112. Sitzung
Berlin, Donnerstag, den 13. September 2007
Beginn: 9.00 Uhr
* * * * * * * * V O R A B - V E R Ö F F E N T L I C H U N G * * * * * * * *
* * * * * DER NACH § 117 GOBT AUTORISIERTEN FASSUNG * * * * *
* * * * * * * * VOR DER ENDGÜLTIGEN DRUCKLEGUNG * * * * * * * *
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms:
Guten Morgen, liebe Kolleginnen und Kollegen! Die Sitzung ist eröffnet.
Die Fraktion der SPD hat mitgeteilt, dass der Kollege Dirk Becker sein Amt als Schriftführer niedergelegt hat. Als Nachfolger wird der Kollege Dr. Rainer Tabillion vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist offenkundig der Fall. Dann ist der Kollege Dr. Rainer Tabillion zum Schriftführer gewählt.
Interfraktionell ist vereinbart worden, die verbundene Tagesordnung um die in der Zusatzpunktliste aufgeführten Punkte zu erweitern:
ZP 1 Weitere Überweisungen im vereinfachten Verfahren
(Aufruf nach TOP 4 )
a) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Aufhebung der Heimkehrerstiftung und zur Finanzierung der Stiftung für ehemalige politische Häftlinge (Heimkehrerstiftungsaufhebungsgesetz - HKStAufhG)
- Drucksache 16/5845 -
Überweisungsvorschlag:
Innenausschuss (f)
Haushaltsausschuss gemäß § 96 GO
b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Hans-Joachim Otto (Frankfurt), Christoph Waitz, Dr. Karl Addicks, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP
Klare Konzepte für den Bau des Berliner Schlosses
- Drucksache 16/5961 -
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Kultur und Medien (f)
Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung
Haushaltsausschuss
Außerdem mache ich auf eine nachträgliche Überweisung im Anhang zur Zusatzpunktliste aufmerksam: Der in der 109. Sitzung des Deutschen Bundestages überwiesene nachfolgende Gesetzentwurf soll zusätzlich dem Ausschuss für Wirtschaft und Technologie (9. Ausschuss) zur Mitberatung überwiesen werden.
Entwurf eines Gesetzes zur Neuregelung der Telekommunikationsüberwachung und anderer verdeckter Ermittlungsmaßnahmen sowie zur Umsetzung der Richtlinie 2006/24/EG
- Drucksache 16/5846 -
Überweisungsvorschlag:
Rechtsausschuss (f)
Innenausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und
Technologie
Ausschuss für Ernährung,
Landwirtschaft und Verbraucherschutz
Ausschuss für Kultur und Medien
Sind Sie mit den Vereinbarungen einverstanden? - Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.
Wir setzen die Haushaltsberatungen - Tagesordnungspunkt 2 - fort:
2. a) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes über die Feststellung des Bundeshaushaltsplans für das Haushaltsjahr 2008 (Haushaltsgesetz 2008)
- Drucksache 16/6000 -
Überweisungsvorschlag:
Haushaltsausschuss
b) Beratung der Unterrichtung durch die Bundesregierung
Finanzplan des Bundes 2007 bis 2011
- Drucksache 16/6001 -
Überweisungsvorschlag:
Haushaltsausschuss
Am Dienstag haben wir für die heutige Aussprache eine Redezeit von insgesamt sieben Stunden vereinbart.
Wir beginnen die heutige Beratung mit dem Geschäftsbereich des Bundesministeriums für Arbeit und Sozialordnung, Einzelplan 11. Als erster Redner hat der Bundesminister Franz Müntefering das Wort.
Franz Müntefering, Bundesminister für Arbeit und Soziales:
Guten Morgen, Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die Koalition ist mit ihrer Politik auf einem richtigen Weg; das hat sich auch in den Beratungen dieser Woche gezeigt. Gestern ist das noch einmal so schön plastisch geworden, als ich die Opposition gehört habe. Die Ratlosigkeit, was Alternativen angeht zu dem, was wir als Koalition vorgeschlagen haben, war sehr offensichtlich. Ich glaube, dass gestern Abend in allen Wohnzimmern klar wurde: Deutschland wartet nicht darauf, dass Westerwelle und Lafontaine hier auf die Bühne treten.
Das muss die Große Koalition schon alleine machen, und wir wollen das auch.
Wir wissen um die Verantwortung, die wir tragen. In diesem Bewusstsein haben wir uns in Meseberg darüber abgestimmt, was in den beiden Jahren bis 2009 im Wesentlichen noch zu tun ist. Es geht um die Notwendigkeit, gemeinsam die Ziele zu beschreiben, um den Weg, der zu ihnen führt, zu finden: suchend, auch streitend - wir sollten uns, wo es nötig ist, nicht davon abhalten lassen -, aber auch fähig zu Kompromissen, die konstruktiv sind und in die richtige Richtung führen.
Wir haben in Meseberg noch einmal gemeinsam festgestellt: Es geht darum, den Wohlstand in diesem Land dauerhaft auf hohem Niveau zu halten und ihn gerecht zu verteilen; alle sollen etwas davon haben. Das ist das gemeinsame Ziel. Dieses beschreibend, muss man versuchen, den Weg dahin zu finden. Dabei ist für alle im Kabinett, für die Bundesregierung insgesamt, aber auch für die Große Koalition klar, dass das nur gelingen kann, wenn wir Ökonomie, Ökologie und Soziales gleichgewichtig und miteinander abgestimmt zu einer guten Politik harmonisieren. Alle drei Dinge gehören zusammen: Nur wenn wir ökonomisch erfolgreich sind, werden wir die nötigen Grundlagen für ein hohes Niveau im sozialen Bereich haben. Umgekehrt gilt aber auch: Nur wenn wir in diesem Lande im sozialen Bereich Stabilität haben - soziale Gerechtigkeit auf hohem Niveau -, können auch die Ökonomie und die Ökologie funktionieren.
Diese drei Dinge gehören unvermeidlich zueinander.
Vor diesem Hintergrund will ich ein paar Punkte herausgreifen - alles kann ich nicht ansprechen -, über die wir in Meseberg geredet haben, die uns in den nächsten Wochen und Monaten begleiten werden und die etwas mit dem Haushalt zu tun haben, über den wir jetzt beraten.
Noch vor dem 1. November 2007 werden wir eine wichtige Entscheidung in Bezug auf die Fachkräfte treffen. In den letzten Wochen und Monaten gab es Meldungen, dass uns Ingenieure - Maschinenbauingenieure und Elektroingenieure - fehlen. Das ist auch offensichtlich so. Es kommen auch in den nächsten Jahren weniger neue, frische Ingenieure von den Fachhochschulen und Universitäten, als in Rente gehen. Wir in Deutschland müssen uns an dieser Stelle umsehen, was wir tun können.
Wir haben in Meseberg als Koalition drei Punkte dazu festgelegt: Erstens - zweitens und drittens: die eigene Substanz im Lande nutzen.
Wir müssen das gesamte Potenzial in diesem Lande nutzen und versuchen, die Arbeit, die es in Deutschland gibt, mit den Menschen zu tun, die legal in Deutschland leben. Sie brauchen Bildung, sie brauchen Ausbildung, und sie brauchen Qualifizierung. Das alles muss sein.
Darüber müsste man lange sprechen; aber ich will hier das Konzept deutlich machen. Deshalb: Der zweite Punkt, der dahinter kommt, heißt: Wir werden eine Kommission, einen Rat, bilden, der sich dauerhaft um die Frage kümmern wird, welche Notwendigkeit bezogen auf die Anforderungen des Arbeitsmarktes besteht, an qualifizierte Fachkräfte zu kommen. Man wird dann immer auf ein, zwei, drei Jahre im Voraus zu werten haben, wie viele es sein sollten und wie viele es sein könnten und wen man einlädt, zu kommen.
Diejenigen, die dann kommen, sind keine Gastarbeiter mehr in dem Sinne, wie das früher gemeint war - jemand kommt und soll nach drei Jahren wieder weg -, sondern das sind Leute, die hier integrierbar sind, integriert werden sollen und sich am Arbeitsmarkt bewegen. Dazu gehört auch, dass sie keinen festen Arbeitsplatz haben müssen, wenn sie kommen.
Das ist eine Sache, die wir in diesem und im nächsten Jahr gut vorbereiten müssen. Und was wir jetzt - drittens - machen zum 1. November 2007, sind zwei relativ kleine Schritte: zum einen die sektorale Öffnung für Maschinenbau- und Elektroingenieure für die zwölf neuen Länder der EU - diese können schon jetzt kommen, aber es gilt das Prinzip der Nachrangigkeit; ab Anfang November können sie sich gleichrangig auf dem deutschen Arbeitsmarkt bewegen -; zum anderen können sich die ausländischen Studenten nach Abschluss ihres Studiums ein Jahr lang bemühen, eine Arbeit zu finden, um dann hier in Deutschland in ihrem Beruf zu arbeiten.
Dazu hat Herr Westerwelle in Halbkenntnis der Zusammenhänge, wie das manchmal so ist, gesagt, wir hätten das auf drei Jahre beschränkt. Das ist falsch. Schon heute können sich Studenten in dem Bereich, in dem sie studiert haben, für drei Jahre einen Job suchen. Sie sind dann aber nachrangig am Arbeitsmarkt. Das wird jetzt geändert; die Nachrangigkeit fällt weg, und sie können gleichrangig hier im Lande bleiben und arbeiten.
Herr Westerwelle hat auch gesagt, wir würden die Intelligenz aus dem Land treiben. Ich habe das als Ankündigung verstanden, dass er auf absehbare Zeit nicht mehr ins Ausland fährt.
Jedenfalls sollten Sie sich den Zusammenhang einmal ein bisschen genauer anschauen.
- Bleiben Sie gelassen!
- Sagen Sie es lauter, dann können das alle hören. - Die Regelungen zu den Fachkräften werden wir also zum 1. November 2007 treffen.
Wir werden in der nächsten Woche damit beginnen, den Mindestlohn im Postbereich zu realisieren. Dann haben die Tarifparteien gestern den entsprechenden Antrag gestellt. Damit ist das erfüllt, was wir gemeinsam vereinbart haben. Wir in der Bundesregierung möchten, dass noch im Verlauf dieses Jahres für alle Postdienste Mindestlöhne zustande kommen.
Das werden wir im Kabinett und danach sicherlich auch in den Fraktionen und im Bundestag zu beraten haben.
Dann kommt im November, Dezember die Allgemeinverbindlichkeitserklärung zu den Dingen, die die Tarifparteien miteinander vereinbart haben.
Wir werden in diesem Herbst das Arbeitnehmer-Entsendegesetz und das Mindestarbeitsbedingungengesetz so weiterentwickeln, wie wir das vereinbart haben, und werden dann im nächsten Jahr Branchen einladen, in Sachen Mindestlohn ihr Interesse anzumelden, um dann auch aufgenommen zu werden.
Im Augenblick sprechen die verschiedenen Ministerien, die davon betroffen sind, über die Idee eines Erwerbstätigenzuschusses verbunden mit einer entsprechenden Kinderkomponente. Das heißt, wir wollen versuchen, dass Menschen, die vollzeit- oder vollzeitnah beschäftigt sind, die aber mit ihrem Einkommen trotzdem angewiesen sind auf zusätzliches Arbeitslosengeld II, Aufstocker, außerhalb des Arbeitslosengeldes II verbleiben und deshalb auch nicht den Regeln des Arbeitslosengeldes II unterliegen müssen.
Das ist die Idee des Kinderzuschlags, die seinerzeit entwickelt worden ist. Die wollen wir weiter ausbauen. Und wir wollen das verbinden zu einem Erwerbstätigenzuschuss für alle, die in dieser entsprechenden Größenordnung betroffen sind; und diese dann in die Idee des Erwerbstätigenzuschusses aufnehmen.
- Von Herrn Kampeter kommt gerade der Einwurf, dass wir darüber noch reden müssen. Das ist richtig. Das ist so. Aber das ist das, was ich vorhin beschrieben habe. Wenn man gemeinsam Ziele vereinbart, dann muss man den Weg dahin suchen, wenn nötig, auch streitig. Ich gehe dem ja nicht aus dem Weg. Aber es ist ein vernünftiger Gedanke, dass man Menschen, die in diesem Grenzbereich sind - die voll arbeiten, aber nicht genug Geld verdienen -, dass man die stabilisiert jenseits der Hilfebedürftigkeit von Arbeitslosengeld II. Das ist ein vernünftiger Gedanke, der bei Ihnen im Kinderzuschlag ja auch mitgetragen ist. Wir sollten versuchen, gemeinsam daraus etwas Gutes zu machen.
Wir werden im November dieses Jahres über die Frage zu sprechen haben, ob die Anpassungsmechanismen bei den Eckregelsätzen für Sozialhilfe und Arbeitslosengeld II noch stimmen oder ob man da etwas verändern muss. Da gibt es ja Ankündigungen von Preiserhöhungen. Auf dieser Grundlage haben wir eine Überprüfung ausgelöst: Stimmt das eigentlich noch von der Höhe her? Das werden wir dann wissen, und dann werden wir darüber zu sprechen haben, wie man an dieser Stelle Armut einschließlich Kinderarmut bekämpfen kann.
Ich glaube, dass vor allem vier Dinge wichtig sind, wenn man Armut bekämpfen will: Erstens: Arbeit schafften, den Menschen Arbeit geben und sie fair bezahlen; ein ordentlicher Lohn! Das Zweite: Die Eckregelsätze und die Anpassungsmechanismen müssen stimmen. Das Dritte ist dieser Erwerbstätigenzuschuss, den ich eben beschrieben habe. Und das Vierte ist die Frage, ob man für die Kinder nicht weitere konkrete Hilfen über das Maß hinaus erreichen kann, das es bereits heute gibt. Viele Länder und Kommunen sind dabei, auf diesem Gebiet Gutes zu tun. Aber wir müssten einmal sehen, ob man das nicht weiter systematisieren kann.
Wenn wir zu dem Ergebnis kämen, wir müssten die Eckregelsätze für Kinder erhöhen, um 10 Euro bei den 14-, unter 15-jährigen, dann müssten wir dafür etwa 500 Millionen Euro einsetzen. Die Frage ist, wenn wir diese 10 Euro pro Kind zusätzlich an die Bedarfsgemeinschaften geben: Kommt das bei den Kindern so an, dass die Kinder wirklich das haben, was sie eigentlich haben müssten. Deshalb müssen wir die konkrete Umsetzung - preisgünstig in Ganztagseinrichtungen gehen zu können, sei es Krippe, Kita oder Schule, preisgünstig gesund essen zu können, vernünftig eingerichtet zu sein, wenn man in die Schule kommt - mit einbeziehen in die Überlegung, wie man Kinderarmut bekämpfen kann. Da werden wir in diesem Herbst dran sein und hoffentlich zu guten gemeinsamen Entscheidungen kommen.
Wir werden Anfang nächsten Jahres ein Konzept zur Humanisierung der Arbeitswelt vorlegen. Da geht es um die Frage, wie wir altengerechte und altersgerechte Arbeit möglich machen - Initiative ?50 plus“ hin auf dem Weg zum Renteneintrittsalter 67. Dazu gehört die Frage, die wir uns alle stellen müssen: Was kann man tun, damit die Menschen leistungsfähig älter werden, und was kann man für die Humanisierung der Arbeitswelt tun?
Wir haben es in Deutschland erreicht, die Anzahl der schweren Unfälle deutlich zu reduzieren. Da liegen wir europaweit ganz weit vorn. Aber es ergeben sich neue Krankheitsbilder, die man anders angehen muss - Rücken, Augen, Haut, Psyche. Das sind Dinge, die man schwerer präventiv aufhalten kann als manche große und schwere Unfälle, mit denen wir früher zu tun gehabt haben. Man kann Maschinen sehr sicher machen. Aber die Menschen immun zu machen gegen Erkrankungen der Augen, des Rückens und der Psyche - das ist schon etwas, das neue Herausforderungen mit sich bringt. Wir müssen da Lösungen finden. Wir werden Anfang nächsten Jahres eine ausführliche Diskussion darüber führen müssen, Arbeitgeber und Arbeitnehmer mit am Tisch.
Wir werden Anfang nächsten Jahres in der Koalition auch etwas entscheiden müssen zum Bereich Zeitarbeit. Außer dass Zeitarbeit-Arbeitgeber und -Arbeitnehmer auch gerne in die Mindestlohnregelung möchten, müssen wir prüfen -das ist auch Aufgabe von Meseberg -, dass die Ausbauchungen, die im Zeitarbeitsbereich stattfinden, in keine vernünftige Bahn gelenkt werden. Zeitarbeit ist inzwischen eine solide Branche geworden. Das wollen wir auch so. Wo aber Zeitarbeit zur Dauerarbeit wird, und zwar mit künstlich herbeigeführten niedrigen Löhnen, ist das nicht im Sinne der Erfinder. Wir müssen alle miteinander darüber sprechen, was man da verändern kann.
Außer über die soziale Situation in Deutschland haben wir in Meseberg auch darüber gesprochen, was weltweit stattfindet.
Der Anspruch, der sich mit der europäischen Präsidentschaft und der G-8-Präsidentschaft verbindet, ist: dass wir ILO-Standards für menschengerechte Arbeit in der Welt unterstützen und versuchen, das umzusetzen; dass wir Mindeststandards geben, was die Lebensverhältnisse der Menschen in der Welt angeht. Das ist nicht nur soziales Denken, das ist auch eines, das vorbeugend ist für Konflikte und Kriege auf der Welt. Wir fühlen uns mitverantwortlich dafür, dass wir diese Standards nicht nur bei uns im Lande, sondern - entsprechend deren Entwicklung - in den Ländern weltweit forcieren. Dass es Kinder- und Sklavenarbeit nicht geben darf, darin werden wir uns alle einige sein; dass es sie tatsächlich gibt, ist aber leider eine Wahrheit. Deshalb müssen wir in diesem, aber auch in anderen Punkten dazu beitragen, dass wir die Standards in der Welt so verändern, dass die Menschen menschenwürdig arbeiten können.
Wir haben zum 1. Januar des nächsten Jahres den Start in das persönliche Budget für behinderte Menschen. Das ist eine Herausforderung, weil Deutschland das bisher nicht kannte. Das ist eine Sache, die in den skandinavischen Ländern üblich ist. Behinderte Menschen werden sehr viel mehr als bisher das Geld, das wir als Sozialtransfers für sie ausgeben, zur eigenen Entscheidung bekommen. Sie werden entscheiden können, was sie damit machen.
Es wird nicht leicht sein, das zu organisieren; es ist aber ein richtiger Schritt. Wir müssen ihn begleiten und dafür werben. Wir müssen dafür sorgen, dass das gelingt. Behinderte Menschen müssen in größtmöglichem Maße souverän über das Geld, das ihnen zur Verfügung steht, entscheiden können. Das wollen wir erreichen. Das Bewusstsein dafür wollen wir stärken. Da wollen wir im nächsten Jahr eine ordentliche Bewegung haben.
Ein letztes Wort zur Bekämpfung von Rechtsextremismus und zur Vorbeugung. Wir haben in meinem Haus - wenig besprochen, aber wirkungsvoll, meine ich - ein Programm laufen, das unter der Überschrift ?Xenos“ sich an junge Menschen richtet, an Kinder aus Migrationssituationen, aber auch an andere, in besonderer Weise an Kinder in Hauptschulen und Sonderschulen. Wir versuchen, sie gegen Rechtstendenzen zu immunisieren und sie die Demokratie zu gewinnen, vor allen Dingen aber ihnen eine eigene Lebensperspektive zu bieten. Diese Sache bleibt eine gemeinsame, die, so glaube ich, für alle in diesem Hause von großer Bedeutung ist. Wir müssen den jungen Menschen die Botschaft vermitteln: Ihr habt die Chance. Wir wollen, dass ihr eine Chance habt. Wir sorgen dafür. Wir helfen euch. Wir fördern euch. Wir fordern euch heraus. Wir helfen alle miteinander, damit die Rechtsextremisten in diesem Land keine Chance mehr haben.
Einige wichtige Aufgaben, die sich mit dem Haushalt ?Arbeit und Soziales“ befassen! Das andere werden wir im Ausschuss noch einmal sicher mit größerer Intensität beraten.
Vielen Dank für die Aufmerksamkeit.
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms:
Das Wort hat die Kollegin Dr. Claudia Winterstein von der FDP-Fraktion.
Dr. Claudia Winterstein (FDP):
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Sehr verehrter Herr Minister, die positiven Zahlen, in denen Sie sich zurzeit sonnen, sind leider nicht Ihr Verdienst. Vielmehr bringt die boomende Weltkonjunktur jetzt endlich auch den deutschen Arbeitsmarkt in Schwung. Ihre Aufgabe wäre es nun, diese Entwicklung nach Kräften zu fördern, indem Sie beispielsweise die Flexibilisierung des Arbeitsmarktes vorantreiben. Bei dieser Aufgabe versagen Sie jedoch völlig.
Sie tun vielmehr alles, um diese positive Entwicklung zu stoppen. Sie ziehen durch die Lande und reiten Ihr Steckenpferd Mindestlohn. Der Mindestlohn ist für Sie zum Allheilmittel geworden. Sogar Ihre Haushaltsprobleme meinen Sie mit diesem populistischen Wahlkampfschlager lösen zu können. Mit einem Mindestlohn können Sie Ihren Haushalt aber nicht entlasten, Herr Minister;
im Gegenteil: Mit einem Mindestlohn zerstören Sie die Arbeitsplätze, die es den Menschen jetzt erlauben, wenigstens einen Teil ihres Lebensunterhalts selbst zu verdienen.
Aus Sicht des Haushalts wäre der Mindestlohn also eher mit Mehrkosten als mit Einspareffekten verbunden.
Das beste Mittel zur Schaffung neuer Arbeitsplätze ist eine Senkung der Lohnnebenkosten. Dafür tut die Regierung aber zu wenig. Die von Ihnen auf den Weg gebrachte Absenkung des Beitrages zur Arbeitslosenversicherung ist längst überfällig. Eine Senkung auf 3,9 Prozent ist allerdings nur ein Trippelschritt. Eine Senkung auf 3,5 Prozent wäre ohne Weiteres sofort möglich.
Die Beitragsgelder müssen denen zurückgegeben werden, die sie gezahlt haben. Stattdessen planen Sie weiterhin eine Umleitung von Beitragsgeldern aus der Arbeitslosenversicherung in den Bundeshaushalt. So wie es der Haushaltsentwurf jetzt vorsieht, bereichert sich der Arbeitsminister mit 5,5 Milliarden Euro aus den Taschen der Beitragszahler.
