106. Sitzung
Berlin, Freitag, den 22. Juni 2007
Beginn: 9.00 Uhr
* * * * * * * * V O R A B - V E R Ö F F E N T L I C H U N G * * * * * * * *
* * * * * DER NACH § 117 GOBT AUTORISIERTEN FASSUNG * * * * *
* * * * * * * * VOR DER ENDGÜLTIGEN DRUCKLEGUNG * * * * * * * *
Präsident Dr. Norbert Lammert:
Die Sitzung ist eröffnet.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich begrüße Sie herzlich und wünsche Ihnen einen guten Morgen und gute Beratungen.
Es gibt heute Morgen nicht einmal irgendetwas zu vermelden, was uns vom unverzüglichen Eintritt in die Tagesordnung abhalten könnte.
Ich rufe also gleich unseren Tagesordnungspunkt 25 auf:
- Zweite und dritte Beratung des von den Fraktionen der CDU/CSU und der SPD eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung der Rechtsgrundlagen zum Emissionshandel im Hinblick auf die Zuteilungsperiode 2008 bis 2012
- Drucksache 16/5240 -
- Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung der Rechtsgrundlagen zum Emissionshandel im Hinblick auf die Zuteilungsperiode 2008 bis 2012
- Drucksache 16/5617 -
Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit (16. Ausschuss)
- Drucksache 16/5769 -
Berichterstattung:
Abgeordnete Andreas Jung (Konstanz)
Frank Schwabe
Michael Kauch
Eva Bulling-Schröter
Dr. Reinhard Loske
Hierzu liegt ein Entschließungsantrag der Fraktion Die Linke vor. Über den Gesetzentwurf der Fraktionen der CDU/CSU und der SPD werden wir später namentlich abstimmen.
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für diese Aussprache eineinviertel Stunden vorgesehen. - Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache und erteile das Wort zunächst dem Kollegen Frank Schwabe für die SPD-Fraktion.
Frank Schwabe (SPD):
Sehr geehrter Herr Präsident! Verehrte Damen und Herren! Wem das bisher nicht klar war, der weiß es jetzt nach anderthalbjähriger Diskussion über den Emissionshandel in der zweiten Periode: Klimaschutz gibt es nicht zum Nulltarif.
Durch den Klimaschutz werden unsere Form der Energieerzeugung und unsere Form des Wirtschaftens in wirklich revolutionärer Weise geändert. Das bringt unter dem Strich volkswirtschaftliche Vorteile und damit Vorteile für alle, und das hilft vor allem denjenigen - auch betriebswirtschaftlich -, die die Zeichen der Zeit frühzeitig erkennen.
Immer wenn es konkret wird, gibt es aber massive Widerstände aus nachvollziehbaren, sehr individuellen - man könnte auch sagen: egoistischen; was ich gar nicht abwertend meine - Gründen. Zum Teil sind es gute Argumente, zum Teil ist es aber auch hanebüchener Unsinn. Es hilft aber nichts: Die Bedingungen sind gesetzt. Wer im Rahmen internationaler Konferenzen und in Abkommen A sagt, der muss national auch B sagen wollen.
Mit dem vorliegenden Zuteilungsgesetz tun wir nichts anderes, als unsere internationalen und insbesondere europäischen Verpflichtungen umzusetzen. Die Vorgabe aus Europa lautete 453 Millionen Tonnen pro Jahr - nicht mehr. Wir erreichen diese Reduktion auf 453 Millionen Tonnen. Mit diesem sehr ambitionierten Cap bzw. - auf Deutsch - dieser Obergrenze stellen wir sicher, dass das im Kiotoprotokoll verankerte Ziel der Reduzierung um 21 Prozent von 1990 bis 2012 erreichbar ist und möglicherweise sogar übererfüllt wird.
Während der langen Diskussionszeit entstand hinsichtlich dieses Gesetzes eine Lernkurve - Bundesminister Gabriel hat das immer wieder deutlich gemacht -: Dass während dieser Zeit das Thema Klimaschutz in der Bedeutung für die Menschen in unserem Land von Platz zehn auf Platz eins geschnellt ist, hat natürlich auch geholfen, den Emissionshandel besser zu machen.
Am Ende liegt uns jetzt ein Gesetz vor, mit dem im Gegensatz zur ersten Periode eine CO2-Senkung von rund 57 Millionen Tonnen vorgesehen ist. Uns liegt ein Gesetz vor, das aufgrund der Abschmelzung von 58 Regelkombinationen und der Einführung von Benchmarks deutlich transparenter und einfacher ist. Uns liegt ein Gesetz vor, durch das mit den Industrieunternehmen diejenigen kaum belastet werden, die im harten internationalen Wettbewerb stehen, und durch das mit den Unternehmen der Energiewirtschaft diejenigen sehr wohl belastet werden, die hohe Einsparpotenziale haben und einem Wettbewerb kaum ausgesetzt sind.
Mit dem Emissionshandel in der zweiten Periode wird genau das getan, was getan werden muss. Manche wundern sich vielleicht darüber. Es werden Anreize zur Reduzierung von CO2-Emissionen gesetzt. Je weniger CO2-Ausstoß, desto besser. Vor allem wird der Anreiz gesetzt, neue und effizientere Kraftwerke zu bauen.
Richtig ist, dass wir massiv in Energieeffizienz und erneuerbare Energien investieren müssen mit dem Ziel des vollständigen Ersatzes fossiler Energieträger in Zukunft. Dieses Ziel wird allerdings weder heute noch morgen erreicht. Wir müssen aber eine Antwort auf die Frage geben, wo wir morgen die Energie herbekommen werden. Deshalb werden für eine Übergangszeit auch fossile Energieträger genutzt werden müssen. Das gilt ausdrücklich auch für die Braunkohle. Auch wenn es keinen gesonderten Benchmark gibt, kenne ich keine seriöse Untersuchung, die die Wettbewerbsfähigkeit der heimischen Braunkohle in der Emissionshandelsperiode 2008 bis 2012 infrage stellt.
Die Gewinnmargen - sie waren in den letzten Jahren exorbitant hoch - der Unternehmen, die den klimaschädlichsten Energieträger verstromen, werden sicherlich kleiner werden. Dieses Preissignal liegt aber durchaus in der Logik des Emissionshandels, der im Kern ein Klimaschutzinstrument ist.
Strukturbrüche sowohl in den Braunkohleregionen als auch im Bereich der Energiesicherheit wollen wir aber vermeiden. Das gelingt mit dem Gesetzentwurf. Für die Zukunft nach 2012 bedeutet das aber, dass die Technik der Abscheidung und Lagerung von CO2 - CCS genannt - sehr schnell erfolgreich sein muss. Andernfalls würde die Braunkohle bei einem notwendigerweise weiter ansteigenden CO2-Preis zwangsläufig in eine schwierige Situation geraten. Das geschieht aber in der Emissionshandelsperiode 2008 bis 2012 ausdrücklich nicht.
Ich will das nicht zu sehr zuspitzen, damit noch Spielräume bleiben. Aber diejenigen in den Ländern, die sich mit dem Emissionshandel anscheinend nur sehr bedingt auskennen - mein Heimatland NRW macht sich dabei leider besonders bemerkbar -, sollten das Zündeln lassen. Das Lobbying mancher Landesregierung für zwei nicht gerade vor der Pleite stehende Unternehmen in Deutschland droht dann, wenn der Zeitplan für den Emissionshandel in Verzug gerät, zu einem Hindernis für andere viele Hundert Unternehmen zu werden.
Ich kann nur dringend zur Besinnung und sofortigen Einkehr raten. Der Gesetzentwurf steht. Weitere Verzögerungen auf Länderseite werden nichts ändern; sie werden nur Unsicherheiten für die Unternehmen mit sich bringen, die ab 1. Januar des kommenden Jahres Klarheit darüber erwarten dürfen, wie viele Zertifikate ihnen zur Verfügung stehen.
Ein Highlight des Emissionshandels ist die Veräußerung von fast 10 Prozent der Zertifikate, zunächst im Wege des Verkaufs, dann im Wege der Versteigerung. Mit dieser Maßnahme, die in langen und umfänglichen Diskussionen letztlich durch die Arbeit im Parlament zustande gekommen ist, setzen wir uns an die europäische Spitze. Damit überrunden wir Großbritannien, wo 7 Prozent der Emissionsrechte öffentlich versteigert werden, und geben ein starkes Signal für eine umfassende europäische Versteigerung nach 2012.
Es ist richtig, dass die Einnahmen im Hause des Bundesumweltministers veranschlagt und für Klimaschutzmaßnahmen vorgesehen werden. Die Reaktionen der Energiewirtschaft dazu sind unterirdisch. Wer jetzt einen höheren Strompreis ankündigt, der versucht, die Menschen zu ?vereimern“, wie wir im Ruhrgebiet sagen würden.
Tatsache ist, dass aufgrund der Situation mangelnden Wettbewerbs die Kundinnen und Kunden schon jetzt die Zeche für die den Stromkonzernen kostenlos zugeteilten Zertifikate gezahlt haben. Falls die Preise trotzdem erhöht werden, kann man in einem solchen Fall von Volksverdummung - das lässt sich nicht anders bezeichnen - nur auffordern, den Stromversorger zu wechseln, und zwar am besten zu einem Ökostromanbieter.
Abschließend habe ich noch eine Bitte an den Koalitionspartner. Das kann ich Ihnen leider nicht ersparen. Klären Sie mit Ihrer Bundeskanzlerin
- sie ist gerade auf Reisen - Ihre gemeinsame Haltung zum Klimaschutz. Ich will nicht verhehlen, dass wir in der SPD-Fraktion um den richtigen Weg zu einer ausgewogenen Haltung gegenüber Klimaschutz und Wettbewerbsfähigkeit ringen. Was Sie angeht, habe ich allerdings den Eindruck, dass das nicht geklärt ist und dass Sie es auch nicht klären wollen. Es gibt nämlich einen eklatanten Widerspruch zwischen den großen Worten der Bundeskanzlerin und der Glos’schen Union, die bei jeder Art von Klimaschutz auf der Bremse steht und jedem Lobbyinteresse nachgeben will.
Ich will uns die Einzelheiten aus unseren Gesprächen ersparen - das gehört auch nicht hierher - und nur noch einen Punkt ansprechen: Der Gesetzentwurf trägt vor allem die Handschrift der SPD, und das ist auch gut so.
Bitte klären Sie das, weil es in den nächsten Monaten weitere wichtige Gesetzentwürfe zum Klimaschutz geben wird.
Die Opposition fordere ich auf: Üben Sie Kritik, aber tun Sie das bitte differenziert, wie es dem Gesetzentwurf gerecht wird! In den wesentlichen Punkten wie dem Cap, der Versteigerung -
Präsident Dr. Norbert Lammert:
Herr Kollege, denken Sie bitte an Ihre Redezeit.
Frank Schwabe (SPD):
- ja - und der Ablehnung eines eigenen Braunkohlebenchmarks gibt es eine große Übereinstimmung. Es wäre schön, wenn Sie das neben Ihrer Kritik entsprechend würdigen würden.
Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit und dafür, dass der Gesetzentwurf durch die namentliche Abstimmung die ihm gebührende Aufmerksamkeit bekommen wird.
Vielen Dank.
Präsident Dr. Norbert Lammert:
Herr Kollege, der Hinweis auf die namentliche Abstimmung ist technisch zutreffend. Wir sollten aber den Eindruck vermeiden, dass sich die Relevanz eines Gesetzes ernsthaft nur daran testen ließe, ob es den krönenden Abschluss einer namentlichen Abstimmung erfährt.
Das Wort erhält nun der Kollegen Michael Kauch für die FDP-Fraktion.
Michael Kauch (FDP):
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Wir Liberale sind der Überzeugung, dass der Emissionshandel das kostengünstigste Klimaschutzinstrument ist, und zwar dann, wenn wir die Rahmenbedingungen richtig setzen.
Was die Emissionsbegrenzung angeht - da hat der Kollege Schwabe recht -, ist ein Fortschritt gegenüber der letzten Handelsperiode festzustellen. Dieser Fortschritt ist aber kein Resultat der Politik des Umweltministers; das hat einzig und allein die Europäische Kommission gegen die Bundesregierung durchgesetzt.
Außerdem gibt es einen schweren Fehler im Detail. Die Experten in der Ausschussanhörung waren sehr einhellig der Meinung, dass die Reserve für Neuanlagen viel zu niedrig ist. Sie reicht nämlich gerade einmal für die zusätzlichen Kohle- und Gaskraftwerke, die Ihr Atomausstieg erforderlich macht. Wirtschaftswachstum ist schlichtweg nicht vorgesehen. Wenn Sie verantwortliche Politik machen wollen, dann müssen Sie entweder die Reserve erhöhen oder - besser noch - die Laufzeiten der Kernkraftwerke verlängern. Dann haben Sie mehr Spielraum für Emissionsminderungen.
Kommen wir zum Streit um die Kohle. Da sage ich zunächst ganz klar: Wenn man, wie die Grünen bzw. wie Frau Künast es letztens gefordert hat, parallel zum Atomausstieg auch noch aus der Kohle aussteigen würde, hätte das die Konsequenz, dass wir noch abhängiger vom russischen Erdgas würden. Das können Sie wollen - wir wollen das nicht.
Wir meinen, wir brauchen auf mittlere Sicht auch noch Kohlekraftwerke in Deutschland.
Eines ist auch klar: Die Kohle wird nur dann eine Zukunft in Deutschland haben, wenn wir auf Kohlekraftwerke umsteigen, die CO2 abscheiden und einlagern, statt es in die Luft abzugeben. Diese Kraftwerke werden niemals eine Chance haben, wenn wir die Kohlekraftwerke mit alter Technologie auch nach 2012 weiter mit Emissionsrechten nach Bedarf ausstatten. Das muss sich in der nächsten Handelsperiode ändern.
Wir dürfen den fossilen Kraftwerkspark nicht auf Dauer festschreiben. Wir dürfen aber auch keine kurzfristigen Verwerfungen verursachen. Deshalb wäre ein einheitlicher Benchmark für Gas- und Kohlekraftwerke zum jetzigen Zeitpunkt das falsche Signal, weil es die Versorgungssicherheit riskieren würde.
Die Versorgungssicherheit ist aber kein Argument dafür, die Braunkohle dauerhaft gegenüber der Steinkohle zu bevorzugen. Das kann man mit der Versorgungssicherheit nicht begründen.
Die Kohle bekommt schon doppelt so viele Zertifikate wie Gaskraftwerke und die Braunkohle durch die Hintertür noch einen Zuschlag. Das ist schon zu viel, nicht zu wenig; denn je mehr Emissionsrechte wir den Braunkohlekraftwerken schenken, desto mehr müssen wir bei anderen Anlagen einsparen, weil sich das Volumen nicht erhöht. Da muss ich ganz klar sagen: Wir können nicht die Energieversorger, die mit dem Emissionshandel der letzten Periode Milliardengewinne erzielt haben, besserstellen zulasten von Industrieunternehmen, die im internationalen Wettbewerb stehen.
Als jemand, der aus Nordrhein-Westfalen kommt, sage ich: Auch regionalpolitisch dürfen wir nicht blauäugig sein. Was ich dem Braunkohlekraftwerk der RWE im Rheinland zusätzlich schenke, muss ich dem Steinkohlekraftwerk der Eon in Gelsenkirchen oder dem Chemiepark in Marl wegnehmen. Ich würde mir wünschen, dass auch das in der Diskussion eine Rolle spielt.
Auch sonst sollten wir den Stromkonzernen nicht auf den Leim gehen. Eine Zuteilung von 10 Prozent unter Bedarf wird nicht dazu führen, dass man die Investitionen, die man in den Braunkohleregionen getätigt hat, jetzt einfach in die Tonne kloppt. Da wird natürlich weiter produziert.
Deshalb ist nicht Angst, sondern Innovation das Gebot der Stunde.
Der Emissionshandel braucht mehr Markt. Er braucht - das habe ich gerade in den letzten Tagen erfahren - weniger Lobbyismus. Es gibt einen Kampf der Lobbyisten um die Emissionsrechte; jedes Unternehmen, jede Branche zerrt an der Politik, um möglichst viel vom Kuchen geschenkt zu bekommen.
Dann geschieht nur eines: Die vier Stromkonzerne machen sich zulasten der Verbraucher die Taschen voll. Deshalb müssen wir zu einer Versteigerung der Emissionsrechte kommen.
Wir begrüßen, dass die Bundesregierung nach monatelangem Widerstand hier endlich der Forderung der FDP gefolgt ist. Was wir aber gar nicht begrüßen, ist die Verwendung der Versteigerungserlöse. Der Bundesumweltminister, der monatelang im Plenum das Blaue vom Himmel versprochen und uns erzählt hat, was alles Schlimmes passiere, wenn die Versteigerung komme, sackt nun die Versteigerungserlöse ein. Klar ist nur, dass er sie bekommt. Aber was damit gemacht wird, hat die Koalition nicht entschieden. Der Verteilungskampf beginnt bei den Haushaltsberatungen erneut.
Ich möchte Sie darauf hinweisen, dass wir heute Mittag auf Initiative der Entwicklungspolitiker eine Debatte über den Klimaschutz in den Entwicklungsländern führen. Sie haben festgelegt, dass der Bundesumweltminister das Geld bekommt. Aber der Antrag der Koalition zum Klimaschutz in den Entwicklungsländern enthält die Forderung, dass die Mittel aus dem Versteigerungserlös auch in den Entwicklungsländern investiert werden sollen. Was denn nun? Wer soll das Geld erhalten: der Umweltminister oder Frau Wieczorek-Zeul? Sie wissen nicht, was Sie wollen. Die rechte Hand weiß nicht, was die linke Hand tut. Das ist typisch für die Koalition in diesen Tagen.
Die FDP setzt dieser Basarpolitik eine klare Forderung entgegen. Geben Sie das Geld aus dem Versteigerungserlös denjenigen zurück, denen es gehört: den Verbraucherinnen und Verbrauchern in diesem Lande, die den Emissionshandel mit der Einpreisung der verschenkten Zertifikate in der Vergangenheit bereits bezahlt haben! Denn mit dem Erlös könnte die Stromsteuer gesenkt werden, und damit könnten auch die Strompreise sinken, nicht steigen. Das Geld gehört nicht dem Finanzminister und erst recht nicht dem Umweltminister, sondern den Bürgerinnen und Bürgern dieses Landes.
Vielen Dank.
Präsident Dr. Norbert Lammert:
Das Wort erhält nun die Kollegin Katherina Reiche, CDU/CSU-Fraktion.
Katherina Reiche (Potsdam) (CDU/CSU):
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir beraten heute mit dem Entwurf eines Zuteilungsgesetzes das zentrale klimapolitische Vorhaben der Bundesregierung. Schauen wir einmal zurück, was wir vorgefunden haben. Was hat Rot-Grün damals beschlossen? Es wurden - dafür ist Herr Trittin verantwortlich - zu viele Emissionszertifikate ausgegeben. Das heißt, die Unternehmen haben in der ersten Handelsperiode sehr viel mehr Zertifikate erhalten, als sie benötigen. Die Konsequenzen sind heute an der Börse sichtbar: Emissionszertifikate haben derzeit einen Wert von rund 10 Cent. Der Handel ist faktisch tot.
Sie haben die Zuteilungsregeln bürokratisch, kompliziert und unübersichtlich gestaltet. Sie haben 58 verschiedene Regelkombinationen geschaffen. Eine Vielzahl von Ausnahmeregelungen verhinderte Modernisierungsanreize. Die Regelung, wonach schon damals 5 Prozent der Zertifikate hätten versteigert werden können, ließen Sie ungenutzt. Nun wollen Sie es besser wissen. Das halte ich für scheinheilig. Ich glaube, dass Sie dieser Regierung und der Bundeskanzlerin den Erfolg beim Klimaschutz nicht gönnen. In zwei Jahren dieser Koalition ist beim Klimaschutz mehr passiert als in sieben Jahren Rot-Grün.
Als Fazit kann man festhalten, dass der grüne Emissionshandel nicht funktioniert hat. Stattdessen hat er dazu geführt, dass die Stromversorger die Strompreise durch die Einpreisung der kostenlos zugeteilten Emissionszertifikate in die Höhe getrieben haben und sogenannte Windfall-Profits erzielt wurden. Die Stromverbraucher wurden in Milliardenhöhe zur Kasse gebeten. Wir haben uns vorgenommen, hier Änderungen vorzunehmen. Deshalb haben wir das System vereinfacht. Wir haben Ausnahmeregelungen gestrichen und die Transparenz des Systems erhöht. Wir haben zudem die Gesamtmenge, die zur Verfügung steht, um 57 Millionen Tonnen pro Jahr deutlich reduziert und kommen damit dem Kiotoziel ein ganzes Stück näher. Außerdem sorgt Michael Glos mit der GWB-Novelle für mehr Wettbewerb auf dem Strommarkt. Auch das ist ein Fortschritt für unser Land.
Darüber hinaus haben wir Wort gehalten, indem wir der im Koalitionsvertrag enthaltenen Verpflichtung nachgekommen sind, Windfall-Profits bei den Stromerzeugern zumindest teilweise zu verhindern.
Deshalb haben wir in den Verhandlungen festgelegt, dass ab 2008 pro Jahr 40 Millionen Tonnen des Emissionsbudgets zunächst zum Marktwert an der Börse verkauft und dass spätestens ab 2010 die Zertifikate versteigert werden. Auch das ist ein wichtiger Schritt, um die Effizienz des Systems zu verbessern.
Die Emissionszertifikate für die Veräußerung werden ausschließlich von den Stromerzeugern erbracht. Die Industrie ist hiervon ausgenommen. Auch das hat einen Grund: Die Stromerzeuger können den Wert der Zertifikate recht einfach abwälzen. Aber eine Glasfabrik für Spezialglas kann nicht einfach die Preise für ihre Produkte erhöhen. Diesem Umstand haben wir Rechnung getragen. Einige Stromversorger haben bereits angekündigt, als Folge der Veräußerung die Strompreise zu erhöhen. Ich halte das für eine etwas unglückliche Politik.
Ich möchte festhalten, dass der überwiegende Teil der Zertifikate nach wie vor kostenlos zugeteilt wird. Nur der geringere Teil muss ersteigert werden. Ich glaube, dass das eine richtige Entscheidung war.
Inzwischen überschlagen sich die Vorschläge, wie diese Mittel verwendet werden sollen. Herr Bundesminister, Sie haben vorgeschlagen, diese Mittel für Klimaschutzmaßnahmen zu verwenden. Ich persönlich habe durchaus Sympathie für diesen Vorschlag. Allerdings hätte ich mir schon gewünscht, dass Sie deutlich gemacht hätten, dass es die Parlamentarier der Koalitionsfraktionen waren, die diese Entscheidung zur Veräußerung getroffen haben. Es ist noch gar nicht so lange her - ich kann mich gut daran erinnern -, dass Sie Ihre Sympathie für den jetzt gefundenen Kompromiss zumindest nicht besonders deutlich haben erkennen lassen. Ich freue mich, dass Sie Ihre Meinung geändert haben. Allerdings hätte ich es als fair empfunden, wenn Sie erwähnt hätten, wer Sie dazu gebracht hat.
Herr Kauch, im Gesetz ist nicht festgeschrieben, dass der Bundesumweltminister das Geld erhält und darüber verfügen kann. Im Gesetz steht ganz klar, dass während der Haushaltsverhandlungen über die Verteilung des Geldes gesprochen wird. Wir haben uns eindeutig gegen Vorfestlegungen ausgesprochen, und wir werden an der Verordnung mitwirken, in der festgelegt wird, wie der Emissionshandel im Detail gestaltet wird. Dieses wichtige Recht des Parlamentes haben wir hier gewahrt.
Uns ist es gelungen, ein Mittelstandspaket zu verabschieden, von dem ich nur einige Punkte nennen möchte. Wir haben die spezifische Härtefallregelung für mittelständische Unternehmen verbessert. Die Schwelle ist von 5 Millionen auf 8 Millionen Tonnen angehoben worden. Dies hilft insbesondere der Zement-, Kalk- und Glasindustrie. Die unterstellten Betriebsstunden bei der Glasindustrie sind erhöht worden, ebenso die für Anlagen zur Herstellung von Propylen und Ethylen. Auch bei Kraft-Wärme-Kopplungsanlagen zur Herstellung von Bioethanol werden die Betriebsstunden erhöht. Die Unternehmen erhalten somit mehr Zertifikate. Durch diese Maßnahmen haben wir den Mittelstand bessergestellt. Ich finde, das ist ein Erfolg.
