gerade rosig.
Ich habe gesagt, dass der Westen viel vom Osten lernen kann. Nehmen wir den schon angesprochenen Stadtumbau Ost! Damit hat man ein gutes Beispiel gegeben. Viele der so genannten Arbeiterschließfächer, im Westen auch ?Plattenbausiedlungen“ genannt,
wurden schon zu lebenswerten Orten umgebaut.
Ich nenne hier den Großen Dresch in Schwerin. Unsere Fraktion hat sich im letzten Sommer davon überzeugt. Was wurde gemacht? Ganz einfach: Es wurden Stockwerke abgetragen und Wohnungen familienfreundlich zusammengelegt. Zusätzlich wurde eine vorbildliche energetische Sanierung vorgenommen. Das alles geschah, ohne einen einzigen Acker zuzupflastern. Ich nenne ein weiteres Beispiel: Bei der Abwasserentsorgung hat Mecklenburg-Vorpommern unter Rot-Rot Vorbildliches geleistet. Dort hat man neben zentralen Abwasseranlagen auch den Bau kleiner dezentraler Anlagen vermehrt zugelassen und stärker gefördert. Das spart Zeit und Geld.
Bei der Ausstattung mit Verkehrsinfrastrukturen muss man sowohl im Osten als auch im Westen noch erheblich dazulernen. Nach wie vor sehen viele Städte und Gemeinden in einem Autobahnanschluss einen Segen. Es macht aber überhaupt keinen Sinn, Milliarden auszugeben, um schrumpfende Regionen an das Autobahnnetz anzuschließen, wenn auf diesen Straßen am Ende keine Autos fahren.
Es ist doch Unsinn, in der vagen Hoffnung auf wirtschaftliche Entwicklung Geld zum Fenster hinauszuwerfen. Ein Paradebeispiel dafür ist die zusammenhängende Planung der Autobahnen A 14 und A 39 in Brandenburg und Niedersachsen. Maßgabe für die Politik kann nicht sein, dass ein großes Loch auf der Autobahnkarte besteht. Diese Auffassung vertrat Herr Stolpe seinerzeit als Verkehrsminister.
Infrastrukturen müssen vielmehr die demografische Entwicklung berücksichtigen und an den tatsächlichen Bedarf angepasst werden. Das empfiehlt auch der Beirat, und das schreibt sogar die Bundesregierung in ihrem ?Wegweiser Nachhaltigkeit 2005“. Beim nächsten Bundesverkehrswegeplan muss dies, bitte schön, auch umgesetzt werden. Beim aktuellen Plan haben Sie genau das Gegenteil gemacht. Die Bewertungsmethodik darin war so ausgeklügelt, dass im Grunde jede Straße sinnvoll ist; die eine, weil der Bedarf groß ist, und die andere, weil kein Bedarf da ist. So kann es nicht weitergehen. Der aktuelle Plan bietet noch mehrere schöne Beispiele, die zeigen, dass die Herausforderungen, die der demografische Wandel stellt, außer Acht gelassen wurden. Der Herr Staatssekretär hat es angesprochen: Allen Prognosen zum Trotz wurden steigende Bevölkerungszahlen und damit steigende Verkehrszahlen angenommen. Damit wurde letztlich ein höherer Bedarf an Straßen konstruiert. Als Begründung dafür musste eine nie eingeführte ?Green Card Plus“-Regelung herhalten. So kann man sich irren.
Was muss passieren? Der Bundesverkehrswegeplan muss künftig einem Nachhaltigkeitscheck unterworfen werden, und zwar nicht nur, um eine Anpassung von Planungen an den demografischen Wandel zu erreichen, sondern auch, um Nachhaltigkeit mit der gleichberechtigten Berücksichtigung sozialer, ökologischer und wirtschaftlicher Belange zu erzielen. Herr Kollege Scheuer, die Unternehmensteuerreform, über die wir heute diskutiert haben, ist alles andere als ein Beispiel für nachhaltige Entwicklung oder nachhaltige Politik in diesem Sinne.
Im Verkehrsbereich werden soziale Belange bislang praktisch nicht berücksichtigt, denn der angebliche Verkehrsbedarf ist meist der einzige Bewertungsmaßstab. Was nützt den Menschen, die gar kein eigenes Auto haben, eine neue Straße? Statt isoliert die einzelnen Verkehrsträger zu betrachten, brauchen wir einen integrierten Ansatz.
Wir müssen also vom Mobilitätsbedürfnis und nicht vom Verkehrsbedarf ausgehen. Mobilität bedeutet für mich mehr als Autofahren. Es bedeutet für mich die Möglichkeit, am sozialen Leben teilzunehmen. Daraus folgt: Wir brauchen mehr als nur Verkehrsinfrastruktur. Wir brauchen neue und innovative Mobilitätsangebote für alle. Hierzu hat der Beirat einige Vorschläge unterbreitet.
Ich hoffe, dass sich die Bundesregierung diese Vorschläge zu Herzen nimmt. Inwieweit das geschieht, werden wir am Ende dieser Legislaturperiode prüfen. Ich werde mich jedenfalls dafür einsetzen. Warum? Das Leitbild nachhaltiger Entwicklung wirkt in der Gesellschaft, wenn es durch konkrete Maßnahmen in der Gesellschaft spürbar wird. Die Vorschläge des Beirats tragen dazu bei. Deshalb wäre es schade, wenn der Beirat zu einem netten Gesprächskreis ohne Einfluss auf die Politik verkäme und ein zahnloser Tiger würde. Herr Kollege, hier sind wir uns einig.