Er verzichtet zwar endlich auf den jetzt auf 2 Milliarden Euro geschrumpften verfassungswidrigen Aussteuerungsbetrag, will aber nun stattdessen von der Bundesagentur einen Eingliederungsbeitrag in Höhe von 5 Milliarden Euro kassieren.
Im Entwurf versteckt er dann noch eine weitere halbe Milliarde Euro, um die er seinen Haushalt auf Kosten der Bundesagentur entlasten will.
Unsere klare Forderung lautet: Beitragssenkung statt Beitragsklau. Die Überschüsse der Bundesagentur gehören den Beitragszahlern. Lassen Sie endlich die Finger davon, Herr Minister!
Eine weitere massive Schwäche Ihrer Arbeitsmarktpolitik ist der ungebremste Wildwuchs von Maßnahmen. Die Regierung ist nicht fähig, diesen Wildwuchs zu begrenzen; im Gegenteil: Jobperspektive, Qualifizierungskombi, Erwerbstätigenzuschuss, Ausbildungsbonus, Einstiegsqualifizierung, Beschäftigungspakte und was es nicht noch alles an Plänen und Beschlüssen gibt. In Ihrer Koalitionsvereinbarung hatten Sie sich etwas ganz anderes vorgenommen: Sie wollten die Instrumente der Arbeitsförderung durchforsten und unwirksame Maßnahmen abschaffen.
Nichts davon ist geschehen. Im Gegenteil: Immer neue Programme werden aufgelegt. In Meseberg haben Sie sich nun wieder vorgenommen, die Instrumente zu straffen. Wer soll Ihnen das jetzt eigentlich noch glauben? Die von der Regierung selbst in Auftrag gegebene Überprüfung der Wirksamkeit hat für den größten Teil der Arbeitsmarktinstrumente verheerende Ergebnisse gebracht.
Es ist geradezu fahrlässig, dass Sie daraus bisher überhaupt keine Konsequenzen gezogen haben.
Vor kurzem berichtete die FAZ über eine neue Studie der Universität St. Gallen über den Erfolg der aktiven Arbeitsmarktpolitik in Deutschland. Das traurige Ergebnis lautet - ich zitiere -: Es wurde
?keine Arbeitsmarktmaßnahme gefunden … die positive Effekte hatte, dafür aber eine Menge von Maßnahmen, die Arbeitslosigkeit eher verfestigen.“
Herr Minister, eine schlechtere Bewertung Ihrer Maßnahmen ist wohl kaum möglich.
Zwei Jahre lang hat die Koalition hier nichts bewirkt. Packen Sie diese Aufgabe endlich an!
Statt solide Arbeit zu leisten, betreiben Sie Volksverdummung. Ich meine damit die Debatte über die sogenannten Aufstocker. Diese Menschen bekommen Ihrer Meinung nach nur deswegen ergänzend Arbeitslosengeld II, weil es in Deutschland keinen allgemeinen Mindestlohn gibt. Ich finde diese Debatte unglaublich.
Dies betrifft vor allem die Beliebigkeit, mit der Zahlen verdreht werden. Angeblich geht es um 1,3 Millionen Beschäftigte, die neben ihrem Einkommen Hartz IV beziehen. Alle Minijobber sind da eingerechnet. Diese Zahl beweist also überhaupt nichts. Es gibt auch eine Zahl der Bundesagentur für Arbeit. Sie spricht in ihrem jüngsten Monatsbericht von 502 000 Aufstockern, also Arbeitslosengeld-II-Beziehern mit einer sozialversicherungspflichtigen Beschäftigung. Aber sozialversicherungspflichtig ist auch eine Teilzeitarbeit mit einem Verdienst von 401 Euro. Je nach Familiensituation bleibt da Bedarf nach ergänzender Unterstützung. Auch diese Zahl kann Ihre Argumentation also nicht stützen.
Stützen könnte sich diese Debatte - wenn überhaupt - nur auf die Zahl der vollzeitbeschäftigten Alleinstehenden,
die von ihrem Lohn den Lebensunterhalt nicht bestreiten können und deshalb zusätzlich Hartz IV beziehen. Wissen Sie was? Das sind 47 000 Menschen.
Ich finde es wichtig, hier einmal die Dimension klarzumachen, die Herrn Müntefering veranlasst, für einen bundesweit einheitlichen Mindestlohn zu kämpfen.
Es geht in dieser Debatte über die Aufstocker nicht um 1,3 Millionen oder 502 000, es geht um 47 000 Arbeitnehmer. Hierbei handelt es sich vielfach um Menschen, die mit besonderen Problemen zu kämpfen haben, weil sie beispielsweise keine Berufsausbildung haben. Ihnen ist mit einem Mindestlohn nicht geholfen, wenn sie als Konsequenz ihren Arbeitsplatz verlieren.
Herr Minister, Ihre Argumentation, was die Aufstocker angeht, ist einfach falsch. Wenn Menschen, die bisher gar nicht gearbeitet haben, eine Teilzeitarbeit aufnehmen, dann erhöht sich selbstverständlich die Zahl derer, die teilunterstützt werden, also die der Aufstocker. Das bedeutet aber zugleich, dass mehr Menschen zumindest einen Teil ihres Lebensunterhalts selbst verdienen. Diese Entwicklung würgen Sie mit Ihrem Mindestlohn ab.
Der Entwurf des Haushalts des Arbeitsministeriums für das Jahr 2008 enthält, wie üblich, erhebliche Risiken. In der Debatte über den Haushalt 2007 haben Sie, Herr Minister, hier gestanden und versprochen: Wir kommen 2007 mit dem Geld für Hartz IV aus. - Ihre Versprechungen waren falsch. Sie hätten es schon damals besser wissen müssen.
Trotzdem setzen Sie diesen Posten im Haushalt für das Jahr 2008 wieder unsolide an. Knapp 23 Milliarden Euro werden in diesem Jahr voraussichtlich gebraucht; das sind ungefähr 1,5 Milliarden Euro mehr als im Haushalt 2007 vorgesehen. Im Haushaltsentwurf für 2008 sind trotz dieser Entwicklung nur 21 Milliarden Euro veranschlagt. Die Lücke ist wieder absehbar.
Meine Damen und Herren, im Vorfeld des Kabinettsbeschlusses zum Haushalt hat der Finanzminister geklagt, er sei ?umzingelt“ von Ausgabewünschen. Sie als Arbeitsminister machen bei diesem gefährlichen Spiel in vorderster Linie mit. Erwerbstätigenzuschuss, Kommunalkombi und Hartz-IV-Erhöhung:
Ideen zum Geldausgeben haben Sie reichlich. Das ist sozialdemokratische Verteilungspolitik. Solide Politik ist es jedenfalls nicht.
Danke.
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms:
Das Wort hat die Kollegin Ilse Falk von der CDU/CSU-Fraktion.
Ilse Falk (CDU/CSU):
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir debattieren heute den Einzelplan des Bundeshaushalts, angesichts dessen Volumen jeder zusammenzuckt: Der Betrag von 129,5 Milliarden Euro ist nicht nur eine gewaltige Summe - 45 Prozent des Gesamtetats -, sondern er macht auch deutlich, dass sowohl unser Sozialsystem als auch der Arbeitsmarkt nach wie vor großer Unterstützung bedürfen.
Wir alle sind natürlich über die deutlich gesunkenen Arbeitslosenzahlen froh. Wir freuen uns über jeden der fast 1 Million Menschen, die wieder oder überhaupt zum ersten Mal eine Arbeit gefunden haben. Beschäftigung bietet den Menschen nicht nur finanzielle Sicherheit, sondern stärkt auch das Selbstwertgefühl und gibt dem Leben einen Sinn.
Gut ist, dass allmählich Bewegung in die Bereiche kommt, die uns besonders große Sorgen bereiten. So war allein in den letzten zwölf Monaten ein Rückgang der Zahl der Arbeitslosen um 666 000 Personen zu verzeichnen, unter denen 100 000 Jugendliche unter 25 Jahren und 100 000 ältere Arbeitnehmer über 55 Jahren waren. Das bedeutet, dass sich die Perspektiven für Jung und Alt gleichermaßen verbessert haben. Hinzu kommt, dass es 355 000 Langzeitarbeitslose weniger gibt als vor einem Jahr. Das heißt, der Aufschwung erreicht auch die Sockelarbeitslosigkeit.
Außerdem ist die Zahl der sozialversicherungspflichtigen Beschäftigungsverhältnisse im Vergleich zur Situation vor einem Jahr um 526 000 gestiegen. Es sind also neue reguläre Beschäftigungsverhältnisse entstanden. Dadurch fließt wieder mehr Geld in die Sozialkassen, was zu deren Stabilisierung führt. Die Zahl der Erwerbstätigen erreicht mit 39,79 Millionen ein Rekordniveau. So hoch war diese Zahl seit der Wiedervereinigung noch nie.
Mit dem Dreiklang ?Investieren, Sanieren, Reformieren“ haben wir frühzeitig massive Wachstumsimpulse gesetzt und zukunftsorientierte Investitionen in Forschung, Entwicklung und Bildung getätigt. Das zahlt sich jetzt aus.
Wir haben auch unpopuläre, angesichts der demografischen Entwicklung aber notwendige Reformen auf den Weg gebracht, zum Beispiel die ab 2012 beginnende schrittweise Anhebung der Retenregelaltersgrenze um zwei Jahre, die Rente mit 67. Angesichts eines Bundeszuschusses zur Rentenkasse in Höhe von 78,6 Milliarden Euro und immer längerer Rentenbezugszeiten wäre es unverantwortlich gegenüber der jungen Generation gewesen, hier nicht zu handeln.
Das allein reicht aber noch nicht aus, um Sicherheit im Alter zu garantieren. Deshalb ist es unbedingt notwendig, weiterhin Anreize zur betrieblichen und privaten Altersvorsorge zu bieten bzw. weitere Anreize zu schaffen. So wollen wir zum Beispiel die Beitragsfreiheit der Entgeltumwandlung beibehalten sowie Verbesserungen bei der Unverfallbarkeit von Anwartschaften durch das Betriebsrenten-Förderungsgesetz erreichen.
Im Hinblick auf die private Altersvorsorge ist die vereinbarte Erhöhung der Kinderzulage bei der Riester-Rente ab 1. Januar 2008 von 138 Euro auf 185 Euro bzw. auf 300 Euro für nach dem 1. Januar 2008 geborene Kinder ein wichtiger Baustein.
Insgesamt haben wir die Lebensbedingungen in Deutschland mit einer Fülle von Maßnahmen verlässlich und nachhaltig verbessert. Jetzt gilt es, dies weiter zu verstetigen, neue Impulse für fortdauerndes Wachstum zu geben und die spürbare Teilhabe möglichst aller Menschen daran zu ermöglichen.
Das Ziel muss bleiben, möglichst jeden Menschen in Arbeit zu bringen. Auch 3,7 Millionen Arbeitslose sind noch entschieden zu viele. Die Politik kann keine Arbeitsplätze schaffen - das ist eine Binsenweisheit -, aber sie kann die Rahmenbedingungen für Wirtschaft und Beschäftigung verbessern. Dazu gehört die weitere Senkung der Lohnnebenkosten. Dies ist im Rahmen unseres Einzelplanes, des Einzelplanes 11, durch die Senkung des Beitragssatzes zur Arbeitslosenversicherung möglich. Es ist der Union ein dringendes Anliegen, den Beitrag über das schon fest vereinbarte Ziel von 3,9 Prozent hinaus um weitere 0,4 Prozentpunkte auf 3,5 Prozent zu senken.
Angesichts der von der Bundesagentur für Arbeit vorgelegten Zahlen sollte dies machbar sein und die Wettbewerbsfähigkeit der Wirtschaft weiter stärken.
Neue Beschäftigungsimpulse können außerdem von steuerlichen Anreizen zur Stärkung der Rolle privater Haushalte als Arbeitgeber ausgehen. Wer einen sozialversicherungspflichtigen Arbeitsplatz schafft, sollte dies zu den gleichen Bedingungen können, wie sie für jeden Betrieb gelten. Davon profitieren die Arbeitnehmer, die Arbeitgeber und nicht zuletzt der Staat, weil wir Licht in das Dunkel der Schwarzarbeit im privaten Sektor bringen könnten.
Wir müssen den Aufschwung nutzen, um insbesondere sogenannte Langzeitarbeitslose wieder in Arbeit zu bringen. Angesichts von weit über 1 Million offenen Stellen frage ich Sie: Wann, wenn nicht jetzt, soll dies gelingen?
Wir haben deshalb beschlossen, die Förderung bestimmter Personengruppen zu verstärken. Dazu gehört der Kombilohn zur Verbesserung der Beschäftigungschancen für Menschen unter 25 Jahren. Ferner gehört das auf die Jugend abzielende Konzept Jugend, Ausbildung und Arbeit der Bundesregierung dazu, das noch in diesem Jahr vorgelegt werden soll.
Auch Langzeitarbeitslose mit multiplen, besonders schweren Vermittlungshemmnissen sollen mit einer intensiven persönlichen Betreuung schrittweise wieder an den Arbeitsmarkt herangeführt werden. Dafür ist ebenfalls ein Kombilohn beschlossen worden.
Das alles kostet viel Geld, aber wir sind überzeugt, dass es gute und wichtige Investitionen in Lebenschancen für junge und schwer vermittelbare Menschen sind. Das rechnet sich letztlich auch für den Staat.
Ein wichtiges Thema, das uns beschäftigen muss, ist die Teilhabe von Menschen mit Behinderungen am Arbeitsmarkt. Diesbezüglich gibt es noch erhebliche Barrieren,
nicht nur in Bezug auf die Bereitschaft zur Anstellung dieser Menschen, sondern auch hinsichtlich der Gesetzeslage.
Des Weiteren muss es uns gelingen, die Potenziale älterer Menschen - insbesondere angesichts des eben angesprochenen Fachkräftebedarfs - stärker auszuschöpfen. Die Initiative 50 plus ist inzwischen auf Erfolgskurs und gibt älteren Arbeitssuchenden neuen Lebensmut. In diesem Zusammenhang will ich darauf hinweisen, dass es uns besonders wichtig ist, jegliche Frühverrentungsanreize vonseiten des Staates schnellstmöglich abzuschaffen. Wir können angesichts der demografischen Entwicklung überhaupt nicht auf die Erfahrung bewährter Arbeitskräfte verzichten.
Auch die großen Potenziale von Frauen auf dem Arbeitsmarkt könnten noch stärker genutzt werden. Inzwischen erreichen Frauen vergleichbare oder bessere Bildungsabschlüsse als Männer und möchten in ihrem Beruf arbeiten und gleichzeitig eine Familie haben. Mithilfe des Elterngeldes und des in Angriff genommenen weiteren Ausbaus der Kinderbetreuungsmöglichkeiten schafft die Bundesregierung erstmals echte Wahlfreiheit. Dabei ist mir eines wichtig: Frauen und Männer, die Beruf und Familie vereinbaren möchten, sollen dies können, ohne dass diejenigen, die sich vorübergehend oder dauerhaft ausschließlich ihrer Familie widmen möchten, diskriminiert werden. Wir haben hohe Achtung vor ihrem Engagement und sind uns ihrer Leistung wohlbewusst. In dieser Diskussion wünsche ich uns allen deutlich mehr Gelassenheit.
Generell sind noch stärkere Bemühungen bei der Aktivierung und Integration der in den Bereich des SGB II fallenden Arbeitslosen in den Arbeitsmarkt nötig. Hier geht es vor allem um eine Verbesserung der Betreuung in den Jobcentern. Wir hören immer wieder Klagen über mangelnde Leistungsfähigkeit der neuen Behörde, über unfähige Mitarbeiter. Die mag es geben. Aber erstens zeigen uns neueste Umfragen, dass sich die Bewertung deutlich bessert, und zweitens darf man nicht vergessen, welch gewaltigen Umstrukturierungsprozess die Arbeitsverwaltung hinter sich hat und was den Mitarbeitern auf diesem Weg zum Teil zugemutet wurde. Deshalb will ich an dieser Stelle ausdrücklich denjenigen danken, die unter oft schwierigen, nicht unbedingt vergnügungsteuerpflichtigen Bedingungen hervorragende Arbeit leisten.
Wir könnten ihnen sicher helfen, wenn wir den Wildwuchs von Maßnahmen konsequent lichteten und ihnen mehr Entscheidungskompetenz zutrauten. Die Union fordert daher seit langem eine ehrliche Evaluation des arbeitsmarktpolitischen Instrumentariums im Hinblick auf Wirksamkeit und Kosten. Wir brauchen hier mehr Transparenz und eine Bündelung der erfolgreichen Instrumente für eine zielgenauere Handhabbarkeit. Maximal zehn Instrumente sollten eine ausreichende Grundlage sein. Das Ministerium und die Bundesagentur arbeiten daran. Wir hoffen, bald zu guten Ergebnissen zu kommen.
Neben dem Aspekt des Förderns, der wichtig ist, darf das Fordern nicht in den Hintergrund geraten. Es muss das Ziel bleiben, jedem Menschen zu ermöglichen, seinen Lebensunterhalt durch eigene Arbeit zu bestreiten. Deshalb ist es wichtig, dass bei den Arbeitsvermittlern vor Ort der Gleichklang von Fordern und Fördern - beides - konsequent umgesetzt wird, bei offensichtlicher Arbeitsverweigerung notfalls auch mit Druck. In den Fällen, in denen deutlich wird, dass angebotene Möglichkeiten nicht wahrgenommen werden, muss gehandelt werden. Der Kombination aus optimierter Arbeitszeit und staatlichem Zuschuss bei gleichzeitiger maximaler Freizeit für illegale Zusatztätigkeiten müssen wir ein Ende bereiten. Wir brauchen deshalb Anreize für Vollzeittätigkeit, unter anderem durch veränderte Hinzuverdienstregelungen, wie von der Union bereits seit geraumer Zeit gefordert. Gleichzeitig müssen Schwarzarbeit und illegale Beschäftigung durch Kontrollen konsequenter verhindert und bekämpft werden.
Eine angemessene Versorgung derer, die von Arbeitslosigkeit betroffen sind, muss selbstverständlich sein. Oberste Priorität haben für uns aber die Verbesserung der Beschäftigungschancen und Teilhabe für alle Menschen. Deshalb muss unser wichtigstes Ziel sein - sowohl aus der Sicht der Betroffenen als auch aus der Sicht der Solidargemeinschaft -, möglichst viele Menschen aus dem Bezug staatlicher Transfers und somit aus finanzieller und gedanklicher Abhängigkeit herauszuholen. Wir können und wollen nicht zulassen, dass es regelrechte Sozialhilfekarrieren über mehrere Generationen gibt.
Auch das ist eine Frage der Menschenwürde. Dafür müssen Arbeitgeber und Arbeitnehmer, Wirtschaft und Politik ihre Kräfte bündeln zum Wohle unseres Landes und der Menschen, die hier leben.
Für den Einzelnen bedeutet Beschäftigung Sicherheit und Lebensperspektive. Für den Staat bedeutet Beschäftigung Wachstum und finanzielle Spielräume für diejenigen, die der Hilfe bedürfen. Immer aber sollten soziale Leistungen als Hilfe zur Selbsthilfe verstanden werden und unbegrenzt nur denen vorbehalten bleiben, die sich aus eigener Kraft nicht helfen können.
Danke für die Aufmerksamkeit.
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms:
Das Wort hat jetzt die Kollegin Dr. Gesine Lötzsch von der Fraktion Die Linke.
Dr. Gesine Lötzsch (DIE LINKE):
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Es wurde schon gesagt: Der Arbeitsminister verfügt über fast die Hälfte des Bundeshaushaltes. Selbst wenn man die Zuschüsse zu den Rentenkassen abzieht, sind es immer noch etwa 45 Milliarden Euro, die Herr Müntefering nächstes Jahr verteilen kann. Die SPD verweist gerne auf diese riesige Summe, um zu zeigen, wie sozial ihre Haushaltspolitik sei. Doch das ist sie nicht. Im Gegenteil: Es ist wirklich erschreckend, wie wenig Positives dieses viele Geld auf dem Arbeitsmarkt bewirkt.
Ich würde sogar weitergehen: Der Arbeitsminister richtet mit den Steuergeldern mehr Schaden als Nutzen an.
Das liegt an der falschen Arbeitsmarkt- und Sozialpolitik der alten und der jetzigen Bundesregierung. Die Agenda 2010 macht den Arbeitsmarkt kaputt und hat eine verheerende Spirale des Lohndumpings ausgelöst, die zu menschenunwürdigen Bedingungen geführt hat.
Jeder von uns - auch die Kollegen auf der rechten Seite des Hauses - kennt Unternehmen, die sozialversicherungspflichtige Arbeitsplätze in Minijobs zerstückelt haben. Jeder von uns kennt Unternehmen, die Leiharbeiter zu Hungerlöhnen beschäftigen und ihren Mitarbeitern so wenig zahlen, dass sie ihren Lohn durch das Sozialamt aufstocken lassen müssen.
Das ist nicht hinnehmbar.
Das Politikmagazin Fakt berichtete über folgenden Vorfall: Ein Maurer, der 43 Jahre Berufserfahrung hat und gerade zwei Monate arbeitslos war, wurde von der Arbeitsagentur zu einer Trainingsmaßnahme zur Eignungsfeststellung bestellt. Der Maurer durfte dort - ohne einen Cent verdient zu haben - 14 Tage schuften. Dann wurde er gefeuert. Das ist eine unerträgliche Situation.
Die Politik der Agenda 2010 hat aus Arbeitnehmern Freiwild für skrupellose Unternehmen gemacht. Diesen Machenschaften muss endlich ein Riegel vorgeschoben werden. Hier müssen Sie handeln, Herr Müntefering.
Mein persönlicher Wahlslogan 2005 lautete: ?Von Arbeit muss man leben können“. Man wirft uns gerne vor, wir seien populistisch.
Doch was ist an dieser Forderung populistisch? Eigentlich müsste jeder Politiker - dazu zählen wir alle in diesem Saal -, der für die sorgsame Verwendung von Steuergeldern Verantwortung trägt, mir zustimmen, dass diese Forderung nicht nur human, sondern auch haushaltspolitisch zwingend ist.
Wenn es so weitergeht, dass Unternehmen ihre Lohnkosten senken und ihre Beschäftigten zum Sozialamt schicken, dann geht dieser Staat irgendwann Bankrott.
Immer mehr Menschen müssen zum Sozialamt gehen und Zuschüsse beantragen, weil ihr Lohn ihnen kein menschenwürdiges Leben ermöglicht. Ihre Arbeitsmarktpolitik ruiniert die Menschen und die Staatsfinanzen.