Darüber hinaus haben wir die Anrechenbarkeit von Emissionsminderungen im Ausland im Rahmen von CDM und JI von 20 auf 22 Prozent erhöht. Was heißt das ganz konkret? Baut beispielsweise ein Unternehmen einen Windpark in Brasilien, kann es sich die erzielten Emissionsminderungen hier anrechnen lassen. Das ist eine klassische Win-win-Situation: für das Unternehmen und auch für die Entwicklungs- und Schwellenländer.
Ich möchte zum Abschluss noch ein paar Worte zum Thema Braunkohle verlieren. Herr Schwabe, es wäre fair gewesen, wenn Sie gesagt hätten, dass es auch in Ihrer Fraktion unterschiedliche Auffassungen zu diesem Thema gibt. Wir von der Unionsfraktion sind der Meinung, dass die Braunkohle als heimischer und unsubventionierter Energieträger einen ganz wichtigen Beitrag zur Versorgungssicherheit in unserem Land leistet. Wir meinen, dass Versorgungssicherheit und Klimaschutz zusammengehören und nicht getrennt voneinander betrachtet werden können.
Nun ist es so, dass sich unsere Auffassung im Gesetz nicht wiederfindet. Deshalb haben einige Abgeordnete aus Nordrhein-Westfalen und auch aus den neuen Ländern ihre Bedenken hinsichtlich dieses Kompromisses angemeldet. Ich finde das in Ordnung.
Peinlich finde ich allerdings, was die Grünen jetzt abziehen. Denn sie haben in der ersten Handelsperiode mit der Übertragungsregel von 14 plus vier Jahren eine Regelung geschaffen, die die Neuinvestitionen in Braunkohlekraftwerke massiv bevorzugt hat. Den Kollegen aus den Braunkohleländern geht es jetzt nicht um eine Bevorzugung, sondern um die Gleichbehandlung der Braunkohle und um faire Wettbewerbsbedingungen. Das zu erwähnen, gehört auch zur Ehrlichkeit in der Diskussion.
Auch die FDP-Bundestagsfraktion verhält sich an der Stelle nicht besser, Herr Kauch. Denn während sich die CDU/FDP-Regierung in Nordrhein-Westfalen ganz klar für Verbesserungen bei der Braunkohle einsetzt, haben Sie in einer dpa-Meldung erklärt, dass Braunkohlekraftwerke bevorteilt seien. Ich bin gespannt, wie Sie das Ihren nordrhein-westfälischen Kollegen erklären wollen.
Es ist uns gelungen, beim Zuteilungsgesetz viele Verbesserungen zu erreichen und einen tragbaren Kompromiss zu finden. In der nächsten Handelsperiode wird im Vergleich zur ersten der Emissionshandel einfacher, unbürokratischer, transparenter und effizienter werden. Wir werden deshalb dem Gesetzentwurf zustimmen.
Präsident Dr. Norbert Lammert:
Die Kollegin Eva Bulling-Schröter ist die nächste Rednerin für die Fraktion Die Linke.
Eva Bulling-Schröter (DIE LINKE):
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Sehr geehrter Herr Minister! Heute stimmen wir über das zentrale Klimaschutzinstrument Deutschlands ab. Wir entscheiden, wie der Emissionshandel bis zum Jahr 2012 ausgestaltet werden soll. Nun meinen viele, nach der Intervention der EU-Kommission habe sich das Zuteilungsgesetz entscheidend verbessert. Nach der völlig verbockten ersten Handelsperiode werde das Handelssystem nun endlich den Klimaschutz vorantreiben, weil die Menge an Emissionsrechten deutlich abgesenkt wird. Andere wiederum sind der Auffassung, der Emissionshandel stecke nach wie vor in einer Sackgasse. Die gewünschten Lenkungswirkungen seien Illusion.
Vielleicht sollten wir uns hier die Frage vorlegen, was ein solches Handelssystem eigentlich leisten kann. In der Idealwelt soll das System zweierlei garantieren, zum einen die Einhaltung eines festgesetzten Klimaziels, weil es feste Emissionsobergrenzen hat, zum anderen effizienten Klimaschutz, weil über den Markt preiswerte Möglichkeiten zur CO2-Einsparung gesucht werden. Schöne heile Welt. Doch die Weisheiten der Volkswirte haben Tücken. Zunächst einmal hat der Emissionshandel kurzfristige und langfristige Wirkungen; kurzfristig, weil das vorliegende Gesetz den CO2-Ausstoß tatsächlich innerhalb der nächsten Handelsperiode mindern könnte. Die Reduktion um 453 Millionen Tonnen liegt auf dem Pfad des deutschen Kiotoziels. Natürlich gibt es auch Schlupflöcher. Dazu komme ich später.
Prinzipiell kann die abgesenkte Obergrenze dazu beitragen, Einspar- und Modernisierungspotenziale im Kraftwerksbestand zu heben. Zum Beispiel könnten die Versorger ihre Gaskraftwerke zulasten der Kohlekraftwerke öfter hochfahren als bislang. Aber werden sie deshalb auch beim Ersatz von Kraftwerken, also beim Bau von neuen Anlagen, auf Gasturbinen oder anderes setzen oder doch eher auf CO2-Schleudern, also auf neue Kohlemeiler? Wir denken - das ist der eigentliche Skandal -, beim Kraftwerksneubau sind alle Weichen in Richtung klimaschädlicher Kohle gestellt. In Bayern investieren sogar Stadtwerke in Kohlekraftwerke. Ich würde mir etwas anderes wünschen. Man sieht, dass hier Profite zu machen sind.
Vielleicht haben noch nicht alle, die das Zuteilungsgesetz heute feiern, begriffen: Bei langfristigen Investitionsberechnungen spielt es für die Entscheidung, welches Kraftwerk gebaut wird, eine zentrale Rolle, ob ich als Investor die Zertifikate künftig geschenkt bekomme oder ob ich sie ersteigern muss. Genau hier hat die Bundesregierung falsche Zeichen gesetzt. Sie hat erneut das CO2-Preissignal ausgeschaltet, indem 91 Prozent der wertvollen Zertifikate umsonst vergeben werden.
Zwar ist die weitgehend kostenlose Vergabe durch die Emissionshandelsrichtlinie von der EU vorgeschrieben - das gestehe ich Ihnen doch zu -, aber was haben Sie denn im Vorfeld in der EU gemacht? Sie haben doch mit dafür gesorgt, dass sie nicht versteigert werden.
Dass die wertvollen Emissionsrechte verschenkt werden, wirkt doppelt verheerend. Weil die Versorger den Marktpreis der Zertifikate auf den Strompreis umschlagen - das haben bis jetzt alle Parteien bestätigt -, realisieren sie diese Sonderprofite. Im Tagesgeschäft werden so insbesondere die Kriegskassen der großen Stromkonzerne zulasten des Bundeshaushalts und der Verbraucherinnen und Verbraucher gefüllt. Im Rahmen von Neuinvestitionen sorgen diese Subventionen dafür, dass die Lenkungswirkung des Emissionshandels weitgehend verpufft, wenn es darum geht, zu entscheiden, ob emissionsarme Gas- oder CO2-intensive Kohlekraftwerke gebaut werden. So ist es.
Es ist etwas bizarr: Die EU-Kommission hat dafür gesorgt, dass der deutsche Zuteilungsplan deutlich verbessert wurde, etwa durch ein deutlich niedrigeres Cap und durch das Verbot, neue Kraftwerke 14 Jahre lang von allen Minderungspflichten zu befreien. Gleichzeitig vollzieht die europäische Politik mit der vorgeschriebenen kostenlosen Vergabe von Zertifikaten beim Emissionshandel aber exakt das Gegenteil von dem, was sie angeblich bezwecken will. Statt einen Umbau des Kraftwerksparks zu befördern, der auf emissionsärmere Brennstoffe setzt, werden bestehende Strukturen zementiert und sogar für die Zukunft festgeschrieben. Statt die Macht der großen Energieversorger zurückzudrängen, werden Lobbyinteressen bedient und die Bürgerinnen und Bürger abgezockt.
Jetzt kommt die differenzierte Kritik, die Sie sich von mir gewünscht haben, zum Thema Windfall-Profits. Ich erwarte von der Koalition, dass sie hier endlich etwas tut. Ich werde es Ihnen in dieser Legislaturperiode noch öfter sagen: Wir wollen die Profits abschöpfen. Wir brauchen dieses Geld für den Haushalt; das wissen Sie. Wir können uns dann darüber streiten, wohin es fließen soll; das ist eine schöne Diskussion. Aber das Geld muss endlich abgeschöpft werden.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, neben dem zentralen Problem der kostenlosen Zuteilung gibt es noch viele Einzelregelungen, die gegen den Klimaschutz wirken:
Erstens. Der Gesetzentwurf garantiert Neuanlagen weiterhin nahezu eine Vollausstattung mit Zertifikaten.
Zweitens. Unterschiedliche Zuteilungsmaßstäbe für Kohle und Gas anstelle eines einheitlichen Standards machen den Brennstoffwechsel unattraktiv.
Drittens. Das Sahnehäubchen für die Braunkohle durch die zugrunde gelegten längeren Betriebszeiten schützt ausgerechnet den klimaschädlichsten Brennstoff.
Viertens ist schließlich die Neuanlagenreserve nur halb so hoch, wie sie sein müsste. Deutschland wird gezwungen sein, schon jetzt auf zukünftige Emissionsrechte zurückzugreifen. Das berührt das Thema Generationengerechtigkeit. Auch das müssen wir in diesem Zusammenhang diskutieren.
Insgesamt bewirkt die Bundesregierung mit diesen Regelungen zum Emissionshandel nicht mehr, als wenn es überhaupt keinen Emissionshandel gäbe. Das war auch Tenor der Anhörung im Umweltausschuss; bitte erinnern Sie sich noch einmal. Nun werden Sie vielleicht einwenden, es gebe ja noch die feste Obergrenze von 453 Millionen Tonnen. Etwaige Fehler im System würden durch diesen Deckel aufgefangen. Das Cap zwinge die Firmen letztlich zur CO2-Einsparung; das sei das Elegante am Emissionshandel. Dazu kann ich nur sagen: Schön wär’s. Der Deckel hat nämlich ein Ventil bzw. ein Loch so groß wie ein Scheunentor. Die Hintertür nennt sich ?flexible Mechanismen“.
Nunmehr 22 Prozent der Zuteilungsmenge - das wurde schon gelobt - sollen in Deutschland über die Instrumente CDM oder JI, also über preiswerte Klimaschutzinvestitionen im Ausland abgerechnet werden können. 22 Prozent entsprechen 90 Millionen Tonnen. Während der Handelsperiode kann also ein ganzes Jahresbudget an Emissionsrechten von außen kommen. Das entspricht ungefähr dem Dreifachen der eigentlichen Einsparverpflichtung. Die Unternehmen können in Deutschland also ihren Ausstoß an Treibhausgasen sogar deutlich ausweiten, wenn sie dafür Emissionsgutschriften aus Projekten im Süden beibringen. Das alles wäre zumindest aus Sicht des Klimaschutzes dann kein Problem, wenn alle CDM-Projekte in Asien und Südamerika tatsächlich zu weiterem Klimaschutz gegenüber dem Status quo beitragen würden. Aber dem ist offensichtlich nicht so, wie Studien beweisen: Untersuchungen des bedeutenden und renommierten CDM-Gutachters Michaelowa besagen, dass bei jedem zweiten bei der UN registrierten CDM-Projekt in Indien nicht nachgewiesen werden kann, dass Treibhausgase zusätzlich reduziert werden.
Auch in China gibt es Unregelmäßigkeiten, insbesondere in Form von manipulierten CDM-Bilanzen bei Wasserkraftwerken.
Michaelowa ist einer der härtesten Verteidiger dieser projektbezogenen Mechanismen. Er ist kein Linker, sondern ein Marktwirtschaftler aus Fleisch und Blut, Herr Schwabe. Er ist zugleich einer der intelligentesten Befürworter. Deshalb schaut er so genau hin und nicht weg. Kommen nämlich solche CDM-Zertifikate nach Europa, wird die ökologische Integration des gesamten Emissionshandelssystems untergraben. Die Konsequenz wäre das Ende dieses Instruments. Das wollen Sie doch alle nicht; schließlich sind Sie sehr für dieses Instrument.
Deutschland erhöht nun also den Nachfragedruck auf Zertifikate aus CDM-Projekten enorm. Man muss kein Prophet oder keine Prophetin sein, um zu erahnen, dass der Missbrauch des CDM dadurch noch zunehmen wird. Unter dem Strich werden dann global mehr Klimagase ausgestoßen; das wollen wir nicht.
Der Kohlenstoffhandel in allen seinen Facetten ist höchst kompliziert; er ist ein kaum zu überblickender Moloch. Analysiert man ihn sorgfältig und Schritt für Schritt, kommt eine Menge Unfassbares zutage. In seiner gegenwärtigen Ausgestaltung läuft er dem Klimaschutz genauso wie der Gerechtigkeit zuwider. Vielleicht wäre er reformierbar. Dafür müsste man aber die Zertifikate zu 100 Prozent versteigern, Windfall-Profits besteuern, -
Präsident Dr. Norbert Lammert:
Frau Kollegin!
Eva Bulling-Schröter (DIE LINKE):
- ich komme gleich zum Ende -
Präsident Dr. Norbert Lammert:
Nein, sofort!
Eva Bulling-Schröter (DIE LINKE):
- die Einnahmen des Staates aus dem Emissionshandel für die soziale Abfederung der Energiewende verwenden sowie die Anrechnung von CDM-Gutschriften deutlich beschränken. Dazu haben wir einen entsprechenden Entschließungsantrag eingebracht.
Im Übrigen werden wir den Gesetzentwurf ablehnen.
Danke.
Präsident Dr. Norbert Lammert:
Ich erteile das Wort nun dem Kollegen Reinhard Loske, Bündnis 90/Die Grünen.
Dr. Reinhard Loske (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Es könnte sein, dass das heute meine letzte Rede als Abgeordneter im Deutschen Bundestag ist. Ich möchte meine Rede, was Ton und Inhalt angeht, deshalb aufteilen: In der ersten Hälfte meiner Redezeit möchte ich eine Oppositionsrede halten und in der zweiten Hälfte möchte ich den Blick in die Vergangenheit richten.
Zunächst aber drei Vorbemerkungen:
Erstens. Mir ist Folgendes aufgefallen: Wenn hier ein Sozialdemokrat redet, klatscht kein Christdemokrat bzw. Christsozialer. Wenn hier ein Christdemokrat oder Christsozialer redet, klatscht kein Sozialdemokrat.
Der Grad der Zerrüttung in Ihrer Koalition ist wirklich phänomenal. Das merkt man auch bei der Beratung dieses Gesetzes.
Zweitens. Geschätzter Herr Kollege Schwabe, Sie haben gesagt, die Opposition dürfe kritisieren - danke schön! -, aber sie müsse differenziert kritisieren. Gleichzeitig haben Sie darauf hingewiesen, dies sei ein im Wesentlichen sozialdemokratisches Gesetz. Bevor ich differenzierte Kritik übe, möchte ich darauf hinweisen, dass man daran, wie freundlich Sie mit der Kohle umspringen, in der Tat merkt, dass dies ein sozialdemokratisches Gesetz ist.
Drittens. Frau Kollegin Reiche, ich bin seit 1998 Abgeordneter des Bundestages. Ich weiß noch, wie Ihre Truppen seinerzeit bei den Beratungen zum Emissionshandel, zur Ökosteuer, zum Erneuerbare-Energien-Gesetz, zum Kraft-Wärme-Kopplungsgesetz gezetert und den Niedergang der deutschen Industrie an die Wand gemalt haben. Heute treten Sie hier als Ökologin par excellence auf. Das glaubt Ihnen doch kein Mensch. Das muss man doch wirklich einmal sagen, auch wenn man den Blick nicht zu oft zurückrichten sollte.
Jetzt möchte ich aber zur Sache kommen. Dieses Gesetz hat mit dem, was die Bundesregierung vor ungefähr einem Jahr vorgelegt hat, kaum noch etwas zu tun, und das ist wirklich auch gut so. Das, was jetzt vorgelegt wird, ist deutlich besser; aber es ist noch weit davon entfernt, wirklich gut zu sein.
Dieses Gesetz ist erstens besser, weil die EU-Kommission standhaft geblieben ist und weil sie nicht bereit war, einen als Klimaschutzplan getarnten Plan zum Ausbau von Kohlekraftwerken zu akzeptieren. Da kann man nur sagen: Danke schön, EU-Kommission, für diese Beharrlichkeit.
Das war keineswegs selbstverständlich.
Zweitens ist dieses Gesetz besser geworden, weil die Opposition Druck ausgeübt hat und gute konstruktive Vorschläge gemacht hat.
Drittens ist dieses Gesetz besser geworden, weil sich die öffentliche Meinung in dieser Angelegenheit zugunsten des Klimaschutzes gedreht hat, nachdem die großen Monopolisten bei der Einpreisung schlicht und einfach überzogen haben. So steht die Öffentlichkeit nun mehrheitlich aufseiten derjenigen, die wirklich einen ambitionierten Klimaschutz wollen. Die Regierung musste aber trotzdem zum Jagen getragen werden. Das ist kein Ruhmesblatt. Sie hat sich nämlich sehr lange gegen diese Einsichten gesperrt.
Ich erinnere noch einmal daran, dass der SPD-Vorsitzende Kurt Beck und der Wirtschaftsminister der Union, Herr Glos, ernsthaft erwogen haben, wegen ebendieser Beharrlichkeit der EU-Kommission in Sachen Klimaschutz vor den Europäischen Gerichtshof zu ziehen. Das wäre sehr peinlich geworden und hätte eine europapolitische Isolierung nach sich gezogen. Gott sei Dank ist es so nicht gekommen. Aber gut war das nicht.
Zur Sache gehört auch, dass wir drei Kritikpunkte immer deutlich hervorgehoben haben: Die Ziele sind zu lasch, die Regelungen sind zu kohlefreundlich, und es ist falsch, die Möglichkeit zur Versteigerung von 10 Prozent der Zertifikate nicht zu nutzen. Wie ist der Gesetzentwurf im Hinblick auf diese drei Punkte zu beurteilen?
Erstens. ?Die Ziele sind zu lasch“, haben wir gesagt. Der Auffassung war auch die Kommission. Das ist abgeräumt worden. Das ist gut. Daran gibt es kein Jota Kritik zu üben.
Der zweite Punkt: Sind die Regelungen nach wie vor zu kohlefreundlich? Ich würde sagen: Ja, sie sind eindeutig zu kohlefreundlich. Zu diesem Punkt komme ich gleich noch einmal gesondert.
Der dritte Punkt, die bisherige Nichtnutzung der Versteigerungsmöglichkeit. Sie sehen das jetzt vor. Sie nutzen die Möglichkeit, 10 Prozent der Zertifikate zu versteigern. Das ist ein passabler Vorschlag. Wie viele andere Kollegen erinnere ich mich noch daran, wie der Herr Minister damals gegen unseren Vorschlag argumentiert hat. Er hat seine Meinung jetzt geändert. Das ist gut. Vor allen Dingen ist es gut, weil die Monopolrenditen, die sogenannten Windfall-Profits, jetzt nicht mehr in vollem Umfang anfallen; sie werden abgeschöpft.
Außerdem ist es gut, dass wir auf der Lernkurve weiter nach oben kommen, dass wir lernen, mit diesem Instrument besser umzugehen. Wir brauchen das Geld aus der Versteigerung auch für Maßnahmen zur Verbesserung der Energieeffizienz, damit wir bei der vergessenen Säule der Energiepolitik, nämlich der Einsparung auf der ganzen Breite, endlich vorankommen.
Unser Ziel ist ganz klar: Wir wollen, dass ab 2013 100 Prozent der Zertifikate versteigert werden, und zwar nicht nur deshalb, weil das ökologisch besser ist - die Preise bilden dann die ökologische Wahrheit ab -, sondern auch deshalb, weil die derzeitige Zuteilungspraxis dem Lobbyismus Tür und Tor öffnet. Das kam schon zur Sprache. Auch das letzte Gesetz war zwar nicht ganz rund ausformuliert, aber es musste ja überhaupt erst einmal losgehen. Große Teile in der Union wollten das ja gar nicht. Das Hauptproblem war jedoch dieses Einfallstor für Lobbyismus: Da brauchte dieses Stahlwerk noch etwas, da brauchte jenes Kraftwerk noch etwas. - Wenn wir wirklich auf 100 Prozent Versteigerung umstellen, wird dem Lobbyismus die Tür verschlossen. Das ist genau das, was wir brauchen. Deswegen sagen wir: 100 Prozent Versteigerung.
Jetzt komme ich zu der Frage: Sind die Regelungen für die Kohlekraftwerke zu kohlefreundlich? Ja, sie sind eindeutig zu kohlefreundlich. Es gab bis jetzt die Regelung, dass ein neues Kraftwerk 14 Jahre lang von allen Minderungspflichten befreit ist. - Das hat die Kommission zu Recht mit der Begründung kassiert: Über 2012 hinaus dürfen keine Festlegungen getroffen werden.
Was machen Sie jetzt? Sie geben der Kohle - ausgerechnet der Kohle, die besonders klimaschädlich ist - doppelt so viele Emissionsrechte wie dem Erdgas. Das ist klimapolitisch nicht zu verantworten,
zumal Sie obendrein noch versuchen, der Braunkohle über die Betriebsstunden durch die Hintertür ein Extraprivileg zu verschaffen.
Wenn man es zusammenfassen wollte, könnte man sagen: Es gibt in diesem Gesetz keinerlei Anreiz zum Brennstoffwechsel, also weg von kohlenstoffintensiven hin zu kohlenarmen Brennstoffen. Sie knipsen bis 2012 das Preissignal für CO2 bei Kraftwerksneubauten faktisch aus. Das ist falsch.
Zu den Kohlekraftwerken ganz generell - das ist ja ein Thema, das uns alle miteinander noch lange beschäftigen wird -: Herr Minister, Sie sagen immer, nicht alle 44 Projekte, die in der Liste der Bundesnetzagentur stehen, würden realisiert; es seien maximal acht oder so geplant. Wir haben uns das einmal genau angeschaut. Im Moment wird tatsächlich überall geplant. Standortplanungen landauf, landab; Widerstand landauf, landab. Natürlich ist es besser, wenn ein Kohlekraftwerk beispielsweise statt heute etwa 38 Prozent in Zukunft 44 Prozent Wirkungsgrad hat, aber das Problem ist, dass diese Kohlekraftwerke dann 40, 45 Jahre laufen,
damit die Energieversorgungsstrukturen bis 2050 zementieren und es den erneuerbaren Energien schwer machen. Deshalb unsere starke Kritik an der Kohle.
Es fehlt mir jetzt die Zeit, im Detail auf CCS, die Kohlenstoffabscheidung, einzugehen. Aber zu dem, was Sie gesagt haben, Herr Kauch, will ich klarstellen: Ich bin überhaupt nicht gegen diese Technologie, aber wir können doch nicht bei unserer gesamten Planung für die nächsten 10 bis 15 Jahre - gerade jetzt, wo das Fenster der Möglichkeiten offen ist - darauf setzen, dass irgendwann diese Kohlenstoffabscheidetechnologie kommen wird. Die Technologie ist im Moment nicht da. Das ist unser Problem. Es gibt im Moment keine CO2-freien Kohlekraftwerke. Deswegen sehen wir mit äußerster Skepsis, dass dieses Fenster der Möglichkeiten jetzt mit Kohlekraftwerken vollgestellt werden soll, die vielleicht irgendwann einmal in einer fernen Zukunft nachgerüstet werden. Das passt nicht zusammen. Wir dürfen uns diese Karotte nicht vorhalten lassen, sondern wir müssen auf der Grundlage dessen, was wir heute haben, entscheiden.
Es ist wichtig, noch einmal auf Folgendes hinzuweisen: Wir stehen energiepolitisch jetzt an einer Wegscheide. Es geht nicht um die Frage, ob wir in Energieerzeugung investieren, sondern es geht um die Frage, wie wir in Energieerzeugung investieren. Die Frage lautet: Investieren wir CO2-intensiv oder CO2-arm?
Investieren wir eher zentral oder eher dezentral? Investieren wir eher kapitalintensiv oder eher beschäftigungsintensiv? Konkret gefragt: Wollen wir in Zukunft die Nummer eins bei erneuerbaren Energien oder bei Kohle sein? Wollen wir, dass in Zukunft in großen Kohlekraftwerken mit 1 000 Megawatt Leistung, die mit Importkohle befeuert werden, noch 80 Arbeitsplätze zur Verfügung stehen, oder wollen wir über die ganze Breite - erneuerbare Energien, Energieeinsparung, Kraft-Wärme-Kopplung - Arbeitsplätze in Handwerk, Industrie, Landwirtschaft und im Dienstleistungsbereich schaffen? Das ist die Alternative.