Ein abschließender Gedanke: Vor zwei Wochen fand die 15. Sitzung der UNO-Kommission für nachhaltige Entwicklung in New York statt. Dort rief Frau Brundtland, die das Leitbild einer nachhaltigen Entwicklung entscheidend geprägt hat, dazu auf, der Debatte über nachhaltige Entwicklung endlich Taten folgen zu lassen. Beginnen wir hier in der Bundesrepublik Deutschland!
Ich danke für Ihre Aufmerksamkeit und wünsche Ihnen ein schönes Pfingstfest.
Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt:
Nächste Rednerin ist die Kollegin Britta Haßelmann für die Fraktion des Bündnisses 90/Die Grünen.
Britta Haßelmann (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Bereits in seinem ersten Arbeitsbericht in der 15. Legislaturperiode hatte der Parlamentarische Beirat festgestellt, dass der demografische Wandel im damaligen Fortschrittsbericht der Bundesregierung zur nationalen Nachhaltigkeitsstrategie überwiegend unter dem Aspekt der sozialen Sicherung, der sozialen Auswirkungen auf die Infrastruktur beleuchtet wurde, und deshalb schon damals angeregt, dass in dieser Legislaturperiode eine Anhörung zum Thema ?Demografie und Infrastruktur“ stattfinden solle. So viel zur Erläuterung, auch für die Gäste. Deshalb geht es heute explizit nicht um die soziale Infrastruktur, die natürlich ein wichtiger Aspekt der demografischen Entwicklung ist. Aber der Nachhaltigkeitsbeirat wollte das Thema einmal auf die technische, bauliche und verkehrliche Infrastruktur für Deutschland fokussieren.
Den meisten von uns ist klar: Der demografische Wandel ist längst Realität, und dieser Realität gilt es ins Auge zu sehen, nüchtern und völlig ohne Alarmismus; denn die Entwicklungen und Trends sind klar und eindeutig und nicht revidierbar. Sie sind allenfalls beeinflussbar und gestaltbar. Darin liegt eine Chance für Politik.
Die Bevölkerungszahl wird schrumpfen. Der Anteil älterer Menschen wird stark ansteigen. Die Schichtung der Bevölkerung, das heißt das Verhältnis von jungen und alten Menschen zueinander, wird sich verändern. Es wird sehr viele alte und sehr wenige junge Menschen in Deutschland geben. Außerdem werden wir durch die Migration in jedem Fall eine buntere Gesellschaft werden.
Meine Damen und Herren, ich bin mir sicher, dass nur die Anerkennung dieser Trends dazu führen kann, dass in der Politik wirklich über Chancen und Gestaltungswillen gesprochen wird, und zwar auf allen drei politischen Ebenen: der Bundesebene, der Landesebene und der kommunalen Ebene; denn auch auf die kommunale Ebene sind wir massiv angewiesen, wenn wir den demografischen Wandel gestalten wollen.
Bei der Gestaltung dieser tiefgreifenden Veränderungen ist eine vorausschauende Planung, die gleichzeitig soziale, ökonomische, aber vor allen Dingen ökologische Folgen abwägen muss, dringend erforderlich. Wir wissen, dass der demografische Wandel sich regional völlig unterschiedlich darstellen wird. Er wird zu einem Nebeneinander von Schrumpfungsregionen und Wachstumsregionen in Deutschland führen, und das nicht nur in Ostdeutschland, sondern auch in Westdeutschland. Es ist ganz wichtig, dass dieses Thema nicht als ?Ostproblem“ wahrgenommen wird. Ich komme aus NRW; dort sind zum Beispiel die Veränderungen im nördlichen Ruhrgebiet dramatisch.
Sie liegen ganz klar auf der Hand und müssen durch eine veränderte Politik gestaltet werden. Deshalb gehen wir hier von einer gemeinsamen Betrachtung Ost- und Westdeutschlands aus.
So weit, so gut. Im Sinne einer nachhaltigen Infrastrukturpolitik für die Städte und den ländlichen Raum ergeben sich differenzierte Lösungsansätze. Es nutzt nichts, von Verlierer- und Gewinnerregionen zu sprechen. Man stelle sich nur einmal vor, man lebte selber in einer solchen ?Verliererregion“. Es ist ganz wichtig, allen Regionen, im ländlichen wie im städtischen, prosperierenden Raum, deutlich zu machen, dass wir versuchen, die Situation vor Ort positiv zu gestalten, gemeinsam mit den Menschen, die dort leben. Auch das Thema Bürgerbeteiligung wird angesichts der veränderten Bedingungen durch den demografischen Wandel noch eine ganz andere Bedeutung bekommen. Denn in einem solchen Prozess gilt es immer, die Bürgerinnen und Bürger mitzunehmen, sie auf solche Entwicklungen vorzubereiten und bei der Gestaltung einzubeziehen. Ich glaube, das erfordert bei vielen von uns noch ein Umdenken und ein Einlassen darauf, was Partizipation und Gestaltung vor Ort wirklich bedeuten.