Das beste Mittel, um die Selbstbedienungsmentalität der Unternehmen zu stoppen, ist die Einführung des gesetzlichen Mindestlohnes, und zwar nicht nur für einzelne Branchen, sondern flächendeckend ohne Ausnahme, auch wenn es der rechten Seite des Hauses nicht gefällt. Bei dieser Forderung geht es nicht nur darum, die Armut zu bekämpfen, sondern der Mindestlohn verhindert auch, dass die Unternehmen von Mitnahmeeffekten profitieren.
Es ist zynisch, wenn immer wieder behauptet wird, dass Mindestlöhne den Arbeitsmarkt kaputt machen, wie es von der rechten Seite des Hauses gerne getan wird.
Im Gegenteil: Der Arbeitsmarkt geht kaputt, weil viele Unternehmen keine Mindestlöhne zahlen. Jeder, der gegen Mindestlöhne ist, sollte sich einmal in Europa umschauen - interessanterweise gab es bei den vorhergehenden Redebeiträgen entsprechende Zurufe aus den Reihen der SPD -: In allen 20 Mitgliedstaaten der EU, in denen es einen gesetzlichen Mindestlohn gibt, wurden die Mindestlöhne in diesem Jahr sogar erhöht. Daran sollten wir uns orientieren.
Ich habe bisher noch nicht gehört, dass die Länder, in denen es einen gesetzlichen Mindestlohn gibt, den Notstand ausgerufen hätten.
Ich habe nicht genügend Zeit, um alle Details des Arbeitshaushaltes zu behandeln. Das ist aber auch nicht nötig. Ich habe nur das Beispiel Mindestlohn herausgenommen, um zu zeigen, wo der Systemfehler in der Arbeitsmarktpolitik der Bundesregierung liegt. Am Beispiel des Mindestlohnes, verehrter Kollege Steinbrück, kann man auch Ihre Vorwürfe an uns Linke entkräften, dass wir immer nur mehr Geld ausgeben wollten.
Denn der Mindestlohn kostet den Staat keinen Cent. Im Gegenteil: Er bringt sogar Geld in die Kassen.
Ich denke, auch Sie können das nachrechnen.
Herr Kollege Müntefering, Sie haben öffentlich erklärt, dass die zweite Hälfte der Legislaturperiode sozialdemokratisch werden soll. Beweisen Sie es doch wenigstens in dieser Frage und setzen Sie den gesetzlichen Mindestlohn durch, und zwar nicht nur für einzelne Branchen, sondern für alle!
Dann tun Sie etwas Gutes, und dafür werden Sie unsere Unterstützung bekommen, aber nur, wenn Sie entschlossen darangehen.
Vielen Dank.
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms:
Das Wort hat jetzt die Kollegin Brigitte Pothmer vom Bündnis 90/Die Grünen.
Brigitte Pothmer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Frau Falk, Sie haben die drei Kombilohnmodelle, die Sie mit den letzten beiden Gesetzen eingeführt haben, sehr positiv bewertet. Ein weiterer Kombilohn ist in Vorbereitung. Das heißt, innerhalb kürzester Zeit haben Sie vier neue Instrumente geschaffen. Gleichzeitig propagieren Sie, dass der Instrumentenkasten auf maximal zehn Instrumente reduziert werden soll.
Ich glaube, Ihr Programm heißt: Mit Widersprüchen leben lernen. Arbeiten Sie daran, aber verschonen Sie die Gesellschaft bitte mit diesen Widersprüchen!
Ich möchte gern auf die Klausur von Meseberg zurückkommen; denn dort hat die Regierung festgelegt, was sie sich in den nächsten zwei Jahren vornehmen will.
Die Überschrift lautet ?Aufschwung, Teilhabe, Wohlstand“ für alle. Ich finde, das ist ein überaus ehrgeiziges Ziel. Das ist ein großes Versprechen. Parallel zu diesem großen Versprechen häufen sich die Meldungen über Kinderarmut und die zunehmende Zahl an Suppenküchen. Herr Müntefering, ich kann im Haushalt nicht erkennen, wie und mit welchen Instrumenten Sie dieses große Versprechen halten wollen.
Ich will an die Adresse der CDU/CSU-Fraktion sagen: Wer sagt, wir wollen uns für Wohlstand für alle einsetzen, sich dann aber noch nicht einmal für Mindestlöhne für alle einsetzt, der ist in dieser Frage nicht wirklich glaubwürdig.
Ich jedenfalls habe den Verdacht, dass das Versprechen ?Wohlstand für alle“ ungefähr so wenig Substanz hat wie der Spruch von Helmut Kohl von den blühenden Landschaften. Beides ist Propaganda. Von beidem können sich die Menschen leider nicht viel kaufen.
Herr Müntefering, Sie haben heute auf den Erwerbstätigenzuschuss hingewiesen. Ich hätte mir gewünscht, dass Sie ein bisschen genauer erklärt hätten, was Sie sich vorstellen.
Nach welchen Kriterien soll der Erwerbstätigenzuschuss gewährt werden? Unter dem Kinderzuschuss von Frau von der Leyen kann ich mir noch etwas vorstellen. Aber ein Erwerbstätigenzuschuss droht doch zu einem flächendeckenden Kombilohn zu werden. Wie Sie das abgrenzen wollen, müssen Sie uns einmal erklären.
Lassen Sie mich zu einem anderen Versprechen kommen: einen Ausbildungsplatz für jeden. In den Ausführungen von Meseberg lassen sich altbekannte Prüfaufträge und Planspiele finden. Das neue Ausbildungsjahr steht vor der Tür. 160 000 junge Menschen suchen weiterhin einen Ausbildungsplatz. Hinzu kommen 300 000, die sich in Warteschleifen befinden. Wenn Sie Ihr Versprechen wirklich einlösen wollten, müssten Sie sich intensiver für die jungen Menschen einsetzen. Das tun Sie aber leider nicht.
Sie versprechen Aufstiegsmöglichkeiten für jeden. Ich frage mich, wie diese für Geringqualifizierte und Langzeitarbeitslose aussehen sollen. Sie wissen genauso gut wie ich: Der Schlüssel zum Aufstieg ist in dieser Republik eine gute Qualifikation. Ihre vielbeschworene Qualifizierungsoffensive besteht aber im Wesentlichen aus Appellen an die Bundesländer. Das hat natürlich damit zu tun, dass Sie durch die Föderalismusreform fast alle Kompetenzen - diese hätten Sie eigentlich behalten bzw. ausbauen müssen - an die Bundesländer abgegeben haben. Insofern sind das wohlfeile Versprechen.
Dort, wo Sie selber Verantwortung tragen, nämlich bei der Qualifizierung von Langzeitarbeitslosen, ist von dieser Offensive aber auch nicht viel zu spüren.
Die Ressourcen der Bundesagentur für Arbeit für Qualifizierung und Weiterbildung sind in den letzten Jahren drastisch zurückgefahren worden. Der Anteil der Geringqualifizierten an der Gruppe, die an Qualifizierungsmaßnahmen teilnehmen, liegt bei nur 27 Prozent. Aber genau das ist die Gruppe, auf die wir uns im Wesentlichen konzentrieren müssen. Wir schlagen Ihnen deswegen vor, eine doppelte 50-Prozent-Quote einzuführen, also die Hälfte der Weiterbildungsangebote für Geringqualifizierte zur Verfügung zu stellen und die andere Hälfte mit Berufsabschlüssen zu verbinden. Ich glaube, dann tun Sie wirklich etwas dafür, dass diese Gruppe Aufstiegsmöglichkeiten hat. Sie täten aber noch etwas Weiteres: Sie würden einen echten Beitrag zur Behebung des Fachkräftemangels leisten.
Mit Ihrer Strategie der doppelten Weigerung, nämlich der Weigerung, echte Zuwanderung zuzulassen, und der Weigerung, wirkliche Qualifizierung zu erreichen und Weiterbildung zu verbessern, sind Sie auf dem besten Weg, den Aufschwung abzuwürgen und damit das Problem für die Arbeitslosen zu vergrößern.
Solange Sie diese absurd hohe Hürde von 84 000 Euro Einkommen aufrechterhalten, so lange werden Sie in Sachen Zuwanderung nicht wirklich vorankommen und so lange werden die qualifizierten Fachkräfte ihre Fähigkeiten in anderen Ländern anbieten, in denen die Bedingungen für sie weitaus besser sind.
Das jedenfalls ist kein Konzept, um den Wettbewerb um die besten Köpfe zu gewinnen. Legen Sie verdammt noch einmal die ideologischen Scheuklappen ab! Machen Sie eine vernünftige Zuwanderungspolitik möglich! Dann, tun Sie wirklich etwas für die Arbeitslosen hier im Lande, die dann auch von der Zuwanderung profitieren. Der Widerspruch, der immer behauptet wird, existiert nämlich nicht.
Sie haben Wohlstand für alle versprochen. Zu Wohlstand und Aufschwung gehört auch ein auskömmlicher Lohn. Für viele heißt es aber leider: Armut trotz Arbeit. 4 Millionen Vollzeitbeschäftigte arbeiten für Niedriglöhne. Sie haben sich in der Koalition nach sehr zähen Verhandlungen darauf verständigt - wir alle konnten das in den Medien verfolgen -, einzelne Branchen in das Arbeitnehmer-Entsendegesetz aufzunehmen, vorausgesetzt dass sich Arbeitgeber und Arbeitnehmer darauf verständigen und dass 50 Prozent der Beschäftigten dieser Branche davon betroffen sind. Das sind genau die Bedingungen, die die Postdienstleistungsbranche jetzt erfüllt hat. Nun denkt der geneigte Leser bzw. die geneigte Leserin, dass damit alles in trockenen Tüchern wäre. Weit gefehlt, der Streit geht weiter. Die Vereinbarung, die Sie miteinander getroffen haben, ist ganz offensichtlich das Papier nicht wert, auf dem es geschrieben steht; denn sonst müssten Sie zu streiten aufhören. Das tun Sie aber nicht.
Meine Redezeit ist leider weitgehend abgelaufen.
- Auch ich finde das schade. Ich sehe, dass Sie mir gerne zuhören.
Herr Müntefering, Sie werden mit den Worten zitiert, das Kabinett werde sich jetzt verstärkt für den Ausgleich zwischen Wirtschaft und Sozialem einsetzen. Ich habe allerdings das Gefühl, dass es der Großen Koalition im Wesentlichen um den Ausgleich zwischen Union und SPD geht. Nichts, aber auch gar nichts deutet darauf hin, dass das in Zukunft anders werden wird. Die Leidtragenden sind die Arbeitslosen in diesem Land, die in diesem Gerangel zerrieben werden.
Ich danke Ihnen.
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms:
Das Wort hat jetzt die Kollegin Waltraud Lehn von der SPD-Fraktion.
Waltraud Lehn (SPD):
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Nein, Tante Käthe gibt es heute nicht, heute gibt es Onkel Otto.
Eigentlich wollte ich gar nicht so einsteigen, aber Ihre Ausführungen haben mich wirklich dazu veranlasst, Sie mit Onkel Otto bekannt zu machen. Onkel Otto war kein Mensch, Onkel Otto war unser Hausschwein.
Onkel Otto stand in einem Stall, und der Futtertrog befand sich in einem Stall daneben.
Wenn es Futter gab, klopfte meine Oma an den Futtertrog, und das Schwein schoss durch die Tür an diesen Futtertrog heran.
Aus baulichen Gründen wurde diese Tür zugemacht, und der Ausgang wurde an eine andere Stelle verlegt. Was machte Onkel Otto? Onkel Otto raste ständig gegen die Wand.
Genau das ist Ihr Problem: Sie stehen in einem Stall mit fünf Ausgängen. Was machen Sie? Sie knallen ständig mit der Birne vor die Wand.
Meine Güte, das muss doch wehtun. Ich kann die FDP nur dringend auffordern, einmal zur Kenntnis zu nehmen: Es gibt Türen.
Ich will auch etwas zur PDS sagen. Die PDS steht aus meiner Sicht im gleichen Stall und ist dabei, jede vorhandene Öffnung zuzumauern.
Man kann geradezu sehen, dass alle Ausgänge irgendwann zu sind und das Schwein verhungert.
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms:
Frau Kollegin Lehn, ich unterbreche Sie ungern. Aber der Kollege Meckelburg möchte gern eine Zwischenfrage stellen. Wie ich sehe, erlauben Sie das.
Bitte, Herr Meckelburg.
Wolfgang Meckelburg (CDU/CSU):
Frau Kollegin Lehn, Sie haben in der letzten Haushaltsberatung die Geschichte Ihrer Tante Käthe erzählt. Nun kommen Sie mit Onkel Otto. Ist Ihre Verwandtschaft sehr groß,
und dürfen wir die Aufarbeitung Ihrer Familiengeschichte auch in den nächsten Jahren erleben?
Waltraud Lehn (SPD):
Herr Kollege, ich bin die Älteste von elf Kindern.
Wer wie die PDS allein in dem Bereich Arbeit und Soziales zusätzlich pro Jahr 26,4 Milliarden Euro ausgeben will, wer den Rentenversicherungsbeitrag auf 28 Prozent erhöhen will, der zieht nicht nur den Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern dieses Landes das Geld aus der Tasche, sondern er erhöht auch fahrlässig die jährliche Zinslast um mindestens 1 Milliarde Euro.
- Ich kann verstehen, dass Sie das irritiert.
Sie sind nicht nur Traumtänzer - würde man Sie so bezeichnen, wäre das wirklich geschmeichelt -, sondern Sie sind in dem, was Sie machen, absolut fahrlässig.
In den letzten 18 Monaten ist die Zahl der arbeitslosen Menschen in Deutschland um 1,3 Millionen zurückgegangen. Die Zahl der sozialversicherungspflichtig Beschäftigten ist im Vergleich zum Vorjahr um eine halbe Million gestiegen. Diese Zahlen machen doch Mut. Diese Zahlen sind doch der Lohn für Anstrengung und Arbeitsleistung der Menschen in diesem Land. Diese positive Entwicklung geht doch nicht nur auf die Weltwirtschaft zurück.
Natürlich haben auch die weltwirtschaftliche Situation und die Reformleistungen dieser Bundesregierung und die ihrer Vorgängerin dazu beigetragen.
Möglich gemacht haben das aber vor allen Dingen die Menschen in diesem Land, die arbeiten, die sich aufmachen, die sich umorientieren, die Lohnverzicht geübt haben und die viel Negatives eingesteckt haben.
In dieser Situation dürfen wir uns nicht zurücklehnen nach dem Motto: Auftrag erledigt. Die Menschen dürfen zu Recht erwarten, dass wir weitere Anstrengungen unternehmen. Viel zu viele sind noch arbeitslos. Sie haben recht: Viel zu viele warten vergeblich auf einen Ausbildungsplatz. Ich glaube, dass da wirklich noch eine ganze Menge zu tun ist.
In letzter Zeit wird viel darüber gesprochen, dass man den arbeitslosen Menschen mehr Geld zahlen muss. Ich unterstütze die Initiative von Franz Müntefering, den Regelsatz objektiv zu überprüfen. Noch viel besser, noch wirkungsvoller ist es aber, die Menschen in Arbeit zu bringen.
Hier sehe ich zwei Handlungsfelder: mehr und zielgenauere Förderung auf der einen Seite und eine erhöhte Anpassungsfähigkeit des Sozialstaates auf der anderen Seite.
Was heißt das nun? Ich sage: Die Maßnahmen müssen zielgenauer sein. Ich verweise zum Beispiel auf das von uns beschlossene Programm, das direkt auf Langzeitarbeitslose und Jugendliche zielt. Das ist der richtige Ansatz. Wir brauchen Instrumente, mit denen wir die Problemgruppen direkt ansprechen; denn besondere Probleme erfordern spezielle Lösungen.
Deswegen ist es wichtig und richtig, dass vor Ort im nächsten Jahr mehr Geld für Eingliederung, also für Förderung, zur Verfügung steht als jemals zuvor. Insgesamt werden wir 6,4 Milliarden Euro in die Hand nehmen, um erwerbsfähige Empfänger und Empfängerinnen von Arbeitslosengeld II wieder in Arbeit zu bringen. Der Haushalt des Ministeriums für Arbeit und Soziales macht mit 124 Milliarden Euro - das haben wir heute schon mehrfach gehört - über 40 Prozent der Gesamtausgaben des Bundes aus. Jeder zweite Euro, den wir ausgeben, ist ein Euro für die Beschäftigungs- und Sozialpolitik. Es ist aber nicht die Höhe dieser Ausgaben, die darüber entscheidet, wie die Qualität des Sozialstaats ist.
Das bringt mich zu einem weiteren Punkt, zu der Anpassungsfähigkeit des Sozialstaats. Wirtschaftliche und gesellschaftliche Veränderungen lassen soziale Probleme in den Hintergrund treten und neue entstehen. Ein Sozialstaat ist umso besser, je mehr, aber vor allen Dingen auch je schneller er sich auf veränderte Bedürfnisse einstellt. Insgesamt arbeiten derzeit mehr als 1 Million Menschen, ohne dadurch ihren Bedarf decken zu können. Deswegen erhalten sie ergänzend Arbeitslosengeld II; sie sind - so der Fachbegriff - sogenannte Aufstocker.
Dieser Begriff verschleiert jedoch die Realität. Hieran wird deutlich - das sage ich auch in Richtung unseres Koalitionspartners -, dass eine schlechte Bezahlung nicht nur den Beschäftigten, sondern auch dem Staat, das heißt dem Steuerzahler, teuer zu stehen kommt.
Unternehmen profitieren hier nahezu verdeckt und unerkannt, klammheimlich bis sittenwidrig.
Der geplante Erwerbstätigenzuschuss ist für die Betroffenen ein richtiger Schritt.
Er soll verhindern, dass Menschen ergänzend Arbeitslosengeld II erhalten müssen, wenn ihr Lohn das Existenzminimum nicht sichert.
Aber das Problem selbst kann auch dieses Instrument nicht lösen. Wo Sozialpartner keine existenzsichernden Löhne vereinbaren, da sind wir als Gesetzgeber gefragt.
Wenn Unternehmen nicht bereit sind, die Beschäftigen trotz steigender Gewinne anständig zu bezahlen, werden sie zu Schwarzfahrern unserer Gesellschaft. Sie nutzen staatliche Maßnahmen - Steuersenkungen, Infrastrukturmaßnahmen, Bildungsstandards - aus, ohne sich an den Kosten zu beteiligen.
Deswegen wollen wir den Mindestlohn, und wir werden uns auch weiter dafür einsetzen.
Lassen Sie mich zum Schluss etwas zu einem anderen Thema sagen, das, glaube ich, viele von uns sehr beschäftigt. Mit großer Sorge haben wir in den letzten Wochen die Zahlen über Kinderarmut in Deutschland lesen müssen. Zunächst einmal möchte ich feststellen, dass es in unserem Land Kinderarmut ausgeprägt schon lange gibt, allerdings in sehr verdeckter Form.
Als es noch die Trennung zwischen Sozialhilfe und Arbeitslosengeld II gab, wurde über diese Zahlen nicht in dem Maß geredet, wie ich mir das manchmal gewünscht hätte; es ist eben verdeckt gewesen. Heute, auch dank der Reformen, ist transparent, wer unter diesen Bedingungen lebt. Das ist deswegen gut, weil es uns zwingt, weil es mehr Menschen zwingt, darüber nachzudenken, was man tun kann.
Wir von der SPD-Fraktion unterstützen ausdrücklich die Überlegung der Bundesregierung, Unterstützungsleistungen für Kinder im System der Grundsicherung anzupassen. Es muss uns gelingen, hierfür schnell wirksame Lösungen zu finden. Wenn Kinder allgemein als unsere Zukunft bezeichnet werden, dann müssen wir dafür sorgen, dass unsere Zukunft nicht arm ist.
Nun garantiert eine Erhöhung der Sätze allein aber nicht, dass Kinder davon profitieren.
Wir müssen Hilfen entwickeln - der Minister hat bereits darauf hingewiesen -, die den Kindern direkt zugute kommen. Es ist eine direkte Hilfe, wenn arme Kinder kostenfrei im Kindergarten betreut werden,
wenn sie alles erhalten, was sie zum Schulbesuch brauchen, also eine echte Lernmittelfreiheit,
wenn sie ein gesundes Frühstück bekommen, wenn Familienhelfer dazu beitragen, dass Kinder regelmäßig und pünktlich zur Schule gehen, wenn Schulveranstaltungen und Klassenfahrten kostenfrei sind oder wenn das Erlernen eines Instruments oder der Sport nicht am Geldbeutel der Eltern scheitern.
Klar ist: Für viele dieser Fragen sind die Städte, die Gemeinden, die Länder, aber auch die Gesellschaft - zum Beispiel die Vereine - insgesamt zuständig. Deswegen müssen Lösungen auch gemeinsam vereinbart werden. Wer Kinderarmut wirklich wirkungsvoll bekämpfen will, der muss vernetzt denken und handeln, und Zuständigkeiten müssen geklärt werden.
Die Entwicklung des Arbeitsmarktes ist gut für die Menschen in unserem Land. Dennoch liegen Aufgaben vor uns, die wir entschlossen anpacken müssen. Mit dem vorliegenden Haushaltsentwurf schaffen wir diese Voraussetzungen. Ich bitte Sie alle um Ihre Unterstützung.
Vielen Dank.
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms:
Das Wort hat jetzt der Kollege Dr. Heinrich Kolb von der FDP-Fraktion.
Dr. Heinrich L. Kolb (FDP):
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Der bisherige Aufschwung ist nicht der Aufschwung der Bundesregierung.
Bevor Sie sich aufregen, Frau Nahles: Dieser Satz stammt nicht von mir, auch wenn ich ihn inhaltlich voll teile, sondern von Jürgen Thumann, dem Präsidenten des Bundesverbandes der Deutschen Industrie. Thumann sagt weiter:
... insgesamt jedoch hat die Bundesregierung aus den verbesserten Wirtschaftsperspektiven zu wenig Reformkapital geschlagen.
Dann kommt er zu dem Ergebnis:
Wesentliche Strukturreformen liegen noch vor uns. Das Reformtempo muss nicht gedrosselt, sondern erhöht werden, der Rückenwind der guten Konjunktur muss konsequent genutzt werden. Dass im Zuge des konjunkturellen Aufschwungs auch die Zuversicht und das Zukunftsvertrauen der Bürger deutlich gestiegen sind, ist dabei die Chance der Politik.
Das ist ein klar umrissenes Bild der Handlungsnotwendigkeiten zur Mitte der Legislaturperiode. Es gilt, in die Hände zu spucken und nicht die Hände in den Schoß zu legen.