Hier plädieren wir ganz klar für den beschäftigungsintensiven Weg.
Ich muss zum Schluss kommen und möchte noch zwei kurze Anmerkungen machen:
Die Klimapolitik ist endlich im Zentrum angekommen, da, wo sie hingehört. Das ist ganz wichtig. Klimapolitik ist aber mehr als nur ökologische Industriepolitik. Technologisch liegt ein riesiges Feld der Möglichkeiten vor uns: zum Beispiel bessere Häuser, bessere Transportsysteme, bessere Geräte, bessere Anlagen. Hier muss man mit einer gewissen Technikfreude und mit einem gewissen Technikoptimismus herangehen.
Klimaschutzpolitik gibt aber vor allen Dingen eine Antwort auf die Frage der Gerechtigkeit zwischen Nord und Süd, aber auch innerhalb unserer eigenen Gesellschaft, und, auch wenn das nicht ganz so populär ist, bringt mit sich, dass man den eigenen Lebensstil hinterfragt. An der Aufgabe, das rechte Maß zu finden, kommen wir als einzelne und als Gesellschaft nicht vorbei. Ich persönlich glaube, eine Gesellschaft, deren Funktionieren nur auf einem Immer-mehr basiert, kann auf Dauer nicht klimaverträglich sein.
Herr Präsident, ich komme zum Schluss. Wenn es gut bzw. normal läuft, dann werde ich ab nächste Woche Freitag in einer anderen Tätigkeit sein und mein Bundestagsmandat im Sommer abgeben. Ich hatte hier fast neun sehr gute Jahre und habe mich in diesem wunderbaren Gebäude sehr wohl gefühlt. Man hat sich mit den Kollegen gestritten, aber das gehört ja dazu.
Ganz herzlichen Dank an alle für die gute Zusammenarbeit. Es hat mir Spaß gemacht. Wir werden uns sicherlich auf die eine oder andere Weise wieder begegnen; darauf freue ich mich.
Schönen Dank.
Präsident Dr. Norbert Lammert:
Herr Kollege Loske, im Unterschied zu Ihrer Eingangsbemerkung vermute ich, dass das nicht Ihre letzte Rede vor dem Deutschen Bundestag war.
Es war möglicherweise Ihre letzte Rede als Mitglied des Deutschen Bundestages. Für den Fall, dass es so kommt, wie Sie erhoffen und viele vermuten, stelle ich Ihnen schon jetzt meine persönlichen Glückwünsche und die des Hauses für das neue Amt in Aussicht. Für die bislang hier im Hause geleistete Arbeit möchte ich Ihnen ganz herzlich danken; dies tue ich sicherlich auch im Namen aller Mitglieder dieses Hauses. Alles Gute für die weitere Arbeit.
Nächster Redner ist der Kollege Ulrich Kelber für die SPD-Fraktion.
Ulrich Kelber (SPD):
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Lieber Reinhard, auch ich persönlich wünsche dir viel Erfolg und Freude im neuen Amt. Ich werde dich hier in den Debatten vermissen. Wir haben viele Dinge gemeinsam gemacht, aber auch unterschiedliche Positionen vertreten. Zu der unterschiedlichen Position gehört - ich muss ja zum Thema finden -, dass ich glaube, dass der heute vorliegende Gesetzentwurf zum Emissionshandel gut für den Klimaschutz in Deutschland und gut für den Klimaschutz in Europa ist.
Viele andere Mitgliedstaaten schauen im Augenblick darauf, ob Deutschland wirklich die Emissionsberechtigungen auktionieren, ob Deutschland wirklich die Stromkonzerne härter rannehmen wird. Alle Anzeichen weisen darauf hin, dass weitere Staaten in den nächsten Tagen ebenfalls zur Auktion übergehen werden und damit ein klares Signal dafür setzen, dass ab 2013 die Emissionsrechte vollständig versteigert werden.
Mit dem Zuteilungsgesetz für die Zeit bis 2012 wird der Emissionshandel endlich zu einem wirksamen Instrument für den Klimaschutz. Darin sind wir uns einig. Ich erinnere mich, dass das ein bisschen anders bei der Debatte über die erste Emissionshandelsperiode war. Die damalige Opposition, bestehend aus unserem heutigen Koalitionspartner und der FDP, hat da gesagt: Das, was ihr dort hineinschreibt, ist viel zu ambitioniert. Ihr dürft den deutschen Unternehmen nicht so viele Zertifikate wegnehmen. Heute zu sagen, wir täten zu wenig, ohne daran zu erinnern, dass man früher einmal etwas völlig anderes gesagt hat, ist nicht ganz ehrlich. Herr Kauch, ich weiß, dass Sie persönlich anderer Meinung sind; aber Ihre Partei wechselt an dieser Stelle die Meinung wie das Chamäleon die Farbe.
Wir werden in der neuen Emissionshandelsperiode 50 Millionen Tonnen CO2 pro Jahr einsparen. Alte Kohlekraftwerke müssen bereits 50 Prozent und mehr der benötigten Emissionsberechtigungen kaufen. Das wird technologische Verbesserungen und damit mehr Klimaschutz auslösen.
In der Tat hat die Europäische Kommission noch einmal Verbesserungen bei unserem Emissionshandelsplan gefordert. Aber als Hinweis an die Grünen - auch das muss in der Erinnerung bleiben und der Wahrheit halber gesagt werden -: Einer der Punkte, die herausgestrichen wurden, war die Übertragungsregelung. Diese Übertragungsregelung war grüne Politik pur. Jürgen Trittin hat sie vor den Verhandlungen mit der SPD vorgeschlagen. Die Kommission hat sie als klimaschutzwidrig und rechtswidrig abgelehnt. Das hätte an dieser Stelle erwähnt werden müssen.
Es gibt viel weniger Sonderregelungen als in der ersten Emissionshandelsperiode. Damit wird das Instrument schärfer; alle müssen ihren Beitrag leisten.
Was mich amüsiert: Am Montag wird die Auktionierung perfekt gemacht, und schon heute kann man auf Basis der öffentlichen Vorschlägen eine vierfache Überzeichnung der daraus zu erwartenden Einnahmen feststellen. Meiner Meinung nach müssen die Mittel ganz eindeutig für Klimaschutz und Effizienzmaßnahmen in Deutschland ausgegeben werden; denn nur so können wir die Energiepreise in den Griff bekommen und damit für weniger Belastungen bei den Bürgern sorgen. Wir können sie nicht vor steigenden Weltmarktpreisen schützen. Wir können sie auch nur zum Teil vor monopolartigen Steigerungen schützen. Aber wir können dafür sorgen, dass sie durch einen geringeren Verbrauch eine niedrigere Rechnung haben. Dazu können wir mit den Mitteln, die wir aus dieser Auktionierung gewinnen, etwas beitragen.
Wir brauchen auch Mittel für Maßnahmen in Entwicklungs- und Schwellenländern, die zur Anpassung an den bereits begonnenen Klimawandel beitragen. Das erste Anzeichen des Klimawandels ist der Rückgang der Gletscher, der sich auf das Trinkwasser auswirkt. Uns steht eine große Katastrophe bevor, wenn die Gletscher im Himalaya abschmelzen, denn dann werden 40 Prozent der asiatischen Bevölkerung - es handelt sich um Milliarden Menschen - von Trinkwassermangel bedroht sein. Aktuell sind die Gletscher am Mount Kenia schon praktisch verschwunden und die Flüsse ausgetrocknet. Die Katastrophe für die dortige Bevölkerung ist bereits eingetreten. Wir sind verpflichtet, vor Ort zu helfen und Zugang zu sauberen Technologien zu ermöglichen. Auch das können wir mit den jetzt erwarteten Mitteln ein Stück weit leisten. Es ist unsere Verpflichtung als Industrieländer, die diesen Klimawandel ausgelöst haben, den Menschen zu helfen, die bereits heute davon betroffen sind.
Ich möchte an dieser Stelle auch eine klare Warnung an die Stromkonzerne aussprechen: Der Emissionshandel ist kein Grund, die Strompreise weiter zu erhöhen. Die von der Gemeinschaft in der Vergangenheit erhaltenen kostenlosen Zertifikate - also das, was die Gemeinschaft den Stromkonzernen geschenkt hat, um es einmal auf gut Deutsch zu sagen - sind von den Konzernen bereits in die Bilanzen eingerechnet und auf die Strompreise aufgeschlagen worden. Dieses Geld wandert seit drei Jahren aus den Taschen der Stromkunden direkt in die Taschen der Stromkonzerne, die sich damit auf ihren Bilanzpressekonferenzen brüsten. Wenn man den Kauf der gleichen Zertifikate nun als Vorwand nimmt, die Strompreise noch einmal zu erhöhen, dann wäre damit der Missbrauch von Marktmacht endgültig bewiesen. In dem Fall hoffe ich auf eine klare Antwort der Politik. Wir haben alle Möglichkeiten, von der Anwendung des Kartellrechts bis hin zur Zerschlagung von Konzernen. Es muss eine klare Antwort geben, wenn dieser Missbrauch stattfindet und versucht wird, die eigenen Taschen zu füllen und der Politik den Schwarzen Peter zuzuschieben. Dieses Spiel ist erkannt, meine Herren!
Der Emissionshandel ist ein wichtiges Instrument für den Klimaschutz, aber nicht das einzige. Wir werden mehr Instrumente benötigen, um die ehrgeizigen Ziele, die wir uns gemeinsam vorgenommen haben und die auf dem EU-Gipfel abgestimmt worden sind, zu erreichen. Die Treibhausgase sollen bis 2020 in Deutschland um 40 Prozent reduziert werden, in Europa um 30 Prozent. Das sind allein in Deutschland 270 Millionen Tonnen CO2 weniger pro Jahr. Ich freue mich, dass jetzt in der Großen Koalition - das war bei meiner letzten Rede noch nicht der Fall - die Verhandlungen über zwei weitere Klimaschutzinstrumente, das Erneuerbare-Energien-Wärme-Gesetz und das Kraft-Wärme-Kopplungsgesetz, begonnen haben, wir über die Ausbauziele bereits Einigung erreicht haben und uns jetzt über die Details der Umsetzung unterhalten.
Man muss dazu aber auch sagen: Der Entwurf von Bundesminister Glos zur Förderung der Kraft-Wärme-Kopplung ist mit Blick auf das Ausbauziel unzureichend. Bis zum Energiegipfel Anfang Juli muss ein neuer Vorschlag des Ministers auf dem Tisch liegen, weil im Sommer Entscheidungen über Investitionen getroffen werden. Die Unternehmen müssen wissen, wie die Rahmenbedingungen für die Kraft-Wärme-Koppelung in Deutschland aussehen. Der Unterschied zwischen dem Vorschlag des einen Koalitionspartners und dem des Ministers darf nicht so groß sein, dass in Bezug auf diese Rahmenbedingungen keine Sicherheit vorhanden ist. Wir brauchen einen Vorschlag des Ministers, der zumindest nahe bei dem liegt, was die Koalitionsfraktionen im Augenblick verhandeln. Sie sind an dieser Stelle im Ergebnis schon bei ganz anderen Zielen angekommen. Meine dringende Bitte an Michael Glos ist, sich den Entscheidungen der Großen Koalition zum Klimaschutz anzupassen.
Bundesminister Sigmar Gabriel hat ein Programm zur Senkung der Treibhausgasemissionen um 40 Prozent vorgestellt. Alle Ressorts der Bundesregierung und der Deutsche Bundestag sind aufgerufen, dieses Programm bis Ende 2007 umzusetzen. Klimaschutz ist ein Wettlauf mit der Zeit. Wir müssen diesen Wettlauf gewinnen. Wir haben alle Technologien und sehr viel Wissen, um diesen Wettlauf zu gewinnen. Heute beschließen wir ein wichtiges Instrument für diesen Wettlauf. Ich hoffe auf eine klare Mehrheit.
Vielen Dank.
Präsident Dr. Norbert Lammert:
Gudrun Kopp ist die nächste Rednerin für die FDP-Fraktion.
Gudrun Kopp (FDP):
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Herren und Damen! Seit Mitte der 90er-Jahre ist das Instrument des Emissionshandels Bestandteil der Programmatik der Bundestagsfraktion und der Partei der FDP, lieber Herr Kollege Kelber. Man muss einfach sagen: Wir mussten Herrn Trittin, den früheren Umweltminister, an dieser Stelle quasi zum Jagen tragen.
Wir sind überzeugt, dass der Emissionshandel auf längere Sicht das einzige effiziente Klimaschutzinstrument sein wird, wenn man alle Sektoren in den Blick nimmt. Wenn sich die Zahl der internationalen Teilnehmer eines Tages hoffentlich erweitern wird, zum Beispiel um China, Indien und die USA, dann könnte es zu einer großen Erfolgsstory werden. Das Zuteilungsgesetz, in dem vorgesehen ist, knapp 10 Prozent der Zertifikate zu versteigern, trifft jedenfalls auf unsere volle Zustimmung.
Wir müssen uns natürlich um die Einnahmen kümmern. Im Zuteilungsgesetz ist geregelt, dass die rund 800 Millionen Euro, die immerhin eingenommen werden sollen, in den Etat des Bundesumweltministers fließen. Das halten wir für problematisch; denn dies ist Geld, das den Bürgern und den Unternehmen in diesem Lande gehört. Damit könnte man beispielsweise auch die Preise senken. Deshalb meine Bitte an die Haushaltspolitiker, doch darauf zu achten, dass der Etat des Bundesumweltministeriums um diese Summe gesenkt wird, damit dieses Geld nicht automatisch in den Umlauf kommt und Begehrlichkeiten weckt. Ich schlage vor, mit dem Erlös von diesen rund 800 Millionen Euro die Stromsteuer zum Nutzen aller Verbraucher zu senken. Das wäre sinnvoll.
Problematisch ist zudem die Situation der Betreiber von Prozesswärmeanlagen, die dieses Zuteilungsgesetz als eine Strafaktion empfinden müssen. Das muss man so sehen. In diesem Bereich gibt es eine Auslastung von 90 Prozent. Das heißt, für diese Branche - dazu gehören auch die Brauereien; das ist für manche ja eine ganz sympathische Branche - wird es unmöglich sein, den strengen Regeln, die für Kraftwerke gelten, gerecht zu werden.
CO2-Einsparungen sind nicht möglich. Deshalb muss an dieser Stelle nachgebessert werden. Das steht noch aus.
Für die FDP-Bundestagsfraktion ist es außerdem wichtig, dass es ab 2012 eine Anschlussregelung zum Kiotoprotokoll, also sozusagen ein Kioto-II-Abkommen, gibt.
Ich sagte eben schon, dass die Zahl der Teilnehmer am Emissionshandel unbedingt ausgeweitet werden muss.
Langfristig muss der Emissionshandel von drei Faktoren geprägt sein: erstens muss er alle Sektoren umfassen, zweitens muss er hinsichtlich der Anlagen und Benchmarks brennstoffunabhängig sein, und drittens muss die Verteilung durch eine komplette Versteigerung angestrebt werden.
So ausgestaltet könnte der Emissionshandel in der Tat zu einer Erfolgsstory werden.
Wir müssen eines immer wieder festhalten: Bei der Evaluierung der Instrumente ist es erforderlich, genau zu prüfen, ob die Wettbewerbsfähigkeit der deutschen Wirtschaft innerhalb Europas und global noch gegeben ist; das ist ein Lernprozess, mit dem wir jetzt beginnen. Es kann nicht angehen, dass wir auf falschen Wegen weitergehen und nicht korrigieren, wenn es nötig ist. Sonst haben wir irgendwann zwar eine CO2-Minderung, auf der anderen Seite aber eine Verlagerung von Arbeitsplätzen. Das darf nicht geschehen. Deswegen müssen wir aufmerksam sein und dafür sorgen, dass dieses Instrument erfolgreich ist. Das ist im Sinne des Klimaschutzes und der Wettbewerbsfähigkeit.
Vielen Dank.
Präsident Dr. Norbert Lammert:
Ich erteile das Wort dem Kollegen Andreas Jung, CDU/CSU-Fraktion.
Andreas Jung (Konstanz) (CDU/CSU):
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich will zunächst etwas zu den meiner Ansicht nach etwas hilflosen Versuchen sagen, die Klimapolitik der Bundesregierung infrage zu stellen oder gar einen Spalt zwischen die Bundeskanzlerin und ihre Fraktion, die CDU/CSU-Fraktion, zu treiben: Klar ist - das wurde in den letzten Wochen offensichtlich -, dass sich niemand den Erfolg der Bundeskanzlerin in Heiligendamm im Kampf für den Klimaschutz so sehr gewünscht hat wie unserer Fraktion und sich niemand mehr über ihren Erfolg gefreut hat.
Wir unterstützen die internationalen Anstrengungen, damit wir auf diesem Gebiet vorankommen. Darüber hinaus stellen wir uns aber auch im Inland dieser Aufgabe. Wir bekennen uns dazu, dass Deutschland und Europa Vorreiter im Klimaschutz sein sollen.
Wir wissen, dass sich manche gern an Worten messen lassen. Wir hingegen stellen uns der Aufgabe: Messen Sie uns an unseren Taten! Messen Sie die Große Koalition an dem, was sie in der Klimaschutzpolitik geleistet hat! Da gibt es kein Vertun: Wir haben all das, was unter Rot-Grün zur Förderung regenerativer Energien auf den Weg gebracht wurde, nicht nur fortgesetzt, sondern die Mittel sogar aufgestockt. Weil Gebäudesanierung ein effektiver Beitrag zum Klimaschutz ist, haben wir die Mittel für das Gebäudesanierungsprogramm mehr als vervierfacht.
Zu den Themen Nationaler Allokationsplan und Zuteilungsgesetz, über das wir heute debattieren, sage ich nur: Messen Sie uns auch hier an unseren Taten und an den Zahlen!
Für den CO2-Ausstoß haben wir die Obergrenze bei 453 Millionen Tonnen festgelegt; mehr dürfen Energieversorger und Industrie in dieser Handelsperiode nicht ausstoßen. Sehr geehrter Herr Kollege Trittin, Sie wissen, dass unser Plan bei weitem ehrgeiziger ist als der Plan, den Sie zu verantworten hatten. In jedem Jahr sparen wir über 50 Millionen Tonnen CO2 mehr ein, als Rot-Grün mit dem Emissionshandel einsparen konnte. Ich finde, das verdient Respekt und Anerkennung.
In Politik, Wirtschaft und Wissenschaft ist unbestritten, dass wir mit dieser Vorgabe die Kiotoverpflichtung erfüllen werden. Deutschland hat im Kiotoprotokoll eine große Verpflichtung übernommen. Mit diesem Allokationsplan stellen wir sicher, dass wir dieser Verpflichtung gerecht werden. Das halte ich für wesentlich.
Ich will hinzufügen, dass der Nationale Allokationsplan und dieses Zuteilungsgesetz auch ein Bekenntnis zum Industriestandort Deutschland sind. Deshalb wird der Sektor Industrie anders behandelt als der Sektor Energie. Wir wissen, dass sich die Industrie einem harten globalen Wettbewerb zu stellen hat, und wir wissen, dass es in der Industrie, beispielsweise in der chemischen Industrie, prozessbedingte Emissionen gibt, das heißt, dass bei bestimmten Prozessen eine bestimmte Menge an CO2 entsteht. Unsere klare Ansage lautet: Wir wollen, dass diese Prozesse, dass diese wirtschaftliche Tätigkeit auch in Zukunft in Deutschland stattfindet, dass in Deutschland auch in Zukunft in diesem Bereich Investitionen getätigt werden und damit Arbeitsplätze erhalten und geschaffen werden.
Deshalb haben wir selbstverständlich die Industrie in diesen Plan einbezogen und verlangen auch von ihr Minderungspflichten. Aber wir haben die Latte nicht zu hoch gelegt. Das gilt für die Minderungspflichten und vor allem für das, was die Union in den Verhandlungen in den letzten Wochen noch herausholen konnte. Wir haben im Zuteilungsgesetz ein Mittelstandspaket durchgesetzt. Wir haben durchgesetzt, dass das Budget für die Härtefallregelung für den Mittelstand deutlich erhöht wird.
Wir haben durchgesetzt, dass die Standardauslastungsfaktoren in vielen Bereichen erhöht werden und dass dadurch die mittelständische Industrie in den Bereichen Zement, Kalk und Glas gestärkt wird. Wir haben Verbesserungen zur Förderung von Kraft-Wärme-Kopplungs-Anlagen zur Herstellung von Bioethanol, zur Versorgung der Zellstoffindustrie und vieles mehr durchgesetzt.
Ich glaube, damit zeigen wir, dass es gelingt, beides zusammenzuführen: Klimaschutz und eine Politik für Industrie und Arbeitsplätze. Das ist der Maßstab, an dem wir uns messen lassen müssen. Wir in Deutschland müssen zeigen, dass Umweltschutz und Wirtschaft zusammen möglich sind.
Dann werden wir erreichen, dass andere mitmachen. Dann können wir das erreichen, was die Bundeskanzlerin in Heiligendamm gesagt hat: Wir wollen einen weltweiten Kohlenstoffmarkt und nicht einen, der auf bestimmte Regionen begrenzt ist. Damit würden sich auch viele Fragen der Wettbewerbsfähigkeit nicht mehr stellen.
Wir haben die Industrie nicht in die Auktionierung einbezogen, der wir jetzt nähertreten. Auch das halte ich für richtig. Denn der Grund für diese Auktionierung ist doch, dass wir festgestellt haben, dass es im Energiebereich Mitnahmeeffekte gibt. Es hat in der letzten Handelsperiode bei den großen Energieversorgern Mitnahmeeffekte in Höhe von 5 oder 6 Milliarden Euro gegeben. Diese wollen wir abschöpfen. Wir können das in Höhe von 10 Prozent machen. In Höhe von 90 Prozent wird die Zuteilung weiterhin kostenlos erfolgen; auch das muss man dazusagen. Wir haben aber keine andere Möglichkeit, weil die Europäische Union uns das so vorgibt. Ich halte es für richtig, das so zu machen. Denn ich finde, es darf nicht sein, dass manche vom Emissionshandel profitieren und die Bürger, die Stromkunden und die Wirtschaft letztlich durch höhere Strompreise belastet werden. Deshalb wenden wir dieses Mittel jetzt an.
Herr Kauch, Sie haben die Mittelverwendung angesprochen. Sie haben kritisiert, dass es noch keine klare Festlegung gibt, wofür wir die Mittel ausgeben. Ich bin überzeugt: Hätten wir schon eine Verwendung vorgesehen, dann wären wir mit Sicherheit dafür kritisiert worden. Dann wäre gesagt worden: Ihr benutzt dieses Instrument doch nur, weil ihr die Bürger abzocken wollt. Ihr habt doch nur ein neues Instrument gesucht, mit dem ihr Einnahmen generieren könnt. - Doch es ist nicht so. Es geht uns um etwas anderes, nämlich um die Vermeidung von Mitnahmeeffekten. Es geht uns aber auch darum, dieses Instrument zu erproben, um in dieser Periode zu einer Auktionierung von 10 Prozent und ab der nächsten Periode zu bei weitem mehr - möglicherweise 100 Prozent - zu kommen. Ich halte das für richtig und für ein gutes Instrument.
Ich freue mich darüber, und ich finde, dass es ein Gewinn für das Parlament ist, dass es im parlamentarischen Prozess gelungen ist, mehr zu erreichen, als die Bundesregierung, als der Bundesumweltminister vorgelegt hat. Es zeigt, dass der Parlamentarismus lebendig ist und die Fraktionen sich hier mit Vehemenz in die Debatte einbringen.
Ich will eine letzte Bemerkung - ich spreche hier insbesondere die Fraktion der Linken an - zu den Themen CDM und JI machen. Sie waren doch dabei - wir waren gemeinsam in Nairobi -, als der Umweltminister von Kenia uns aufgezeigt hat, dass es in Afrika rund 20 CDM-Projekte gibt und in Kenia nur ein einziges. Er hat eindringlich auf uns eingeredet: Schafft die Voraussetzungen dafür, dass mehr CDM-Projekte in Kenia geschaffen werden.
Er hat gesagt: Wir brauchen diese Projekte als Beitrag zur Entwicklungshilfe. Wir brauchen Sie, um selber Klimaschutz machen zu können. Deshalb schafft die Voraussetzungen dafür.