Auch im Nachhaltigkeitsbeirat - Herr Scheuer hat es vorhin angesprochen - bestand Einigkeit über die Fraktionsgrenzen hinweg, dem Parlament heute einen fraktionsübergreifenden Bericht vorzulegen. Ich will mich an dieser Stelle für die Zusammenarbeit bedanken. Lassen Sie mich an der Stelle deutlich sagen: Wenn der Beirat im Rahmen dieser Debatte zukünftig eine Rolle in diesem Parlament spielen will, dann ist es wichtig, a) einen solchen Schritt zu tun und b) dafür Sorge zu tragen, dass das, was wir diskutieren, auch in die Politik Eingang findet.
Ich persönlich habe kein Interesse daran, in einem sogenannten Alibigremium zu sitzen, in dem wir zwar schöne Beschlüsse fassen, die aber keine nachhaltige Wirkung zeigen.
Wir sind uns sehr einig, wenn wir über den demografischen Wandel allgemein reden und wenn wir die Dinge beschreiben. Wir sind uns aber ganz schnell nicht mehr einig - auch das muss man an dieser Stelle deutlich sagen -, wenn es um konkrete Politik geht.
Ich frage Sie, Herr Staatssekretär Großmann: Warum geht man beispielsweise im Bundesverkehrswegeplan - das gilt auch für andere Politikfelder - bei der Erstellung von Verkehrsprognosen noch immer von einem Bevölkerungswachstum aus?
Warum konzipiert man immer noch Autobahnprojekte - ich nenne beispielsweise die A 14 und A 29 - in Gegenden, von denen wir wissen, dass es sich um Regionen mit einer schrumpfenden Bevölkerungszahl handelt? Warum werden in ungebremster Art und Weise Flächen ausgewiesen, anstatt im Interesse einer nachhaltigen Entwicklung den Flächenverbrauch durch entsprechende Programme der Bundesregierung zu stoppen? Wir wissen doch, dass die Flächenversiegelung eines der größten ökologischen Probleme ist.
In NRW zieht der Ministerpräsident durch die Lande und beklagt, dass 1 000 Schulen geschlossen werden. Trotzdem leistet man sich dort eine Debatte über das dreigliedrige Schulsystem.
Das setzt sich in allen Politikfeldern fort: Wir sehen die Notwendigkeit einer Veränderung. Allein es fehlt der Wille - auch in der Bundesregierung, Herr Großmann - zur Umsetzung von Maßnahmen gerade im ökologischen Bereich. Der sollte aber vorhanden sein, wenn wir die Nachhaltigkeit ernst nehmen.
Wir brauchen einen Paradigmenwechsel: weg vom Leitbild des Wachstums der Zahl der Einwohnerinnen und Einwohner, weg vom Leitbild einer größeren Infrastruktur und eines größeren Flächenverbrauchs hin zu einem qualitativen Ansatz der Nachhaltigkeit. Hier brauchen die Kommunen unsere Unterstützung; denn sie sind die zentralen Orte, an denen der demografische Wandel zu spüren ist.
Lassen Sie mich abschließend sagen: Eigentlich klingt die Formel: ?Wir werden weniger und damit verbrauchen wir weniger Ressourcen und Flächen“ doch äußerst einleuchtend und verlockend. Was hindert die Große Koalition und die Bundesregierung eigentlich daran, im Interesse der Nachhaltigkeit und einer wirklich generationengerechten Politik endlich Konsequenzen für konkretes politisches Handeln zu ziehen und nicht nur Absichtserklärungen zu formulieren?
Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt:
Das Wort hat nun der Kollege Ernst Kranz für die SPD-Fraktion.
Ernst Kranz (SPD):
Frau Präsidentin! Werte Kolleginnen und Kollegen! Meine Kollegen haben schon sehr viel zum Beirat gesagt. Wir stehen hier erst am Anfang einer Entwicklung; den Beirat gibt es erst seit drei Jahren. Es ist wichtig, dass wir uns heute zu Wort melden. Ich glaube, dass die von mir genannte Entwicklung intensiver werden und mehr Auswirkungen auf die Politik in diesem Land haben muss.
Statt nur Alternativen oder Kosten zu prüfen, wäre es unserer Meinung nach sehr ratsam, zu untersuchen, ob bei Gesetzen die aktuellen Prognosen zum demografischen Wandel beachtet wurden und ob die Teilhabe am gesellschaftlichen Leben gewährleistet ist. Wir sollten auch darüber nachdenken, welche Auswirkungen unsere Entscheidungen für nachfolgende Generationen haben. Wir müssen uns fragen, ob wir nicht über Maßnahmen entscheiden, die uns zwar heute Kosten sparen, aber unseren nachfolgenden Generationen sehr hohe Kosten aufbürden, weil sie die Folgen unseres Handelns rückgängig machen müssen. Der Klimawandel ist in der aktuellen Diskussion. Ich glaube, daraus lässt sich die Erkenntnis ableiten, was kurzfristiges Denken bewirkt.
Es geht um die Frage, ob die eingeschlagene Richtung sozial, ökonomisch und ökologisch nachhaltig ist oder ob sie nicht in wenigen Jahren teuer korrigiert werden muss. Das bedeutet also: Es muss nach Möglichkeiten gesucht werden, wie das Denken im Voraus gefördert werden kann. Bei allen Kollegen ist angeklungen, dass das unsere gemeinsame Grundlage ist. Da wir mit der Arbeit in unserem Beirat gerade am Anfang stehen, ist es wichtig, dass wir mit einer Stimme sprechen und uns nicht schon im Beirat auseinanderdividieren, sondern erst einmal dazu beitragen, dass dieser Beirat in der Politik ein gewichtiges Wort bekommt und wahrgenommen wird.