Im krassen Gegensatz dazu stehen die Ankündigungen aus der Koalition, insbesondere der SPD, die nicht eine Fortsetzung der Reformen, sondern das Ende der Reformpolitik nahelegen. Kurt Beck, nicht der Onkel Otto, sondern eher der Problembär der SPD, hat es so formuliert: Die Zeit der großen Zumutungen muss erst einmal vorbei sein.
Noch krasser geht Ottmar Schreiner mit den Ergebnissen der Großen Koalition ins Gericht: Wir brauchen kein Weiter so, sondern einen Bruch mit einer gescheiterten Politik. Wen wundert es angesichts derart schwindenden Mutes noch,
dass das Wort Reform in dem Abschlusspapier der Regierungsklausur von Meseberg mit ganz wenigen Ausnahmen keine Rolle mehr spielt?
Das haben Sie offensichtlich übersehen. Auch wenn Sie eine Große Koalition der kleinen Schritte sein wollen, die Füße müssen Sie schon noch heben. Das habe ich in Meseberg vermisst.
Um es auf den Punkt zu bringen: Die schwarz-rote Bundesregierung, die sich von Koalitionsrunde zu Koalitionsrunde und von faulem Kompromiss zu faulem Kompromiss quält, will sich offensichtlich in den kommenden zwei Jahren auf die Verteilung der konjunkturellen Windfall-Profits beschränken, anstatt den Rückenwind der wirtschaftlichen Erholung für weitere Reformen zu nutzen.
Das ist eindeutig zu wenig; denn auch dieser Aufschwung wird wie alle vorhergehenden einmal zu Ende gehen. Die Aufgaben, die angepackt werden müssen, damit wir im nächsten Abschwung keine allzu harte Landung erleben, liegen offen auf dem Tisch.
Nehmen wir die Sozialversicherung: Ihre Halbzeitbilanz ist hier, Herr Müntefering, wirklich ein Trauerspiel: In allen Zweigen der Sozialversicherung mit Ausnahme der Arbeitslosenversicherung wurden unter der Großen Koalition die Beiträge erhöht, oder es stehen Erhöhungen unmittelbar bevor. Selbst da, wo Sie Senkungen vorgenommen haben, wurden die Spielräume nicht oder nur unzureichend genutzt.
Mit der Geschicklichkeit eines Hütchenspielers, Herr Müntefering, verschieben Sie vor den Augen der Öffentlichkeit im Bundeshaushalt Einnahme- und Ausgabepositionen der Sozialversicherung, sodass einem schon vom Zuschauen ganz schwindlig wird. Noch schwindliger wird aber den Bürgern unseres Landes, wenn sie am Ende des ganzen Zaubers feststellen, was ihnen tatsächlich im Portemonnaie verbleibt. Eine vierköpfige Familie muss in diesem Jahr ganze 1 400 Euro Mehrbelastung verkraften. Das sind keine Peanuts. Das ist viel Geld. Deswegen fordere ich, Herr Müntefering, im Namen der FDP-Bundestagsfraktion und auch der Menschen in diesem Lande: Münte, rück’ die Kohle raus!
Geben Sie den Menschen, wo immer möglich, ihr Geld zurück! Der Beitrag zur Arbeitslosenversicherung kann mindestens auf 3,5 Prozent, wahrscheinlich sogar auf 3,2 Prozent gesenkt werden. Worauf warten Sie eigentlich noch?
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms:
Herr Kollege Dr. Kolb, erlauben Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Niebel?
Dr. Heinrich L. Kolb (FDP):
Sehr gerne.
Dirk Niebel (FDP):
Vielen Dank, Herr Kollege. - Sie haben ja gerade die Spielräume für Beitragssenkungen bei der Arbeitslosenversicherung beschrieben. Ich würde mich freuen, wenn Sie mir erklären könnten, ob ich das richtig in Erinnerung habe,
dass die CDU im Bundestagswahlkampf gesagt hat, sie wolle die Mehrwertsteuer um 2 Prozentpunkte erhöhen und das dadurch eingenommene Geld zu 100 Prozent in die Senkung der Beiträge zur Arbeitslosenversicherung stecken.
Herr Müntefering sagte, die Merkel-Steuer würde teuer, und wollte das verhindern. Er hat dann aber einer Mehrwertsteuererhöhung um 3 Prozentpunkte zugestimmt, wobei dann die Einnahmen in Höhe von 1 Prozentpunkt zur Senkung der Beiträge zur Arbeitslosenversicherung verwendet werden sollten.
Nun hat das Bundeskabinett ein Gesetz beschlossen
- die Frage habe ich am Anfang gestellt, Herr Fuchtel -, durch das die Beiträge zur Arbeitslosenversicherung auf 3,9 Prozent gesenkt wurden. Daraufhin wurde aber auch beschlossen,
die der Arbeitslosenversicherung zugeflossenen Mehreinnahmen aus dem 1 Prozentpunkt bei der Mehrwertsteuer in den Haushalt von Herrn Steinbrück umzulenken.
Habe ich es also richtig verstanden, dass von den ursprünglich für die Arbeitslosenversicherung vorgesehenen Einnahmen aus der Mehrwertsteuererhöhung, die ja zur Senkung der Beiträge zur Arbeitslosenversicherung genutzt werden sollten, bei der Arbeitslosenversicherung nichts mehr verblieben ist?
Dr. Heinrich L. Kolb (FDP):
Das haben Sie nach meiner Kenntnis richtig verstanden, Herr Kollege Niebel. Das ist so.
Deswegen sagte ich ja, das, was hier zutage tritt, entspreche der Manier eines Hütchenspielers.
Was mich in diesem Zusammenhang auch sehr stört, ist, dass sich die Koalition offensichtlich nicht mehr an die eigenen Festlegungen im Koalitionsvertrag gebunden fühlt. Der Gesamtbeitrag zur Sozialversicherung sollte dauerhaft auf unter 40 Prozent gesenkt werden.
Wir stehen heute bei 40,9 Prozent. Deswegen wäre genau jetzt der Zeitpunkt für eine größtmögliche Beitragssenkung auch in der Arbeitslosenversicherung.
Nehmen wir die Arbeitsmarktpolitik: Volker Kauder hat gestern an dieser Stelle gesagt, jetzt gehe es darum, zu handeln und das Land voranzubringen. Ich frage mich nun, wie sich mit dieser Absichtserklärung die skurrile Debatte um einen Mindestlohn, die jedenfalls aus Sicht der SPD rein wahltaktisch begründet ist, vereinbaren lässt. Schon ganz allgemein darf festgestellt werden, dass Mindestlöhne unser Land nicht voranbringen, sondern vielen schaden, und zwar insbesondere den Menschen mit einer geringen Qualifikation,
die durch Mindestlöhne dauerhaft vom ersten Arbeitsmarkt ausgeschlossen werden.
In den letzten Tagen, seit der Regierungsklausur von Meseberg, treibt dieses Thema nun besondere Blüten. Es soll jetzt nämlich in der Branche der Postdienstleistungen ein Tariflohn als Mindestlohn eingeführt werden, den der Arbeitgeberverband Postdienste - das ist im Wesentlichen die Deutsche Post - und die Gewerkschaft Verdi vereinbart haben. Es drängt sich der Verdacht auf, dass die Einführung dieses Mindestlohns, die Sie, Herr Müntefering, mit Macht betreiben, vor allem Wettbewerber der Post vom Markt fernhalten soll und damit zumindest indirekt die Liberalisierung verhindert werden soll.
Man kann es auch so formulieren: Die Einführung eines von der Post bestimmten Mindestlohns bei gleichzeitiger Fortführung der Mehrwertsteuerbefreiung der Deutschen Post ist die Fortführung des Postmonopols mit anderen Mitteln. Das schadet unserem Land.
Die Kunden, die eine solche Dienstleistung in Anspruch nehmen wollen, werden am Ende die Zeche zu zahlen haben. Herr Kauder, es geht Ihnen hier wie dem Zauberlehrling in Goethes gleichnamigem Gedicht: Die Geister, die ich rief, die werd’ ich nicht mehr los!
Ich sage Ihnen voraus, liebe Kolleginnen und Kollegen von der Union, Sie werden von der SPD beim Thema Mindestlohn Stück für Stück über den Tisch gezogen werden. Es war eine Schnapsidee, anzunehmen, der ordnungspolitische Sündenfall, den Sie schon im Koalitionsvertrag zugelassen haben, könne begrenzt und eingedämmt werden.
Besonders pikant wird das Ganze - das richtet sich jetzt an die Adresse der SPD -, wenn man weiß, dass bei der Vergabe der Versendung der Berliner Behördenpost die luxemburgische PIN Group, die deutlich unter der Deutschen Post entlohnt, den Zuschlag des - wohlgemerkt: rot-roten - Berliner Senats für ein weiteres Jahr erhalten hat. Dazu kann ich nur sagen: Das ist verlogen und erinnert mich in fataler Weise daran, dass die SPD-Fraktion, obwohl sie längst Forderungen nach einem Mindestlohn von 7,50 Euro erhoben hatte, eigene Mitarbeiter deutlich schlechter bezahlte. So geht das nicht.
Aber es geht noch weiter: In den letzten Tagen haben sich die DGB-Gewerkschaften zunehmend auf die boomende Zeitarbeit eingeschossen. Anstatt sich zu freuen, dass allein im letzten Jahr fast 180 000 Menschen, von denen viele zuvor arbeitslos waren, über Zeitarbeit eine neue Beschäftigung gefunden haben, werden nun Forderungen erhoben, den rechtlichen Rahmen für die Zeitarbeit wieder enger zu fassen und die Einstellung von Leiharbeitern überhaupt von der Zustimmung des Betriebsrates abhängig zu machen. Das ist absurd und verkennt eindeutig Ursache und Wirkung.
Ich sage Ihnen: Wer nicht bereit ist, beim Kündigungsschutz die Weichen neu zu stellen, darf sich am Ende nicht wundern, wenn die Unternehmen in einem erfreulichen, aber sicher auch endlichen Konjunkturhoch in die Zeitarbeit ausweichen. Was ist denn die Alternative? Für mich gilt: Ein Arbeitsplatz in einem Zeitarbeitsunternehmen ist allemal besser als Arbeitslosigkeit. Für mich steht außer Zweifel, dass alle Betroffenen, die vor genau dieser Alternative stehen, das ebenso sehen.
Ein Letztes. Seit einiger Zeit wird eine Debatte über sogenannte gute Arbeit geführt. Hier muss sich der DGB fragen lassen, ob er nicht pharisäerhaft handelt. Es ist nicht nachzuvollziehen, dass die Gewerkschaften, die mit ihren Forderungen nach Arbeitszeitverkürzung bei vollem Lohnausgleich ganz maßgebend zu einem Anstieg des Arbeits- und Zeitdrucks in den Unternehmen beigetragen haben, diesen Umstand scheinheilig beklagen. Ich meine, solange in Deutschland 3,7 Millionen Menschen ohne jede Arbeit sind, sollten wir keine Diskussion über sogenannte gute Arbeit beginnen. Denn was ist denn die Konsequenz, wenn jemand keine gute Arbeit hat? Ist sie dann unzumutbar? Besteht für denjenigen, der unverschuldet keine gute Arbeit hat, Anspruch auf staatliche Unterstützung? Der Grundton dieser Diskussion erinnert mich an Pippi Langstrumpf: Ich mach’ mir die Welt, wie sie mir gefällt. - Mit der Realität einer Volkswirtschaft in einer globalisierten Welt hat diese Diskussion nichts, aber auch wirklich nichts zu tun.
Fazit: Zur Mitte der Legislaturperiode präsentiert sich die Große Koalition als Verein zur Verhinderung eines dauerhaften Aufschwungs und zur nachhaltigen Reformverweigerung. Wichtige Reformbaustellen werden nicht bearbeitet. Dort, wo es Bewegung gibt, geht sie in die falsche Richtung. Aber mit Selbstgefälligkeit allein werden Sie und wird unser Land die Zukunft nicht gewinnen können.
Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit.
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms:
Das Wort hat jetzt der Kollege Dr. Ralf Brauksiepe von der CDU/CSU-Fraktion.
Dr. Ralf Brauksiepe (CDU/CSU):
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Knapp 130 Milliarden Euro umfasst der Haushalt des Bundesministeriums für Arbeit und Soziales. Wenn man den gesamten Bereich der sozialen Sicherung, also auch diejenigen Leistungen der sozialen Sicherung, die in anderen Haushalten enthalten sind, einbezieht, dann kann man feststellen: 49,7 Prozent der Gesamtausgaben des Bundes fließen in diesen Bereich. Dieses Land hat zwar soziale Probleme; dieses Land hat aber vor allem auch einen gut ausgebauten Sozialstaat. Wer etwas anderes behauptet, täuscht die Menschen.
Angesichts der Lage auf dem Arbeitsmarkt wird die Situation für die Opposition hier im Hause immer verzweifelter.
Diese Verzweiflung kommt auch in den Reden, die wir hier gehört haben, zum Ausdruck. Herr Kollege Kolb, in der Vergangenheit haben Sie noch behauptet, es seien Jürgen Klinsmann und der milde Winter gewesen, die die Lage auf dem Arbeitsmarkt herbeigeführt hätten. Jetzt trauen Sie sich das nicht mehr zu sagen, sondern verstecken sich hinter anderen und sagen, diese hätten dies behauptet.
Frau Pothmer läuft mit Scheuklappen durch das Land. Frau Pothmer, Sie sollten die blühenden Landschaften, die es in diesem Land gibt, einmal wahrnehmen.
Der größte Fachkräftemangel besteht bei den Arbeitsmarktpolitikern Ihrer Fraktion; das muss man einmal feststellen. Dort gibt es einen Fachkräftemangel.
Die Wahrheit ist doch: Politik ist, was die Bekämpfung der Arbeitslosigkeit angeht, nicht allmächtig und nicht ohnmächtig. Wenn die Politik keinen Einfluss hätte, wäre es unsinnig, dass wir uns bei den Wählerinnen und Wählern um ein Mandat bewerben. Wahr ist auch: Wir haben nie für uns in Anspruch genommen, dass wir das, was geschafft worden ist, alleine geschafft haben. Das ist eine große Gemeinschaftsleistung in diesem Land, an dem diese Bundesregierung und die Große Koalition ihren Anteil haben.
Ich möchte die Zahlen noch einmal in Erinnerung rufen: 666 000 Arbeitslose weniger als vor einem Jahr, 633 000 Erwerbstätige mehr, 526 000 sozialversicherungspflichtig Beschäftigte mehr. Ich möchte auch den Zweijahresvergleich nennen: Verglichen mit der Zeit vor zwei Jahren, als die Grünen noch in der Regierung waren, haben wir 1 023 000 Arbeitslose weniger und 702 000 sozialversicherungspflichtig Beschäftigte mehr, etwa die Hälfte in Vollzeitstellen.
Dazu sage ich Ihnen, Herr Kollege Kolb: Wir, die CDU/CSU, sind stolz auf diese Bilanz. Im Übrigen freuen wir uns über jeden zusätzlichen sozialversicherungspflichtigen Arbeitsplatz, egal in welcher Branche.
Wir sind stolz auf die erreichte Entwicklung.
Wir haben über 1 Million offene Stellen in Deutschland; das sind 185 000 mehr als vor einem Jahr. Deswegen ist es richtig, dass wir die Politik des Förderns und Forderns fortsetzen; denn 1 Million Stellen sind immer noch zu wenig für 3,7 Millionen Arbeitslose. Es gibt aber erhebliche Potenziale, die Menschen zu den offenen Stellen zu bringen. Deswegen ist Fördern und Fordern weiterhin das richtige Konzept.
In der Diskussion darüber, wie weit wir den Beitrag zur Arbeitslosenversicherung senken, ist zu unseren Forderungen hier das Nötige gesagt worden. Wenn wir diese Debatte führen, müssen wir immer sehen: Es ist eine absolute Luxusdiskussion, die wir hier führen können. Es geht nämlich um die Frage: Wohin mit den Überschüssen?
Was hat denn über Jahre hier die Diskussion bestimmt? Da ging es doch um die Frage: Wie stopfen wir neue Löcher, die sich ergeben haben? Unter dieser Bundesregierung wird solide kalkuliert, werden Erwartungen im positiven Sinne übertroffen.
Es gehört auch zur Wahrheit, dass wir die Lohnzusatzkosten schon jetzt unter 40 Prozent gesenkt haben. Wenn wir es schaffen, einen Arbeitslosenversicherungsbeitrag von 3,5 Prozent zu erreichen, dann führt das über die Jahre der Großen Koalition zu einer Gesamtentlastung der Beitragszahler um über 20 Milliarden Euro.
Den größten Teil des Weges dorthin sind wir schon gegangen. Das ist genau die richtige Botschaft für die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer, für die Unternehmerinnen und Unternehmer in Deutschland.
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms:
Herr Kollege Brauksiepe, erlauben Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Kolb?
Dr. Ralf Brauksiepe (CDU/CSU):
Bitte schön, Herr Kolb.
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms:
Bitte schön.
Dr. Heinrich L. Kolb (FDP):
Herr Kollege Brauksiepe, können Sie mir das einmal vorrechnen? Ich komme für das Jahr 2007 auf einen Gesamtsozialversicherungsbeitrag - da lasse ich die Unfallversicherung sogar außen vor - von 40,9 Prozent. Für das Jahr 2008, nach Senkung des Arbeitslosenversicherungsbeitrags und Anhebung des Pflegeversicherungsbeitrags - das ist ja der Sinn der Übung -, komme ich auf einen Gesamtbeitrag von 40,85 Prozent, vorbehaltlich zu erwartender Beitragserhöhungen in der gesetzlichen Krankenversicherung. Können Sie mir sagen, wie Sie behaupten können, die Lohnzusatzkosten lägen schon heute unter 40 Prozent?
Dr. Ralf Brauksiepe (CDU/CSU):
Herr Kollege Kolb, wir haben Ihnen das schon mehrfach vorgerechnet.
Wenn Sie die Beiträge zur Rentenversicherung, die durchschnittlichen Beiträge zur Krankenversicherung, den Beitrag zur Arbeitslosenversicherung und zur Pflegeversicherung zusammennehmen, dann kommen Sie, insbesondere was den Arbeitgeberbeitrag angeht - darum geht es Ihnen ja insbesondere, dieser liegt Ihnen besonders am Herzen -, auf klar unter 20 Prozent. Wir werden diesen Weg der Senkung der Sozialversicherungsbeiträge weitergehen.
Diese Regierung senkt die Sozialversicherungsbeiträge. Sie können zwar immer sagen, das reiche Ihnen alles nicht; aber Sie sollten zumindest zur Kenntnis nehmen, dass dies unser Weg ist: Wir senken die Abgabenbelastung; wir haben das schon getan und wir werden das auch weiterhin tun.
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms:
Erlauben Sie eine Nachfrage des Kollegen Kolb?
Dr. Ralf Brauksiepe (CDU/CSU):
Ja, wenn es nicht die gleiche Frage ist, dann bin ich dazu bereit.
Dr. Heinrich L. Kolb (FDP):
Es geht nicht um die gleiche Frage. Herr Kollege Brauksiepe, Sie müssen schon davon ausgehen, dass wir Ihren Koalitionsvertrag gelesen haben. Da ist die Rede davon, dass der Gesamtbeitrag zur Sozialversicherung dauerhaft unter 40 Prozent gesenkt werden soll; da ist nicht die Rede davon, dass der Arbeitgeberanteil zur Sozialversicherung dauerhaft unter 20 Prozent gesenkt werden soll. Die Menschen, die in der Krankenversicherung mit einem Zusatzbeitrag von 0,9 Prozent belastet werden, müssen diesen sehr wohl zahlen. Wir reden hier nicht über Luft, sondern über konkrete Belastungen der Menschen. Insgesamt liegen die Sozialversicherungsbeiträge deutlich über 40 Prozent. Deswegen ist jetzt jeder Spielraum für Beitragssenkungen auszunutzen. Stimmen Sie mir zu?
Dr. Ralf Brauksiepe (CDU/CSU):
Herr Kollege Kolb, ich stimme Ihnen nicht zu. Wir sind hinsichtlich des Ziels, die Beiträge zu senken, auf dem richtigen Weg; wir haben da auch schon etwas erreicht. Ich stimme Ihnen in einem Aspekt zu: Wir werden, soweit es Spielräume dafür gibt, das seriös zu finanzieren, den Beitrag zur Arbeitslosenversicherung weiter senken. Ich bitte, das doch auch einmal zur Kenntnis zu nehmen. Wir reden doch nicht über das Ob, also nicht über die Frage, ob wir den Beitrag zur Arbeitslosenversicherung senken, sondern wir reden nur noch über die Frage, in welchem Ausmaß wir den Beitrag zur Arbeitslosenversicherung über das hinaus senken, was im Koalitionsvertrag steht.
Dort stehen 4,5 Prozent. Wir sind bei 4,2 Prozent und werden mindestens auf 3,9 Prozent heruntergehen. Wir wollen ihn aber noch weiter senken.
Diesen Weg sollten Sie eigentlich anerkennen, Herr Kollege Kolb.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir wissen natürlich, dass der Aufschwung die verschiedenen Gruppen am Arbeitsmarkt bisher unterschiedlich erreicht hat. Diejenigen, die gut qualifiziert und erst kurze Zeit arbeitslos sind, sind schneller wieder in Arbeit zu vermitteln, als Menschen, die langzeitarbeitslos sind. Deswegen sage ich hier auch ganz deutlich: Wir werden das arbeitsmarktpolitische Instrumentarium weiter durchforsten. Wir werden es übersichtlicher gestalten und die Zahl der Instrumente reduzieren; das ist richtig. Wir haben das beispielsweise bei der Förderung von Existenzgründungen aus Arbeitslosigkeit auch schon getan. Wir haben Ihre Ich-AG abgeschafft und aus zweien eins gemacht. Wir werden den Weg weitergehen.
Wir bekennen uns aber auch dazu, dass wir für die Gruppen, die besondere Probleme am Arbeitsmarkt haben und durch die Marktkräfte allein nicht in Beschäftigung gebracht werden können, etwas tun. Deswegen haben wir besonders für Jugendliche und für besonders arbeitsmarktferne Langzeitarbeitslose neue, zusätzliche Maßnahmen ergriffen, die in diesen Tagen, so denke ich, auch Zustimmung im Bundesrat finden werden und dann in Kraft treten. Das sind Programme für Menschen, die weiterhin unsere Hilfe brauchen. Dafür schämen wir uns nicht. Es ist richtig, dass wir als Große Koalition dies getan haben.
Wir werden die geschlossenen Vereinbarungen - auch zu den tariflichen Mindestlöhnen - umsetzen.