Genau das haben wir in diesem Gesetzentwurf in den letzten Tagen durchgesetzt, indem wir die Quote von 20 auf 22 Prozent erhöht haben. Ich finde, wer für Klimaschutz ist und sich für internationale Solidarität ausspricht, darf nicht gegen CDM sein.
Deshalb sind wir dafür. Ich finde, dass es ein Instrument ist, das den globalen Ansatz, den wir in der Klimaschutzpolitik brauchen, umsetzt.
Präsident Dr. Norbert Lammert:
Herr Kollege Jung, möchten Sie unmittelbar vor Schluss Ihrer Rede noch eine Zwischenfrage der Kollegin Bulling-Schröter annehmen?
Andreas Jung (Konstanz) (CDU/CSU):
Gern.
Eva Bulling-Schröter (DIE LINKE):
Danke schön, Herr Jung. - Stimmen Sie mit mir überein, dass die CDM-Projekte zusätzlich sein sollten - es gibt Studien, die belegen, dass viele nicht zusätzlich sind -, dass wir in diesem Hause gemeinsam dafür sorgen sollten, dass möglichst viel CO2 eingespart wird und dass alle CDM-Kriterien eingehalten werden, und dass wir zusätzliche Projekte, die alle Kriterien erfüllen, auf den Weg bringen sollten?
Andreas Jung (Konstanz) (CDU/CSU):
Ich denke, in diesem Zusammenhang sind zwei Fragen voneinander zu unterscheiden:
Erstens geht es um die Frage, die wir im Rahmen des Zuteilungsgesetzes beraten: Wie hoch soll die Quote für die CDM-Projekte in Deutschland sein? Wir sind der Meinung, dass diese Quote möglichst hoch sein sollte; denn das wäre ein Beitrag zum Klimaschutz. Was den Klimaschutz angeht, ist es egal, ob CO2 in Deutschland, in Mexiko oder in Kenia eingespart wird. Wir glauben, dass eine hohe Quote ein Beitrag zu mehr Effizienz beim Klimaschutz ist. Denn dann könnten die Unternehmen für dasselbe Geld mehr CO2 einsparen. Darüber entscheiden wir jetzt. Wir sind für eine Erhöhung der Quote auf 22 Prozent.
Zweitens haben Sie die Frage angesprochen: Muss man noch mehr tun, um diese Projekte wirkungsvoller und nachhaltiger zu gestalten? In diesem Punkt stimmen wir selbstverständlich mit Ihnen überein. Hier mag es noch Handlungsbedarf geben. Größeren Handlungsbedarf sehe ich allerdings bei den Fragen: Wie können wir dafür sorgen, dass diese Projekte wirkungsvoll bleiben und noch wirkungsvoller werden, und wie können wir sie von übermäßiger Bürokratie befreien, damit es für die Unternehmen tatsächlich interessant wird, hier zu investieren?
Herzlichen Dank.
Präsident Dr. Norbert Lammert:
Das Wort hat nun der Bundesminister für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit, Sigmar Gabriel.
Sigmar Gabriel, Bundesminister für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit:
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Wir beschließen heute den Entwurf eines Gesetzes zum Emissionshandel im Hinblick auf die Zuteilungsperiode 2008 bis 2012. Es geht also um die eigentliche Kiotoperiode, in der Europa und somit auch Deutschland die Klimaschutzziele bzw. die Senkung der Treibhausgasemissionen bis zum Jahre 2012 erreichen müssen. Das ist deshalb so wichtig, weil natürlich alle internationalen Verhandlungen über die Zeit nach 2012 - das haben wir gerade erst beim G-8-Gipfel in Heiligendamm erlebt; die nächsten Verhandlungen sollen Ende dieses Jahres auf Bali beginnen - wirkungslos bleiben, wenn es uns nicht gelingt, in der ersten Handelsperiode deutlich zu machen, dass Deutschland und Europa tatsächlich bereit sind, die noch relativ niedrigen Klimaschutzziele zu erreichen.
Deswegen ist es von sehr großer Bedeutung, dass die Koalition heute das Zuteilungsgesetz im Hinblick auf den Emissionshandel beschließt und damit sicherstellt, dass Deutschland die im Kiotoprotokoll formulierte Verpflichtung, seine Treibhausgasemissionen im Vergleich zum Jahre 1990 im Zeitraum 2008 bis 2012 um 21 Prozent zu senken, wirklich erreicht. Das ist der eigentliche Erfolg dieses Gesetzes, und dafür kann die Bundesregierung den Koalitionsfraktionen nur Dank sagen.
Wir haben erhebliche Fortschritte gemacht - das wird im Zuteilungsgesetz deutlich -: Gegenüber der ersten Handelsperiode sparen wir jedes Jahr bis zu 57 Millionen Tonnen CO2 ein, während wir in der ersten Handelsperiode lediglich 2 Millionen Tonnen pro Jahr eingespart haben. Diejenigen, die sagen, dass wir einen Lernprozess hinter uns haben und dass uns die EU dazu gebracht hat, diesen Schritt zu machen, haben schlicht und ergreifend recht. Genau so ist es.
Nur, Herr Loske, Sie sollten so fair sein, auch zu sagen, dass sich die Kritik, die die EU-Kommission am ersten Entwurf des Allokationsplans der Bundesregierung geübt hat, gegen Regeln gerichtet hat, die Sie selber in der ersten Handelsperiode geschaffen haben. Die Kritik der EU-Kommission lautete: Deutschland hat in der ersten Handelsperiode zu viele Zertifikate ausgegeben; daran waren Sie mitbeteiligt. Deutschland hat eine 14-Jahres-Regelung getroffen, die Sie nun kritisieren; daran waren Sie allerdings mitbeteiligt. Deutschland verfügte über eine zu geringe Reserve von nur 3 Millionen Tonnen pro Jahr - jetzt beträgt die Reserve 23 Millionen Tonnen pro Jahr -; diese geringe Reserve haben Sie mitzuverantworten.
Herr Loske, auch uns ist klar, dass sich die Grünen und andere mehr gewünscht hätten. Es ist doch nicht zu kritisieren, dass wir gemeinsam einen Lernprozess durchlaufen haben. Gott sei Dank war das so. Wenn Sie aber jetzt so tun, als seien Sie diejenigen gewesen, die alles richtig gemacht hätten, dann muss man feststellen, dass das die schlichte Unwahrheit ist.
Der Emissionshandel gehört zu den echten Erfolgsgeschichten der Großen Koalition. Darauf können beide Fraktionen stolz sein.
- Frau Künast, weil das nicht alle hören können und Sie sich offensichtlich nicht trauen, hier zu reden - oder es nicht dürfen; ich weiß es nicht -, wiederhole ich, was Sie gesagt haben. Sie haben gefragt: Wer war eigentlich daran beteiligt?
Frau Künast, vorhin kam die Frage auf, woran es liegt, dass das Ganze jetzt Erfolg hat. Es hat im Zentrum der Politik gestanden, und zwar deshalb, weil die Probleme so groß geworden sind und weil sich die beiden großen Volksparteien dieses Themas angenommen haben. Das ist der Grund, warum es jetzt gelingt.
Natürlich haben die Grünen auf diesem Feld weit vor uns gearbeitet. Das ist ihr Erfolg. Jürgen Trittin hat in diesem Bereich einiges auf den Weg gebracht.
Aber Sie müssen doch zugeben, dass es für Sie eher ein parteipolitisches als ein sachliches Problem ist, dass den Durchbruch in der Klimapolitik die beiden großen Volksparteien geschafft haben. Sie werden gestatten, dass die Koalition auf diese Erfolge stolz sein darf.
Ich will mich mit ein paar Argumenten, die Sie genannt haben, auseinandersetzen. Wir haben so etwas wie die k.-u.-k.-Monarchie bei Kohle und Kernenergie.
Ich will nur auf Folgendes hinweisen: Bis zum Jahre 2012 sind in Deutschland neun Kohlekraftwerke - sechs Steinkohlekraftwerke und drei Braunkohlekraftwerke - in Planung bzw. schon im Bau. Das dient der Modernisierung des Kraftwerksparks. Die neuen Kraftwerke sollen alte Braun- und Steinkohlenkraftwerke, die viel CO2 emittieren, ablösen, sodass diese stillgelegt werden können. Bis zu 42 Millionen Tonnen CO2 sollen dabei pro Jahr eingespart werden. Was wir jetzt erleben, Herr Loske, ist, dass Sie von den Grünen auch gegen diese Kohlekraftwerke und sogar gegen Kraft-Wärme-Kopplungs-Kraftwerke mobilisieren, beispielsweise in Berlin, aber nicht nur in Berlin. Dann bleiben die alten CO2-Schleudern am Netz. Das ist die Konsequenz Ihrer Politik; das muss man einmal offen sagen.
Dann will ich etwas zur PDS sagen.
Ich weiß nicht, ob der Kollege Claus hier ist. Ich kann es ihm aber nicht ersparen, Ihnen, Frau Kollegin, zu sagen: Wissen Sie, eines geht nicht, nämlich dass Sie hier im Deutschen Bundestag fordern, wir sollten noch weniger Emissionsrechte für die Braunkohlekraftwerke vorsehen, aber Ihre örtlichen Abgeordneten von mir Sonderregelungen für die Braunkohlekraftwerke in Ostdeutschland verlangen.
Ich sage Ihnen Folgendes: Wir machen Klimaschutz; aber weil wir uns auch dafür verantwortlich fühlen, dass über 1 000 Arbeitsplätze in solchen Regionen erhalten bleiben, prüfen wir Härtefallregeln wie bei der MIBRAG.
Sagen Sie doch den Leuten vor Ort, dass Sie als PDS oder Linke - oder was für Abgeordnete auch immer - Ihnen die Jobs kaputtmachen wollen!
Sie spielen ein doppeltes Spiel: Hier verlangen Sie, für die Braunkohlekraftwerke weniger Emissionsrechte vorzusehen, vor Ort wollen Sie uns an die Wand nageln mit dem Vorwurf, wir würden Arbeitsplätze kaputtmachen. Ich glaube, das haben Sie bei Oskar Lafontaine gelernt; das ist die Art und Weise, wie der Politik macht.
Präsident Dr. Norbert Lammert:
Herr Minister, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Claus?
Sigmar Gabriel, Bundesminister für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit:
Mit großer Freude, Herr Kollege Claus.
Roland Claus (DIE LINKE):
Herr Bundesminister, ich will Sie fragen: Was veranlasst Sie, mein Engagement für die in der Braunkohle Beschäftigten hier in dieser Weise zu diskreditieren, wo Sie doch am Dienstag dieser Woche maßgeblich, sachkundig und, wie ich fand, konstruktiv nichts anderes gemacht haben als ich, nämlich mitzuwirken an einem vernünftigen Kompromiss, bei dem mehr herauskommt für die Umwelt und für die Sicherheit der Beschäftigten? Warum regen Sie sich dann hier so künstlich auf?
Sigmar Gabriel, Bundesminister für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit:
Das tue ich überhaupt nicht. Herr Kollege Claus, ich finde, dass Sie die richtige Position vertreten. Aber Ihre Fraktionsvorsitzenden oder wer immer von Ihnen hier im Deutschen Bundestag zu diesem Thema redet, wollen das Gegenteil. Das kritisiere ich. Das ist pharisäerhaft. Wenn die so handeln würden wie Sie, wäre alles in Ordnung.
Ich sage Ihnen noch etwas, Frau Kollegin: Hier zu kritisieren, dass die Bundesregierung nicht 100 Prozent Auktionierung durchgesetzt hat, das ist wirklich abenteuerlich. Das europäische Emissionshandelssystem ist im Jahre 2003 beschlossen worden. Sie sollten der geschätzten deutschen Öffentlichkeit einmal sagen, dass Deutschland mit den knapp 10 Prozent bei der Auktionierung in diesem Jahr in Europa an der Spitze derer liegt, die auktionieren. Die anderen Europäer sind froh darüber, dass wir endlich dafür sorgen, dass ein vernünftiger Preisindikator in den Markt kommt.
Erzählen Sie hier den Leuten doch kein dummes Zeug. Wir werden mit diesem Gesetz zum Führer in der europäischen Klimaschutz- und Emissionshandelspolitik. Das, und nicht der Unsinn, den Sie hier der Öffentlichkeit erzählen, ist das tatsächliche Ergebnis, das mit diesem Gesetz erreicht wird.
Meine Damen und Herren, zur Kohle. Natürlich brauchen wir in Deutschland auch weiterhin einen preiswerten Grundlaststrom aus der Stein- und der Braunkohle. Wir können in Deutschland nicht neben den 28 Prozent des Kernenergiestroms bis 2020 auch noch rund 50 Prozent der Kohleerzeugung ausphasen. Wer das will, hat entweder von der Lage der deutschen Industrie keine Ahnung oder er verfolgt einen geheimen Plan zur Rückkehr in die Kernenergie. Es geht nur eines von beiden.
Herr Kauch, dass Sie in der Sache selber noch nicht richtig wissen, wohin Sie wollen, machen Sie durch Ihre Redebeiträge deutlich. Einerseits fordern Sie mehr Klimaschutz in Deutschland, andererseits konnten Sie sich aber in Ihrer eigenen Fraktion nicht durchsetzen, das Geld, das wir durch die Auktionierung erhalten, auch für den Klimaschutz einzusetzen, sondern Sie mussten sich Ihren Wirtschaftpolitikern beugen, die das Geld letztlich dort belassen wollen, wo Windfall-Profits abgeschöpft worden sind, sodass höhere Steuern erhoben werden müssen, um Klimaschutz in Deutschland bezahlbar zu machen.
Sie bleiben die Antwort schuldig, wie wir in Deutschland den Klimaschutz bezahlen können. Wenn die Mittel der Auktionierung sozusagen zur Senkung der Stromsteuer genutzt werden, dann müssen Sie hier eine Antwort darauf geben, wie Sie im Bundeshaushalt die Hunderte von Millionen Euro aufbringen wollen, um die Maßnahmen zum Klimaschutz in Deutschland zu finanzieren. Das ginge dann nur über Steuererhöhungen. Damit würden Sie natürlich nicht Ihre Klientel treffen, allerdings würde das die Stromrechnungen der vielen Menschen in Deutschland erhöhen, die das alles letztendlich schon über ihre Stromrechnung bezahlt haben.
Präsident Dr. Norbert Lammert:
Herr Minister, möchten Sie noch eine weitere Zwischenfrage der Kollegin Kopp zulassen?
Sigmar Gabriel, Bundesminister für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit:
Gerne.
Präsident Dr. Norbert Lammert:
Ich will mir einen Hinweis erlauben: Ich bin mit solchen Zwischenfragen und Kurzinterventionen nachweislich eher großzügig, aber der Zweck dieser Instrumente besteht eigentlich nicht darin, dass die von den Fraktionen ohnehin gemeldeten Redner auf diese Weise zusätzliche Redezeiten in Anspruch nehmen können, sondern darin, den nicht für die Debatten gemeldeten Kolleginnen und Kollegen aus den Fraktionen gegebenenfalls die Möglichkeit einer gezielten Einwirkung zu geben.
Bitte schön, Frau Kollegin Kopp.
Gudrun Kopp (FDP):
Herr Präsident, ich mache es auch sehr kurz.
Ich empfinde es so, dass Minister Gabriel uns falsch interpretiert hat. Herr Minister, deshalb möchte ich Sie fragen: Sind Sie bereit, sich hier zu korrigieren und unseren Vorschlag so darzustellen, wie wir es gesagt haben, dass wir nämlich den Erlös aus der Versteigerung denjenigen zurückgeben möchten, die am Markt die hohen Energiepreise zu bezahlen haben,
und dass das Geld eben nicht im Haushalt verschwindet und für irgendetwas anderes ausgegeben wird?
Sind Sie bereit, das zur Kenntnis zu nehmen?
Sigmar Gabriel, Bundesminister für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit:
Ich nehme erst einmal zur Kenntnis, dass Sie dann die Windfall-Profits nicht richtig abschöpfen, sondern die Stromsteuer für die Unternehmen senken wollen. Damit geben Sie es ihnen zurück. Ich nehme auch zur Kenntnis, dass Sie keine Antwort auf die Frage haben, wie wir in Deutschland die Klimaschutzpolitik bezahlen sollen. Am Ende wäre dafür eine Steuererhöhung notwenig. Das wollen Sie auch wieder nicht. In Wahrheit wollen Sie eigentlich keine engagierte Klimaschutzpolitik, jedenfalls dann nicht, wenn sich diejenigen in Ihrer Partei durchsetzen, die nicht für die Umweltpolitik zuständig sind.
Meine Damen und Herren, eine letzte Bemerkung zur Sorge derjenigen, die glauben, dass das Nichtvorhandensein eines Braunkohlebenchmarks die Braunkohlewirtschaft in Deutschland zu sehr benachteiligen würde. Vor wenigen Wochen wurde uns eine Studie des Verbandes der Elektrizitätswirtschaft vorgelegt. Es war also keine Studie eines grünen Verbandes, einer NGO oder des BMU. In dieser Studie wird gezeigt, dass die verbleibenden und die neu gebauten Braunkohlekraftwerke in Deutschland auch weiterhin wirtschaftlich arbeiten können und dass dies insbesondere daran liegt, dass der Brennstoff konkurrenzlos günstig zur Verfügung steht.
Verschwiegen wird in der Debatte dabei meistens, dass das Eintreten einiger Bundesländer und von Teilen der Elektrizitätswirtschaft für einen eigenen Braunkohlebenchmark nichts mit Klimaschutz zu tun hat und dass es nur um eine Sache geht, nämlich darum, die Emissionsberechtigungen in Deutschland zugunsten eines Teils der Elektrizitätswirtschaft und zulasten eines anderen Teils der Elektrizitätswirtschaft zu verteilen.
Die Emissionsobergrenzen gelten für alle. Das Glas mit Zertifikaten ist nicht zu vergrößern. Es geht nur um die Frage, wie die Zertifikate verteilt werden.
Würden wir das tun, was die CDU/CSU-geführten Bundesländer von der Bundesregierung und vom Deutschen Bundestag verlangen, käme es zu einer einseitigen Umverteilung im Wesentlichen zugunsten eines deutschen Energieversorgers. Bis zu 300 Millionen Euro würden zugunsten dieses Energieversorgers bzw. zulasten aller anderen Energieversorger umverteilt. Das ginge übrigens auch zulasten der ostdeutschen Braunkohle, weil die westdeutsche Braunkohle viel stärker von der Umverteilung profitieren würde als die ostdeutsche.
Es ginge aber vor allen Dingen zulasten der Stadtwerke in Deutschland. Ich würde gerne wissen, wie die Ministerpräsidenten der Länder, die von der Bundesregierung verlangen, dass sie einen Braunkohlebenchmark einführt, das den Oberbürgermeistern, Landräten, Bürgermeistern und Bürgerinnen und Bürgern in den Städten und Gemeinden erklären.
Präsident Dr. Norbert Lammert:
Herr Minister, denken Sie bitte an Ihre Redezeit.
Sigmar Gabriel, Bundesminister für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit:
Dieses Vorhaben bedeutet eine Umverteilung zulasten der Stadtwerke und zulasten klimafreundlicher Energieträger. Deswegen kann ich davon nur abraten.
Ich bitte im Übrigen darum, nicht länger in der Öffentlichkeit internationale Klimaschutzverhandlungen zu beklatschen - und zwar zu Recht -, aber gleichzeitig im Inland durch den Widerstand der Ministerpräsidenten im Bundesrat all das zu torpedieren, was wir mit großer Mühe durchzusetzen versuchen.
Klimaschutz kommt nicht im Schlaf zustande, sondern nur dann, wenn man bereit ist, intensiv zu arbeiten und die ökonomischen wie die ökologischen Konsequenzen zur Kenntnis zu nehmen. Das ist bei dem vorliegenden Gesetzentwurf der Fall.
Ich bedanke mich für die Beratungen mit den Koalitionsfraktionen und hoffe, dass wir letzten Endes zu der Entscheidung kommen - und zwar im Bundestag, Herr Kollege Kauch -, wie die durch die Auktionierung erzielten Mittel verwendet werden. Der Bundesumweltminister steckt gar nichts ein; vielmehr setzt die Veranschlagung der Mittel im Bundeshaushalt voraus, dass der Bundestag zustimmt und präzise vorgibt, wofür sie verwendet werden sollen. Wir haben uns einzig und allein darauf verständigt, dass die Mittel für nationale und internationale Klimaschutzmaßnahmen genutzt werden. Das ist nämlich bitter nötig.
Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
Präsident Dr. Norbert Lammert:
Bevor der letzte Redner zu diesem Tagesordnungspunkt das Wort erhält, gibt es noch eine Kurzintervention der Kollegin Bulling-Schröter.
Ich darf vor allen Dingen die Kolleginnen und Kollegen, die sich liebenswürdigerweise im oberen Teil des Plenarsaals eingefunden haben, darum bitten, von den noch hinreichend vorhandenen Sitzmöglichkeiten Gebrauch zu machen, damit wir die Debatte geordnet zu Ende führen können, bevor die namentliche Abstimmung stattfindet.
Bitte schön, Frau Kollegin.
Eva Bulling-Schröter (DIE LINKE):
Sehr geehrter Herr Minister, Sie haben zum wiederholten Male der Linken unterstellt, wir wollten Arbeitsplätze vernichten, weil wir gegen die Privilegierung der Kohle sind und einen einheitlichen Benchmark wollen.
Ich möchte deshalb richtigstellen, dass wir keine Arbeitsplätze vernichten wollen. Im Gegenteil: Wir wollen mehr und existenzsichernde Arbeitsplätze in dieser Republik. Wir wollen allerdings auch den Ausstieg aus der Nutzung fossiler Rohstoffe. Dass er sozialverträglich erfolgen muss, steht, denke ich, außer Frage.
Ihre Unterstellung trifft insofern nicht zu. Speziell mir persönlich können Sie nicht unterstellen, für die Vernichtung von Arbeitsplätzen einzutreten. Bevor ich in den Bundestag gewählt wurde, war ich Betriebsrätin und war auch in der Legislaturperiode 2002 bis 2005 wieder drei Jahre im Betrieb. Ich kenne die Ängste der Menschen und weiß, was Hartz IV bewirkt.
Von daher müssen wir, denke ich, über Ausstiegsszenarien und über soziale Absicherung reden. Wie wir wissen, bauen die großen Konzerne zusätzlich Arbeitsplätze ab. Dazu äußert sich die Bundesregierung nicht. Ich kann Ihnen auch mitteilen, dass die Anzahl der Beschäftigten in den neuen Kohlekraftwerken nur noch bei 20 Prozent im Vergleich zu den alten Kohlekraftwerken liegt.
Noch eines: Wenn sich diese Bundesregierung so um die Arbeitsplätze schert, dann frage ich Sie, warum Sie sich nicht mehr für die Arbeitsplätze bei der Telekom einsetzen; denn der Bund verfügt doch über einen Anteil von 30 Prozent.
Präsident Dr. Norbert Lammert:
Zur Beantwortung der Kurzintervention hat der Minister das Wort.
Sigmar Gabriel, Bundesminister für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit:
Frau Kollegin, nun haben Sie ja mit der Telekom wenigstens ein Thema gefunden, bei dem Sie die Diskussion einigermaßen überstehen können. Aber bei der Kohle funktioniert das nicht. Ich meine, Sie müssten über dieses Thema nicht mit mir diskutieren, sondern eher mit Ihrem Kollegen Claus. Er vertritt in der Sache eine realistische Position. Sie werden verstehen, dass es nicht geht, dass wir auf der einen Seite vor Ort - zum Teil im Einvernehmen mit den Abgeordneten Ihrer Fraktion, in diesem Fall mit Ihrem Kollegen Claus - die Probleme klären und Sie auf der anderen Seite im Deutschen Bundestag Forderungen stellen, die - wenn sie erfüllt würden - uns vor Ort im Ergebnis überhaupt keine Handlungsmöglichkeiten mehr geben würden.
Sie sind in dieser Frage doppelzüngig. Würden wir das tun, was Sie wollen, dann würden wir in Sachsen-Anhalt über 1 000 Arbeitsplätze vernichten. Das ist die Realität. Trauen Sie sich doch beim nächsten Mal, den Beschäftigten vor Ort vorzurechnen, was die Durchsetzung Ihrer Forderung für sie bedeuten würde: Sie würde nämlich die sofortige Arbeitslosigkeit für über 1 000 Menschen in Sachsen-Anhalt bedeuten. Das ist Ihre Politik - darauf werden wir doch wohl hinweisen dürfen.
Präsident Dr. Norbert Lammert:
Der letzte Redner zu diesem Tagesordnungspunkt ist der Kollege Dr. Georg Nüßlein von der CDU/CSU-Fraktion.