Natürlich ist es sehr schwierig - das ist angeklungen -, gemeinsame Standpunkte über Fraktionen hinweg zu formulieren. Aber wir haben gesehen: Es geht, ohne dass wir uns dabei verbiegen, ohne dass wir das Endziel aus dem Auge verlieren. Ich halte die Arbeit des Beirates gerade deshalb für bereichernd, weil sie außerhalb der gewohnten Pfade stattfindet und jeder Weg, der beschritten wird, stets neue Fragen aufwirft und zu verblüffenden neuen Antworten führt. Das ist die richtige Arbeitsweise. Diese sollten wir beibehalten. Wir sollten versuchen, sie zu intensivieren.
Frau Haßelmann hat es gesagt: Schon der letzte Beirat hat begonnen, sich mit dem Thema ?Infrastruktur und Demografie“ zu beschäftigen. Wir haben das mit einer Anhörung im Oktober fortgeführt. Zur Infrastruktur zählen wir Verkehrswege und den ganz wichtigen Bereich der Raumordnung; er ist heute intensiv angesprochen worden. Ich möchte Ihnen dazu die Definition aus ?Wikipedia“ vorlesen: Darunter
ist die planmäßige Ordnung, Entwicklung und Sicherung von größeren Gebietseinheiten … zur Gewährleistung der bestmöglichen Nutzung des Lebensraumes zu verstehen.
Gerade diese Definition macht unser Anliegen deutlich.
Frau Haßelmann hat auch gesagt, wir hätten uns auf die technische Infrastruktur beschränkt, weil wir in absehbarer Zeit zu einem Ergebnis hätten kommen wollen. Selbstverständlich ist die soziale Infrastruktur, Bildung, Gesundheit, Kultur und Versorgung, zumindest ebenso wichtig. Der Beirat sollte sich hiermit gesondert beschäftigen und intensiv darüber reden.
Der Begriff ?demografischer Wandel“ braucht garantiert nicht noch einmal erläutert zu werden. Aber die zwei wichtigsten Punkte, Abnahme der Zahl der Bevölkerung und Alterung, sollte man noch einmal deutlich hervorheben, weil das die Kernpunkte sind.
Ich möchte an dieser Stelle darauf verweisen, dass wir in der SPD-Fraktion am Montag eine Veranstaltung hatten, die sich damit beschäftigt hat, den demografischen Wandel als Herausforderung für die Kommunen zu betrachten. Auch heute bestand, so glaube ich, Konsens darüber, dass die Kommunen die Hauptbetroffenen des demografischen Wandels sind, dass dort letztendlich die Hauptgestaltungsebene liegen muss. Ich stimme mit Herrn Döring in dem Sinne überein, dass ich sage: Wir müssen den Kommunen diese Gestaltungschance auch einräumen; das ist ganz wichtig. Aber an dieser Stelle darf es kein Einbahnstraßendenken geben,
indem wir sagen: entweder von oben nach unten oder von unten nach oben. Jede Ebene muss vielmehr die Aufgabe, die sie hat, wahrnehmen
und den anderen Ebenen die Freiheiten, die sie haben, lassen.
Ich habe gesagt: Ein Schwerpunkt in unserem Bericht war und ist die Raumordnung, die Stadtentwicklung. Ferner habe ich gesagt: Eine wichtige Auswirkung des demografischen Wandels ist die Abnahme der Bevölkerungszahl und die Alterung. In der Praxis ergibt sich, daraus resultierend, eine Abnahme der Siedlungsdichte. Aber - jetzt kommt mein Aber - wenn wir genau hinschauen, stellen wir fest, dass das bei einer gleichzeitigen Zunahme der Siedlungsfläche geschieht.
Das ist schon ein Widerspruch in sich. Wir alle sollten darüber nachdenken, wie wir diese Entwicklung stoppen können. Das ist etwas ganz Wichtiges.
Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt:
Herr Kollege, denken Sie bitte an Ihre Redezeit.
Ernst Kranz (SPD):
Natürlich.
Ich möchte ganz kurz etwas zum Stadtumbau Ost sagen.
Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt:
Sie sind am Ende Ihrer Redezeit.
Ernst Kranz (SPD):
Schade. Dann komme ich zum Schluss, Frau Präsidentin, und danke für Ihren Hinweis.
Ich möchte an dieser Stelle feststellen: Den demografischen Wandel dürfen wir nicht als Gefahr sehen. Damit werden wir niemals die richtigen Lösungsansätze für unser Handeln finden. Der demografische Wandel muss eine Chance und eine Aufgabe für uns sein.
Danke schön.
Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt:
Nächster Redner ist der Kollege Dr. Günter Krings, CDU/CSU-Fraktion.
Dr. Günter Krings (CDU/CSU):
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren Kollegen! Es ist gut, dass wir heute zu prominenter Stunde über das Thema ?demografischer Wandel“ debattieren, und zwar nicht, wie in vielen anderen Debatten, mit dem Schwerpunkt Renten- und Pflegekasse, sondern mit dem Schwerpunkt Infrastrukturplanung. Denn es gibt kaum eine politische Entscheidung mit langfristigeren Auswirkungen als Investitionen in unsere Infrastruktur: Wir fahren heute zum Teil noch auf Straßen, deren Trassen aus der napoleonischen Zeit stammen. Wir sitzen in Zügen, die auf einen Schienennetz unterwegs sind, das im Wesentlichen im 19. Jahrhundert ausgelegt worden ist. Schulen stehen oft mehrere Jahrhunderte. Unsere Abwasserkanäle sollen etliche Jahrzehnte halten.