Sie werden durch die Ausweitung des Arbeitnehmer-Entsendegesetzes und die Modernisierung des Gesetzes über die Festsetzung von Mindestarbeitsbedingungen im Gesetzgebungsverfahren konkretisiert. Ich sage Ihnen voraus: Dies wird auch ein wichtiger Beitrag dafür sein, dass dort, wo es die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer selbst wollen und vereinbaren, auf tarifliche Weise verhindert wird, dass es Armutslöhne in Deutschland gibt. Wir wollen, dass für jeden in Deutschland gilt, dass derjenige, der eine anständige Arbeit macht, dafür auch anständig bezahlt wird.
Das können die Tarifparteien besser als der Staat. Deswegen haben wir diese Vereinbarung getroffen.
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms:
Herr Kollege Brauksiepe, erlauben Sie eine Zwischenfrage der Kollegin Pothmer?
Dr. Ralf Brauksiepe (CDU/CSU):
Aber gerne, Frau Pothmer.
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms:
Bitte schön.
Brigitte Pothmer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Herr Brauksiepe, habe ich Sie richtig verstanden, dass Sie mit Ihrer Aussage den Arbeitsminister Müntefering auffordern, dem Antrag, den die Postgewerkschaft und die Postdienstleister gestellt haben, nämlich ihren Tarifvertrag für allgemeinverbindlich zu erklären, stattzugeben?
Dr. Ralf Brauksiepe (CDU/CSU):
Frau Kollegin Pothmer, Sie haben mich dann richtig verstanden, wenn Sie verstanden haben, dass das gilt, was die Koalition vereinbart hat und was auch in Meseberg vereinbart worden ist.
Es wird zu prüfen sein, inwieweit die Voraussetzungen erfüllt sind. Diese Prüfung nehmen wir vor.
Seien Sie sich ganz sicher: Das werden wir sorgfältig und gleichzeitig zügig tun.
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms:
Auch die Frau Kollegin Pothmer würde gerne noch eine Nachfrage stellen. Erlauben Sie das?
Dr. Ralf Brauksiepe (CDU/CSU):
Ja.
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms:
Bitte schön.
Brigitte Pothmer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Sind Sie der Auffassung, dass die Behauptung von Herrn Kauder, dass diese Vereinbarung nicht dem entspricht, was in Meseberg besprochen worden ist, falsch ist?
Dr. Ralf Brauksiepe (CDU/CSU):
Frau Kollegin Pothmer, es ist unsere gemeinsame Auffassung in der Großen Koalition, dass wir das tun, was in Meseberg vereinbart worden ist. Dort wurde vereinbart, dass die Postdienstleistungen noch in diesem Jahr ins Arbeitnehmer-Entsendegesetz aufgenommen werden, wenn die dort genannten Voraussetzungen erfüllt sind. Das ist unsere gemeinsame Auffassung.
Sie sind natürlich wie immer ein bisschen schlauer. Sie haben die Prüfung schon abgeschlossen; das ist klar. Wir prüfen im Gegensatz zu Ihnen sorgfältig. Darum wird es noch ein paar Wochen dauern. Dann werden wir dieses Problem gelöst haben.
Liebe Kolleginnen, liebe Kollegen, nach zweijähriger Amtszeit der Großen Koalition möchte ich auch noch etwas zu den sozialen Sicherungssystemen - insbesondere auch zur Rentenversicherung - sagen; denn wir haben gerade in diesen zwei Jahren gemerkt: Die beste Sozialpolitik ist eine gute Arbeitsmarktpolitik und eine gute Wirtschaftspolitik. Die wirtschaftliche Dynamik, die in diesem Land wieder entfaltet worden ist, hat positive Auswirkungen auf den Arbeitsmarkt und die sozialen Sicherungssysteme.
Erinnern wir uns an den Herbst des Jahres 2005, als die Wählerinnen und Wähler die Grünen zur kleinsten Fraktion in diesem Hause gemacht haben. Im November 2005 gab es ein Loch in der Rentenkasse in Höhe von 636 Millionen Euro. Erstmalig in ihrer Geschichte brauchte die Rentenversicherung ein Darlehen des Finanzministers.
Sie von den Grünen waren mit Ihrer Politik maßgeblich daran beteiligt, dass es bei der Rente zu ständigen Finanzkrisen, zu Nullrunden für die Rentner und gleichzeitig zu einem Abbau der Rentenrücklage kam.
Sie haben allein zwischen 2002 und 2005 die Rücklage um 12 Milliarden Euro abgebaut. Das ist das Gegenteil von nachhaltiger und generationengerechter Politik. Dafür können Sie sich heute noch schämen, liebe Kolleginnen und Kollegen von Grünen.
Wir haben in der Großen Koalition den gegenteiligen Weg beschritten. Die Rentnerinnen und Rentner nehmen wieder am wirtschaftlichen Aufschwung teil.
Auch hier stellt man fest, dass die Bundesregierung eher vorsichtiger kalkuliert, als sie es nach den vorliegenden Zahlen eigentlich müsste. Wir konnten noch im Rentenbericht 2006 nicht davon ausgehen, dass vor dem Jahr 2009 Rentensteigerungen möglich sind. In diesem Jahr ist die erste - wenn auch geringe - Rentensteigerung wieder möglich gewesen. Heute lesen wir, dass das Kieler Institut für Weltwirtschaft für das nächste Jahr einen deutlichen Rentenanstieg erwartet. Wir versprechen das heute noch nicht, weil die endgültigen Zahlen noch nicht vorliegen. Aber wir können klipp und klar feststellen: Es geht auch für die Rentnerinnen und Rentner in diesem Lande wieder aufwärts, wenn es insgesamt wirtschaftlich aufwärts geht.
Wir haben den Beitragssatz stabilisiert und haben mit dem Aufbau einer Rentenrücklage begonnen. Wir sind sehr zuversichtlich, dass wir in den nächsten Jahren eine Rücklage von 1,5 Monatsausgaben erreichen werden. Wir haben mit der Rente mit 67, die wir gegen erhebliche Widerstände eingeführt haben, die gesetzliche Rente letztlich langfristig zukunftssicher und generationengerecht ausgestaltet. An der Stelle sei auch gesagt - Ehre, wem Ehre gebührt -, dass die Grünen die einzige Oppositionsfraktion waren, die hier anerkannt haben, dass es bei einer längeren Lebenserwartung natürlich notwendig ist, dass die, die es können, länger arbeiten.
Sie von der FDP drücken sich leider bis heute um diese Frage herum. Sie sagen zwar, jeder solle mit 60 in Rente gehen können. Um die Antwort auf die Frage, wo eigentlich die Grenze liegt, von wo an Zuschläge gewährt und Abschläge fällig werden, drücken Sie sich aber bis heute.
Wir machen uns da keinen schlanken Fuß. Wir haben in dem Wissen, mit dieser Entscheidung keine Popularitätspreise gewinnen zu können, die Weichen mit der Rente mit 67 richtig gestellt. Wir haben das in einer Situation geschafft - auch daran sei noch einmal erinnert -, in der wir einen Rückgang der Arbeitslosigkeit insgesamt von 15,2 Prozent haben, bei den über 50-Jährigen einen Rückgang um 15,7 Prozent und bei den über 55-Jährigen einen Rückgang um 18,2 Prozent. Das heißt, unsere Rentenpolitik und unsere Politik für mehr Beschäftigung auch für Ältere haben sich ausgezahlt. Auch darauf können wir stolz sein.
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms:
Herr Brauksiepe, Sie haben mit Ihren letzten Ausführungen beim Kollegen Kolb den Wunsch nach einer Zwischenfrage ausgelöst. Sind Sie bereit, diese entgegenzunehmen?
Dr. Ralf Brauksiepe (CDU/CSU):
Ja.
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms:
Bitte schön, Herr Kolb.
Dr. Heinrich L. Kolb (FDP):
Ich bedanke mich für das forsche Ja.
Herr Kollege Brauksiepe, Sie haben die Rente mit 67 und dankenswerterweise auch das Konzept der FDP angesprochen. Ja, wir wollen einen flexiblen Übergang vom Erwerbsleben in den Ruhestand, der ab 60 beginnen soll, bei Wegfall der Zuverdienstgrenzen, die heute viele Rentner davon abhalten, aus eigener Kraft sich ihren Lebensstandard zu sichern. Wir wollen Zuschläge für denjenigen, der länger arbeitet, und wir wollen keine, wie es heute der Fall ist, Abschläge, die heute von einem Renteneintrittsalter von 65 Jahren und künftig von 67 Jahren ausgehend berechnet werden. Das ist der entscheidende Punkt.
Wir haben in der Vergangenheit ältere Menschen aus dem Erwerbsleben regelrecht herausgedrängt. Sie tragen da eine maßgebliche Verantwortung.
Wir wollen, dass Menschen auf der Basis dessen, was sie sich individuell für das Alter erarbeitet haben, bestimmen können, wie sie den Übergang gestalten.
Meine Frage lautet: Stimmen Sie mir zu, dass das FDP-Konzept das viel intelligentere und modernere Konzept ist als die starre Anhebung einer Regelaltersgrenze?
Dr. Ralf Brauksiepe (CDU/CSU):
Herr Kollege Kolb, wir machen keine Politik, die Frühverrentungsanreize setzt. Wir setzen klare Rahmenbedingungen in der Rentenpolitik. Ich will die Schwammigkeit Ihres Konzepts nur an dem von Ihnen angesprochenen Thema Hinzuverdienste deutlich machen. Jeder, der im gesetzlichen Rentenalter ist, kann in Deutschland zu der Rente so viel hinzuverdienen, wie er will.
Grenzen bei den Hinzuverdienstmöglichkeiten bestehen nur für diejenigen, die in Frührente sind. In Ihrem Konzept müssten Sie erst einmal definieren, wer Frührentner ist. Ist der 60-Jährige nach Ihrer Definition gar kein Frührentner mehr, weil man ja mit 60 in Rente gehen kann? Ist in Zukunft der 65-Jährige noch Frührentner, weil das Renteneintrittsalter bei 67 liegt, oder nicht? Sie haben diese Frage überhaupt nicht beantwortet.
Herr Kolb, Sie haben sich auf mehreren Parteitagen mit dieser Frage beschäftigt. Vermutlich brauchen Sie noch ein paar Parteitage; denn bisher drücken Sie sich um die Wahrheit herum.
Ich finde, wir können stolz auf das sein, was wir in der Großen Koalition auf diesem Gebiet geleistet haben.
Herzlichen Dank.
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms:
Das Wort hat die Kollegin Katja Kipping von der Fraktion Die Linke.
Katja Kipping (DIE LINKE):
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! In diesem Sommer haben verschiedene Politiker für eine Erhöhung der Hartz-IV-Regelsätze geworben, und zwar insbesondere aufgrund der gestiegenen Lebensmittelpreise. Ich finde es sehr erfreulich, dass auch in den Reihen von CDU und SPD die Erkenntnis angekommen ist, dass 347 Euro im Monat einfach viel zu wenig sind, um an dieser Gesellschaft teilhaben zu können.
Ärgerlich ist aber, dass die Bundesregierung mit dem vorliegenden Haushaltsentwurf den bisherigen Kurs von Hartz IV zementiert. Damit zementiert die Bundesregierung Verarmung, Verelendung und Entmündigung.
Frau Lehn, Sie haben uns Fahrlässigkeit vorgeworfen, haben aber selbst kostenfreie Schulspeisungen, Klassenfahrten und Kitas gefordert. Ich würde mich freuen, wenn wir tatsächlich gemeinsam für kostenfreie Schulspeisungen, Klassenfahrten und Kitas kämpfen könnten. In dieser Debatte drängt sich einem aber der Verdacht auf, dass das für Sie nur ein Ablenkungsmanöver ist; denn erst haben Sie mit Ihrer Steuerpolitik für eine Verarmung der Kommunen gesorgt,
dann haben Sie im Rahmen der Föderalismusreform dafür gesorgt, dass sich der Bund an den laufenden Kosten für Kindertagesstätten und Schulen überhaupt nicht mehr beteiligen kann, und jetzt stellen Sie sich hier hin und fordern lieber kostenfreie Kitas, anstatt die Regelsätze zu erhöhen. Leider können wir jetzt nicht frei darüber reden, was die Kommunen besser machen könnten.
- Liebe Frau Lehn, Sie stimmen mir doch sicherlich zu, dass die Tagesordnung die Debatte über den Entwurf des Bundeshaushaltes ausweist und wir hier nicht darüber sprechen, was die Kommunen anders machen könnten. Deswegen müssen wir jetzt über die Höhe der Regelsätze reden.
Verarmt, verunsichert, ausgegrenzt und ohne Perspektive - das ist das Fazit einer aktuellen Studie zu den Auswirkungen von Hartz IV. Im Auftrag der Evangelischen Kirche in Hessen und Nassau hat die Sozialwissenschaftlerin Anne Ames die Auswirkungen von Hartz IV untersucht. Das zentrale Ergebnis dieser Studie ist, dass 85 Prozent aller Befragten ihre sozialen Beziehungen als belastet erleben. Für die Pflege von sozialen Kontakten fehlt schlicht und ergreifend das Geld. Von Arbeitslosengeld II leben zu müssen, bedeutet leider für viele ein Leben in Isolation und Einsamkeit.
Wenn wir uns ernsthaft mit der Höhe des Regelsatzes beschäftigen, dann müssen wir Folgendes zur Kenntnis nehmen: Der Regelsatz reicht noch nicht einmal für eine gesunde Ernährung von Kindern und Jugendlichen.
Wollen Sie wirklich, dass das so bleibt?
- Auch Ihre Zwischenrufe ändern nichts an dieser Erkenntnis.
Ich möchte in diesem Zusammenhang auf eine Untersuchung des Institutes für Kinderernährung der Universität Bonn verweisen - das Folgende hat sich nicht meine Fraktion ausgedacht, sondern das ist die Erkenntnis der Universität Bonn -: Der gegenwärtige Regelsatz weist für 14- bis 18-Jährige pro Tag nur 3,42 Euro für Nahrung und Getränke aus. Für eine ausgewogene Ernährung eines Teenagers sind pro Tag jedoch mindestens 4,68 Euro notwendig, und das auch nur unter der Voraussetzung, dass man ausschließlich bei Billigdiscountern einkauft. Deswegen fordert die Linke, dass die Regelsätze von Hartz IV umgehend erhöht werden, und zwar auf mindestens 435 Euro.
Das wäre im Übrigen auch finanzierbar. Sie müssten nur auf einige Steuergeschenke an die Unternehmen im Rahmen der Unternehmensteuerreform verzichten.
Die Linke kritisiert aber nicht nur die Höhe des Regelsatzes, sondern fordert auch: Die Sanktionen und die 1-Euro-Jobs müssen weg. Wir können die Augen doch nicht davor verschließen, dass 1-Euro-Jobs zunehmend reguläre Arbeitsplätze verdrängen.
Neben den großen Posten im Haushaltsentwurf verdient auch eine kleinere Haushaltsstelle unsere Beachtung; denn sie ist bezeichnend. Für die ?kommunikative Begleitung der Implementierung der Grundsicherung für Arbeitsuchende“ - hier zitiere ich aus dem Haushaltsentwurf - plant die Bundesregierung 1 Million Euro ein. Das muss man sich einfach einmal auf der Zunge zergehen lassen: Es geht um die kommunikative Begleitung der Implementierung der Grundsicherung für Arbeitsuchende. Zu Deutsch: Sie wollen die Werbetrommel für Hartz IV rühren, für ein Gesetz, das so einen schlechten Ruf hat, dass man in Talkshows kaum noch jemanden findet, der dafür verantwortlich sein will.
Dieses Geld könnten wir wirklich sinnvoller einsetzen, zum Beispiel für die Unterstützung von unabhängigen Erwerbsloseninitiativen. Nehmen Sie doch zur Kenntnis: Kein Werbefilm der Welt macht aus der Verelendungsgeschichte Hartz IV eine Erfolgsstory.
Hinter den vielen Zahlen, die wir im Zuge der Haushaltsberatungen beschließen werden, stehen ganz konkrete Schicksale, Schicksale von Männern, Frauen und Kindern. Eine dieser Frauen möchte ich am Ende meiner Rede zu Wort kommen lassen. Ich zitiere aus der erwähnten Studie:
[Mir ist wichtig,] dass die Öffentlichkeit endlich begreift, dass es jedem passieren kann. Ich habe zwei prekäre Arbeitsverhältnisse und komme trotzdem nicht aus der Hartz-IV-Geschichte heraus. Ich wünsche mir, dass wir nicht als Sozialschmarotzer hingestellt werden. Ich war selbst vor zwei Jahren noch Leistungsträgerin der Gesellschaft, und ich habe es mir nicht ausgesucht, arbeitslos zu werden.
Ich denke, dieses Zitat spricht für sich. Ziehen wir also bei den weiteren Haushaltsberatungen die notwendigen Schlüsse! Ein ?Weiter so“ in puncto Hartz IV darf es auf keinen Fall geben.
Danke schön.
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms:
Das Wort hat jetzt der Kollege Klaus Brandner von der SPD-Fraktion.
Klaus Brandner (SPD):
Sehr geehrter Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Bundesminister Müntefering und auch mein Kollege Ralf Brauksiepe haben bereits auf die gute Entwicklung auf dem Arbeitsmarkt hingewiesen. Deshalb muss ich die Daten nicht wiederholen. Aber ich will ganz deutlich sagen, dass in gut zwei Jahren über 1 Million Arbeitsplätze entstanden sind, und das, ohne die Arbeitnehmerrechte abzubauen.
Arbeit und Soziales gehören eng zusammen. Das Soziale, die Arbeitnehmerrechte haben einen eigenen Wert. Das Soziale muss nicht geschleift oder gar geopfert werden, um zu mehr Arbeitsplätzen zu kommen. Das ist die Erkenntnis des Prozesses der letzten zwei Jahre. Darauf muss man in der heutigen Debatte ganz deutlich hinweisen.
Die SPD steht. Sie ist ein Garant für fortschrittliche Arbeitnehmerrechte. Wir haben nicht zugelassen, dass der Kündigungsschutz geschleift wird; wir haben nicht zugelassen, dass das Betriebsverfassungsgesetz ausgehöhlt wird, und wir haben auch nicht zugelassen, dass die Tarifautonomie durch gesetzliche Maßnahmen unterlaufen wird.
Ich hoffe sehr, dass sich das diejenigen merken, die, wenn es ein bisschen schlechter geht, behaupten, das erste Rezept zur Verbesserung der Arbeitsmarktsituation sei der Abbau von Arbeitnehmerrechten. Genau diesen Irrweg machen wir nicht mit.
Interessant ist auch - das will ich an dieser Stelle sagen -, welche Bedeutung dem Flächentarifvertrag wieder zukommt. Viele, die noch gestern nach dem Ausstieg gerufen und betriebliche Bündnisse als das Wunderwerk, mit dem man Tarifverträge unterlaufen könne, proklamiert oder die Mitgliedschaften in Arbeitgeberverbänden ohne tarifliche Bindung forciert haben, erkennen zwischenzeitlich den Wert des Flächentarifvertrags angesichts stärkerer Bedeutung von Berufsverbänden wie Cockpit, Ärztevereinigungen oder auch den Lokführerverbänden ganz neu. Selbst BDA-Präsident Hundt erwartet von uns, dass wir die Unternehmen vor der neuen Gefahr schützen und sogar gesetzlich eingreifen, um genau das, wonach man vorher gerufen hat, möglichst schnell zu verhindern. Für uns - das will ich hier deutlich sagen - hat der Flächentarifvertrag eine große Bedeutung für Wachstum und Beschäftigung, für die Verlässlichkeit der Arbeitsbeziehungen und für den sozialen Frieden in unserem Land.
Unsere Politik ist gut für die Menschen, für das Wachstum und die Beschäftigung in unserem Land und auch für die Sozialkassen. Die Senkung der Sozialversicherungsbeiträge bei der Bundesagentur für Arbeit um 2,6 Prozentpunkte und die Vorziehung der Fälligkeit der Zahlbeträge haben allein in diesem Jahr eine Entlastung um 20 Milliarden Euro mit sich gebracht. Das ist ein wesentliches Konjunkturprogramm, durch das die Kaufkraft der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer und die Investitionskraft der Unternehmen nachhaltig gestärkt werden.
Nun zur Frage: Ist eine weitere Senkung möglich, und hat sie Priorität? Ich sage ganz deutlich: Unsere oberste Priorität besteht darin, dafür zu sorgen, dass wir genügend Mittel für Weiterbildung und nachhaltige Integration in den Arbeitsmarkt zur Verfügung haben. Das muss unser erstes Ziel sein, wenn es um die Höhe der Beitragssätze geht. Denn 300 000 Altbewerber, bei denen es oft große Vermittlungshemmnisse gibt, brauchen auf dem Arbeitsmarkt eine Chance. Auch Ältere brauchen eine besondere Chance.
Ich sage ganz deutlich: Eine weitere Senkung der Lohnnebenkosten bringt denen, die benachteiligt sind, keine neuen Arbeitsplätze. Dieser Personenkreis braucht besondere Hilfen. Die SPD steht dafür, diese Hilfen rechtzeitig und umfassend zur Verfügung zu stellen.
Zu diesem Thema haben wir heute schon manches Märchenstündchen gehört. Frau Dr. Winterstein, ich fand es übrigens ein bisschen unverschämt, dass Sie dem Bundesarbeitsminister im Hinblick auf die Sozialversicherungsbeiträge Bereicherung vorgeworfen haben. Hier haben Sie sich aus meiner Sicht in Ihrem Ton und im Inhalt Ihrer Aussage vergriffen.
Ich finde, hier und heute muss der deutliche Akzent gesetzt werden, dass wir nicht prinzipiell gegen Beitragssatzsenkungen sind.
Nein, wir werden jeden Spielraum für Beitragssatzsenkungen nutzen. Wichtig ist aber, dass zuerst die Inhalte abgearbeitet werden.
Die Menschen haben einen Anspruch darauf, dass wir ihnen den Wiedereinstieg in das Arbeitsleben ermöglichen.
Meine Damen und Herren, unser Ziel ist nicht ?Billiger“, sondern ?Mehr Qualität“. Wir wollen keine Billig-Arbeitslosenversicherung. Wir wollen eine Arbeitslosenversicherung, die nachhaltig dabei hilft, die Beschäftigungssituation zu stärken. Das ist in erster Linie dadurch zu erreichen, dass unsere Wettbewerbsfähigkeit durch qualifizierte Mitarbeiter gesteigert wird.