Dr. Georg Nüßlein (CDU/CSU):
Herr Präsident! Meine Damen! Meine Herren! Nach dieser - wie ich meine - entlarvenden Rede unseres Bundesumweltministers hätte man gute Lust, noch ein bisschen mehr Salz in die zahlreichen Wunden aufseiten der Linken und vielleicht auch an der einen oder anderen Stelle aufseiten der Grünen zu streuen. Ich kann mir vorstellen, dass es schmerzt, wenn man Ihnen nachweisen kann, dass Sie mit Ihrer Politik gerne zum Abbau von Arbeitsplätzen in dieser Republik beitragen würden. Ich kann mir auch vorstellen, dass es die Grünen nicht besonders freut, zu sehen, dass wir in allen klimarelevanten und ressourcenschonenden Bereichen Schritt für Schritt deutlich weiter vorankommen, als es zu der Zeit, als hier noch ein grüner Umweltminister tätig war, der Fall war.
Meine Damen und Herren, nun gibt es einen breiten Instrumentenkasten des EEG, das wir demnächst novellieren werden. Das Gleiche gilt für das Thema KWK. Wir werden im Bereich der Gebäudesanierung feststellen, wie erfolgreich das ist, was wir ausgebaut haben.
Wir beschließen heute ein Instrument, das deutlich komplexer ist, das aber doppelten Charme hat. Zum einen handelt es sich um ein marktorientiertes System. Zum anderen ist es ein Instrument, das europäisch abgestimmt ist und so international wirken kann. Wenn ich von einem marktorientierten System spreche, dann ist für mich besonders entscheidend, wie dieser Markt funktioniert. Das ist die Erfolgsvoraussetzung für den Emissionshandel; da müssen wir gemeinsam noch etwas tun. Dieses Instrument wird nur funktionieren, wie wir es uns vorstellen, wenn wir letztendlich zu einem ausgewogenen Wettbewerb im Energiebereich kommen. Deshalb sind die Initiativen unseres Bundeswirtschaftsministers Michael Glos so wichtig und entscheidend.
Wenn ich sage, wir brauchen ein europäisch abgestimmtes und international wirksames Instrument, dann bin ich der festen Überzeugung, dass das unsere einzige Chance ist, im Klimawandel wirklich etwas zu bewegen. Dieses Land emittiert 3,2 Prozent der klimarelevanten Gase. China verzeichnet jedes Jahr einen höheren Zuwachs am CO2-Ausstoß, als wir in dieser Republik insgesamt CO2 emittieren. Wir müssen dafür Sorge tragen, dass sich andere an uns ein Beispiel nehmen. Das tun sie nur dann, wenn wir an dieser Stelle glaubwürdig vorankommen, also den CO2-Ausstoß bei uns tatsächlich reduzieren. Nur dann können wir von den Schwellen- und Entwicklungsländern erwarten, dass sie auch etwas tun. Und sie tun nur dann etwas, wenn wir zeigen, dass unter diesen Umständen auch Wachstum möglich ist.
Zudem ist Fingerspitzengefühl bei dem, was wir hier tun - wir greifen schließlich massiv in die Wirtschaft ein -, ganz besonders wichtig.
Nun hat der Kollege Schwabe gesagt: Dieses Gesetz trägt die Handschrift der SPD. Lieber Kollege, es kommt nicht auf die Handschrift bzw. die äußere Form, sondern auf den Inhalt an. Diesen haben wir in intensiven Verhandlungen gemeinsam erarbeitet. Wir sind insbesondere im Bereich des Mittelstandes - Stichwort ?Härtefallregelung“ - zu einem recht guten Ergebnis gekommen, das verhindern wird, dass Branchen aufgrund unserer Gesetze ins Ausland gehen und dort weiterhin CO2 emittieren. Das würde weder uns noch dem Klima helfen.
Ich gebe zu, dass wir von der Union uns an der einen oder anderen Stelle etwas mehr auf die Wirtschaft zubewegt hätten. Im Bereich der Braunkohle hätten wir gerne eine angepasste Benchmark gesehen. Wir hätten uns zudem vorstellen können, dass Neuanlagen, die auf Basis der besten Technologie arbeiten, stärker privilegiert werden - schließlich geht es darum, die Ziele, die man sich gesteckt hat, zu erreichen -, genauso wie KWK-Anlagen. Aber ich sage ganz offen: Manchmal ist es wichtig, nicht nur das Klima in dieser Republik, sondern das Klima in der Großen Koalition zu schützen.
Heute wurde schon sehr viel über das Thema Versteigerung gesprochen. Natürlich geht es dabei darum, Windfall-Profits und Mitnahmeeffekte zu verhindern. Aber aus unserer Sicht geht es in erster Linie darum, auf das vorbereitet zu sein, was kommt. Wenn es funktioniert, wird das Instrument des Emissionshandels nach 2012 auszubauen sein. Wir müssen daher wissen, was auf uns zukommt. Es macht mehr Sinn, erst einmal 8,8 Prozent zu versteigern und sich anzuschauen, wie es sich entwickelt, als ins kalte Wasser geworfen zu werden und 100 Prozent zu versteigern, obwohl man die Effekte noch gar nicht absehen kann.
Bei allem Vertrauen in das Bundesumweltministerium ist für uns im Hinblick auf das Verfahren entscheidend gewesen, dass nicht die administrative Seite das Vorgehen per Verordnung festlegt. Der Deutsche Bundestag bleibt mit im Boot. Das haben wir erreicht. Das ist für unsere Rolle als Parlamentarier wichtig.
Auch über die Mittel und ihre Verwendung wird das Parlament entscheiden. So weit sind wir allerdings noch nicht. Wir haben die Mittel erst einmal dem Haushalt des Bundesumweltministeriums zugeordnet. Wenn ich eine persönliche Bemerkung machen darf: Dorthin gehören sie auch. Aber wir müssen sehr wohl darüber nachdenken, wie wir das Geld national und international, insbesondere in den Entwicklungsländern, so für den Klimaschutz einsetzen, dass in diesem Land und auf dieser Erde wirklich etwas bewegt wird.
Vielen herzlichen Dank.
Präsident Dr. Norbert Lammert:
Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir kommen zur Abstimmung über den von den Fraktionen der CDU/CSU und SPD eingebrachten Entwurf eines Gesetzes zur Änderung der Rechtsgrundlagen zum Emissionshandel im Hinblick auf die Zuteilungsperiode 2008 bis 2012. Der Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit empfiehlt unter Buchstabe a seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 16/5769, den Gesetzentwurf der Fraktionen der CDU/CSU und der SPD auf Drucksache 16/5240 in der Ausschussfassung anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf in dieser Fassung zustimmen wollen, um das Handzeichen. - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich der Stimme? - Das Erste war die Mehrheit. Der Gesetzentwurf ist in zweiter Beratung angenommen.
Wir kommen zur
dritten Beratung
und Schlussabstimmung. Die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen hat hierzu namentliche Abstimmung beantragt. Sind alle Urnen mit den Schriftführerinnen und Schriftführern besetzt? - Der Vorsitzende der SPD-Fraktion, der die Situation übersieht, hat mir bestätigt, dass das so sei. Dann eröffne ich hiermit die Abstimmung.
Ist noch jemand anwesend, der seine Stimmkarte nicht abgegeben hat? - Kennt jemand jemanden, der seine Stimmkarte nicht abgegeben hat? - Dann schließe ich hiermit die Abstimmung und bitte die Schriftführerinnen und Schriftführer, mit der Auszählung zu beginnen. Das Ergebnis der Abstimmung werden wir Ihnen mitteilen, sobald es vorliegt.
Ich weise darauf hin, dass es zahlreiche persönliche Erklärungen zur Abstimmung gibt, die zu Protokoll genommen werden.
Wir setzen nun die Abstimmungen zu diesem gerade behandelten Thema fort. Dazu wäre es gut, wenn diejenigen, die an diesen Abstimmungen teilnehmen möchten, sich auf ihre Plätze begeben.
Wir kommen zur Abstimmung über den Entschließungsantrag der Fraktion Die Linke auf Drucksache 16/5781. Wer stimmt für diesen Entschließungsantrag? - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Das Zweite war fraglos die Mehrheit. Der Entschließungsantrag ist abgelehnt.
- Ich habe nichts Gegenteiliges behauptet. Ich habe festgestellt, dass der Antrag zweifellos keine Mehrheit gefunden hat.
Der Ausschuss empfiehlt unter Buchstabe b seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 16/5769, den Gesetzentwurf der Bundesregierung auf Drucksache 16/5617 zur Änderung der Rechtsgrundlagen zum Emissionshandel im Hinblick auf die Zuteilungsperiode 2008 bis 2012 für erledigt zu erklären. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich der Stimme? - Dies ist einstimmig angenommen. Damit können wir diesen Tagesordnungspunkt abschließen.
Ich rufe die Tagesordnungspunkte 26 a bis 26 e auf:
a) Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Familie, Senioren, Frauen und Jugend (13. Ausschuss) zu der Unterrichtung durch die Bundesregierung
Siebter Familienbericht
Familie zwischen Flexibilität und Verlässlichkeit - Perspektiven für eine lebenslaufbezogene Familienpolitik
und
Stellungnahme der Bundesregierung
- Drucksachen 16/1360, 16/4211 -
Berichterstattung:
Abgeordnete Paul Lehrieder
Caren Marks
Ina Lenke
Jörn Wunderlich
Ekin Deligöz
b) Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Familie, Senioren, Frauen und Jugend (13. Ausschuss)
- zu der Unterrichtung durch die Bundesregierung
Bericht der Bundesregierung über den Stand des Ausbaus für ein bedarfsgerechtes Angebot an Kindertagesbetreuung für Kinder unter drei Jahren 2006
- zu dem Entschließungsantrag der Abgeordneten Ina Lenke, Sibylle Laurischk, Miriam Gruß, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP zu der Unterrichtung durch die Bundesregierung
Bericht der Bundesregierung über den Stand des Ausbaus für ein bedarfsgerechtes Angebot an Kindertagesbetreuung für Kinder unter drei Jahren 2006
- zu dem Antrag der Abgeordneten Diana Golze, Klaus Ernst, Dr. Martina Bunge, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der LINKEN
Kindertagesbetreuung für Kleinstkinder sofort ausbauen und Qualität verbessern
- Drucksachen 16/2250, 16/4443, 16/4412, 16/5397 -
Berichterstattung:
Abgeordnete Ingrid Fischbach
Caren Marks
Ina Lenke
Diana Golze
Ekin Deligöz
c) Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Familie, Senioren, Frauen und Jugend (13. Ausschuss)
- zu dem Antrag der Abgeordneten Dr. Barbara Höll, Dr. Axel Troost, Werner Dreibus, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der LINKEN
Elternbeitragsfreie Kinderbetreuung ausbauen
- zu dem Antrag der Abgeordneten Ekin Deligöz, Volker Beck (Köln), Grietje Bettin, weiterer Abgeordneter und der Fraktion des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN
Leben und Arbeiten mit Kindern möglich machen
- zu dem Antrag der Abgeordneten Ekin Deligöz, Krista Sager, Kai Gehring, weiterer Abgeordneter und der Fraktion des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN
Kinder fördern und Vereinbarkeit von Beruf und Familie stärken - Rechtsanspruch auf Kindertagesbetreuung ausweiten
- Drucksachen 16/453, 16/552, 16/1673, 16/3219 -
Berichterstattung:
Abgeordnete Dr. Eva Möllring
Caren Marks
Ina Lenke
Diana Golze
Ekin Deligöz
d) Beratung des Antrags der Abgeordneten Ekin Deligöz, Christine Scheel, Volker Beck (Köln), weiterer Abgeordneter und der Fraktion des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN
Verbindlichen Ausbau der Kindertagesbetreuung jetzt regeln - Verlässlichkeit für Familien schaffen
- Drucksache 16/5426 -
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend (f)
Finanzausschuss
Haushaltsausschuss
e) Beratung des Antrags der Abgeordneten Ina Lenke, Carl-Ludwig Thiele, Sibylle Laurischk, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP
Sofortprogramm für mehr Kinderbetreuung
- Drucksache 16/5114 -
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend (f)
Innenausschuss
Finanzausschuss
Zum Siebten Familienbericht liegt je ein Entschließungsantrag der Fraktion der FDP sowie der Fraktion Die Linke vor. Nach einer interfraktionellen Vereinbarung soll die Aussprache eine Stunde andauern. - Dazu höre ich keinen Widerspruch. Dann haben wir das so vereinbart.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort erhält zunächst die Bundesministerin Frau Dr. Ursula von der Leyen.
Dr. Ursula von der Leyen, Bundesministerin für Familie, Senioren, Frauen und Jugend:
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Wir reden heute über den Siebten Familienbericht und über einen Bericht zum Stand des Ausbaus der Kinderbetreuung aus dem Jahr 2006. Zu Letzterem kann man zusammengefasst sagen: Der Fortschritt beim Ausbau der Kinderbetreuung
war zu diesem Zeitpunkt eine Schnecke. Von 2005 bis 2006 ist das Verhältnis von Plätzen zu Kindern, die die Plätze in Anspruch nehmen können, gestiegen. Ja, das Verhältnis ist besser geworden, aber nur um magere 0,7 Prozentpunkte. Es zeichnet sich schon ab, dass es im Folgejahr nur einen Zuwachs von rund 1,3 Prozentpunkten geben wird. Damit liegen die Angebote in den westlichen Bundesländern immer noch bei unter 10 Prozent. Das heißt, nicht einmal jedes zehnte Kind hat ein Angebot für einen Tagesmutterplatz, für eine altersgemischte Gruppe in einer Kita oder für einen Krippenplatz. Ich denke, diese Dynamik reicht bei Weitem nicht. Wenn wir so weitermachen würden, dann wären wir vielleicht in einem Vierteljahrhundert so weit, dass für ein Drittel der Kinder und ihre Eltern, die Plätze suchen, überhaupt ein Angebot vorhanden wäre. Das muss schneller gehen. Sie wissen, was inzwischen vereinbart worden ist. Von 2008 an wird der Bund gemeinsam mit den Ländern und Kommunen schneller und mehr Plätze in Kindertagesstätten und bei Tagesmüttern schaffen. Wir wollen gemeinsam, dass 2013 bereits für ein Drittel der Kinder ein Angebot vorhanden ist. Der Bund beteiligt sich bis 2013 mit 4 Milliarden Euro und übernimmt auch über 2013 hinaus verlässlich finanzielle Mitverantwortung.
Damit sind wir schon bei dem großen Thema des Siebten Familienberichts, nämlich dem Thema Zeit. Das Thema Zeit zieht sich wie ein roter Faden durch den Siebten Familienbericht, Zeit sowohl im Alltag der Familie als auch Zeit für Familie und Zeit für gute Arbeit, aber auch Zeit im Lebensverlauf. Angesichts der aktuellen Diskussion warne ich davor, Familie in unseren Debatten wieder in ein ganz starres Schema zu packen, nach dem Motto: Einmal mit den Kindern zu Hause, immer zu Hause; einmal mit Kindern erwerbstätig, immer erwerbstätig; einmal Pflege zu Hause, immer zu Hause. So ist das Leben eben nicht. Die Wirklichkeit ist wechselvoller, und daran sollten wir uns orientieren.
Deshalb geht es im Siebten Familienbericht vor allem darum, die Übergänge von einer Lebensphase zur nächsten möglich zu machen. Ob jemand mit einem zweijährigen Kind oder mit einem zwölfjährigen Kind einen neuen Job antreten will, die Probleme sind nicht anders. Sie sind als Schnittstellenprobleme da, und sie sind nicht weniger. Wir müssen uns darum kümmern, dass diese Übergänge für Familien lebbar sind. Dasselbe gilt, wenn erwachsene Kinder merken, dass ihre alten Eltern nicht mehr alleine zu Hause zurechtkommen und dass Pflege und Betreuung der alten Eltern zu Hause auf sie zukommt. Auch hier muss es so sein, dass dies nicht zum Lebensbruch für die Tochter oder für den Sohn führen darf. Deshalb sagt der Siebte Familienbericht auch so deutlich, dass ein Mix an Maßnahmen notwendig ist: Es bedarf einer unterstützenden Infrastruktur, eines Netzes der Hilfe für die Alltagszeit und die Arbeitszeit, und es bedarf finanzieller Mittel, die gezielt für diese Übergänge zur Verfügung gestellt werden. Deshalb also ein Elterngeld und die Partnermonate, deshalb die bessere steuerliche Förderung der haushaltsnahen Dienstleistungen.
In genau das gleiche Thema fallen sowohl der Ausbau der Kinderbetreuung als auch der Ausbau zum Beispiel der Pflegestützpunkte, der ambulanten Pflegedienste oder einer Pflegezeit. Genauso wichtig sind deshalb auch die Allianzen mit der Wirtschaft, um verlässliche Zeit für Familie und verlässliche Zeit für die mittlere Generation für gute innovative Arbeit möglich zu machen.
In den letzten zwei Tagen wurde in den Schlagzeilen zunächst das Szenario gezeichnet, dass zu wenig junge Menschen in Deutschland akademisch ausgebildet werden. Am Tag danach war die Mahnung der Bundesbildungsministerin zu lesen, dass es zu wenige Ingenieurinnen und Ingenieure in Deutschland gibt. Wir müssen das auch weiter denken und uns klarmachen, dass hinter den Fachberufen natürlich auch Familienleben steht. Wir dürfen nicht nur die Forderung nach besserer Ausbildung in unser Land stellen, sondern wir müssen uns auch darum kümmern, dass diese Ausbildung später nicht nur umgesetzt werden kann, sondern dass sie auch mit Kindern, mit älteren Angehörigen gelebt werden kann. Dafür ist entscheidend, dass wir uns um die Übergänge im Leben kümmern.
In einer Zeit wie im Augenblick, in der sich so viel für das Thema Familie bewegt, in der wir so hochspannende, elektrisierende Debatten um dieses große gesellschaftspolitische Thema haben, sollten wir die Gunst der Stunde nutzen, offen zu sein, neue Wege zu denken und neue Modelle im Kopf und in der Wirklichkeit zuzulassen. Warum sollten wir uns nicht einmal Hamburgs System der Gutscheine näher anschauen?
Wenn man sich das einmal näher anschaut, dann sieht man, dass da Angebote von zwei bis zwölf Stunden möglich sind.
Da kann man Kinderbetreuung für einen Vormittag oder drei Nachmittage oder fünf Werktage finden.
Da entscheidet auch nicht irgendjemand in der Kommune, welches Angebot es gibt - jeder kennt es aus seinem eigenen Dorf: für die Zeit von ach bis zwölf ist ein Angebot da; friss oder stirb -, sondern die Eltern entscheiden, was sie an Bildungsangeboten für ihre Kinder brauchen, welche Zeitkontingente sie brauchen und vor allem, zu welcher Tagesmutter oder zu welchem Kindergarten sie die Bildungsgutscheine bringen wollen.
Das hat zu einer unglaublich großen Vielfalt im Angebot und im Wettbewerb um Qualität geführt. Wettbewerb um die beste Qualität in der Kinderbetreuung, das beste Netz, das, meine Damen und Herren, muss doch unser Ziel sein.
Ich bitte, auch noch einmal Folgendes zu bedenken: Wenn behauptet wird, das sei kompliziert, dann kann man ganz klar erwidern, dass das im 21. Jahrhundert genauso unkompliziert möglich ist, wie jede Bonuskarte in einem Kaufhaus abgerechnet wird, wie bei jedem Tanken an der Tankstelle, wenn man zum Bezahlen die Chipkarte durch das Lesegerät zieht, an einer anderen Stelle abgerechnet wird. Das passiert jeden Tag tausendfach in Deutschland. Deshalb sollte man nicht suggerieren, es wäre komplizierter als das, was uns die Wirklichkeit jeden Tag in Deutschland schon zeigt.
Das Einzige, worum ich bitte, ist Folgendes: In dieser Zeit, in der die Fenster der Möglichkeiten wirklich weit geöffnet sind, in der es darum geht, anzunehmen, Neues zu denken und Offenheit zuzulassen, in dieser Zeit, in der sich jetzt so viel bewegt, sollten wir auch einmal Innovatives ausprobieren, prüfen und nicht gleich die Tür zuzuschlagen. Es geht darum, das Bild, das ich eben mit der Flexibilität in der Kinderbetreuung gezeichnet habe, in das große Bild des Siebten Familienberichts zu übertragen, nämlich zu sagen: Es müssen Möglichkeiten für die Übergänge, die Beweglichkeit und die Schnittstellen mit Kindern und mit älteren Angehörigen für die mittlere Generation geschaffen werden, damit sie entlastet wird und Zeit für ihre Familie findet. Auf diesem Gebiet politisch die Rahmenbedingungen zu gestalten, ist die Aufgabe, die wir im Augenblick zu bewältigen haben. Dahinter stehen die Menschen, und das wollen wir fördern.
Ja, wir können es schaffen, wenn wir langfristig Verantwortung für andere übernehmen. Das ist der Grundgedanke einer Familiengründung. Wir sollten uns in der Welt, wie sie ist, einsetzen, zum Beispiel dafür, Kinder zu haben oder treu zu denjenigen zu stehen, die uns den Weg ins Leben geebnet haben. Entscheidend ist das Grundgefühl, dass die Gesellschaft hinter einem steht und dass dadurch bestimmte Möglichkeiten geschaffen werden.
Präsident Dr. Norbert Lammert:
Frau Ministerin, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Dr. Seifert?
Dr. Ursula von der Leyen, Bundesministerin für Familie, Senioren, Frauen und Jugend:
Gerne.
Dr. Ilja Seifert (DIE LINKE):
Frau Ministerin, Sie sprechen die ganze Zeit davon, wie wichtig die Übergänge in bestimmten Lebensphasen sind. Das will ich nicht in Abrede stellen. Dennoch hätte ich mir erhofft, dass Sie in Ihrer Rede einige Sätze zur Lage von Menschen sagen, die ihr ganzes Leben lang schwierige Situationen zu bewältigen haben. Ich denke zum Beispiel an Menschen mit Behinderungen, die in einer Familie leben, oder an behinderte Eltern, die bei der Betreuung ihrer nichtbehinderten Kinder Elternassistenz brauchen. Auch Ihr Familienbericht nimmt dazu keine Stellung. Wenn wir Inklusion wirklich wollen, dann müsste dieses Thema in einer so wichtigen Rede wie der, die Sie hier halten, eine Rolle spielen. Können Sie dazu vielleicht noch ein paar Sätze sagen?
Dr. Ursula von der Leyen, Bundesministerin für Familie, Senioren, Frauen und Jugend:
Das möchte ich gerne. Als Sozialministerin eines Bundeslandes war ich unter anderem für Menschen mit Behinderungen zuständig. Ich habe die Erfahrung gemacht, dass Eltern mit behinderten Kindern oder behinderte Eltern mit Kindern elementar darauf angewiesen sind, dass die Gesellschaft den Alltag durch eine unterstützende Infrastruktur, durch helfende Netzwerke - darüber reden wir - erleichtert. Für Kinder, an deren Betreuung besondere Anforderungen zu stellen sind, muss es entsprechende Einrichtungen, zum Beispiel Schulen, geben. Für Eltern mit Behinderung muss es Angebote wie Netzwerke, Fahrdienste, besondere Ferien mit den eigenen Kindern und besondere, in die Familien kommende Hilfsdienste geben. Es geht darum, Unterstützung dieser Art zu gewährleisten.
Ich erinnere mich sehr gut daran, wie stark das Bestreben des Landes Niedersachsen - zu Recht - gewesen ist, bestimmte ambulante Dienste auszubauen. Diese ambulanten Dienste gehen in die Familien - in Familien mit Menschen mit Behinderungen, seien es die Eltern oder seien es die Kinder, wird Großartiges geleistet -, um das Leben zu erleichtern und dafür zu sorgen, dass kein Familienmitglied aufgrund der Fürsorge für andere auf ein eigenes Leben völlig verzichten muss. Es geht um die Schaffung eines Übergangs in ein eigenständiges Leben und dabei - das ist das Wichtigste - Verantwortung für andere zu übernehmen. Das schafft keiner ganz allein. Wer das versucht, zerbricht an diesen großen Aufgaben.
Die Aufgabe des Staates und der Gesellschaft besteht darin, so zu helfen, dass das Zusammenleben in der Familie möglich ist. Notwendig ist dabei die Hilfe von außen durch ambulante Dienste, und zwar im weitesten Sinne.