Diese langfristige Lebensdauer unserer Infrastruktur verlangt eine langfristige Planung. Dies setzt voraus, den Bedarf künftiger Generationen zu prognostizieren - so gut das aus heutiger Sicht möglich ist - und die planerischen Weichenstellungen auf Grundlage dieser Prognosen vorzunehmen. Genau hier ist das Kernprinzip der Nachhaltigkeit berührt: Künftige Generationen dürfen nicht zu den Geiseln kurzsichtiger Entscheidungen von heute werden. Wir müssen schon heute darauf Rücksicht nehmen, wie sich Bevölkerung und Bedürfnisse in den nächsten Jahrzehnten entwickeln. Das kann man nur unvollkommen tun, man kann nur abschätzen. Aber mit einem suboptimalen Radar unterwegs zu sein, ist allemal besser, als ohne Radar ins Unbekannte zu fliegen.
Die neuen Länder - das klang bereits mehrfach an - befinden sich bereits mitten im demografischen Umbruch. Seit 1990 sind etwa 2 Millionen Menschen aus den neuen Bundesländern weggezogen. Mecklenburg-Vorpommern zum Beispiel war 1990, zum Zeitpunkt der deutschen Einheit, im Bevölkerungsschnitt das jüngste deutsche Bundesland, heute ist es wohl das älteste - das alles in gerade einmal 17 Jahren. Es gibt Regionen, in denen künftig - da dürfen wir uns nichts vormachen - die Abrissbirne regieren wird, es wird Infrastruktur geben, die kaum ausgelastet ist. Dadurch werden Pro-Kopf-Kosten entstehen, die schwer zu bezahlen sind.
Aber auch im Westen findet dieser Bevölkerungswandel statt, auch hier werden wir weniger Menschen und ältere Menschen haben. Insofern können wir vom Osten lernen, der diese Entwicklung früher durchläuft. Im Westen wird es vor allem strukturschwache und ländliche Regionen treffen. Es wird aber auch Metropolregionen geben, in denen die Bevölkerung im Schnitt jünger ist und ihre Zahl sogar noch wachsen wird. Beide Phänomene - sowohl ?Boomtown“ als auch ?Schrumpfhausen“ - sind deutsche Realitäten im 21. Jahrhundert.
Ich habe persönlich die Sorge, dass der demografische Wandel in den Städten und Gemeinden, in denen klar ist, dass die Bevölkerungszahl abnimmt, zwar abstrakt zur Kenntnis genommen wird, aber, wenn es um konkrete Entscheidungen geht, jeder Bürgermeister das letzte Neubaugebiet in der Region ausweisen möchte, damit seine Gemeinde gegen den Trend noch etwas wächst.
Tatsächlich brauchen wir heute in weiten Bereichen unseres Landes mehr den Umbau, weniger den Neubau; das ist das Gebot der Stunde. Wir wollen im Parlamentarischen Beirat für nachhaltige Entwicklung gemeinsam das Bewusstsein hierfür schaffen. Im Bericht des Beirats wird daher vorgeschlagen, dass die Kommunen mehr kooperieren, anstatt den verzweifelten Versuch zu machen, sich auf Kosten des Nachbarn zu entwickeln, und dass sie für die Daseinsvorsorge gemeinsam nach intelligenten Antworten auf den demografischen Wandel suchen.
Aus meiner Sicht gehört es zu den glücklichsten Entwicklungen der jüngeren deutschen Geschichte, dass seit 1990 alle Deutschen wieder die freie Wahl haben, an welchem Ort unseres schönen Landes sie leben möchten. Zur politischen Ehrlichkeit gehört es, den Menschen zu sagen, dass sich die Idee gleicher Lebensbedingungen in Deutschland angesichts der Bevölkerungsentwicklung noch weniger verwirklichen lässt als bisher. Es gibt da Unterschiede, und es wird weiterhin Unterschiede geben.
Es gehört zu den unangenehmen Wahrheiten, dass angesichts der Bevölkerungsentwicklung ?gleichwertige Lebensverhältnisse“ nicht ?gleiche Lebensverhältnisse“ sind. Öffentliche Daseinsvorsorge kann in ländlichen und bevölkerungsschwachen Gebieten nicht auf dem absolut gleichen Niveau wie in Städten angeboten werden. Dafür genießt man dort andere wichtige Vorteile, zum Beispiel hinsichtlich Freizeitgestaltung und Lebensqualität.
Wenn nur noch ein oder zwei Fahrgäste im Linienbus sitzen, ist das nicht mehr bezahlbar und auch ökologisch nicht verantwortbar. Die Alternative heißt aber nicht: kein öffentlicher Nahverkehr. Wir sind vielmehr aufgefordert, kreative, vernünftige Lösungen zu finden. Zur Beruhigung will ich deutlich sagen: Die Bandbreite der Unterschiede wird in Deutschland wahrscheinlich auch in Zukunft geringer sein als in jedem anderen Flächenstaat der Erde. Ich habe dabei volles Vertrauen in den deutschen Hang zur Nivellierung, zur Herstellung von Gleichheit. Wir werden daher aufpassen, dass Mindeststandards eingehalten werden. Auch hinsichtlich der Erreichbarkeit von Einrichtungen der Daseinsvorsorge dürfen Mindeststandards nicht unterschritten werden.