Wir müssen besser statt billiger werden. Wir brauchen bessere Produkte und besseren Service. Damit können wir punkten, aber nicht, wenn wir der Mär Glauben schenken, dass eine Senkung des Beitragssatzes um 1 Prozentpunkt 100 000 zusätzliche Arbeitsplätze bringt. Das würde nämlich auch den Schluss zulassen, dass wir, wenn wir die Arbeitslosenversicherung auf null herunterfahren würden, 400 000 Arbeitslose weniger hätten, dann aber nichts mehr für die 3,3 Millionen Arbeitslosen tun könnten, die es dann immer noch gäbe. Dadurch würden wir gerade denen unsere Hilfe entziehen, die sie brauchen. Deshalb sollten wir solchen Automatismusformeln nicht anhängen, sondern sehr gezielt prüfen, wohin das Geld fließt und wofür es verwendet wird.
Die positive finanzielle Entwicklung bei der Bundesagentur für Arbeit ist eine große Chance für mehr Qualität in der Beratung und Vermittlung und für mehr Qualität in der Weiterbildung insbesondere derjenigen, die eine besondere Chance brauchen. Dafür ist nun Spielraum vorhanden, den wir jetzt offensiv nutzen sollten.
Wir wollen Chancen für alle, erst recht in einer Situation, in der die Konjunktur dies erleichtert. Wir wollen uns nicht damit abfinden, dass die positive wirtschaftliche Entwicklung an einem Teil der Menschen vorbeigeht. Deshalb hat Minister Müntefering im Haushalt des Bundesministeriums für Arbeit und Soziales für den Eingliederungstitel Mittel in Höhe von 6,4 Milliarden Euro bereitgestellt, und das ohne Sperrvermerk.
Das ist das Entscheidende, meine Damen und Herren: Wir haben 1 Milliarde Euro mehr zur Verfügung, und zwar ohne Sperrvermerk.
Es gibt also keine Unsicherheiten mehr. Insofern ist auch für die Arbeit der Fallmanager vor Ort Planungssicherheit gewährleistet. Das ist das klare Signal, dass wir mehr Weiterbildung fördern, indem wir für das Fördern umfangreiche Mittel zur Verfügung stellen. Für uns war immer klar: Druck auf die Arbeitslosen auszuüben, das allein reicht nicht aus. Für uns gilt: An erster Stelle steht das Fördern, und das Fördern ist die Legitimation für das Fordern. Jetzt stehen für bestimmte Gruppen genug Mittel zur Verfügung.
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms:
Herr Kollege Brandner, erlauben Sie eine Zwischenfrage der Kollegin Pothmer?
Klaus Brandner (SPD):
Bitte.
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms:
Bitte schön, Frau Pothmer.
Brigitte Pothmer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Herr Brandner, ist Ihnen bekannt - das ist auch ein Hinweis an Frau Lehn -, dass auch im Haushalt für 2007 für diesen Bereich Mittel in Höhe von 6,4 Milliarden Euro zur Verfügung gestellt worden sind und dass, als die Einbringungsreden gehalten wurden, damals von einem Sperrvermerk weit und breit nichts zu hören war?
- Aber nicht bei der Einbringung des Haushalts.
Klaus Brandner (SPD):
Natürlich.
Brigitte Pothmer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Sie versichern uns jetzt, dass das, was an dieser Stelle beschlossen wird, tatsächlich für die Arbeitslosen zur Verfügung gestellt wird. Habe ich Sie da richtig verstanden?
Klaus Brandner (SPD):
Frau Pothmer, nehmen Sie uns doch einfach beim Wort! Ich habe gesagt, dass 6,4 Milliarden Euro im Wiedereingliederungstitel ohne Sperrvermerk zur Verfügung stehen werden. Das ist es, was wir vertreten und was wir auch in der zweiten Lesung vertreten werden. Sagen Sie das den Arbeitsgemeinschaften und Optionskommunen draußen im Land, damit sie sich auf diese Situation einstellen können!
- Sie können ruhig stehen bleiben, wenn ich Ihnen antworte. - Ganz besonders liegt mir das Steckenpferd der SPD am Herzen - leider haben die Linken dem nicht zugestimmt; Sie haben das kritisch begleitet -, die ?JobPerspektive“.
Die ?JobPerspektive“ braucht diesen finanziellen Spielraum. Die Leute vor Ort brauchen Planungssicherheit dergestalt, dass für Personen mit erheblichen Vermittlungshemmnissen - das sind diejenigen, die trotz guter arbeitsmarktpolitischer Fördermaßnahmen keine Chance auf eine dauerhafte Integration in den ersten Arbeitsmarkt haben - künftig genügend finanzielle Mittel zur Verfügung gestellt werden. Genau das sieht der Haushalt vor. Insofern: Seien Sie mit die Botschafterin dafür, dass vor Ort die Vorbereitungen für sinnvolle Beschäftigungsmaßnahmen getroffen werden! Damit haben wir für einen besonderen Personenkreis etwas Gutes getan.
Wir brauchen insbesondere einen Mentalitätswechsel, wenn es darum geht, Ältere wieder stärker in die Arbeitswelt einzugliedern. Als große Koalition haben wir bessere Rahmenbedingungen dafür vorgesehen. Die SPD-Initiative für altersgerechtes Arbeiten ist ein weiteres Stichwort, auf das ich verweisen möchte. Es geht uns im Kern darum, die Bedingungen zum Erreichen der Rente durch altersgerechtes Arbeiten zu verbessern. Wo das nicht gleich möglich ist, wollen wir gleitende Übergänge organisieren, und zwar durch eine echte Altersteilzeit und nicht vorrangig durch verblockte Zeit, durch eine bessere Teilrente. Darüber ist in den letzten Tagen sehr viel geschrieben worden, und ich freue mich ausdrücklich, dass der ZDH, der DIHK und der DGB die Pläne, die wir dazu diskutieren, ausdrücklich begrüßen und für richtig befinden. Deshalb gilt es, die Teilrente zu modernisieren,
bessere Hinzuverdienstmöglichkeiten zu schaffen und damit ein flexibles Element des Übergangs vom Arbeitsleben in den nächsten Lebensabschnitt zu organisieren.
Wir stellen damit keineswegs - das will ich klar sagen - das notwendige Projekt der Anhebung der Lebensarbeitszeit - die Rente mit 67 - insgesamt in Frage. Vielmehr müssen wir die Bedingungen verbessern, damit die Menschen in Würde ein höheres Renteneintrittsalter erreichen können. Das ist unser Ziel; denn diese Veränderungen sind zwingend und notwendig.
Es ist wichtig, dass wir uns der Ausbildungssituation stärker widmen. Der Ausbildungspakt zeigt allmählich positive Wirkungen.
Wir haben ein deutliches Plus bei den gemeldeten Ausbildungsstellen. Ich will Ihnen aber klar sagen, dass der Anstieg in erster Linie aufgrund öffentlich geförderter Ausbildungsstellen zu verzeichnen ist. Es gibt nur 12 900 zusätzliche betriebliche Ausbildungsplätze. Das Klagen einiger Unternehmen über den Fachkräftemangel muss in Schall und Rauch aufgehen, wenn sie nicht selbst genug für die Ausbildung in den Betrieben tun, wenn sie sich selbst nicht den Erfordernissen der Weiterbildung stellen.
Die Bundesagentur für Arbeit muss - solange die finanziellen Mittel in der gegenwärtigen Größenordnung zur Verfügung stehen - zuerst dabei helfen, jungen Menschen eine Perspektive zu geben. Wichtig und richtig ist aber - das soll hier deutlich gesagt werden -: Die Verantwortung bleibt bei den Unternehmen. Wir dürfen ihnen diese Verantwortung langfristig nicht abnehmen.
Bei der Weiterbildung gibt es in Deutschland große Schwächen. Die Zahl der Unternehmen, die sich den Herausforderungen der betrieblichen Weiterbildung stellen, ist weiter zurückgegangen. Dass die Unternehmen dieses Thema in einer Situation so sträflich vernachlässigen, in der unsere wichtigsten Ressourcen Qualifikation, Weiterbildung und die Fähigkeit, sich auf neue Herausforderungen einzustellen, sind, ist nicht zu verzeihen.
Es ist für uns als Bundesregierung, die Initiativen zum Beispiel zur Förderung der Techniker- und Meisterausbildung gestartet hat, nicht verzeihlich, dass diese gut ausgebildeten Kräfte in Betrieben sehr häufig an Arbeitsplätzen für Angelernte belassen werden, ihnen keine Aufstiegsmöglichkeiten gegeben und sie damit nicht adäquat eingesetzt werden. Diesen Unternehmen müssen wir nahelegen, dass sie zuerst auf die vorhandenen Qualifikationen zurückgreifen sollen. Damit hätten sie für viele Menschen in diesem Lande etwas Gutes getan.
Weiterbildung und Qualifizierung sind ein wichtiges Thema. Das gilt aber auch für die Leiharbeit, die ich als letztes Stichwort kurz ansprechen möchte. Die Leiharbeit ist ein wesentliches Sprungbrett, um in den allgemeinen Arbeitsmarkt zu kommen. Doch was wir dabei zwischenzeitlich erleben, können wir Sozialdemokraten nicht bejubeln. Leiharbeit, Zeitarbeit ist ein Schritt auf Zeit, aber nicht dazu gedacht, dauerhafte Leiharbeitsverhältnisse zu schaffen.
Es kann nicht angehen, dass die Zeitarbeit dazu benutzt wird, um Stammarbeitsplätze abzubauen. Das ist kontraproduktiv. Ich kann das an dieser Stelle aus Zeitgründen nicht weiter ausführen, will aber ganz deutlich sagen: Es ist im Interesse der Zeitarbeitsbranche, dass sie selbst ein Zeichen setzt, den Verleihzeitraum begrenzt und Outsourcing-Prozesse, die zu nichts anderem als Lohndumping führen, nicht durchführt. Die Zeitarbeit ist wichtig, um Auftragsspitzen abzufangen und Stammarbeitsplätze zu sichern, darf diese aber nicht ersetzen.
Herzlichen Dank für die Aufmerksamkeit.
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms:
Das Wort hat jetzt der Kollege Markus Kurth von Bündnis 90/Die Grünen.
Markus Kurth (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Lieber Klaus Brandner, der Versuch, die Wirklichkeit und die Beschreibung derselben in Übereinstimmung zu bringen, muss nicht immer glücken. Es ist ja richtig, dass Sie im Haushalt wieder 6,4 Milliarden Euro für die Förderung, für die aktive Arbeitsmarktpolitik vorsehen. Aber eines muss man schon zur Kenntnis nehmen: Wir sind jetzt im dritten Jahr - am Anfang hat das noch Rot-Grün beschlossen -, in dem für die Förderung im Bereich Hartz IV bzw. Sozialgesetzbuch II 6,4 Milliarden Euro zur Verfügung stehen. Im dritten Jahr werden wir es nicht erreichen, die zur Verfügung gestellten Mittel auszuschöpfen. Das muss man auch einmal sagen, anstatt es schon für etwas Besonderes zu halten, dass die Leistungen jetzt ohne Sperrvermerk zur Verfügung gestellt werden. Dass Sie schon so kleine Brötchen backen, ist bezeichnend.
Herr Brauksiepe, Sie haben der Opposition, insbesondere uns als Grünen, vorgeworfen, wir hätten Scheuklappen auf, seien verzweifelt. Verzweifelt bin ich eigentlich nur, wenn Sie versuchen, vorzurechnen, wie man beim Gesamtsozialversicherungsbeitrag auf unter 40 Prozent kommt, wenn er bei 41 Prozent liegt.
Das mit den Scheuklappen fällt also auf Sie zurück.
Wir leugnen gar nicht, dass der Aufschwung positive Folgen hat. Ich halte es da mit unserem Vorsitzenden Fritz Kuhn, der ja gestern ganz offen gesagt hat: Sie haben bestimmte günstige Rahmenbedingungen. - Das wollen wir durchaus zur Kenntnis nehmen, und wir sehen auch die günstige Perspektive für die Politik in Deutschland. Aber gerade wenn man günstige Rahmenbedingungen und einen guten konjunkturellen Hintergrund hat, muss man in den Bereichen etwas tun, bei denen man sich Sorgen machen muss, und dort die Scheuklappen abnehmen. Wenn ich mir als sozialpolitischer Sprecher meiner Fraktion über etwas Sorgen mache, dann sind das die Kinder, die dauerhaft in Armut leben und deren Zahl trotz des Aufschwungs weiter wächst.
Ich muss Ihren Fraktionsvorsitzenden Kauder ernst nehmen können, wenn er sagt: Jeder soll beim Aufschwung mitgenommen werden. Doch er geht mit keinem Wort auf die Zahl der Kinder ein, die von Leistungen nach SGB II, Arbeitslosengeld II, leben. Ihre Zahl hat im April 2007 den Höchststand von 1,9 Millionen erreicht. Nach den vorläufigen Zahlen für August 2007 sind es weiterhin 1,8 Millionen Kinder. Wenn wir noch diejenigen berücksichtigen,
die sich verdeckt, ohne das Geld zu beantragen, auf ähnlichem materiellen Niveau befinden, sind wir bei über 2,5 Millionen Kindern. Wenn wir dann noch auf die Großstädte fokussieren, insbesondere auf Berlin, das Ruhrgebiet, die Ballungsräume, stellen wir fest, dass in Berlin 40 Prozent der Kinder und Jugendlichen unter 15 Jahren in Haushalten leben, die Arbeitslosengeld II beziehen. Wenn von den 25 000 Kindern, die Ende August in Berlin eingeschult wurden, 40 Prozent in Haushalten leben, die Arbeitslosengeld II erhalten, dann heißt das, es gibt Schulklassen, in denen über die Hälfte der Kinder vom Arbeitslosengeld II lebt. Das müssen wir einmal zur Kenntnis nehmen!
Vor diesem Hintergrund ist eine Regelsatzdebatte mehr als überfällig und absolut gerechtfertigt.
Man muss diese Debatte nüchtern führen. Aus meiner Sicht reichen vage Hinweise wie ?Wir müssen schauen, ob die Ecksätze stimmen“, wie der Minister in seiner Auftaktrede festgestellt hat, nicht aus. Die Länderkollegen sind teilweise schon weiter. Ich denke zum Beispiel an Herrn Laumann aus Nordrhein-Westfalen - wir haben ihn noch aus der letzten Legislaturperiode in guter Erinnerung -, der vor einigen Monaten im Mai 2007 in einer Debatte im Landtag von Nordrhein-Westfalen darauf hingewiesen hat, dass es nicht zutreffen kann, dass ein Kind von 14 Jahren nur 60 Prozent von dem verzehrt, was ein Erwachsener zu sich nimmt; als Vater von drei Kindern könne er das beurteilen.
Auch wenn ich vieles an Herrn Laumann kritisieren kann, gefällt mir sein von der Lebenswelt geprägter Zugang zur Politik in diesem Zusammenhang durchaus.
Er hat auch Konsequenzen gezogen - dafür muss man ihn loben -,
indem er eine unabhängige Kommission eingerichtet hat, die die Legitimität der Regelsätze überprüfen soll. Ich wünsche mir, dass wir das auch auf Bundesebene machen und unabhängig von mathematischen Rechenmodellen überprüfen, ob mit dem Betrag von 208 Euro für unter 14-Jährige ein vernünftiges Leben überhaupt darstellbar ist.
Das alles, was dieser Landesminister oder auch Ministerpräsidenten wie Herr Althaus und Herr Stoiber machen - der als Abschiedsgruß festgestellt hat, dass der Regelsatz für Kinder erhöht werden muss -, wird allerdings zur Heuchelei, wenn die Ministerpräsidenten der Länder Wohltaten fordern, was Sie dann aber auf Bundesebene ignorieren. Auf diese Weise führen Sie die Bürgerinnen und Bürger hinters Licht.
Sie sollten sich einmal mit den Folgen der Kinderarmut befassen. Erst gestern hat der Präsident der größten Krankenkasse dargelegt, dass 22 Prozent der Kinder psychische Verhaltensauffälligkeiten zeigen, die bei ärmeren Kindern konzentriert auftreten. Die größte Krankenkasse gibt jährlich 50 Millionen Euro für psychotherapeutische Behandlungen aus. Weitere 25 Millionen Euro - auch das konzentriert sich bei den Ärmeren - werden für logopädische Behandlungen erstattet. Diese Folgekosten muss man in die Gesamtberechnung einbeziehen. Darauf habe ich schon mehrfach hingewiesen. Das wird aber nachhaltig ignoriert.
Stattdessen lassen Sie sich einen Kinderzuschlag einfallen, der nur die Erwerbstätigen erfasst und diejenigen ausschließt, die dauerhaft arbeitslos sind.
Präsident Dr. Norbert Lammert:
Ich bitte um Nachsicht, aber ich folge dem Finale Ihrer Rede mit gespanntem Interesse.
Markus Kurth (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Es hatte sich eine Zwischenfrage ergeben, die wahrscheinlich beim Präsidentenwechsel untergegangen ist.
Präsident Dr. Norbert Lammert:
Noch kann es keine Zwischenfrage gegeben haben. Sie kann allenfalls angemeldet worden sein. Aber ich verstehe Ihren dezenten Hinweis als das ausgeprägte Interesse, durch Zulassung dieser Zwischenfrage Ihre Redezeit zu verlängern. - Bitte schön, Frau Falk.
Ilse Falk (CDU/CSU):
Herr Kollege Kurth, Sie glauben doch nicht im Ernst, dass eine Anhebung des Regelsatzes für Kinder die geschilderten Probleme löst. Sie müssen doch einerseits den Hintergrund sehen, warum Kinder in die Situation kommen, Transferleistungen zu beziehen. Der Hintergrund besteht darin, dass Eltern aus Gründen, die ich jetzt nicht zu bewerten habe, in Arbeitslosigkeit geraten sind und selber von der Transferleistung abhängig sind. Die Leistungen, die sie für ihre Kinder bekommen, sollten in aller Regel ausreichen. Wenn das nicht der Fall ist, liegt die Ursache häufig darin, dass Eltern nicht in der Lage sind, mit dem Geld umzugehen und ihren Kindern zu Hause die richtigen Rahmenbedingungen zu bieten,
damit sie aufwachsen können, ohne psychisch belastet zu werden und psychische Defizite zu entwickeln, wie es vielfach der Fall ist.
Wir müssen in die Familien hineingehen und ihnen helfen.
Präsident Dr. Norbert Lammert:
Sie hatten sich zu einer Zwischenfrage gemeldet, Frau Kollegin.
Ilse Falk (CDU/CSU):
Das hängt alles zusammen. Ich will nur deutlich machen, dass die Frage darauf abzielt, dass die finanzielle Leistung alleine nicht ausschlaggebend sein kann, sondern dass viele andere Hilfen nötig sind. Sind Sie mit mir dieser Meinung?
Markus Kurth (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Ich bin mit Ihnen der Meinung, dass es speziell für Kinderarmut - wie auch für Armut im Allgemeinen - viele Ursachen gibt und dass finanzielle Transferleistungen alleine nicht ausreichen, um die Armutssituation dauerhaft zu überwinden. Aber ich lehne es ab, strukturelle Hilfen in den Bereichen Bildung und Erziehung sowie Familienhilfen gegen eine Erhöhung des Regelsatzes auszuspielen.
Grundlage ist die materielle Sicherheit, auf der andere Hilfen und zusätzliche Unterstützung aufbauen können.
Ich möchte noch kurz auf Ihren Hinweis eingehen, dass das nicht reiche. Das Ergebnis einer von Margot Münnich für das Statistische Bundesamt erhobenen Studie über die Einkommensverhältnisse armer Familien ist, dass Eltern in der Regel alles tun, um ihre Kinder vor Armut zu bewahren, und zuerst bei ihren Ausgaben sparen, bevor sie bei den Kindern sparen.
Es wird behauptet, die Hilfen kämen oft nicht bei den Kindern an, oder die Eltern seien daran schuld, dass die Unterstützung nicht den Kindern zugute komme. Das mag in bestimmten Fällen so sein. Aber das ist keineswegs empirisch belegt.
Ich komme zum Schluss. Von dem Kinderzuschlag, den Sie vorschlagen, profitieren nur diejenigen, die bereits arbeiten. Aber wir müssen für die 2,2 Millionen, die trotz aller Unterstützungsmaßnahmen leider mehr oder minder dauerhaft Arbeitslosengeld II beziehen, Lösungen finden. Dazu gehören eine Erhöhung des Regelsatzes und natürlich auch ergänzende Hilfen für Essen und Lernmittel, Frau Lehn. Wir vom Bündnis 90/Die Grünen haben in der Vergangenheit zwei Anträge gestellt mit der Forderung, den Jobcentern im Rahmen einer Kannbestimmung zumindest die Möglichkeit zu eröffnen, Essen, Lernmittel und Fahrtkosten zu bezuschussen.
Aber Sie haben das abgelehnt. Bevor Sie wohlfeile Forderungen an Länder und Kommunen stellen, sollten Sie sich an die eigene Nase fassen und die gesetzlichen Voraussetzungen dafür schaffen. Wir können dies tun. Wir sollten keine Sonntagsreden halten und Forderungen stellen, die wir schon längst hätten erfüllen können.
Vielen Dank.
Präsident Dr. Norbert Lammert:
Hans-Joachim Fuchtel ist der nächste Redner für die CDU/CSU-Fraktion.
Hans-Joachim Fuchtel (CDU/CSU):
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Als langjähriger Haushälter verrate ich Ihnen:
Wenn es dem Einzelplan 11 gut geht, dann geht es dem gesamten Bundeshaushalt gut.
Ich habe heute von niemandem gehört, dass sich die Situation nicht stabilisiert habe. Die Wahrheit ist, dass wir erste Entlastungstendenzen verspüren. Dies ist insgesamt gut für dieses Land.
Verehrte Frau Kollegin Dr. Winterstein, Sie haben vorhin manches gesagt, was ich mittragen kann. In einem Punkt muss ich Ihnen aber deutlich widersprechen. Die Entlastung ist nicht nur das Ergebnis der guten Konjunktur. Sie kommt vielmehr auch durch die strukturellen Veränderungen, die durch die Gesetzgebung bewirkt wurden.
Sonst führte die SPD beispielsweise nicht eine Diskussion über die Agenda 2010.