Dem liegt im Prinzip das gleiche Gedankenmodell zugrunde wie der Kinderbetreuung, der Unterstützung junger Familien und den ambulanten Dienste in der Pflege. Ich denke an die Pflegestützpunkte, also an die Unterstützung der pflegenden Familie zu Hause. Der Grundgedanke ist: Niemand wird alleingelassen. Man denke an diejenigen, die mitten im Leben mit solchen Aufgaben konfrontiert werden. Übergänge müssen möglich sein, weil die Gesellschaft geschlossen will, dass Unterstützung geleistet wird.
Wir alle wissen, dass die Uhr des demografischen Wandels tickt. Aber mit dem Blick auf das, was wir in den vergangenen Jahren erreicht haben, können wir heute durchaus sagen: Die Zeit ist günstig; sie arbeitet in unserem Land im Augenblick für die Familien.
Vielen Dank.
Präsident Dr. Norbert Lammert:
Bevor wir die Debatte zu diesem Tagesordnungspunkt fortsetzen, gebe ich das von den Schriftführerinnen und Schriftführern ermittelte Ergebnis der namentlichen Abstimmung über den Gesetzentwurf der Fraktionen der CDU/CSU und der SPD zum Emissionshandel im Hinblick auf die Zuteilungsperiode 2008 bis 2012 - Drucksachen 16/5240 und 16/5769 - bekannt: Abgegebene Stimmen 546. Mit Ja haben gestimmt 360, mit Nein haben gestimmt 180, und enthalten haben sich sechs Kolleginnen und Kollegen. Damit ist der Gesetzentwurf angenommen.
Wir setzen nun die Debatte fort. Nächste Rednerin ist die Kollegin Ina Lenke für die FDP-Fraktion.
Ina Lenke (FDP):
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Frau Ministerin, weniger an Pathos und mehr an Gesamtkonzeption der Bundesregierung hätte ich von Ihnen erwartet.
Es geht Ihnen hier nur um den Familienbericht. Aber es gibt weitere Fragen: Wie wird finanziert? Wie wird organisiert? Dazu habe ich heute wie schon in den letzten Wochen weiter nichts als Ankündigungen gehört. Sie können das gut verkaufen, aber wir brauchen auch Substanz. Die Opposition erwartet wirkliche Konzepte.
Die Fakten im Siebten Familienbericht sind eindeutig. Familien brauchen verlässliche Strukturen, eine auf das Wohl der Kinder ausgerichtete Politik und endlich die bessere Vereinbarkeit von Familie und Beruf. Wir wissen, es gibt großen Nachholbedarf, was die Vereinbarkeit anbelangt.
Gerade meldet das Statistische Bundesamt: Nur 6,5 Prozent der unter Dreijährigen haben eine Ganztagsbetreuung. Wir sind uns im Bundestag doch einig: Wir wollen dafür sorgen, dass das besser wird. Aber bei Ihnen fehlen wirklich noch die Gesamtkonzepte. Sie streiten sich. Seit Monaten lesen wir in der Presse substanzlose Wasserstandsmeldungen. Erst hat Frau von der Leyen 3 Milliarden Euro versprochen; jetzt sind es 4 Milliarden Euro. Die Krönung, Frau von der Leyen, ist der Vorschlag zur Einrichtung einer Krippenstiftung. Dazu haben Sie sich überhaupt nicht geäußert. Damit würden Sie Kommunen, die individuelle Betreuungslösungen vor Ort umsetzen wollen, entmündigen.
Auch von dem SPD-Finanzierungsvorschlag hören wir überhaupt nichts mehr. Hier sollen Familien Familien finanzieren. Auch das findet nicht die Zustimmung der FDP.
Einige Ministerpräsidenten wollen statt des Betreuungsgutscheins den Familien mehr Geld zur Verfügung stellen. Dem haben wir als FDP auf dem Bundesparteitag gerade eine klare Absage erteilt.
- Wir haben uns damit überhaupt nicht schwergetan. Wir Frauen haben mit unseren Männern zusammengestanden. Es hat eine klare Mehrheit gegeben. Wären Sie auf dem Parteitag gewesen, Frau Humme, hätten Sie gesehen, dass nur 20 von 600 Stimmen für die CSU-Lösung waren.
Zu dem Vorschlag, zusätzlich Geld an Familien zu geben, muss ich sagen - damit kann ich, glaube ich, zumindest die weiblichen Abgeordneten von SPD und CDU/CSU ansprechen -: Viele Kinder gehen trotz 154 Euro Kindergeld im Monat - bei der Sozialhilfe sind es 204 Euro - ohne Frühstück aus dem Haus, und die Eltern haben angeblich kein Geld für das warme Mittagessen in der Schule. Das zeigt doch, dass das Geld über Bildungsgutscheine den Kindern zur Verfügung gestellt werden muss und nicht den Eltern gegeben werden darf.
Meine Damen und Herren, die Zeit drängt. Am Ende des Jahres läuft für viele Paare das Elterngeld aus. Dann, Frau von der Leyen, fehlt die Anschlussbetreuung. Ihre Strategie - das muss ich leider sagen - ist nicht aufgegangen. Solange Sie die Eltern nach Ende des einjährigen Elterngeldes - das tritt ab dem 1. Januar 2008 ein - im Regen stehen lassen und keine gesicherte Betreuung da ist,
ist das Elterngeld wirklich nur ein nettes Starterpaket.
Ich habe mich darüber gefreut, dass Sie heute endlich einmal auch über Hamburg gesprochen haben. Sie wissen, dass die CDU-FDP-Koalition in Hamburg an dem Kinderbetreuungsgutschein gescheitert ist, weil die CDU Herrn Lange nachher kein Geld gegeben hat. Dass Frau Schnieber-Jastram dieses Konzept jetzt weiterentwickelt hat, auch im Sinne der FDP, finde ich sehr gut. Ich hoffe, dass Sie daraus Ihre Schlüsse ziehen und auch endlich dafür werben, dass mehr Kita-GmbHs und mehr privat-gewerbliche Angebote neben die staatliche Kinderbetreuung treten. Es gehört meines Erachtens zur Politik einer Familienministerin, ganz klar für solche marktwirtschaftlichen Konzepte einzustehen.
Das Zauberwort heißt: Bildungs- und Betreuungsgutschein für jedes Kind unter sechs Jahren. Damit kann die starke Nachfrage nach mehr Kinderbetreuung schneller und besser befriedigt werden. Sie haben gerade gesagt, dass es heute gar nicht möglich ist, ein Kind einmal nur zwei Tage statt fünf Tage in die Krippe zu geben; jedenfalls muss man dann für fünf Tage zahlen.
Das ist nicht in Ordnung. Darüber bin ich mit Ihnen einig. Legen Sie von SPD und CDU/CSU vor der Sommerpause des Parlaments also endlich ein Gesamtkonzept vor! Dazu gehören auch der Kinderbetreuungsgutschein und eine vernünftige Finanzierung.
Die FDP - das will ich sehr deutlich sagen - hat bereits ihr Kinderbetreuungskonzept vorgelegt. Mit einem Sofortprogramm wollen wir mit einem höheren Anteil aus den Mehrwertsteuereinnahmen, 1,5 Milliarden Euro jährlich, die Gemeinden direkt unterstützen, denn die müssen ja die Kinderbetreuung organisieren. Weder die Länder noch über die Krippenstiftung den Bund wollen wir mit drin haben. Unser Konzept ist verfassungsrechtlich einwandfrei, weil es schon jetzt mit den 2,2 Prozent läuft.
Die FDP will, dass privat-gewerbliche Einrichtungen, Elterninitiativen, Betriebskitas und -krippen mehr Luft zum Atmen haben. In Frankfurt, Hamburg und in vielen kleineren Orten läuft es mit der Kita-GmbH ganz gut. Das hat sich bewährt. Das fordern wir.
Frau von der Leyen, Ihre Aufgabe ist es also, bessere Rahmenbedingungen im Bund und mit den Ländern zusammen für diese Einrichtungen zu organisieren und den Kinderbetreuungsgutschein hoffähig zu machen. Ergebnis werden flexiblere Öffnungszeiten sowie bessere und unterschiedliche Bildungsangebote sein. Die Verkäuferin und die Krankenschwester brauchen ebenfalls unsere Unterstützung für die Betreuung am Wochenende und in den langen Schulferien. Sie haben nur über den Siebten. Familienbericht gesprochen, ich über alle Anträge der Opposition.
Der Familienbericht - das ist mein letzter Satz - zeigt auf, wie eine neue Balance zwischen Erwerbstätigkeit und Fürsorge für die Familie gelingen kann.
Meine Damen und Herren - klatschen Sie mit mir -: Kinderlärm ist Zukunftsmusik!
Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse:
Ich erteile das Wort der Kollegin Nicolette Kressl, SPD-Fraktion.
Nicolette Kressl (SPD):
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Frau Lenke, für den letzten Satz hätte ich gerne geklatscht,
aber man kann ja nicht für einen Satz alleine klatschen. Für den Rest klatschen wir ausdrücklich nicht.
Heute wollen wir nicht nur über Einzelfragen im Bereich der Familienpolitik, sondern über den Familienbericht insgesamt diskutieren. Hierbei bietet sich die Gelegenheit, miteinander zu überlegen, was Familien brauchen. Dafür kann es eigentlich nur zwei Maßstäbe geben, zum einen den Maßstab, dass Rahmenbedingungen für Frauen und Männer in Deutschland so entwickelt und ausgebaut werden müssen, dass sie sich für Kinder entscheiden und ihren Kinderwunsch tatsächlich erfüllen können. Der zweite Maßstab kann nur sein: Wir müssen Kindern Rahmenbedingungen geben, damit sie auf der einen Seite Sicherheit und auf der anderen Seite allerbeste Entwicklungschancen für sich selbst haben. Denn wir sind davon überzeugt - das sind wir sicherlich alle -: Jedes Kind ist einzigartig. Jedes Kind verfügt über ganz individuelle Talente und Fähigkeiten. Unsere Aufgabe ist, die Rahmenbedingungen dafür zu schaffen, dass sich diese Talente entwickeln können.
In den letzten Jahren ist viel passiert, zum einen in der gesellschaftlichen Realität. Familien haben sich viel schneller verändert, entwickelt, als manche, die in der Politik sind, es wahrhaben wollten. Es hat sich Gott sei Dank aber auch viel im gesellschaftlichen Bewusstsein verändert. Ich bin der Überzeugung, dass eine politische Debatte dies unterstützen kann. Darüber hinaus hat sich in den politischen Handlungen viel verändert. Hier erinnere ich an das Ganztagsschulprogramm und das Gesetz zum Ausbau der Betreuung für unter Dreijährige, wodurch hinsichtlich der Infrastruktur und der Entwicklungsmöglichkeiten für Kinder einige Veränderungen auf den Weg gebracht wurden. Auf all diesen drei Feldern hat es Veränderungen gegeben.
Dennoch - der Familienbericht macht es wieder deutlich - gibt es immer noch Defizite. Es gibt Defizite in der Geschwindigkeit - wir haben es gerade gehört -, aber auch bezüglich der Frage, wie sozial gerecht die Entwicklungschancen für Kinder sind. Hier muss man natürlich auf die gerade neu veröffentlichte Studie des Deutschen Studentenwerks hinweisen. Die Ergebnisse finde ich bedenklich und bedrückend: Von 100 Akademikerkindern studieren 83, von 100 Nichtakademikerkindern studieren nur 23. Die Weichenstellung dafür erfolgt nicht im Alter von 18 oder 19 Jahren, sondern bereits ab einem Jahr. Auch da haben wir eine Aufgabe.
Eine Erkenntnis aus dem Familienbericht ist auch: Wir müssen Familienpolitik sehr viel mehr ganzheitlich betrachten,
sowohl was die Lebensläufe als auch was die Vernetzung und Zusammenarbeit der Beteiligten angeht. Das ist in einem föderalen System zugegebenermaßen etwas schwieriger als in zentralistischen Systemen. Es bedeutet aber nicht, dass wir diese Aufgabe nicht lösen können; es bedarf allerdings einer sehr großen Anstrengung.
Ich bin der Überzeugung, wir brauchen mehr Vernetzung vor Ort in den Familien selbst. Wichtig ist die Frage: Wie groß ist die Chance, dass Kinder mit ihren Eltern reden können? Aber auch die Vernetzung zwischen Kita und Schule muss in Deutschland noch verbessert werden. Das Gleiche gilt für die Vernetzung zwischen Eltern, Institutionen und Wirtschaft. Letztere will ich hier ausdrücklich nicht ausnehmen. Ich finde, auch die Unternehmen haben eine Verantwortung, denn sie fordern schließlich Fachkräfte ein.
Außerdem brauchen wir eine bessere Vernetzung zwischen den föderalen Ebenen; auch da ist eine ganzheitliche Betrachtung gefragt. Ich halte es für ganz wichtig, dass wir im Rahmen des Ausbaus der Infrastruktur in Deutschland einfordern, dass die drei Ebenen, die im Bereich der Kinder- und Jugendhilfe alle auch verfassungsrechtliche Kompetenzen haben, Abschottungstendenzen aufgeben, sich zusammensetzen und überlegen, wie die besten Rahmenbedingungen für Kinder und Familien auf den Weg gebracht werden können.
Deshalb ist es richtig und gut, wenn auch nicht einfach, jetzt einen schnelleren Ausbau der Kinderbetreuung für unter Dreijährige zu fordern und diesen - das sage ich ausdrücklich für uns Sozialdemokratinnen und Sozialdemokraten - mit einem Rechtsanspruch abzusichern,
nicht weil der Rechtsanspruch ein Zwangsinstrument wäre, sondern weil er im Gegenteil ein flexibles Instrument ist, mit dem auch dort, wo nur ein niedriger Bedarf vorhanden ist, gehandelt werden kann. Das ist das Gegenteil von Planwirtschaft. Dieses flexible Instrument gibt - das ist ja ein Thema, das immer wieder angesprochen wird - Eltern und Kommunen Sicherheit. Das muss im Sinne der Schaffung von optimalen Rahmenbedingungen ausdrücklich unser Ziel sein.
Ich halte dieses vernetzte Handeln für eine Schlüsselaufgabe in Deutschland. Sie bedarf durchaus einer gewissen Anstrengung; diese Anstrengung sind die Kinder aber wert. Damit schaffen wir die Rahmenbedingungen, die erforderlich sind, um den Eltern das zu ermöglichen, was schon Johann Wolfgang von Goethe formuliert hat - ich finde, das ist ein schönes Zitat zum Abschluss der Rede -:
Zwei Dinge sollen Kinder von ihren Eltern bekommen: Wurzeln und Flügel.
Es lohnt sich, dafür zu kämpfen.
Vielen Dank.
Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse:
Ich erteile das Wort Kollegen Jörn Wunderlich, Fraktion Die Linke.
Jörn Wunderlich (DIE LINKE):
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Kinder und Familie - kaum ein politisches Thema beschäftigt uns und die Öffentlichkeit in der letzten Zeit so sehr wie dieses. Noch vor wenigen Jahren wurden familienpolitische Themen kaum behandelt, als Gedöns abgetan und je nach Bedarf - quasi nach politischer Tageslage - auf die Tagesordnung gesetzt. Inzwischen ist Bewegung in die Familienpolitik gekommen, und das ist gut so. Denn die gravierenden sozialen, ökonomischen und demografischen Prozesse zwingen die Politik zum Handeln. Aus Sicht der Linken war das schon längst überfällig.
Nun muss man natürlich hinterfragen: Entspricht die eingeleitete Familienpolitik tatsächlich den veränderten gesellschaftlichen Realitäten? Ist sie sozial gerecht, modern und zukunftsfähig? Was für mich noch viel wichtiger ist, ist die Frage: Was sind uns in diesem Zusammenhang Kinder wert?
Vor dem Hintergrund, dass Deutschland das Land mit den sechsthöchsten Rüstungsausgaben im Jahr 2006 war und beim Export von Rüstungsgütern weltweit an dritter Stelle nach den USA und Russland steht, bei den sozialen Belangen aber letztlich um jeden Cent gefeilscht wird, sind meine Fragen wohl mehr als berechtigt. Dies alles erfüllt meine Fraktion mit großer Sorge.
Mit Selbstverständlichkeit greifen Sie mit Ihren politischen Konzepten Arbeitslosen, Kranken, Geringverdienern und Alleinerziehenden in die Tasche. Familienleistungen werden in der Regel durch die Familien selbst gezahlt. Sie lassen immer wieder zu, dass in Deutschland eine Umverteilung von unten nach oben stattfindet. Sie lassen es zu, dass Armut in breiten Kreisen der Bevölkerung auf Jahre zementiert wird.
Ergebnis Ihrer verfehlten Politik der letzten Jahre ist die falsch konzipierte Ausgestaltung des Sozialstaats. Sie reden von einem vorsorgenden Sozialstaat. Wie irreführend! Wie lange noch, glauben Sie, werden Ihnen das Ihre Wählerinnen und Wähler abnehmen? Ein vorsorgender Sozialstaat verlangt armutsfeste Konzepte und nicht die Privatisierung der Lasten von Kindererziehung, Pflege, Rente und Gesundheit.
All das machen Sie im Wissen darum, dass nahezu jede Privatisierung die Preisgabe politischen Einflusses und gesellschaftlicher Gestaltung bedeutet.
- Das ist so, Frau Lenke. - Wer in der Kommune, im Gemeinwesen privatisiert, hat über kurz oder lang nichts mehr mitzuentscheiden. Das können wir aus linker Perspektive nicht akzeptieren.
Wir brauchen mehr soziale Gerechtigkeit, weil wir anders Hunger und Armut nicht überwinden können. Wir brauchen keinen Reichtum für eine kleine Gruppe. Vielmehr sind wir angehalten, zum Wohl aller Menschen Politik zu machen.
In unserem Entschließungsantrag zeigen wir Wege für eine sozial gerechte Familienpolitik auf. Die Neuorientierung in der Familienpolitik muss aus unserer Sicht folgenden Anforderungen gerecht werden: Gesellschaftliche Solidarität für Familien bedeutet die Übernahme öffentlicher Verantwortung. Kinder dürfen im Rahmen der Familienpolitik keine nachgeordnete Rolle spielen und nicht immer über die Familie definiert werden. Wir brauchen eine Politik, die Kinder und Jugendliche als eigenständige Bevölkerungsgruppe mit einem eigenen Anspruch auf einen Anteil an den gesellschaftlichen Ressourcen behandelt.
Kinder haben Rechte, und diese Rechte sollen Verfassungsrang erhalten. Ich finde es schön, dass die Kinderkommission endlich einmal einen damit übereinstimmenden Antrag eingebracht hat,
auch wenn dies dem Herrn Singhammer nicht so recht passt.
Ein verbesserter Schutz von Kindern vor Misshandlungen und Vernachlässigung ist durch ein Paket aus unterstützenden Angeboten und vernetzten Hilfen zu erreichen, die die Rahmenbedingungen für das Aufwachsen von Kindern letztlich nachhaltig verbessern. Ausgangspunkt dafür ist die Vernetzung und Stärkung der Orte, an denen sich Kinder aufhalten: von der Familie über die Kindertagesstätte und die Schule bis hin zum Jugendhaus. Diskriminierung von Kindern und Familien mit Migrationshintergrund gehört in die Geschichtsbücher. Es darf keine Familien erster und zweiter Klasse mehr geben.
Wir wollen im Rahmen des Bildungsanspruchs die Bereitstellung einer qualitativ hochwertigen, auf die Bedürfnisse von Kindern und Eltern - Herr Singhammer - abgestimmten ganztägigen und beitragsfreien Kinderbetreuung als Rechtsanspruch. Das ist die wesentliche Voraussetzung für die Vereinbarkeit von Familie und Beruf für beide Elternteile. Hier müssen den Worten endlich einmal Taten folgen. Nach Ihrer zweijährigen Regierungszeit hat sich in dieser Hinsicht nicht viel bewegt.
Im Siebten Familienbericht wird festgestellt, dass viele Eltern die Balance zwischen Familie und Erwerbsarbeit als unbefriedigend empfinden. Elternschaft zu leben und zugleich berufliche Integration, soziales oder auch politisches Engagement zu verwirklichen, ist gerade für junge Eltern schwierig, aber auch sehr wichtig. Deshalb benötigen wir in der Gesellschaft, insbesondere in der Wirtschaft, ein neues Leitbild für gelebte Elternschaft, damit der Wunsch auf Kinder endlich wieder Vorfahrt bekommt.
In unserem Entschließungsantrag fordern wir eine Verkürzung der Arbeitszeiten; denn im Moment ist Teilzeitarbeit entweder ein Karrierekiller oder ein Armutsrisiko. Beides muss sich ändern. Väter und Mütter wollen Beruf und Zeit für Familie; darauf muss sich vor allem die Wirtschaft stärker einstellen. Aber auch der Gesetzgeber, also wir, sind gefragt:
Es müssen verstärkt familienbezogene Zeitrechte in das Arbeits- und Sozialrecht integriert werden. Es muss flexibler gestaltet und mit einem Arbeitsplatzrückkehrrecht ausgestattet sein. Eine Inanspruchnahme muss mit entsprechender sozialer und materieller Absicherung einhergehen.
Jetzt höre ich schon gedanklich die Rufe - noch ruft aber keiner -: Wer soll das alles bezahlen? Die Linke fordert und fordert!
Das ist ein Wolkenkuckucksheim! Es ist doch kein Geld da!
Wenn man Finanz- und Wirtschaftsstudien Glauben schenken darf, setzt Deutschland 43 Prozent des Bruttoinlandsprodukts für Bildungs- und Sozialleistungen ein.
Frankreich, Schweden, Finnland oder Dänemark geben 50 Prozent und mehr aus. Wer in der Politik auf Rüstung und Krieg setzt, dem fehlen natürlich die Mittel für die Ausgestaltung des Sozialstaates, der entzieht den wirklich Bedürftigen die Mittel; das ist doch nicht verwunderlich.
Ganz aktuell dazu: Der Haushaltsausschuss hat am Mittwoch die Beschaffung von vier weiteren Fregatten im Wert von mehr als 2 Milliarden Euro bewilligt. Dafür hätten ungefähr 1 700 Kindergärten gebaut werden können;
von den Steuergeschenken an die Unternehmen mal ganz zu schweigen.
Noch Fragen? Sie werden nicht an Ihren Worten gemessen, sondern an Ihren Taten.
Das ist eine Forderung, die immer wieder aufkommt. Frau Connemann ist nicht da. Sie hat in dieser Woche so schön gesagt: Nicht an Ihren Worten, sondern an Ihren Taten werden wir Sie messen. - Ich denke, das ist ein Maßstab, der nicht nur an Frau Connemann, sondern auch an ihre Fraktion und die Koalition angelegt werden muss.
Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit.
- Herr Singhammer, jetzt treiben Sie es nicht zu weit. Sonst bedauere ich noch, dass Herr Stoiber das Parlament verlassen hat.
Danke schön.
Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse:
Ich erteile das Wort Kollegin Krista Sager, Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.
Krista Sager (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Viele junge Eltern möchten wissen, wann es endlich losgeht, wann das Bundesprogramm zum Ausbau der Kinderbetreuung anläuft. Die Antwort darauf sind Sie bislang schuldig geblieben. Keiner hat diese Frage beantwortet.
Den Anfang machten Sie, Frau Ministerin, im Februar. Seitdem sind schon einige Monate ins Land gegangen.
Im Mai gab es angeblich eine Verständigung in der Koalition. Und was ist jetzt? Still ruht der See! Nichts passiert!
Frau Ministerin, Sie haben es mit den Ihren sicherlich nicht immer leicht. Die Ihren werden vielleicht sagen: Wir mit ihr auch nicht. Jetzt ist es aber an der Zeit, dass Sie endlich in die Puschen kommen; da hat Frau Lenke recht. Das Elterngeld endet für viele in einem halben Jahr. Die Uhr tickt. Da muss jetzt endlich etwas passieren.
Aber was passiert? Das Gezerre unter der großen Koalitionsdecke geht munter weiter: Gezerre im Unionslager, Gezerre zwischen SPD und CDU. Das ist aber gar kein Wunder: Aus dem zusammengestrickten Koalitionskompromiss hängen jede Menge lose Fäden raus; an denen wird jetzt natürlich gezogen. Es gibt keine klare Gegenfinanzierung und kein Konzept für eine verfassungskonforme Beteiligung des Bundes.
Es gibt äußerst windige Formulierungen zum Rechtsanspruch und äußerst widersprüchliche Meinungen: Will man lieber den Ausbau der Kinderbetreuung voranbringen oder eine Prämie zahlen, wenn die Kinder nicht in die Kinderbetreuung gehen?
Man hat den Eindruck, dass Sie inzwischen mehr lose Fäden in der Hand haben als klare Vorstellungen.