Fehler dürfen wir auf keinen Fall machen: Wir dürfen nicht vor Angst erstarren und versuchen, an allen bestehenden Einrichtungen krampfhaft, ohne jede Änderung, festzuhalten. Wir müssen vielmehr auf Zusammenarbeit setzen.
Bevölkerungsentwicklungen und Bevölkerungsbewegungen hat es in Deutschland - das zu sagen, gehört ebenfalls zur Ehrlichkeit - immer wieder gegeben. Es gab Regionen mit Abwanderungen und Regionen mit Zuwanderungen. Ich will nicht von Verlierer- und Gewinnerregionen sprechen; denn auch in einer Abwanderungsregion können Gewinner leben, Menschen, die gut mit den Veränderungen umgehen können, und können öffentliche Einrichtungen gut weiterentwickelt werden.
Richtig ist auch: Hätte die Politik vor 100 Jahren versucht, jegliche Bevölkerungswanderung von den ländlichen Regionen in die aufstrebenden Industriegebiete zu unterbinden, würden wir noch heute in einem Agrarstaat leben und hätten ein wahrscheinlich nicht einmal halb so hohes Bruttosozialprodukt wie jetzt. Es geht nicht darum, Dämme zu errichten, sondern darum, Kanäle zu bauen, sinnvoll zu steuern und zu gestalten.
Wir müssen - das ist der letzte Gedanke, den ich ansprechen möchte - die Chancen des demografischen Wandels beachten: Der Landschaftsverbrauch kann begrenzt werden, Flächen können entsiegelt werden, neue Entfaltungs- und Erholungsräume können geschaffen werden.
Ich bedanke mich bei allen Fraktionen für die gute Zusammenarbeit bei diesem ersten großen Projekt des Nachhaltigkeitsbeirates. Ich hoffe und erwarte, dass unsere Vorschläge bei der Bundesregierung Gehör finden, und zwar sowohl bei der Entwicklung der Nachhaltigkeitsstrategie 2008 als auch bei konkreten politischen Entscheidungen; denn darauf kommt es letztlich an. Von den Kommunen und Ländern erhoffe und erbitte ich, dass sie diese Themen ernst nehmen und zur Grundlage eigener politischer Entscheidungen machen. Wir wollen ihnen nichts aufoktroyieren, sondern ihnen dabei helfen, im Interesse ihrer Bürger und in ihrem eigenen Interesse vernünftige Schritte in die Zukunft zu unternehmen.
Vielen Dank.
Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt:
Nun hat das Wort der Kollege Dr. Matthias Miersch, SPD-Fraktion.
Dr. Matthias Miersch (SPD):
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Der Parlamentarische Beirat für nachhaltige Entwicklung hat eine wichtige Aufgabe erfüllt. Der Beirat beschäftigt sich mit einer Aufgabe - das kommt schon im Titel zum Ausdruck -, die heutzutage aus meiner Sicht auf allen Ebenen inflationär verwendet wird. Alle arbeiten inzwischen nachhaltig. In jeder Hochglanzbroschüre ist der Begriff ?Nachhaltigkeit“ enthalten. In fast jeder Rede, die in diesem Haus gehalten wird, wird der Begriff mindestens einmal verwendet.
Die Frage lautet also: Was ist nachhaltige Entwicklung? Bei den heutigen Redebeiträgen haben wir zur Kenntnis nehmen können: Spannend wird es erst, wenn es konkret wird. Die nachhaltige Entwicklung ist für mich die Schlüsselfrage und das Leitbild jeglichen politischen Handelns.
Die Brundtland-Kommission der Vereinten Nationen hat bereits Anfang der 90er-Jahre festgestellt: Nachhaltige Entwicklung bedeutet, die Bedürfnisse der heutigen Generation mit den Bedürfnissen der künftigen Generationen zu vereinen. Dass das ganz viele Lebensbereiche betrifft, ökologische, ökonomische und soziale, ist klar. Wenn wir das reale politische Handeln betrachten, stellen wir aber sehr schnell fest, dass wir von diesem Anspruch an der einen oder anderen Stelle noch sehr weit entfernt sind.
Das Thema ?Demografie und Infrastruktur“ betrifft die nachhaltige Entwicklung im Kern. Es ist gut, dass es dem Parlamentarischen Beirat gelungen ist, dieses Thema auf die Tagesordnung des Bundestages zu setzen. Wir müssen jetzt zu Recht anmahnen, dass es weitergeht und wir bei unserem politischen Handeln Konsequenzen aus dem Bericht ziehen.
Wir haben hier die Chance, das Thema interdisziplinär anzugehen, es nicht nur aus der sozialen, der verkehrlichen oder der wirtschaftlichen Perspektive zu betrachten, sondern als Ganzes. Insofern müssen sich verschiedene Gremien des Hohen Hauses mit diesem Thema beschäftigen, wenn am Ende gute und weitreichende Beschlüsse stehen sollen.