Es geht darum, wie wir die Gestaltungsräume nutzen. Ich darf die Prioritäten kurz skizzieren: erstens weitere Entlastung der Beitragszahler - ich bin mir ganz sicher, dass wir hierüber noch ins Gespräch kommen -, zweitens Fortsetzung der Konsolidierung und drittens die Stabilisierung der sozialen Sicherungssysteme. Dazu ist heute sehr wenig gesagt worden. Aber wer eine nachhaltige Sozialpolitik gestalten möchte, muss auch Reserven für die Stabilisierung schaffen. Am Ende des Jahres werden wir Reserven in Höhe von circa 16 Milliarden Euro in der Arbeitslosenversicherung und der Rentenversicherung aufgebaut haben. Hier sollten Sie von den Grünen einmal gut zuhören. Als Sie aus der Regierung ausgeschieden sind, gab es null Reserven. Das ist der Unterschied.
Schwarz-Rot erfüllt das, was Rot-Grün versprochen hat. Der Aufbau der Reserven ist ein Beispiel dafür, dass die Stabilisierung gelungen ist.
Das vierte wichtige Projekt, das wir in der jetzigen guten Situation voranbringen müssen, damit Deutschland ein moderner Sozialstaat bleibt, ist der weitere Abbau der Langzeitarbeitslosigkeit. Es ist natürlich ein sehr wichtiger Punkt, wenn 7,3 Millionen Menschen von Hartz IV betroffen sind. Diese Zahl müssen wir reduzieren. Dem wird Priorität eingeräumt.
Die Union wird in den nächsten Monaten einige Impulse geben. Zunächst einmal wollen wir nicht mit dem Kopf durch die Wand, aber wenn es die Herbstzahlen zulassen, dann reden wir - da sind wir mit dem Minister einig - über eine weitere Beitragssenkung in der Arbeitslosenversicherung. Wenn mir Herr Kollege Kolb dazu Zwischenfragen stellen würde, würde ich ihm im Einzelnen erläutern, warum das nicht so einfach geht.
Wenn sich der Trend bei den Herbstzahlen fortsetzt, dann wird eine Senkung des Beitrags von 3,9 Prozent auf 3,5 Prozent möglich werden. Das werden wir ernsthaft anstreben.
Präsident Dr. Norbert Lammert:
Ich mache in der Zwischenzeit vorsichtshalber darauf aufmerksam, dass ich so offensichtlich bestellte Zwischenfragen nicht zulassen würde.
Hans-Joachim Fuchtel (CDU/CSU):
Diese Zwischenbemerkung wurde mir aber nicht auf meine Redezeit angerechnet, Herr Präsident?
Ein anderes Thema ist die Schaffung weiterer Liquidität. Wir wollen, dass eine Entrümpelung der Arbeitsmarktinstrumente stattfindet. Statt 80 Einzelprogrammen wollen wir eine Neufassung mit weniger Programmen. Das beseitigt Bürokratie und wird die Abläufe beschleunigen. Als nächsten Schritt werden wir als Union auf eine bedingungslose Evaluierung jedes Arbeitsmarktprogramms hinarbeiten. Wir müssen - das sage ich uns allen - stärker den Spruch beherzigen: Wenn das Pferd tot ist, muss man auch absteigen.
Der nächste Punkt betrifft die Privathaushalte. Wir müssen die Privathaushalte als Arbeitgeber entdecken. Herr Minister Müntefering, herzlichen Dank für das Interview, das Sie der Welt am Sonntag vor zwei Wochen gegeben haben. Endlich entdecken auch die Kollegen in der Koalition, dass hier ein großes Potenzial besteht. Hier kann man noch Arbeitskräfte aktivieren, und hier gibt es eine Nachfrage, wenn man die Rahmenbedingungen richtig gestaltet. Ich darf zusammenfassend sagen: Herr Minister, die Union steht für einen großen Wurf auf diesem Gebiet bereit.
Wir hoffen, dass wir nicht in ideologische Diskussionen verfallen, sondern dass wir die Chancen nutzen. Ich persönlich denke, dass man auf eine Obergrenze von monatlich 2 500 Euro inklusive Sachbezüge kommen kann, wenn man alle Instrumente zusammenführt. Dann werden wir eine große Zahl zusätzlicher Arbeitsplätze schaffen, was den Arbeitsmarkt entlasten wird. Wir rechnen zurzeit nach und werden konkrete Vorschläge machen. Das möchte ich hier ankündigen.
Diese Zeit ist auch die Stunde einer verstärkten Bekämpfung der Schwarzarbeit. Auch das ist heute noch nicht angesprochen worden. Während die Politesse heutzutage den Parksünder mit digitalen Geräten verfolgt und ihm Strafzettel ausstellt, kämpfen unsere tapferen Beamten der Finanzverwaltung gegen die Schwarzarbeit in unserem Hightechland mit der Hand am Arm an. Wir müssen auch hier digitale Instrumente einführen und unsere Ressourcen nutzen. Das ist im Interesse der Kultur der sozialen Marktwirtschaft, des regulären Arbeitsmarkts und der öffentlichen Kassen.
Das Thema der privaten und betrieblichen Altersvorsorge ist ganz kurz angesprochen worden. Für uns intern war die Entscheidung über die Entgeltumwandlung sehr schwierig. Wir reden hier nicht von kleinen Brötchen, sondern von richtig großen Broten. Wir schätzen, dass wir einen Beitragsausfall in Höhe von bis zu 2,4 Milliarden Euro haben werden, wenn wir die bisherige Form der Freistellung von der Sozialversicherungspflicht beibehalten. Das aber ist für die junge Generation ein Angebot. Deswegen machen wir das.
Die Union wird am Investivlohn dranbleiben. Partnerschaft in der globalen Wirtschaft braucht eine stärkere Arbeitnehmerbindung an den Betrieb. Vermögensbildung muss konkret sein und darf nicht in anonymen Fonds stattfinden. Mich als Haushälter hat am meisten das Schuler-Modell überzeugt. Das kostet den Staat wenig und bringt dem Einzelnen viel. All diese Zukunftsprojekte stehen natürlich unter dem Signum äußerster Sparsamkeit; denn die guten Arbeitslosenzahlen bieten keinen Anlass zur Euphorie. Eines muss man nämlich hervorheben: Allein der Bund gibt über 35 Milliarden Euro für die Grundsicherung aus. Hinzu kommen 8 Milliarden Euro, die die Länder für den Wohnungsbereich zur Verfügung stellen. Insgesamt bringt der Staat also 43 Milliarden Euro auf, und dann kommen Sie und machen das schlecht. Sie sollten froh sein, dass der deutsche Steuerzahler die Kraft hat, so viel Geld für diese Aufgabe einzusetzen.
Weder SPD noch Union brauchen Nachhilfeunterricht über die Zusammensetzung des Kreises der Empfänger von Mitteln nach dem Sozialgesetzbuch II. Bei allen Bemühungen um eine Vereinfachung der Instrumente ist klar, dass wir die Situation mit konkreten Programmen - sie sind bereits dargestellt worden - noch differenzierter angehen. Als Haushälter sage ich: Ideenreichtum ist gefragt. Er darf allerdings nicht mehr als insgesamt 6,4 Milliarden Euro kosten.
Zur Rentenversicherung brauche ich nicht viel zu sagen. Hier ist eine Entlastung und Entspannung eingetreten. Der Koalition ist es nach so vielen turbulenten Jahren Gott sei Dank gelungen, auf diesem Gebiet für Stabilität zu sorgen. Das ist ganz wichtig.
Zum Schluss möchte ich sagen: Die Arbeitsmarkt- und Sozialpolitik ist sicher nicht unbedingt die Hauptgemeinsamkeit dieser Koalition.
Wenn man aber sieht, dass es gelungen ist, dafür zu sorgen, dass es über 1 Million zusätzliche Erwerbstätige gibt, dann muss man feststellen, dass das ein ganz gutes Ergebnis ist. Wir können darüber im Interesse der Menschen in diesem Land froh sein. Das sollte uns alle, auch die Menschen draußen im Lande, ermutigen, daran zu arbeiten, dass es noch besser wird.
Präsident Dr. Norbert Lammert:
Letzter Redner in der Aussprache zu diesem Einzelplan ist der Kollege Stefan Müller für die CDU/CSU-Fraktion.
Stefan Müller (Erlangen) (CDU/CSU):
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Herr Dr. Kolb hat mich gerade aufgefordert, etwas über meine Verwandtschaft zu erzählen. Mein Vater hat acht Geschwister; ich habe das gerade schon eingeworfen. Ich wüsste jetzt gar nicht, wo ich da anfangen soll; aber ich behalte mir das einmal vor. Ich kann jedenfalls noch viele Haushaltsberatungen mit Anmerkungen zu Onkeln und Tanten bestreiten.
Wenn man diese Debatte verfolgt, zumindest die Reden der Opposition, dann hat man ein bisschen den Eindruck, als hätte man das alles schon einmal gehört.
Frau Lehn gehört zwar nicht der Opposition an, hat aber immerhin etwas Neues gebracht: Sie hat von Onkel Otto erzählt. Im letzten Jahr hat sie noch über Tante Käthe berichtet. Liebe Kolleginnen und Kollegen aus den Oppositionsfraktionen, viel Neues kam von Ihnen nicht.
Die FDP sagt: Das ist ja alles schön und gut; aber der Aufschwung ist nicht der Aufschwung der Großen Koalition. Die Grünen sagen: Das ist alles schön und gut; aber es ist alles noch nicht ausreichend. Die Linke sagt: Alles ist schlecht; Hartz IV muss im Übrigen sowieso weg.
Herr Kolb, Sie haben diverse Wünsche geäußert. Ich will darauf gern eingehen. Ich möchte aus Ihrer Haushaltsrede vom vergangenen Jahr zitieren. Sie haben damals als Kronzeugen Ihrer Aussagen den Wirtschaftssachverständigen Gustav Horn angeführt. Sie haben ihn zitiert: Der negative Impuls, der sich aus der saldierten Wirkung von Mehrwertsteuererhöhung und Änderung der Beitragssätze ergebe, führe zu einem Wachstumsverlust von über 1 Prozent.
Wie Sie vorgerechnet haben, müsste es im Jahr 2007 zu einem Wachstum von 1,5 Prozent minus X kommen.
Herr Kolb, ich stelle fest, dass die Wirtschaftssachverständigen in diesem Jahr davon ausgehen, dass unser Wirtschaftswachstum nicht bei 1,5 minus X, sondern bei 2 Prozent plus X liegt; 2,3 Prozent sind prognostiziert worden.
Ich empfehle Ihnen, meine sehr verehrten Damen und Herren von der FDP, sehr, sich als Kronzeugen für das, was Sie in Ihren Reden behaupten, bessere Sachverständige zu suchen.
Sie haben weiterhin darauf verwiesen, dass die positive Entwicklung, insbesondere bei den sozialversicherungspflichtigen Beschäftigungsverhältnissen, im Verlauf des Jahres 2007 sich wieder umkehren werde und dass wir unterm Strich weniger hätten. Die Zahlen brauche ich hier nicht mehr vorzutragen. Wenn die letzten Arbeitsmarktdaten, die ich gesehen habe, richtig sind, dann hatten wir zwischen August 2006 und August 2007 einen Zuwachs von weit über 600 000 sozialversicherungspflichtigen Beschäftigungsverhältnissen.
Ich hätte mir gewünscht, Sie hätten wenigstens einmal Ihrer Freude darüber Ausdruck verliehen, dass die Menschen, die letztes Jahr arbeitslos waren, in diesem Jahr wieder eine Beschäftigung haben.
Präsident Dr. Norbert Lammert:
Der Kollege Kolb hat sich zu einer Zwischenfrage gemeldet. - Bitte schön.
Dr. Heinrich L. Kolb (FDP):
Vielen Dank, Herr Präsident. - Lieber Kollege Müller, wenn Sie mir aufmerksam zugehört haben, konnten Sie unter anderem feststellen, dass ich mich sehr darüber gefreut habe, dass 180 000 Menschen, die zuvor arbeitslos waren, einen Arbeitsplatz in der Leiharbeit gefunden haben. Ich freue mich auch sonst über jeden, der einen sicheren und gut entlohnten Arbeitsplatz gefunden hat.
Nun sagen Sie, die Opposition habe in der Vergangenheit die Dinge schlechtgeredet. Nein, wir mahnen - das ist unsere Aufgabe -, und wir mahnen auch jetzt: In der Zeit, in der wir eine wirklich gute konjunkturelle Entwicklung und hohe Beitragseinnahmen haben, ist es wichtig, Vorsorge für den Fall zu betreiben, dass dieses Konjunkturhoch wieder zu einem Ende kommt. Das wird passieren. Ich will mich hier jetzt nicht als Kassandra betätigen, aber jeder Konjunkturzyklus hat irgendwann ein Ende. Die Frage ist, welches Niveau an Sockelarbeitslosigkeit dann zurückbleibt.
Der Aufschwung könnte stärker sein, wenn Sie nicht diesen negativen Impuls in die Volkswirtschaft gegeben hätten. Deutschland liegt im EU-Vergleich deutlich unter dem Schnitt. Das ist Fakt. Dazu haben Sie mit Ihrer Politik ganz deutlich beigetragen. Stimmen Sie dem zu?
Stefan Müller (Erlangen) (CDU/CSU):
Ich stimme Ihnen ausdrücklich nicht zu, Herr Kollege Dr. Kolb.
Ich stelle fest, dass zu Beginn der Amtszeit der unionsgeführten Bundesregierung unsere Volkswirtschaft im Vergleich der EU-Staaten ein ganzes Stück schlechter abgeschnitten hat, als das heute der Fall ist.
Ich würde mir wünschen, dass Sie sich hier hinstellen und das einfach einmal zugeben würden.
Der Herr Kollege Kurth hat uns immerhin zugebilligt, dass es Verbesserungen gegeben hat. Ich billige Ihnen wiederum zu, dass Sie sagen: Als Opposition muss man auch mahnen. - Der Auffassung kann man durchaus sein. Aber tun Sie doch nicht so, als wäre hier in den letzten zwei Jahren nichts passiert, um die Rahmenbedingungen auch für Arbeitsplätze in Deutschland zu verbessern!
Sie müssen einfach zugeben, dass wir heute sehr viel besser dastehen als noch vor einigen Jahren.
Die Frau Kollegin Pothmer hat das Thema Fachkräftemangel angesprochen. Ich will dazu gern etwas sagen, weil ich mich über die Debatte, die in den letzten Wochen und Monaten geführt worden ist - das Thema hat auch heute bereits eine Rolle gespielt -, schon etwas wundere. Das Problem ist unbestritten: Wir haben einen Bedarf an qualifizierten Fachkräften. Die Bundesregierung hat bei ihrer Klausurtagung das eine oder andere dazu auf den Weg gebracht bzw. sie will es noch auf den Weg bringen. Sie können sagen, das alles sei nicht ausreichend.
Klar ist: Wir wollen Zuwanderung von hochqualifizierten Arbeitskräften aus dem Ausland. Ich persönlich kann mir, ehrlich gesagt, aber nicht vorstellen, dass wir angesichts von 3,7 Millionen Arbeitslosen in Deutschland darauf angewiesen sind, Fachkräfte aus dem Ausland in einer hohen Anzahl nach Deutschland zu holen.
Bevor wir auf ausländische Fachkräfte zugreifen, muss zunächst einmal - der Meinung bin ich - das Arbeitskräftepotenzial in Deutschland ausgeschöpft werden.
Es geht darum, dass Geringqualifizierte qualifiziert werden müssen. Es geht darum, dass wir Ältere länger im Erwerbsleben halten. Es geht darum, dass die jüngeren Menschen in unserem Land eine Chance haben müssen, ausgebildet zu werden.
Der beste Schutz vor Fachkräftemangel ist, den eigenen Fachkräftenachwuchs heute selbst auszubilden.
Wer heute nicht ausbildet, darf sich morgen nicht darüber beklagen, dass es einen Fachkräftemangel gibt, dass man keine qualifizierten Leute findet.
Nun will ich nicht bestreiten, dass wir auf dem Arbeitsmarkt - das zeigen die Zahlen - eine zweigeteilte Entwicklung haben; das ist auch schon angesprochen worden. Wer heute neu arbeitslos wird, aber über entsprechende Qualifikationen verfügt, hat in aller Regel keine Probleme, auch wieder eine neue Beschäftigung zu finden. Das hat etwas damit zu tun, dass in den vergangenen Jahren Einstellungshemmnisse abgebaut worden sind. Das hat auch etwas damit zu tun, dass die Vermittlungsarbeit der Bundesagentur für Arbeit besser geworden ist. Das hat aber auch damit zu tun, dass die Unternehmen in diesem Land in den letzten Jahren wieder dazu übergegangen sind, Arbeitsplätze zur Verfügung zu stellen und Investitionen zu tätigen. Der Standort ist nicht so schlecht, wie er in den vergangenen Jahren dargestellt worden ist; er ist immer wieder schlechtgeredet worden ist, insbesondere von der Opposition. Es hat auch etwas damit zu tun, dass die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer durch Lohnverzicht in den vergangenen Jahren ihrerseits dazu beigetragen haben, dass Arbeitsplätze wieder wettbewerbsfähig sind. Das sollte man bei einer solchen Debatte auch einmal würdigen.
Unbestritten ist, dass wir ein Problem bei denen haben, die schon lange arbeitslos sind, die vielleicht über zu geringe Qualifikationen verfügen. Aber auch dort gibt es einen Rückgang. Es ist falsch, zu behaupten, dass es dort keine Entwicklung, keinen Abbau gegeben hätte. Es hat dort einen Abbau gegeben. Auch da tut sich etwas.
Wir haben die politische Aussage, dass wir uns gerade um diejenigen, die schon seit langem arbeitslos sind, besonders kümmern wollen. Es ist nicht so, dass wir in der Hinsicht nichts getan hätten. Ich erinnere an all das, was wir in den letzten zwei Jahren für ältere Langzeitarbeitslose zu einem Kombilohn für Schwervermittelbare, zu verschiedenen Sonderprogrammen der Bundesagentur für Arbeit oder auch - was noch ansteht - zu einem Kombilohn für Regionen mit einer besonders hohen Arbeitslosigkeit beschlossen haben.
Im Übrigen ist eine solche zweigeteilte Entwicklung keine Überraschung. Es ist völlig normal, dass in einem solchen Konjunkturverlauf diejenigen als Erste davon profitieren, die leichter in den Arbeitsmarkt vermittelbar sind, und erst dann diejenigen, die über geringere Qualifikationen verfügen.
Präsident Dr. Norbert Lammert:
Herr Kollege Müller, möchten Sie noch eine Zwischenfrage des Kollegen Kurth beantworten?
Stefan Müller (Erlangen) (CDU/CSU):
Bitte.
Markus Kurth (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Sie haben gerade ein neues Kombilohnmodell angekündigt, das Sie noch auflegen wollen, und haben im gleichen Satz die Vielzahl der Kombilohnmodelle und Arbeitsmarktprogramme genannt, die Sie in der Vergangenheit gemacht haben. Wie verträgt sich die Ankündigung neuer Modelle mit den eben von Herrn Fuchtel so fuchtig beschriebenen Bestrebungen, die Zahl der Arbeitsmarktinstrumente zu verringern, ja gar zu entrümpeln, wenn ich ihn zitieren darf?
Stefan Müller (Erlangen) (CDU/CSU):
Herr Kollege, das eine schließt das andere ja nicht aus.
Natürlich haben Sie recht: Wenn ich auf der einen Seite Arbeitsmarktinstrumente zurückführen will oder sinnvoll zusammenfassen möchte und auf der anderen Seite neue einführe, dann müssen wir uns genau ansehen, was kommt. Ich kann Sie aber beruhigen: Es gibt intensive Gespräche über das Thema, wie wir die Instrumente der Bundesagentur weiter verbessern können. Wir werden die BA auf dem Weg unterstützen, die Instrumente genauer auszurichten.
Es ist im Übrigen schon einiges passiert. Das bitte ich Sie zur Kenntnis zu nehmen. Der Kollege Brauksiepe hat bereits den Gründungszuschuss erwähnt, der seit gut einem Jahr in Kraft ist.
Dort haben wir zwei Instrumente zusammengeführt, wodurch wir heute mit weniger Geld Existenzgründungen von Arbeitslosen noch besser fördern können. Das ist ein Vorbild für das, was noch in diesem Herbst ansteht, nämlich dass wir die arbeitsmarktpolitischen Instrumente noch besser ausrichten, indem wir bestehende Instrumente verbessern und auch - was der Kollege Fuchtel angekündigt hat - indem wir wirkungslose Arbeitsmarktinstrumente abschaffen werden.
Insgesamt geht es darum, diese Arbeitsmarktinstrumente wirkungsvoller und effizienter auszugestalten. Es geht um mehr Transparenz,
um Deregulierung und auch um eine bessere Vermittelbarkeit und Handhabbarkeit bei den Vermittlern vor Ort sowie bei denjenigen, die diese Instrumente in Anspruch nehmen sollen.
Ich sage bei der Gelegenheit ausdrücklich: Es geht nicht - jedenfalls mir nicht - darum, dass wir in einem hohen Ausmaß versuchen, Gelder einzusparen. Darum geht es ausdrücklich nicht. Es geht nicht um eine massive Kosteneinsparung, sondern um eine bessere Handhabbarkeit. Seien Sie gespannt, was da noch auf Sie zukommt; wir werden das Richtige auf den Weg bringen.
Lassen Sie mich abschließend noch etwas zum Haushalt der Bundesagentur für Arbeit sagen, weil das heute auch eine Rolle gespielt hat: Wir haben in den letzten zwei Jahren die finanziellen Spielräume genutzt, um den Beitrag zur Arbeitslosenversicherung von 6,5 auf 4,2 Prozent zu senken; eine weitere Senkung auf 3,9 Prozent ist verabredet. Wir wünschen uns noch etwas mehr, und es ist sehr wahrscheinlich, dass wir auf bis zu 3,5 Prozent hinunterkommen.
Das wird einen Impuls für weitere und mehr Beschäftigung in unserem Land setzen. Wir werden damit Einstellungshemmnisse abbauen. Das sorgt letztlich dafür, dass bei den Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern mehr übrig bleibt, dass der Aufschwung endlich bei den Leuten, vor allem bei den Arbeitnehmern, ankommt. Unser Problem ist doch heute, dass zwischen dem, was oben auf dem Gehaltszettel steht, und dem, was unten netto herauskommt, eine zu große Differenz besteht.
Das ist ein Problem, weswegen wir in Deutschland mit Schwarzarbeit zu kämpfen haben.
Wir haben einige spannende Wochen an Haushaltsberatungen vor uns. Ich will nur abschließend daran erinnern, dass wir das alles nicht zum Selbstzweck machen, sondern der Haushalt letztendlich das unterstützen soll, was wir politisch auf den Weg bringen wollen. Wir haben uns für 2008 einiges vorgenommen. Wir wollen erreichen, dass die Arbeitslosigkeit weiter sinkt. Wir wollen, dass endlich auch die in Arbeit kommen, die heute noch keine Arbeit haben und schon lange arbeitslos sind. Wir wollen also, dass der Aufschwung bei allen ankommt. Ich würde mir wünschen, dass nicht nur die Koalitionsfraktionen mit der Regierung an diesem Ziel arbeiten, sondern uns auch die Opposition dabei nach Kräften unterstützt.