Nun ist es ja die vornehmste Aufgabe einer guten Opposition, der Regierung aus ihrer Verwirrung zu helfen.
Das wollen wir gerne tun: Sie diskutieren im Moment über ein Gutscheinsystem. Das ist im Prinzip vernünftig. Sie haben offensichtlich gemerkt, dass der Vorschlag der grünen Oppositionsfraktion zur Kinderbetreuungskarte - das ist ja die gleiche Richtung - ganz pfiffig gewesen ist. Wozu kann ein Gutscheinsystem gut sein? Das Geld des Bundes kann so über die Eltern tatsächlich in die Kinderbetreuung gehen, und zwar verfassungskonform, was in diesem Land nicht so einfach ist. Es kann ferner dazu beitragen, dass nicht nur die Länder profitieren, die beim Ausbau der Kinderbetreuung in der Vergangenheit besonders wenig gemacht haben, sondern im Prinzip jeder Platz, der in Anspruch genommen wird, gleich behandelt wird. Das Gutscheinsystem kann sicherstellen, dass das Geld des Bundes zielgenau in der Kinderbetreuung landet. Das ist ganz gut.
Ich sage Ihnen aber auch: Vernünftig ist es nur, wenn es mit einem Rechtsanspruch auf Betreuung und einer guten Gegenfinanzierung verbunden wird.
Herr Kauder hat darüber philosophiert, dass die Eltern, wenn sie Gutscheine haben, ihre Nachfragemacht in Richtung mehr Qualität nutzen könnten. Das funktioniert aber nicht, wenn die Eltern um einen Gutschein betteln müssen und froh sein müssen, wenn sie für ihren Gutschein überhaupt irgendeinen Platz bekommen. Das ist dann keine Qualitätsoffensive. Deswegen kann die Bittstellerrolle der Eltern nur mit dem Rechtsanspruch beseitigt werden.
Genauso verhält es sich mit der Gegenfinanzierung. Wir haben vorgeschlagen, 5 Milliarden Euro aus den 20 Milliarden Euro für das Ehegattensplitting zu nehmen. Dadurch wäre die Bundesfinanzierung dauerhaft gesichert. Sorgen Sie dann aber auch dafür, dass die Länder und die Kommunen Mehreinnahmen haben, sodass auch sie ihren Beitrag zur Erhöhung der Qualität und zur Senkung der Elternbeiträge leisten können. Sonst haben die Eltern am Ende einen Bundesgutschein, aber immer noch keinen guten und kostengünstigen Krippenplatz für ihr Kind. Also: Gegenfinanzierung und Rechtsanspruch sind zwingend erforderlich.
Schauen wir uns einmal die Erfahrungen in Hamburg an. Daraus kann man lernen, was schiefgeht, wenn der Gutschein ein Mittel der Mangelverwaltung wird. In Hamburg hat man den Gutschein an die Erwerbstätigkeit beider Eltern gebunden. Wozu hat das geführt? Das hat dazu geführt, dass zum Beispiel Kinder aus bildungsfernen Migrantenfamilien keinen Anspruch haben. Wenn diese Kinder einen Ganztagsplatz hatten, hat man ihnen den sogar weggenommen.
Familien, in denen beide Elternteile arbeitslos sind, haben natürlich auch keinen Anspruch. Das heißt, gerade die Kinder, für die die frühe Förderung besonders wichtig ist, sind massenhaft durch den Rost gefallen. Mit welchem Ergebnis? In Hamburg ist die Ganztagsbetreuung für Drei- bis Sechsjährige in den sozialen Brennpunkten von 2002 bis 2005 um ein Drittel zurückgegangen. In den sozialen Brennpunkten sind ein Drittel weniger Kinder in Krippenplätzen als im übrigen Hamburg, weil man den Eltern eingeredet hat: Wenn die Mutter zu Hause ist, soll auch das Kind zu Hause sein.
In den Stadtteilen mit überwiegend sozial benachteiligter Bevölkerung bekommen 20 Prozent der Kinder vor der Schule überhaupt keine Kinderbetreuung zu sehen. Das sind doppelt so viele wie im übrigen Hamburg. Das heißt, die Versorgung in den Stadtteilen mit überwiegend armer Bevölkerung ist schlechter als in den Stadtteilen mit reicher Bevölkerung. So darf man es nicht machen. Denn es geht nicht um Unterbringung von Kindern in Gebäuden, sondern um frühe Förderung.
In diesem Kontext ein Wort zur sogenannten Herdprämie. Die gut ausgebildeten jungen Mütter werden sich ihre Berufstätigkeit mit einer Herdprämie nicht abkaufen lassen. Aber für eine bildungsferne Migrantenfamilie mit einem niedrigen Einkommen sind 150 Euro im Monat eine Menge Geld. Es ist doch absurd, solchen Familien zu sagen: Wenn ihr euer Kind nicht in die Kinderbetreuung gebt, dann kriegt ihr Geld, aber wenn ihr euren Zweijährigen doch in die Kinderbetreuung geben wollt, dann bekommt ihr kein Geld.
Das ist im Hinblick auf alle bildungspolitischen, sozialpolitischen und integrationspolitischen Ziele völlig absurd.
Herr Singhammer, ich glaube sogar, dass Sie es nicht böse meinen. Sie sitzen in Ihrer bayerischen mittelständischen Familienidylle und wollen den CSU-Wählern jetzt zeigen, dass die CSU für solche Familien ein Herz hat. Aber Sie machen das auf Kosten der schwächsten Kinder in diesem Land.
Sie kommen mir vor wie ein Kleingärtner, der darauf besteht, seinen Rasen weiter mit dem Wasserschlauch sprengen zu dürfen, während nebenan das Haus brennt. So kann man keine moderne Familienpolitik betreiben.
Ich finde es gut, dass die Frauen und die Familienpolitiker in der FDP sich durchgesetzt haben. Wir überschütten uns sonst nicht mit Komplimenten.
Ich kann nur hoffen, dass Sie, Frau von der Leyen, Ihren Leuten diesen Unsinn auch noch austreiben werden.
Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse:
Zu einer Kurzintervention erteile ich Kollegen Singhammer das Wort.
Johannes Singhammer (CDU/CSU):
Frau Kollegin Sager, nachdem Sie sich gerade so über das Betreuungsgeld echauffiert haben, bitte ich freundlich um Kenntnisnahme folgender Zahlen und einen Prozess des Nachdenkens. Gestern und heute kann man beispielsweise in einer veröffentlichten Umfrage nachlesen - sie wurde nicht vom ?Bayernkurier“ durchgeführt,
sondern von Forsa und der ?Abendzeitung“ -, dass 70 Prozent - genaugenommen 71 Prozent - der Befragten gesagt haben, dass sie das Betreuungsgeld wollen, dass sie es brauchen und dass sie es als Ausgleich der unterschiedlichen Familienmodelle wünschen.
Diesem Wunsch und Willen einer ganz großen Mehrheit der Menschen in Deutschland wollen wir entsprechen, weil wir davon überzeugt sind, dass das richtig ist.
Wenn Sie sich an einer Partei, die seit vielen Jahrzehnten über 50 Prozent der Stimmen erhält, orientieren wollen, dann sollten Sie sich auch mit dem Betreuungsgeld anfreunden.
Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse:
Frau Kollegin Sager, Sie haben jetzt Gelegenheit zur Reaktion.
Krista Sager (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Herr Singhammer, ich hätte mir gewünscht, dass Sie sich, wenn Sie sich zu einer Kurzintervention melden, argumentativ zumindest auf die Mechanismen einlassen, die ich beschrieben habe.
Wenn Sie die Menschen fragen, ob sie mehr Geld haben wollen, sagen sie immer Ja. Aber wie wirkt das in Bezug auf den Anreiz, ein Kind, das es besonders nötig hat, in eine frühe Förderung zu bringen?
Auf diesen Mechanismus lassen Sie sich gar nicht ein. Ich finde, das geht weder unter sozialpolitischen noch unter integrationspolitischen noch unter bildungspolitischen Gesichtspunkten.
Es ist nicht so, dass irgendeiner Familie in Deutschland etwas weggenommen wird. Es ist auch nicht so, dass Deutschland bei den Transferleistungen im internationalen Vergleich nicht ganz gut dasteht. Es gibt das Ehegattensplitting,
und es gibt Betreuungsfreibeträge. Mit diesen Freibeträgen werden die Familien gefördert, auch die Familien, die sich gegen die Betreuung ihrer Kinder entscheiden.
Wir stehen vor der Aufgabe, insbesondere die Familien, die bildungsfernen Schichten angehören, und Einwandererfamilien davon zu überzeugen, dass es gut ist, wenn sie ihr Kind nicht erst mit vier oder fünf Jahren in den Kindergarten schicken, und dass es gut ist, wenn sie es dort nicht nur für vier Stunden lassen. Das ist eine riesige Aufgabe.
An dieser Stelle setzen Sie das Signal in die umgekehrte Richtung. Sie wollen es geradezu prämieren, wenn diese Familien ihre Kinder zu Hause behalten. Das heißt, wenn die Mutter zu Hause ist, muss auch das Kind zu Hause sein. Das ist wirklich fatal. Ich glaube, das wird in der deutschen Wirtschaft inzwischen viel besser verstanden als in der CSU. In der deutschen Wirtschaft wird mittlerweile anerkannt, dass eine frühe Förderung der Kinder wichtig ist.
Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse:
Das Wort hat nun Kollege Paul Lehrieder, CDU/CSU-Fraktion.
Paul Lehrieder (CDU/CSU):
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen! Werte Damen und Herren! Frau Sager, zunächst zu Ihrem Schlusswort: Die CDU/CSU-Fraktion hat es nicht nötig, von einer Ministerin oder einem Fraktionsvorsitzenden auf Linie gebracht zu werden. Unsere Fraktion besteht aus selbstbewussten und selbstständigen Abgeordneten, die um eine vernünftige und gute Lösung ringen. Sie dürfen uns durchaus zugestehen, dass wir dabei ein wohlmeinendes Interesse verfolgen und gute Absichten haben.
Der Siebte Familienbericht, über den wir heute im Plenum diskutieren, wurde bereits im April 2006 vorgelegt; seine Veröffentlichung liegt also schon einige Zeit zurück. Lassen Sie mich daher zu Beginn meiner Ausführungen die wichtigsten Aussagen des Siebten Familienberichts in Erinnerung rufen.
Seine Kernbotschaft lautet: Familie ist nach wie vor die attraktivste Lebensform für junge Frauen und Männer. Für 80 Prozent der jungen Menschen ist Familie auch heute noch wichtig. Die meisten von ihnen wollen selbst einmal eine eigene Familie gründen. Allerdings müssen die jungen Menschen zur Verwirklichung dieses Wunsches heutzutage flexibler und vielseitiger als ihre Elterngeneration sein.
Angesichts der demografischen Entwicklung und der Bedeutung der Familie für unsere Gesellschaft als Ganzes kann die Botschaft für uns Familienpolitiker nur lauten: Wir müssen alles dafür tun, damit junge Menschen ihren Familienwunsch realisieren können. Aufgabe einer modernen Familienpolitik muss sein, die Rahmenbedingungen für Familien so zu gestalten, dass ein Leben mit Kindern einfacher zu managen ist.
Um den Alltag und das Leben insgesamt meistern zu können, brauchen Familien aus Sicht der Sachverständigenkommission heutzutage dreierlei: erstens finanzielle Unterstützung in den verschiedenen Lebensphasen, zweitens Zeit für ein gemeinsames Familienleben und drittens eine Infrastruktur, durch die familiennahe Dienstleistungen bedarfsgerecht angeboten werden.
Bundesfamilienministerin Frau von der Leyen hat die Kernaussagen des Siebten Familienberichts in der Vergangenheit offensiv nach außen vertreten und sie auch in der heutigen Debatte deutlich gemacht. Sehr geehrte Frau Ministerin, Sie scheuen keine Auseinandersetzung, um Familienpolitik zum Wohle aller Familien in unserem Lande zum Topthema schlechthin zu machen. Deshalb freue ich mich, hier und heute feststellen zu können, dass die zentralen Empfehlungen der Sachverständigenkommission in den vergangenen 14 Monaten bereits weitestgehend umgesetzt worden sind.
Denken wir nur an die steuerliche Absetzbarkeit von haushaltsnahen Dienstleistungen und an die Einführung des Elterngeldes zum 1. Januar dieses Jahres!
- Frau Lenke, zu Ihnen komme ich noch.
Auch was die Bündelung der Leistungen für Familien betrifft, sind wir auf einem guten Weg. Ich selbst bin in der Arbeitsgruppe ?Familienleistungen“, die von meiner Fraktion eingerichtet wurde, und kann bestätigen, dass an dieser komplexen Materie intensiv gearbeitet wird.
Diese Maßnahmen haben entscheidend dazu beigetragen und werden entscheidend dazu beitragen, dass die Rahmenbedingungen für Familien in unserem Land besser werden. Die inzwischen auf 1,4 Kinder pro Frau leicht gestiegene Geburtenrate bestätigt diese positive Entwicklung.
- Sie reden nachher noch selber, Frau Gruß.
Um Wunsch und Wirklichkeit in unserem Land noch weiter in Einklang zu bringen, war es besonders wichtig, dass wir auch beim Ausbau der Betreuung für unter Dreijährige gehandelt haben. Die ideologischen Grabenkämpfe, die diesen enorm wichtigen Schritt hin zur besseren Vereinbarkeit von Familie und Beruf lange Zeit blockiert haben, scheinen damit endlich überwunden zu sein. Die Große Koalition hat beschlossen, dass bis 2013 für 35 Prozent der Kinder ein Krippenplatz bzw. ein Platz bei einer Tagesmutter geschaffen wird.
Frau Sager, es geht hier nicht um ein Entweder-oder, es geht um ein Sowohl-als-auch, es geht um das Recht auf einen Krippenplatz, aber auch um die Möglichkeit der Betreuung zu Hause; ich komme noch im Detail dazu.
Wir gehen davon aus, dass etwa ein Drittel der Eltern ein entsprechendes Angebot benötigen und auch in Anspruch nehmen wird. Die Entscheidung des Koalitionsausschusses vom 14. Mai 2007 wird dazu führen, dass vor allem der steigenden Zahl von alleinerziehenden Müttern und Vätern, aber auch all jenen Familien, die trotz Kind arbeiten wollen - oder arbeiten müssen -, das Leben in Zukunft erleichtert wird.
Nicht zuletzt aus diesem Grund ist anzunehmen, dass wieder mehr junge Menschen in Deutschland den Mut finden werden, sich für ein Kind zu entscheiden. Es ist außerdem unser politischer Wille, dass ab 2013 ein Rechtsanspruch auf Betreuung der unter dreijährigen Kinder eingeführt wird. Hierdurch erhalten junge Familien wie auch Alleinerziehende Planungssicherheit und Verlässlichkeit.
Frau Sager, Sie haben in der Überschrift Ihres Antrags ausdrücklich ?Verlässlichkeit für Familien schaffen“ geschrieben. Genau das tun wir; da sind wir sogar ein Stück weiter als die Grünen.
Frau Kressl, ich gebe Ihnen recht: Natürlich wird die Steigerung des Angebotes an Krippenplätzen für unter Dreijährige die Nachfrage beflügeln. Es werden mehr Krippenplätze für unter Dreijährige nachgefragt, wenn die Mutter weiß: Es sind Plätze da, und ich kann bewusst und auch in der heutigen Zeit leichter Ja zum Kind sagen.
Gleichzeitig ist vorgesehen, dass jene, die ihre Kinder im Alter zwischen einem Jahr und drei Jahren nicht außer Haus betreuen lassen möchten, ab 2013 eine monatliche Zahlung von 150 Euro bekommen. Das sogenannte Betreuungsgeld ist aus unserer Sicht ein weiterer Schritt zu echter Wahlfreiheit.
- Das unter dreijährige Kind wird Ihnen nicht sagen können, ob es die 150 Euro mitnehmen oder lieber mit seinen Kumpels in der Krippe spielen will. Also bitte, Frau Gruß, ein bisschen Seriosität in der Diskussion sollte schon sein.
Oberstes Ziel muss es sein, dass Eltern - sie haben das Erziehungsrecht - selbst entscheiden können, welche Betreuungsform sie für ihre Kinder möchten, und dass sie, egal wie die Entscheidung ausfällt, vom Staat Unterstützung und Anerkennung erfahren. Die CDU/CSU-Fraktion ist der Meinung, dass jede Familie, die Kinder erzieht, unseren Respekt und unsere Anerkennung unabhängig vom gewählten Lebensmodell verdient.
Liebe Frau Sager, natürlich wird über das Gutscheinmodell auch bei uns kontrovers und lebhaft diskutiert; keine Frage. Aber jetzt die bildungsfernen Schichten, die sie angesprochen haben, oder die Migrationsfamilien unter den Generalverdacht zu stellen, dass die Gelder nicht bezogen auf die Kinder ausgegeben werden, bzw. zu behaupten, dass die ?Herdprämie“ - Sie haben das ohne Anführungszeichen gemeint - dazu führt, dass die Kinder nicht in Betreuungseinrichtungen gebracht werden - das sind Unterstellungen, die Sie nicht ernsthaft aufrechterhalten werden.
Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse:
Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage?
Paul Lehrieder (CDU/CSU):
Wer will sie stellen? - Frau Gruß spricht nachher. Ich verzichte.
Auf keinen Fall wollen wir die einzelnen Lebensmodelle gegeneinander ausspielen. Leider sind Sie, meine lieben Kollegen von der Opposition, über das Stadium der Polarisierung und Diffamierung noch nicht hinaus, wie die Aktuelle Stunde zur ?Herdprämie“ im Mai gezeigt hat. Ich bedauere die Bezeichnung ?Herdprämie“ - Sie haben sie auch vorhin verwendet -, weil damit eine Schärfe in die Diskussion gekommen ist, die den Familien nichts nützt und für die viele Familien kein Verständnis haben.
Das gilt gleichermaßen für die auch von Teilen von uns verwendete Bezeichnung Fremderziehung.
Mein Sohn mit seinen gut zwei Jahren ist für ein paar Stunden am Tag in einer Krippe. Ich würde mich verwahren gegen die Formulierung, meine Frau und ich ließen unser Kind deswegen fremderziehen. Jede Mutter und jeder Vater, die ihr Kind für vier Stunden am Tag in die Krippe bringen, erziehen das Kind 20 Stunden am Tag noch selber. Ich glaube, es ist nicht der richtige Weg, hier von Fremderziehung zu sprechen. Wir sollten hier beide rhetorisch abrüsten.
- Sie brauchen sie nicht anzumelden; ich lasse sie nicht zu.
Nehmen Sie doch lieber wohlwollend zur Kenntnis, dass den Familien in Deutschland ab 2013 durch das Betreuungsgeld zusätzliches Geld - wohlgemerkt: zusätzlich zu den 4 Milliarden Euro, die der Bund für den Ausbau der Kinderbetreuung zahlen wird - zur Verfügung stehen wird. Es erschließt sich mir nicht, was an mehr Geld für Familien schlecht sein soll.
Mit der Einführung des Betreuungsgeldes kann eine Empfehlung der Sachverständigenkommission umgesetzt werden, die vorgeschlagen hat, die Dauer des Elterngeldes auf drei Jahre auszudehnen. Wir bewegen uns in der Diskussion ja schon in die Richtung, dass wir für die Familien über das erste Jahr hinaus mehr Leistungen gewähren wollen. Das hatten Sie vorhin noch moniert, Frau Lenke.
Lassen Sie uns daher doch die leidige Diskussion über das richtige Familienbild und die Vorwürfe der Bevormundung beenden. Konzentrieren wir uns lieber darauf, geeignete Instrumente und Wege zu finden, damit jedes Kind von den geplanten Initiativen profitieren kann. Maßstab jeder Überlegung kann dabei meiner Meinung nach nur das Kindeswohl sein. Das Kindeswohl ist dann gewährleistet, wenn ein Kind seine Potenziale frei entfalten kann. Wir alle sind uns wohl darin einig, dass in diesem Zusammenhang gerade der frühkindlichen Bildung eine zentrale Rolle zukommt.
Ich distanziere mich aber ausdrücklich davon, dass gute Angebote für Kinder ausschließlich durch institutionelle Betreuungseinrichtungen gewährt werden können. Ich denke, dass immer noch die Eltern am besten entscheiden können, was der Entwicklung ihres Kindes gut tut. Die allermeisten Eltern werden das Betreuungsgeld auch zielgerichtet für das Wohlergehen ihres Kindes einsetzen, Frau Sager.
Diejenigen Eltern, die durch entsprechende Probleme in der Familie nicht dazu in der Lage sind, brauchen bei der Bewältigung ihrer Probleme Unterstützung. Ihnen und ihren Kindern ist vielleicht nicht unbedingt durch mehr Geld geholfen. Ich gebe den Kritikern des Betreuungsgeldes recht, dass das Geld in manchen Fällen wohl auch nicht bei den Kindern ankommen wird.
Es ist aber auch klar, dass sozial benachteiligte Familien, auf die Sie aus der Opposition in diesem Zusammenhang gerne abzielen, zusätzlich gezielte Hilfestellungen brauchen, damit sich die Situation der Eltern auch wirklich nicht negativ auf die Entwicklung der Kinder auswirkt.
Das soziale Frühwarnsystem der Bundesregierung ist darüber hinaus meiner Meinung nach bereits ein wichtiger Schritt in die richtige Richtung, um Vernachlässigung oder sogar Misshandlung von Kindern wirksam vorzubeugen.
Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse:
Herr Kollege, Sie müssen bitte zum Ende kommen.
Paul Lehrieder (CDU/CSU):
Jawohl, Herr Präsident, ich bin schon kurz vorm Ende, obwohl ich noch viel zu sagen hätte.
Der Bund stellt 10 Millionen Euro für das Programm bereit. Im Fokus stehen dabei vor allem Kinder bis zu drei Jahren sowie junge Familien in belasteten Lebenslagen.
Liebe Frau Laurischk, ich freue mich auf die Diskussion im Ausschuss.
Dort haben wir Zeit dafür. Ich stehe Ihnen für eine Diskussion selbstverständlich gerne zur Verfügung. Ich bitte aber um Verständnis, dass ich Schaufensterfragen hier im Plenum aufgrund der vorgerückten Zeit nicht zugelassen habe. Ich wünsche Ihnen ein schönes Wochenende.
Danke schön.
Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse:
Es wurden zwei Kurzinterventionen angemeldet. Zunächst Kollegin Sager und dann Kollege Barth.
Krista Sager (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Herr Lehrieder, eine Sache kann ich so wirklich nicht stehen lassen, nämlich Ihre Behauptung, ich hätte den bildungsfernen Migrantenfamilien unterstellt, dass sie, wenn sie eine staatliche Prämie bekämen, das Geld nicht für ihre Kinder ausgeben würden. Das habe ich nicht gesagt.
Der Sachverhalt ist doch anders: Sie wollen diese Prämie als Belohnung dafür gewähren, dass diese Familien ihr Kind nicht in eine Kinderbetreuung geben.
In dem Moment, in dem sich eine solche Familie entscheidet, zum Beispiel ein zweijähriges Kind doch wieder in die Kinderbetreuung zu geben - was meistens mit zusätzlichen Kosten verbunden ist -, nehmen Sie ihnen das Geld wieder weg, weil sie die Kriterien für diese Prämie dann ja nicht mehr erfüllen.
Das ist das völlig falsche Signal. Darauf lassen Sie sich argumentativ aber offensichtlich nicht ein. Denken Sie also noch einmal darüber nach!
Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse:
Kollege Barth, bitte.
Uwe Barth (FDP):
Herr Kollege Lehrieder, neben der Tatsache, dass ich die Form und die Art Ihres Umgangs mit den Meldungen zu Zwischenfragen nicht sehr kollegial fand, finde ich es besonders verwunderlich, dass Sie am Ende bedauern, dass Sie noch viel zu sagen gehabt hätten. Dabei hätten Sie die Gelegenheit gehabt, mehr zu sagen, wenn Sie die Zwischenfragen zugelassen hätten. Diese Chance haben Sie nicht genutzt.
Ich möchte Sie nur kurz darauf hinweisen, dass es auch in einigen ostdeutschen Ländern, in denen die CDU meines Wissens mitregiert, einen Rechtsanspruch auf Kinderbetreuung für Kinder von null bis 14 Jahren gibt. Das ist in Sachsen-Anhalt zum Beispiel der Fall. Das, was Sie vorgetragen haben, erscheint mir damit nicht vereinbar. Vielleicht können Sie auch darauf in Ihrer Antwort eingehen.
Vielen Dank.
Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse:
Herr Kollege Lehrieder, Sie haben Gelegenheit zur Antwort.