Auf einige Aspekte, die mir wesentlich zu sein scheinen, möchte ich hier eingehen. Herr Staatssekretär, Sie haben recht: Wir haben kein Erkenntnisproblem. Aber wir haben ein Bewusstseinsproblem. Das Thema ?Demografie und Infrastruktur“, die demografische Entwicklung überhaupt ist noch nicht auf allen Ebenen und bei allen Entscheidungsträgern angekommen. Wir brauchen ein Bewusstsein auf Bundesebene, auf Landesebene und auf kommunaler Ebene. Ich glaube, wir müssen überall, auch in allen Fraktionen, für dieses Thema werben.
Ein zweiter Aspekt zu dem Thema ?Demografie und Infrastruktur“ ist, dass es um Kooperation und nicht primär um Konkurrenz geht. Das ist natürlich ein hervorragendes Schlagwort. Spannend wird es, wenn es konkret wird. Hier sind wir gerade auf bundespolitischer Ebene gefordert, die richtigen Weichen zu stellen.
Ich bin nach wie vor Mitglied eines Rates einer Stadt mit 40 000 Einwohnern und weiß deshalb, wie schwierig es aus rechtlichen Gründen ist, interkommunal zusammenzuarbeiten. Wir müssen darauf achten, dass die rechtlichen Rahmenbedingungen so sind, dass dies nicht an wettbewerbsrechtlichen Problemen scheitert. Wir sind als Bundesgesetzgeber, aber auch als Lobbyisten auf europäischer Ebene gefordert, den Kommunen bessere Möglichkeiten zu bieten.
Bei meinem dritten Aspekt werden Sie wahrscheinlich nicht mehr klatschen, Herr Goldmann; Herr Döring, ich glaube, da unterscheiden wir uns elementar. Wenn wir über Demografie und Infrastruktur reden, stellen wir sehr schnell fest, dass es um Bereiche der Daseinsvorsorge geht, die dem Wettbewerb entzogen sind, weil wir diese Bereiche nicht dem Markt überlassen können.
Es wird sehr spannend, wenn wir über öffentlichen Personennahverkehr, über Bildung, über Gesundheitssysteme und deren Ausgestaltung reden. Ich glaube, dass wir uns in einigen Fragen einig sind, dass sich aber hinsichtlich der einen oder anderen Frage sehr schnell zeigen wird, welches Staatsverständnis wir haben. Das wird ein Ringen um den besten Weg.
Wir haben am vergangenen Montag in der SPD-Fraktion eine Expertenanhörung durchgeführt und uns über 30 Beispiele aus der Praxis angesehen. Dabei haben wir festgestellt, dass das Thema ?Demografische Entwicklung und Infrastruktur“ vom 500 000 Kilometer umfassenden Rohrleitungssystem in Deutschland bis hin zu Qualifizierungsmaßnahmen von älteren Mitbürgerinnen und Mitbürgern reicht. Wir müssen diese Projekte aufzeigen und voneinander lernen. Dann gewinnt diese Debatte an Fahrt und macht Sinn.
Bevor wir ein Fazit unserer Beratung ziehen, sind wir gefordert, in den Gremien dafür zu sorgen, dass wir im Hinblick auf die Gesetzgebung - das betrifft die Baugesetzgebung, die Umweltgesetzgebung und die Raumordnungsgesetzgebung - folgende Frage beantworten: Wie schaffen wir es, die Gesetze so anzupassen, dass ein Rahmen für die Förderung von Nachhaltigkeit und Daseinsvorsorge entsteht und Förderprogramme daran ausgerichtet werden können? Wenn wir dies schaffen, hat sich die Arbeit gelohnt. Wir freuen uns, dass die Arbeit jetzt in den Gremien des Deutschen Bundestages beginnt.
Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit.
Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt:
Letzte Rednerin in dieser Debatte ist die Kollegin Julia Klöckner, CDU/CSU-Fraktion.
Julia Klöckner (CDU/CSU):
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich darf die Debatte, die heute zu einer prominenten Zeit, zur Kernzeit, stattfindet, beschließen. Sie haben gemerkt, die Debatte ist nicht, wie man es sonst gewohnt ist, sehr kontrovers zwischen Opposition und Koalitionsfraktionen geführt worden, und es ist hier nicht zu großen Zusammenstößen gekommen.
Grund dafür ist das, was einige der Vorredner schon herausgestellt haben, nämlich dass wir in der Zielbeschreibung, aber auch in der Wahrnehmung und Analyse sehr nahe beieinander liegen. Das ist schon ein sehr großer Wert; das muss sicherlich festgehalten werden. Aber dann, wenn es konkret wird, wenn es um einzelne Anträge oder Gesetze in den unterschiedlichen Ausschüssen geht, geht das Gefühl, das wir uns im Nachhaltigkeitsbeirat - auch dank unseres Vorsitzenden, Herrn Günter Krings -
erarbeitet haben, nämlich das Gefühl des Zusammenarbeitens auch über die Fraktionsgrenzen hinweg im Sinne der nachfolgenden Generationen, leider allzu schnell verloren, weil die Tagespolitik, das Tagesgeschäft den Blickwinkel dann doch wieder verengt. Eine Chance in unserem Nachhaltigkeitsbeirat besteht in der Weitung des Blickes, weg von den tagespolitischen Auseinandersetzungen hin zu dem, was die nachfolgenden Generationen anlangt.
Mir ist aufgefallen - Ihnen sicherlich auch -, dass das Wort Nachhaltigkeit sehr oft gebraucht wird. Die Nachhaltigkeit hat einen immensen Aufschwung genommen, zumindest verbal. Nachhaltigkeit kommt übrigens aus der Landwirtschaft.