Paul Lehrieder (CDU/CSU):
Zunächst zu Ihnen, Frau Sager: Es geht nicht um eine Belohnung dafür, dass die Kinder zu Hause bleiben, sondern um einen Ausgleich.
Sie unterstellen, dass die Erziehungsleistung durch Eltern, die ihre Kinder zu Hause erziehen, weniger oder gar nichts wert ist. Wenn für die Erziehung zu Hause - auch dort fallen schließlich Ausgaben an - ein Ausgleich in Höhe von 150 Euro gewährt wird, dann ist das weder eine Diskriminierung noch eine Präferenz.
Mir geht es darum, dass die Eltern frei zwischen beiden Modellen wählen können, ohne dass eines bevorzugt wird. Das liegt im Interesse der Eltern wie auch der Kinder.
Zu Ihrer Frage, Herr Barth: Ich habe kein Problem damit, wenn auf Länderebene ein Rechtsanspruch auf Kinderbetreuung geschaffen wird. Wir haben uns mit dem Rechtsanspruch auf einen Krippenplatz ab 2013 bereits in diese Richtung bewegt, was Sie auch zur Kenntnis genommen haben. Ob der Rechtsanspruch schneller eingeführt werden kann, bleibt abzuwarten. Auch wenn wir nicht ganz so schnell vorankommen, wie Sie es sich vorstellen, sind wir auf dem richtigen Weg. Wir denken über dieses Thema nach. Das wäre vor ein paar Jahren bei uns noch schlecht vorstellbar gewesen.
Danke schön.
Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse:
Nun erteile ich das Wort Kollegin Miriam Gruß, FDP-Fraktion.
Miriam Gruß (FDP):
Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Ich möchte auf zwei Randgruppen hinweisen, die in der Debatte schlichtweg vergessen wurden. Der eine oder andere lacht zwar darüber, aber meiner Ansicht nach werden sowohl die Bedürfnisse und Rechte der Kinder als auch die Forderungen und Anliegen der Väter in der gesamten Diskussion übersehen.
Niemand aus den Reihen der CDU/CSU fragte bisher nach dem Recht der Kinder auf Bildung, individuelle Förderung und Unterstützung bei der Entwicklung der eigenen Fähigkeiten.
Statt von Förderung spricht der Kollege Lehrieder nämlich nur von einem Treffen von Kumpels, wenn es um die Kinderkrippen geht. Sie müssen noch viel dazulernen.
Niemand aus den Reihen der CDU/CSU fragte bisher nach den Wünschen, vielleicht aber auch nach den Ängsten der Väter, wenn es um das Thema Kinderbetreuung ging. Im Siebten Familienbericht werden hingegen in beiden Bereichen Schwerpunkte gesetzt. Darüber freue ich mich und danke den Autoren für ihre Weitsicht.
Beim Thema Kinder steht die Trias Bildung, Betreuung und Erziehung im Mittelpunkt. Insbesondere die ersten Lebensjahre sind entscheidend für die Persönlichkeitsbildung von Kindern. Der vorliegende Bericht verweist zu Recht auf wichtige Ergebnisse neuerer Forschungen zur frühkindlichen Sozialisation.
Demnach kommt es nicht nur auf die reine Versorgung in den ersten Lebensmonaten an; ebenso wichtig sind auch der Aufbau stabiler Bindungen und die Beziehungsqualität, wie es im Bericht heißt. Ein Kind begreift ab der Geburt, ob es von einer Person nur versorgt oder aufmerksam betreut, angeregt und gefördert wird. Wir alle - außer der CDU/CSU - wissen, welche enormen Effekte frühkindliche Förderung hat:
selteneres Schulversagen, höhere und frühere Bildungsabschlüsse, bessere Gesundheit und Ernährung und geringere Kriminalitätsraten.
Deshalb fordert die FDP-Fraktion, dass schon Krippen und Kindergärten unter dem Aspekt der frühkindlichen Bildung begriffen, dass dort die kognitiven Fähigkeiten von Kindern gezielt gefördert werden und dass die Hilfe dort ankommt, wo sie gebraucht wird, nämlich bei den Kindern.
Möglich wird dies mit unserem Konzept der Subjektförderung durch Bildungs- und Betreuungsgutscheine.
Herr Lehrieder, Sie wollen doch eigentlich nur eine Kindergelderhöhung durchsetzen.
Wir wollen nicht nach dem Gießkannenprinzip, sondern bedarfsgerecht fördern. In diesem Zusammenhang will ich eines klarstellen: Auf Schuldenbergen können Kinder nicht spielen.
Lassen Sie mich abschließend auf die zweite Minderheit zu sprechen kommen. Im Siebten Familienbericht wird zu Recht an vielen Stellen darauf verwiesen, wie unterschiedlich Frauen und Männer mit der Herausforderung Familie umgehen. Es wird aber auch klargestellt, dass junge Männer am Erziehungsprozess ihrer Kinder beteiligt werden wollen. In dem Bericht wird deutlich gesagt: Kinder brauchen ihre Väter. Sie sind ihnen Vorbild, Vertrauensperson und Hilfe zugleich. Ich fordere mehr männliche Erzieher, vor allem in den Kindergärten, aber auch in den Grundschulen. Die Väter sind ganz wichtig, und es ist auch extrem wichtig, dass sie ein Vorbild für ihre Kinder sind.
Im Sinne der Väter, der Kinder und der Familien machen wir von der FDP eine gute Bildungs- und Familienpolitik.
Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse:
Jetzt hat Frau Kollegin Humme von der SPD-Fraktion das Wort.
Christel Humme (SPD):
Herr Präsident! Liebe Kollegen und Kolleginnen! Etwas Erfreuliches aus Bayern: 98,5 Prozent der 3- bis 6-Jährigen gehen dort in einen Kindergarten. Das konnte man gestern lesen.
- Das ist richtig, sagen Sie, Herr Singhammer. Das ist eine sehr beeindruckende Zahl, keine Frage. Warum soll ich Sie nicht auch einmal loben, wenn es wirklich angebracht ist?
Ich sage aber gleichzeitig: Das ist so, weil es seit elf Jahren für die 3- bis 6-Jährigen einen Rechtsanspruch auf einen Kindergartenplatz gibt. Der Rechtsanspruch wirkt an dieser Stelle.
Wenn wir uns aber die Situation bei den Krippenplätzen anschauen, dann müssen wir feststellen - das haben wir heute schon vielfach gehört -, dass die Zahlen wirklich mager sind. In Westdeutschland werden insgesamt nur 7,8 Prozent der Kinder unter drei Jahren entsprechend betreut. Ich meine, an dieser Stelle ist klar: Auch im Krippenbereich brauchen wir unbedingt einen Rechtsanspruch.
Liebe Kollegen, liebe Kolleginnen, vor neun Monaten haben wir zum ersten Mal über den Siebten Familienbericht debattiert. Im Familienbericht legen uns die Wissenschaftler ein Umdenken in der Familienpolitik nahe: weg von der bisherigen Politik der reinen Transferleistungen und hin zu einem nachhaltigen familienpolitischen Konzept, einem Mix aus Geld, Betreuungsangeboten und Zeit. Gleichzeitig - das ist ein Aspekt, der heute noch gar nicht richtig zum Tragen kam - legen uns die Wissenschaftler nahe, dass gute Familienpolitik immer auch Gleichstellungspolitik sein muss. Beides gehört zusammen.
Wer vor anderthalb Jahren gedacht hat, dass die Große Koalition gar nicht in der Lage sein wird, aus diesem Anspruch heraus etwas zu entwickeln, der wird - das muss man ehrlicherweise sagen - eines Besseren belehrt. Ich sage Ihnen: Sie bewegt sich doch, auch wenn das in den letzten Tagen vielleicht nicht ganz so deutlich war. Die Große Koalition hat in den letzten neun Monaten eine ganze Menge auf den Weg gebracht. Frau Sager, so langsam, wie Sie es beschrieben haben, war das mit Sicherheit nicht.
Denn wer hätte gedacht, dass schon am 1. Januar 2007 - nach einem Jahr - das Elterngeld und die Elternzeit in Kraft treten würden? Und wer hätte gedacht, dass wir uns schon am 14. Mai 2007 - vor sechs Wochen - auf einen Rechtsanspruch auf einen Krippenplatz verständigen würden?
Wir haben uns darauf verständigt - und darauf bestehen wir -, dass dieser Rechtsanspruch auch in dieser Legislaturperiode formuliert wird.
- Warten wir einmal ab. - Damit erfüllen wir berechtigterweise Schritt für Schritt die Forderungen des Siebten Familienberichts.
Man stellt ja fest, dass das Elterngeld schon jetzt dazu geführt hat, dass sich die Anzahl der Anträge der Männer auf Elternzeit im Vergleich zu früher verdoppelt hat. Diese Verhaltensänderung der Männer ist der Beweis dafür, dass die Annahme im Siebten Familienbericht richtig ist: Die Familie hat sich verändert, aber auch die Rollen haben sich verändert.
Das Elterngeld und die Elternzeit geben den Müttern und Vätern die Chance, die Vereinbarkeit von Beruf und Familie letztlich auch in die Tat umzusetzen. Das ist eine wichtige Voraussetzung auch für das Thema Gleichstellung.
Aber ich gebe Ihnen, Frau Sager, und allen, die vorher gesprochen haben, natürlich recht: Nach einem Jahr Elternzeit, das heißt im nächsten Jahr, wird der Druck zunehmen, einen qualitativ guten Krippenplatz zu finden.
- Aber der Druck erhöht sich auch, weil die Nachfrage stärker wird, Frau Lenke. Darin werden Sie mir ja recht geben. Sie haben das in Ihrer Rede ja deutlich gemacht.
Deshalb ist es richtig, Druck zu machen. Und Frau von der Leyen macht ja auch Druck, um den Ausbau der Krippenplätze zu bescheunigen.
Darum ist richtig, dass wir bei den Krippenplätzen bis 2013 auf 750 000 Plätze kommen wollen. Auch ist es richtig, die Formulierung eines Rechtsanspruchs zu beschleunigen.
Wir dürfen keine Zeit verlieren.
Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse:
Frau Kollegin, gestatten Sie eine Zwischenfrage der Kollegin Lenke?
Christel Humme (SPD):
Gerne.
Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse:
Bitte, Frau Lenke.
Ina Lenke (FDP):
Frau Kollegin Humme, da die Ministerin nicht mit dem Finanzierungskonzept herausgerückt ist, sagen Sie mir doch bitte, wie Sie den Druck ohne ein Finanzierungskonzept erhöhen wollen mit dem Ziel, eine ausreichende Zahl an Krippenplätzen zur Verfügung zu stellen.
Christel Humme (SPD):
Sie haben recht: Dafür braucht man Geld. Ich bin sehr froh und stolz darauf, dass wir in der Großen Koalition vereinbart haben, dass der Bund die Kommunen nicht alleine lässt, sondern sich an der Finanzierung der Krippenplätze beteiligt.
Ich glaube, das ist ein Fortschritt. Das hat es vorher nicht gegeben. Das müssen Sie anerkennen.
Beim Krippenausbau geht es nicht nur um Gleichstellung, sondern auch - das wurde in den zuvor gehaltenen Reden deutlich - um die Bildungschancen unserer Kinder. Frau Kressl hat mit Recht darauf hingewiesen: Solange es Zeitungsmeldungen gibt, dass Akademikerkinder einen besseren Zugang zum Studium haben und eher ein Studium abschließen, während Kinder aus Familien mit Migrantenhintergrund noch nicht einmal einen Hauptschulabschluss erreichen, so lange haben wir die Pflicht, die Bildung von Anfang an in den Vordergrund zu stellen. Herr Lehrieder, Sie tun das Konzept der Bildung von Anfang an leider als Spielgruppe mit Kameraden ab. Das kann ich Ihnen nicht durchgehen lassen. Bitte schauen Sie sich die Bildungsberichte an. Dann wissen Sie, wie wichtig Bildung von Anfang an ist.
Sie sehen, dass der Betreuungsausbau bei uns der Tagesordnungspunkt eins ist. Ich sage Ihnen aber ganz deutlich: Für uns Sozialdemokratinnen und Sozialdemokraten steht das Betreuungsgeld nicht auf der Tagesordnung; denn ich stimme allen Vorrednerinnen und Vorrednern zu, die die Auffassung vertreten haben, dass das Betreuungsgeld eine Geldleistung dafür ist, dass ein Kind weniger Bildung erhält.
Es wäre außerdem eine Geldleistung dafür, dass Mütter - nicht die Väter; um die geht es in der Regel nicht - ihre eigenen Lebensentwürfe nicht leben können. Oder soll ich vielleicht sagen: nicht leben sollen? Das wollen wir auf keinen Fall.
Wir danken den Verfasserinnen und Verfassern des Siebten Familienberichts für die Anregungen, die alle ein einziges Ziel haben, nämlich die Neuausrichtung der Familienpolitik an der Lebenswirklichkeit. Ich garantiere: Wir Sozialdemokratinnen und Sozialdemokraten machen uns diese Anregungen gerne zu eigen.
Schönen Dank.
Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse:
Nun hat als letzter Redner zu diesem Tagesordnungspunkt Kollege Wolfgang Spanier, SPD-Fraktion, das Wort.
Wolfgang Spanier (SPD):
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Der Bericht, über den wir heute diskutieren, hat 589 Seiten. Es ist völlig klar, dass wir in einer Stunde Debatte nur einzelne Punkte herausgreifen können.
Ich möchte das unterstreichen, was Frau Humme gerade gesagt hat: Der Bericht ist ganz ausgezeichnet, und zwar sowohl in der Analyse als auch in der Orientierung, die er uns in der Familienpolitik gibt. Eines ist deutlich - das ist glücklicherweise seit drei, vier Jahren auch in der öffentlichen Wahrnehmung -: Familienpolitik ist ein entscheidender Bereich der Gesellschaftspolitik für die Entwicklung unseres Landes.
Da ich in sechs Minuten nicht alle Aspekte ansprechen kann, will ich mich auf zwei konzentrieren. Ich möchte einige Anmerkungen zur Veränderung der Familienstrukturen machen und auf einen Aspekt eingehen, der mir persönlich wichtig ist, nämlich auf die Generationensolidarität.
In dem Bericht wird im europäischen Vergleich sehr ausführlich beschrieben - das wurde heute schon mehrfach angesprochen -, wie sehr sich die Familienstrukturen im Vergleich zu den 60er-Jahren verändert haben. Es wird dankenswerterweise mehrfach gesagt, dass alle Versuche, das zurückzudrehen, einen Schritt zurück in die 60er-Jahre zu machen, scheitern werden, dass ein solcher Schritt völlig verfehlt ist. Ich verstehe daher alle, die das Betreuungsgeld kritisieren; denn hier wird in der Tat übersehen, dass es im Kindergarten, in der Kindertagesstätte und in der Kinderkrippe nicht nur um Betreuung geht. Es geht doch nicht allein darum, die Voraussetzungen dafür zu schaffen, dass beide Elternteile arbeiten können. In der Kinderkrippe geht es auch um Bildung und Erziehung. Das ist ganz entscheidend.
Viele von den Älteren, wie zum Beispiel ich, sind Großeltern. Wir sehen an den Enkelkindern, welchen Entwicklungsschub es bei ihnen gibt, wenn sie diese Einrichtungen besuchen. Kinderkrippen haben eben nicht hauptsächlich mit Betreuung und Verwahrung zu tun.
An mehreren Stellen gibt es den Versuch - das muss ich sagen -, zurück in die 50er-Jahre zu gelangen. Wir müssen einfach die Lebenswirklichkeit und die Vielfalt im Bereich Familie akzeptieren. Alles Gerede von der Krise der Familie geht an der Lebenswirklichkeit vorbei. Die Familie - das bestätigt dieser Bericht ausdrücklich - ist die entscheidende Instanz, um beiden Geschlechtern die gleiche Chance auf Lebensverwirklichung zu geben, allen Kindern gute Entwicklungsmöglichkeiten zu garantieren und den Zusammenhalt der Generationen zu gewährleisten. Das leistet nach wie vor die Familie. Aber sie tut dies angesichts des gesellschaftlichen Wandels unter erschwerten Bedingungen. In einem früheren Familienbericht wurde das etwas akademisch als die ?strukturelle Rücksichtslosigkeit“ bezeichnet. Denken Sie nur an die Veränderungen in der Arbeitswelt - Stichwort Arbeitszeit -, die nicht von vornherein familienfreundlich sind.
Ich komme nun zur Generationensolidarität. Es ist ganz wichtig, dass wir die drei Berichte, nämlich Familienbericht, Kinder- und Jugendbericht und Altenbericht, im Zusammenhang diskutieren. Das sagen in ihrem Vorwort auch die Verfasser des Familienberichts. Es ist richtig, dass Familie da ist, wo Kinder sind. Das trägt der Vielfalt der Familien und der unterschiedlichen Formen des Zusammenlebens Rechnung, die sich im Laufe der letzten Jahrzehnte herausgebildet haben. Aber es ist auch richtig, zu sagen - das habe ich der Antwort der Bundesregierung entnommen -: Familie ist noch mehr; sie ist eine Gemeinschaft mit starken Bindungen, in der mehrere Generationen füreinander sorgen. - Diesen Generationenaspekt halte ich für äußerst wichtig.
Wir sollten die Generationensolidarität nicht idealisieren. Sie ist aber nach wie vor ein Stützpfeiler unserer Gesellschaft. Bei der Diskussion über die Pflege und Pflegeversicherung geht es auch um Generationensolidarität, die die Verbundenheit innerhalb der Generationen widerspiegelt. Diese Generationensolidarität ist noch in weiten Teilen intakt. Aber sie ist ebenfalls gefährdet. Im Bericht taucht dazu der etwas merkwürdige, ebenfalls akademische Begriff ?multilokale Mehrgenerationenfamilie“ auf.
Diese Entwicklung ist in der Tat festzustellen. Das zeigt, dass wir versuchen müssen, diesen gesellschaftlichen Veränderungen Rechnung zu tragen, wenn wir über Rahmenbedingungen nachdenken, die der Staat setzt.
Eine kurze Bemerkung zu den Rahmenbedingungen. Ich gebe all denjenigen, die heute gesprochen haben, recht, dass wir bei allen Überlegungen, auch bei allen Instrumenten, die wir in der Familienpolitik einsetzen - das gilt auch für die unterschiedlichen Arten von Geldleistungen -, immer ein ganz besonderes Augenmerk auf die sozial benachteiligten Kinder und Familien richten sollten.
Dazu gehören sehr viele Kinder und Familien mit Migrationshintergrund und auch behinderte Kinder, die wir ebenfalls einbeziehen sollten. Ich bin Herrn Seifert dankbar, dass er diesen Punkt in der Debatte heute angesprochen hat.
Unter uns gesagt: Ich halte diesen liebevollen Blick auf entsprechende Maßnahmen - wie wirken sie sich genau auf diese Gruppe aus? - für besonders wichtig. Ich will hier ehrlicherweise einräumen: Der Familienbericht bescheinigt uns, dass wir in der Bundesrepublik in dieser Hinsicht nicht besonders erfolgreich gewesen sind. Das muss man leider zur Kenntnis nehmen. Ich halte gar nichts von Dramatisierung, Skandalisierung und von einem Moralisieren vom Rednerpult aus. Aber dass es verdammt wichtig ist, bei allen Maßnahmen diesen Aspekt zu berücksichtigen, möchte ich unterstreichen.
Dabei geht es nicht in erster Linie um Geld. Vielmehr sind die Verbesserung der Infrastruktur und unterstützende Maßnahmen von ganz entscheidender Bedeutung.
Ich will nur noch einen Hinweis geben, da meine Zeit abgelaufen ist.
- Nur die Redezeit, ja. Aber mit 64 Jahren macht man sich so langsam seine Gedanken.
Frau Kressl, mir hat das Goethe-Zitat besonders gut gefallen: Kinder brauchen Wurzeln und Flügel. - Ich möchte nun Goethe nicht ergänzen, aber ich will sagen: Auch Abgeordnete brauchen Wurzeln und Flügel, gerade in der Familienpolitik.
Schönen Dank.
Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse:
Ich dachte schon, lieber Kollege, Sie wollten Goethe noch übertreffen.
Ich schließe die Aussprache.
Wir kommen zur Beschlussempfehlung des Ausschusses für Familie, Senioren, Frauen und Jugend auf Drucksache 16/4211 zu der Unterrichtung durch die Bundesregierung auf Drucksache 16/1360 mit dem Titel ?Siebter Familienbericht - Familie zwischen Flexibilität und Verlässlichkeit - Perspektiven für eine lebenslaufbezogene Familienpolitik und Stellungnahme der Bundesregierung“. Der Ausschuss empfiehlt, in Kenntnis der Unterrichtung eine Entschließung anzunehmen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung ist mit den Stimmen der beiden Koalitionsfraktionen gegen die Stimmen der drei Oppositionsfraktionen angenommen.
Wir kommen zur Abstimmung über die Entschließungsanträge.
Wer stimmt für den Entschließungsantrag der Fraktion der FDP auf Drucksache 16/5782? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Der Entschließungsantrag ist gegen die Stimmen der FDP-Fraktion mit den Stimmen des übrigen Hauses abgelehnt.
Wer stimmt für den Entschließungsantrag der Fraktion Die Linke auf Drucksache 16/5783? - Gegenprobe! - Enthaltungen? - Der Entschließungsantrag ist gegen die Stimmen der Fraktion Die Linke mit den Stimmen des übrigen Hauses abgelehnt.
Wir kommen zur Beschlussempfehlung des Ausschusses für Familie, Senioren, Frauen und Jugend auf Drucksache 16/5397. Der Ausschuss empfiehlt unter Nr. 1 seiner Beschlussempfehlung, in Kenntnis des Berichts der Bundesregierung auf Drucksache 16/2250 über den Stand des Ausbaus für ein bedarfsgerechtes Angebot an Kindertagesbetreuung für Kinder unter drei Jahren 2006 den Entschließungsantrag der Fraktion der FDP auf Drucksache 16/4443 abzulehnen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Gegenprobe! - Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung ist mit den Stimmen der Fraktionen der CDU/CSU, der SPD und des Bündnisses 90/Die Grünen gegen die Stimmen der Fraktion der FDP und der Fraktion Die Linke angenommen.
Unter Nr. 2 seiner Beschlussempfehlung empfiehlt der Ausschuss in Kenntnis des genannten Berichts die Ablehnung des Antrags der Fraktion Die Linke auf Drucksache 16/4412 mit dem Titel ?Kindertagesbetreuung für Kleinstkinder sofort ausbauen und Qualität verbessern“. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung ist gegen die Stimmen der Fraktion Die Linke mit den Stimmen des übrigen Hauses angenommen.
Beschlussempfehlung des Ausschusses für Familie, Senioren, Frauen und Jugend zu dem Antrag der Fraktion Die Linke mit dem Titel ?Elternbeitragsfreie Kinderbetreuung ausbauen“. Der Ausschuss empfiehlt unter Nr. 1 seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 16/3219, den Antrag der Fraktion Die Linke auf Drucksache 16/453 abzulehnen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung ist mit der gleichen Mehrheit wie zuvor angenommen.
Unter Nr. 2 seiner Beschlussempfehlung empfiehlt der Ausschuss die Ablehnung des Antrags der Fraktion des Bündnisses 90/Die Grünen auf Drucksache 16/552 mit dem Titel ?Leben und Arbeiten mit Kindern möglich machen“. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung ist mit den Stimmen der CDU/CSU, der SPD und der FDP gegen die Stimmen der Fraktion Die Linke und der Fraktion des Bündnisses 90/Die Grünen angenommen.
Schließlich empfiehlt der Ausschuss unter Nr. 3 seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 16/3219 die Ablehnung des Antrags der Fraktion des Bündnisses 90/Die Grünen auf Drucksache 16/1673 mit dem Titel ?Kinder fördern und Vereinbarkeit von Beruf und Familie stärken - Rechtsanspruch auf Kindertagesbetreuung ausweiten“. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung ist mit den Stimmen der CDU/CSU, der SPD und der FDP gegen die Stimmen der Fraktion des Bündnisses 90/Die Grünen bei Enthaltungen der Fraktion Die Linke angenommen.
Tagesordnungspunkte 26 d und e. Interfraktionell wird Überweisung der Vorlagen auf den Drucksachen 16/5426 und 16/5114 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall. Dann sind die Überweisungen so beschlossen.
[Der folgende Berichtsteil - und damit der gesamte Stenografische Bericht der 106. Sitzung - wird am
Montag, den 25. Juni 2007,
an dieser Stelle veröffentlicht.]