- Forstwirtschaft; danke schön, Herr Kollege Goldmann. Ich wollte einmal testen, ob Sie dabei sind.
Der Begriff kommt aus der Forst- und Landwirtschaft.
Der Begriff der Nachhaltigkeit hat sich geweitet: Politik soll nachhaltig sein. Unternehmen sollen nachhaltig handeln. Versicherungen bieten nachhaltige Verträge an. Literatur, Kunst und Architektur, alles ist auf einmal nachhaltig. Wenn man ins Internet geht und den Begriff ?Nachhaltigkeit“ in eine Suchmaschine eingibt, also klassisch googlet, dann erhält man innerhalb von wenigen Sekunden 2,5 Millionen Treffer. - Im Jahre 2000 wussten gerade einmal 13 Prozent der Bürgerinnen und Bürger überhaupt etwas mit dem Begriff der Nachhaltigkeit anzufangen. Das sieht heute anders aus. Zumindest wird der Begriff sehr oft verwendet.
Die inflationäre Verwendung des Begriffs der Nachhaltigkeit sollte jedoch nicht unser Ziel sein. Wir sollten das Erreichte nicht an der Quantität messen, also daran, wie oft ?Nachhaltigkeit“ letztlich als Modewort verwendet wird.
Es geht um die Qualität, also um das, was die Einstufung als nachhaltig auch wirklich verdient.
Deshalb ein mahnendes Wort an uns alle: Wir dürfen in unserem Engagement um die Nachhaltigkeit diese nicht zu einem inhaltsleeren Schlagwort verkommen lassen.
Das haben wir uns als Nachhaltigkeitsbeirat auf die Fahnen geschrieben. Nachhaltigkeit ist für uns das Denken an morgen, aber auch das Handeln für morgen. Für uns ist der integrative, aber auch der globale Politikansatz sehr wichtig. Was zum Beispiel eine Erbschaft für den Einzelnen bedeutet, kann, denke ich, fast jeder nachempfinden. Schwieriger aber gestaltet es sich, mit kollektiven Erblasten oder Erbschaften umzugehen bzw. sich da hineinzuversetzen und auf dieser Grundlage vorausschauend die richtigen Weichenstellungen vorzunehmen. Deshalb darf sich die Idee der Nachhaltigkeit nicht auf das Hier und Jetzt beschränken; das wäre fatal. Wir müssen uns im Hier und Jetzt Gedanken machen. Aber selbstgenügsam zu sein und heute nach dieser Debatte festzuhalten: ?Irgendwie sind wir uns doch alle einig“, wäre sicherlich viel zu wenig.
Gerade für uns als Junge Gruppe - ich spreche heute nicht nur als Mitglied des Beirates, sondern auch als Mitglied der Jungen Gruppe unserer Fraktion - ist die Generationengerechtigkeit integrativer Bestandteil der Nachhaltigkeit.
Natürlich müssen wir dafür sorgen, dass die im Hier und Jetzt bestehenden Bedürfnisse befriedigt werden; wir möchten keinen Generationenkonflikt. Aber die Bedürfnisse, die jeder Mensch hat und die natürlich immer zu toppen sind, müssen auf eine Art befriedigt werden, dass auch die nachkommenden Generationen noch Ressourcen vorfinden. Wir müssen über den Tag hinaus denken. Für mich als Vertreterin einer christlich-demokratischen Partei hat das auch etwas mit dem christlichen Menschenbild und mit der Bewahrung der Schöpfung zu tun.
Sie ist nicht unser Eigentum; es darf nicht darum gehen, dass sie uns im Hier und Heute zugutekommt.
Natürlich führt das immer zu Debatten. Das merken wir, wenn wir uns in ganz konkreten Fragen einigen müssen, zum Beispiel bei der Steuergesetzgebung, beim Schuldenabbau und im Hinblick auf das Rentensystem und die Pflegeversicherung. Wir sollten uns daher eindeutig für die Einführung von Generationenbilanzen aussprechen, durch die die Verteilung der Lasten zwischen den Generationen transparent gemacht werden könnte. Es darf nicht alle fünf Jahre darüber geredet werden, wie hoch die Verschuldung ist, die jedes neugeborene Kind quasi als ?Begrüßungsgeschenk“ bekommt. Mit einer transparenten und jährlich aufzustellenden Generationenbilanz schaffen wir es, die Themen Ökonomie, Ökologie und Soziales langfristig miteinander zu verbinden.
Zudem würde sich dadurch auch die große Chance einer Gesetzesfolgenabschätzung bieten. Das haben wir, die Junge Gruppe in der CDU/CSU-Fraktion, gefordert. Wir hoffen, dass es die Regierung schaffen wird, ihren Politikansatz nicht ressortisoliert, sondern ministerienübergreifend zu gestalten.
Das ist unser Wunsch an die Regierung. Ich bin zuversichtlich, dass wir dieses Ziel gemeinsam mit den jungen Abgeordneten, die im Parlament vertreten sind, und mit den vernünftigen älteren Abgeordneten erreichen werden. Das macht unser Land lebenswert.
Vielen Dank.
Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt:
Ich schließe die Aussprache.
Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlage auf Drucksache 16/4900 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? - Dann ist die Überweisung so beschlossen.
[Der folgende Berichtsteil - und damit der gesamte Stenografische Bericht der 101. Sitzung - wird am
Dienstag, den 29. Mai 2007,
an dieser Stelle veröffentlicht.]