Herzlichen Dank.
Präsident Dr. Norbert Lammert:
Weitere Wortmeldungen zu diesem Einzelplan liegen nicht vor.
Wir kommen nun zum Geschäftsbereich des Bundesministeriums für Familie, Senioren, Frauen und Jugend, Einzelplan 17.
Ich eröffne die Aussprache zu diesem Einzelplan und erteile das Wort zunächst der Bundesministerin Dr. Ursula von der Leyen.
Vielleicht warten wir noch einen Moment, Frau Ministerin, bis der Schichtwechsel eine ordnungsgemäße gemeinsame Beratung ermöglicht. - Herzlichen Dank.
Dr. Ursula von der Leyen, Bundesministerin für Familie, Senioren, Frauen und Jugend:
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Wir haben in Familie investiert, und wir wollen weiter in Familie investieren. Der Einzelplan 17, den wir jetzt beraten, macht das sehr deutlich. Er umfasst allein für 2008 ein Ausgabevolumen von rund 6,2 Milliarden Euro. Das sind rund 1 Milliarde Euro mehr als in diesem Jahr.
Im Wesentlichen liegt das am Elterngeld. Allein 4 Milliarden Euro sind dafür veranschlagt. Nach den ersten Auswertungen lässt sich durchaus sagen: Das Elterngeld erfüllt die darin gesetzten Erwartungen. Fast jede Familie, die in diesem Jahr ein Kind bekommen hat, beantragt und erhält das Elterngeld. Im ersten Halbjahr wurden allein über 200 000 Elterngeldanträge bewilligt. Ich freue mich vor allem darüber, dass das Elterngeld Elternzeit für die Väter attraktiv gemacht hat. Bisher hatten nur 3,5 Prozent der Väter Elternzeit genommen. Allein in den ersten vier Monaten dieses Jahres hat sich die Zahl mehr als verdoppelt, nämlich auf 8,5 Prozent. Diese Zahl steht dabei nur für die ganz frühen Trendsetter, nämlich diejenigen Väter, die mit der Geburt ihres Kindes sofort Elternzeit nehmen und nicht erst bis zum Ablauf von zwölf Elterngeldmonaten warten. Ich denke, das ist ein Erfolg. Das ist ein positives Zeichen für das Thema Erziehung in Deutschland.
Das Elterngeld ist ein wichtiger Baustein, um die Kinder- und Familienarmut zu bekämpfen. Von der höheren Geringverdienerkomponente, die uns in den Beratungen sehr wichtig gewesen ist, profitieren 20 Prozent der Familien. Damit erhalten sie in diesem Jahr echtes Einkommen. Gerade Familien mit kleinem Einkommen werden damit in ihrer Erwerbsbereitschaft unterstützt. Es handelt sich ja vielfach um Eltern, die bienenfleißig das Einkommen für ihre Familie verdienen und so, wie ich finde, ihren Kindern ein prägendes Vorbild sind. Die müssen wir darin unterstützen.
Das ist auch der Grundgedanke des Kinderzuschlags. Der Kinderzuschlag setzt einen wichtigen arbeitsmarktpolitischen Anreiz und gibt eine familiengerechte Antwort auf das drängende Problem der Kinderarmut; denn der Kinderzuschlag hilft den Familien, in denen die Eltern aus eigener Kraft ihren eigenen Lebensunterhalt verdienen können, aber in denen es für die oft vielen Kinder nicht oder noch nicht reicht. Gerade bei Familien mit sehr kleinem Einkommen und insbesondere bei kinderreichen Familien verhindert der Kinderzuschlag, dass sie, nur weil sie Kinder haben, zu ALG-II-Empfängern werden. Ich denke, gerade an dieser Stelle muss gelten: Arbeit lohnt sich.
Wir wollen mit dem Kinderzuschlag etwa eine halbe Million Kinder erreichen. Dazu muss das Antragsverfahren deutlich verbessert und entbürokratisiert werden, und die entsprechenden Regelungen müssen flexibilisiert werden. Das zentrale Thema - das war schon in der Debatte zuvor ein spannendes Thema -, den Menschen unbürokratisch und flexibel mit dem richtigen Arbeitsanreiz zu helfen, damit sie wieder gewiss sein können, dass sich Arbeit überhaupt und dass sich auch mehr Arbeit lohnt, betrifft den gesamten Niedriglohnsektor. Im Einzelplan 17 sind die Mittel für den Kinderzuschlag auf Basis der heutigen Rechtslage zwar noch mit 150 Millionen Euro veranschlagt. Ich bin aber mit dem Bundesarbeitsminister in sehr guten Gesprächen darüber, wie wir einen verbesserten, flexibleren und entbürokratisierten Kinderzuschlag im Rahmen eines Gesamtkonzeptes für den Niedriglohnsektor ermöglichen können. Ich denke, es ist ein lohnendes Ziel, das in diesen Wochen dingfest zu machen.
Kinderarmut ist eines der beschämendsten Probleme in unserem Land.
Das Entscheidende ist, was man dagegen tut. Wir müssen vor allem auf drei Feldern tätig werden: Der erste Baustein ist die bessere Teilhabe der Familien am Konjunkturaufschwung, das heißt am Arbeitsmarkt. Der zweite wichtige Baustein sind bessere Chancen auf frühe Bildung von Kindern, also die Schaffung einer entsprechenden Infrastruktur, damit der Teufelskreis der über mehrere Generationen vererbten sogenannten Bildungsarmut durchbrochen wird.
Der dritte Baustein ist eine deutlich bessere Vereinbarkeit von Beruf und Familie für Väter und Mütter; das hilft vor allen Dingen den Alleinerziehenden.
Dazu braucht es eine gute und flexible Kinderbetreuung. Die maßgeblichen Weichen sind jetzt gestellt. Der Beitrag von 4 Milliarden Euro, den die Bundesregierung für den Ausbau der Betreuung von unter Dreijährigen bereitstellt, ist nicht im Einzelplan 17 etatisiert. Dennoch gehört der Ausbau der Kinderbetreuung mit zu den zukunftsentscheidenden Investitionen für Familien, Kinder und Bildung. Das ist ein großer Schritt, den diese Große Koalition gemeinsam geschafft hat.
Mein Dank geht deshalb vor allem an all diejenigen hier im Raum, aber auch in den Ländern und Kommunen, die dies mit politischer Kraft und mit Leidenschaft für die Realisierung unserer familienpolitischen Ziele möglich gemacht haben. Von Herzen Dank für diesen gemeinsamen Einsatz, in relativ kurzer Zeit so etwas auf die Beine zu stellen! Wir werden damit endlich ein bedarfsgerechtes Angebot schaffen und bei der Betreuung von Kindern unter drei Jahren zum europäischen Durchschnitt aufschließen.
Wir haben vereinbart, dass ab 2013 ein Rechtsanspruch auf Kinderbetreuung besteht und ein Betreuungsgeld eingeführt wird. Es ist wichtig, dass sich Eltern darauf verlassen können, dass sie Beruf und Kindererziehung miteinander vereinbaren können. Es ist mir ebenso wichtig, dass wir die Erziehung von Kindern zu Hause in hohem Maße wertschätzen.
Das Entscheidende ist: Wir dürfen die Eltern nicht spalten. Wir dürfen nicht die eine Wahl der Eltern gegen die andere ausspielen, sondern müssen gemeinsam hinter dem Bemühen der Eltern stehen, ihr Lebensmodell in verschiedenen Phasen auch wirklich umsetzen zu können.
Ich denke, es ist wichtig, uns vor Augen zu führen: Die allermeisten Eltern wollen ihre Kinder so gut wie irgend möglich ins Leben hinausbegleiten. Ob die Eltern einen Monat, ein Jahr oder zehn Jahre zu Hause bleiben oder ob sie nach einem Monat, nach einem Jahr oder nach zehn Jahren wieder Beruf und Familie miteinander vereinbaren wollen: Wir müssen ihnen dabei helfen. Wir müssen ihren Einsatz noch sehr viel mehr wertschätzen, als das bisher der Fall gewesen ist. Ich bin sicher: Auch dies wird die Große Koalition schaffen.
Lassen Sie mich zum Einzelplan 17 für 2008 zurückkommen. Wir bündeln in der Titelgruppe ?Stärkung der Zivilgesellschaft“ verschiedene Initiativen und Maßnahmen im Bereich des bürgerschaftlichen Engagements und machen sie dadurch im Haushalt sichtbar. Wir wollen die Jugendfreiwilligendienste flexibler und attraktiver gestalten und die generationenübergreifenden Freiwilligendienste weiterentwickeln.
Wir bekämpfen nachhaltig und konsequent jede Form von Extremismus, Antisemitismus und Fremdenfeindlichkeit. Das wird daran deutlich, dass es in 60 Kommunen lokale Aktionspläne gibt und dass wir mit 30 Modellprojekten bereits jetzt dichte Netze gegen Rechtsextremismus und Gewalt geflochten haben. Wir bauen dieses Programm in den nächsten Monaten auf 90 lokale Aktionspläne und 90 Modellprojekte aus. Hier liegt der Schwerpunkt vor allem auf den neuen Bundesländern, die seit Juli dieses Jahres über Beratungsnetzwerke und mobile Interventionsteams verfügen.
Ich möchte ganz deutlich sagen: Wir nehmen den Kampf gegen den Rechtsextremismus sehr ernst. Wir werden die Mittel für die neuen Programme dauerhaft finanzieren; wir haben sie in der Finanzplanung für die kommenden Jahre fortgeschrieben. Damit setzen wir ein deutliches Signal gegen den Rechtsextremismus und für die Nachhaltigkeit unseres Einsatzes.
Mit dem Haushalt 2008 haben wir ein Zeichen für Familien gesetzt. Die Familienpolitik ist für die Zukunft gut aufgestellt. Dazu haben alle hier im Saal mit ihrer Arbeit beigetragen. Vielen Dank für diesen Einsatz.
Präsident Dr. Norbert Lammert:
Das Wort hat nun die Kollegin Ina Lenke für die FDP-Fraktion.
Ina Lenke (FDP):
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Frau von der Leyen, es ist Ihr Verdienst, dass bundesweit über Familienpolitik diskutiert wird. Auch in der CDU/CSU gehört es jetzt zum guten Ton, sich für eine außerhäusliche Betreuung für Kinder unter drei Jahren einzusetzen.
Die FDP möchte, dass die 145 familienbezogenen Leistungen analysiert werden, ehe eine weitere Sozialleistung versprochen wird. In Norwegen hat das Betreuungsgeld zu dem geführt, was die FDP befürchtet: In der Betreuung ist der Anteil der Kinder nichtwestlicher Einwanderer, die sprachlich weitergebildet werden müssen, konstant geblieben; die Bildungs- und Betreuungsangebote sind nicht vermehrt in Anspruch genommen worden, aber das Geld.
Die Ausgaben im Haushalt des Familienministeriums haben sich durch die Einführung des Elterngeldes erhöht. Den Systemwechsel hin zu einer lohnbezogenen Leistung trägt die FDP grundsätzlich mit. Aber bereits im ersten Jahr des Elterngeldes zeigen sich Fehler im Gesetz: Warum erhält eine Frau, die sich mit einem Schreibbüro selbstständig macht und über 30 Stunden arbeitet, kein Elterngeld, wohl aber die ALG-II-Empfängerin 300 Euro Elterngeld monatlich? Das Gesetz ist in sich nicht schlüssig.
Auch Frauen in Steuerklasse V werden von der Koalition unfair behandelt. Erwerbstätige Ehefrauen in Steuerklasse V mit einem Verdienst von 2 000 Euro brutto müssen beim Elterngeld im Vergleich zur Steuerklasse III Verluste in Höhe von 390 Euro monatlich hinnehmen. Es ist schon erstaunlich, dass es vonseiten der SPD dazu keinen Protest gibt.
Sie haben sich endlich auf eine Finanzierung der Kleinkindbetreuung geeinigt. Bei den vorangegangenen Verhandlungen saßen die Kommunen nicht einmal am Katzentisch, und das, obwohl sie schließlich für die Umsetzung vor Ort verantwortlich sind. Bis 2013 wollen Sie 4 Milliarden Euro für die Betreuung von Kindern unter drei Jahren einsetzen. Das ist auch gut so; da stimmen wir mit Ihnen überein.
Herr Singhammer, meine Frage an Sie: Wie viel von diesem Geld wird denn für das Jahr 2008 ausgeschüttet? Lediglich 400 Millionen Euro für Investitionen.
Das ist eine lächerlich kleine Summe. Dabei sollte es doch im nächsten Jahr so richtig losgehen.
Die FDP hat Ihnen einen besseren, unbürokratischen und verfassungsgemäßen Vorschlag zur Finanzierung über die Umsatzsteuer vorgelegt. Bei uns das geht das Geld direkt an die Kommunen.
Die Politiker der Großen Koalition - das stelle ich immer wieder fest - machen das ganze Jahr über Versprechungen, die sich mit keinem Cent im Haushalt wiederfinden: kostenfreie Kitaplätze, Familiensplitting oder, wie von Herrn Pofalla gefordert, 7 Prozent Mehrwertsteuer auf Pampers. Die Vorschläge sind gut. Aber wo bleibt nach der Pressemitteilung der konkrete Vorschlag hier im Bundestag?
Nun will die Bundesregierung die Ausweitung des missglückten Kinderzuschlages. Die Ministerin hat vergessen, zu erwähnen, dass nur 12 Prozent der Antragsteller Geld aus dem Topf erhalten. Alle anderen Anträge werden abgewiesen. Der Verwaltungsaufwand beläuft sich auf 18 Prozent der Gesamtkosten - das hat die Ministerin ja gesagt -
der Antrag auf Kinderzuschlag umfasst 27 Seiten. Kinderarmut wird durch den Kinderzuschlag nicht beseitigt. Frau Ministerin nannte es einen Baustein. Das mag ja sein. Aufgrund dieser Zahlen sollten Sie sich aber überlegen, ob Sie nicht nach einem neuen Konzept suchen sollten.
Um den Familien zielgenauer helfen zu können, brauchen wir die Wirkungsanalyse des Kompetenzzentrums hinsichtlich der 145 familienbezogenen Leistungen mit 185 Milliarden Euro an Ausgaben, die immer noch fehlt. Die Opposition will endlich erste Ergebnisse sehen. Eines steht aber schon fest: Durch die größte Steuer- und Abgabenerhöhung aller Zeiten sind die Familien erst einmal auf der Verliererstraße.
Der Einzelplan 17 beinhaltet auch Ausgaben für Zivildienst und Freiwilligendienste. Das Entwicklungshilfeministerium hat dafür eben mal 25 Millionen Euro und für das darauffolgende Jahr 70 Millionen Euro bereitgestellt. Sie schaffen es nicht einmal, die Jugendfreiwilligendienste im Inland kontinuierlich auszubauen. Die überfraktionelle Einigung in der 14. Legislaturperiode haben Sie bisher noch nicht umgesetzt.
Die SPD bereitet sich mit dem Vorschlag der freiwilligen Wehrpflicht faktisch auf den Ausstieg aus dem Wehrdienst und damit aus dem Zivildienst vor. Ich will hier für meine Fraktion ganz deutlich sagen: Die FDP fordert die Aussetzung der Wehrpflicht. Sie wollen in dieser Legislaturperiode mehr Wehr- und Zivildienstgerechtigkeit. Gleichzeitig reduzieren Sie den Soldansatz für den Zivildienst und verschärfen die Wehrungerechtigkeit damit noch einmal. Nur 17 Prozent aller tauglichen jungen Männer leisten den Wehrdienst ab, knapp 60 Prozent leisten weder Wehr- noch Zivildienst. Nur die CDU/CSU klammert sich noch an den Pflichtdienst.
Ich komme zum Schluss. Mein Kollege Otto Fricke wird sich zu weiteren Ungereimtheiten in diesem Einzelplan 17 äußern. Die Gruppe der FDP-Abgeordneten im Familienausschuss wird die Arbeit der Regierung mit Augenmaß und Sinn für Realität wie immer konstruktiv und kritisch begleiten.
Präsident Dr. Norbert Lammert:
Nächste Rednerin ist die Kollegin Nicolette Kressl für die SPD-Fraktion.
Nicolette Kressl (SPD):
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Frau Lenke, ich weiß ja, dass in einer Haushaltsdebatte immer Kritik geübt werden soll.
So ist Parlamentarismus angelegt. Angesichts der Situation, in der wir uns heute befinden, nämlich dass es eine, wie ich finde, herausragende Einigung zwischen Bund und Ländern zum Ausbau der Betreuung der unter Dreijährigen gibt, sollten aber eigentlich alle Herz zeigen und sagen: Das ist ein richtig großer Schritt zur Verbesserung der gesellschaftlichen und der bildungspolitischen Situation in Deutschland. Das wäre eigentlich auch Aufgabe der Opposition.
Was zwar nicht in diesem Haushalt vereinbart wurde, aber seinen Niederschlag im Nachtragshaushalt finden wird, ist, dass wir den Ausbau der Kinderbetreuung in ein rundes und stimmiges Konzept fassen, wodurch sowohl den Eltern als auch den Kommunen und dem Bund Sicherheit gegeben wird. Ich bin davon überzeugt, dass wir dadurch im Verbund der europäischen Staaten, wo es bildungspolitisch und hinsichtlich der Vereinbarkeit von Familie und Beruf noch Defizite gibt, einen Riesensprung nach vorne machen. Dieser Schritt wird uns ökonomisch helfen, bildungspolitisch weiterbringen und die Vereinbarkeit von Familie und Beruf sehr stark verbessern.
Ich will deutlich machen: Es ist aus Sicht der Kinder ein stimmiges Konzept. Uns ist ganz wichtig, dass es nicht um die Sicht der Eltern, sondern um die Sicht der Kinder geht.
Mit dem Ausbau der Kinderbetreuung werden wir dafür sorgen, dass bereits Kleinkinder - insbesondere in überforderten Familien, aber nicht nur in diesen Fällen - bezüglich Integration und Vermittlung von sozialen Fähigkeiten auf Wunsch frühzeitig gefördert werden. Damit wecken wir die Potenziale der ganz Kleinen. Es besteht von staatlicher Seite schon lange die Verantwortung, dafür die besten Rahmenbedingungen zu schaffen.
Manchmal wird ein Zerrbild gezeichnet, indem die Behauptung aufgestellt wird, das Angebot einer frühen Förderung und Betreuung richte sich gegen Kinder und nutze nur den Eltern. Ich bin überzeugt, das Gegenteil ist der Fall. Eltern müssen nicht mehr hetzen, um ihre Kinder bei der Tante, der Nachbarin oder der Tagesmutter abzugeben. Stattdessen können sie entspannt die gemeinsame Zeit mit ihren Kindern verbringen und ihnen ein Gefühl von Sicherheit und Geborgenheit geben. Insofern ist es ganz wichtig, deutlich zu machen, dass es nicht darum geht, Lebensmodelle gegeneinander auszuspielen. Mit diesem Schritt, den wir gehen werden, wollen wir die Chancen von Eltern und Kindern verbessern. Das ist in Deutschland ein längst überfälliger Schritt.
Es ist auch ein stimmiges Konzept für Eltern. Ich habe es vorhin schon angesprochen: Die Garantie eines Betreuungsplatzes bewirkt, dass sich die Eltern in aller Ruhe zusammensetzen und selber entscheiden können, wer welche Aufgabe und welche Rolle in der Familie übernimmt. Das wollen wir; das verstehe ich unter Wahlfreiheit. Die Entscheidung der Eltern soll nicht durch äußere Bedingungen beeinflusst werden. Wenn es keinen Betreuungsplatz gibt, ist eine selbstbestimmte Entscheidung der Eltern nicht möglich. Ich will noch einmal ganz deutlich machen: Wir glauben nicht, dass die Politik ein bestimmtes Lebensmodell vorschreiben darf.
Im Gegenteil: Wir schaffen jetzt die Möglichkeit, dass sich die Eltern gemeinsam für ein bestimmtes Lebensmodell entscheiden können.
Es ist für mich auch deshalb ein stimmiges Konzept für Eltern, weil wir damit nicht allein an die Symptome gehen, sondern das Armutsproblem auch an der Wurzel packen. Wir wissen aus allen Armutsberichten, dass in Deutschland die Alleinerziehenden am meisten von Armut betroffen sind. Wer glaubt, dass man allein - ich sage ausdrücklich: allein - durch höhere Transferleistungen Abhilfe schaffen könne, der täuscht sich. Eine bessere Kinderbetreuung ist die entscheidende Voraussetzung dafür, dass Frauen eine angebotene Arbeit annehmen können. Damit sorgen wir dafür, dass Armut vermieden wird. - Man sieht, es gibt verschiedene Aspekte, warum der von uns vereinbarte Ausbau der Kinderbetreuung so wichtig und so entscheidend ist.
Das vereinbarte Konzept ist auch für Bund, Länder und Kommunen stimmig. Der Bund - Frau Lenke, in diesem Punkt täuschen Sie sich - stellt nicht nur 4 Milliarden Euro bis zum Jahre 2013 als Aufbaufinanzierung bereit. Es ist nämlich noch vereinbart, dass ab 2013 der Bund über einen Umsatzsteuervorwegabzug dauerhaft 770 Millionen Euro pro Jahr über die Länder an die Kommunen gibt. Wir sollten also nicht nur die 4 Milliarden Euro zur Aufbaufinanzierung im Kopf haben, sondern auch die Tatsache, dass der Bund die Länder und die Kommunen in diesem Bereich dauerhaft unterstützt.
Ich halte diese Maßnahme für gerechtfertigt: Wenn der Bund will, dass es einheitliche Lebensverhältnisse gibt, dann hat er sich an entsprechenden Maßnahmen finanziell zu beteiligen. Ich betone noch einmal: Was wir jetzt auf den Weg gebracht haben, ist ein rundes und stimmiges Finanzierungskonzept, zu dem wir ausdrücklich stehen. Ich sage nicht ohne Stolz: Dieses Konzept kommt dem, was die sozialdemokratische Bundestagsfraktion frühzeitig vorgeschlagen hatte, sehr nahe. Darüber freuen wir uns.
Das Konzept ist auch aus Sicht der Kommunen stimmig.
Wir haben immer auf die Kombination mit dem Rechtsanspruch auf Kinderbetreuung bestanden. Inzwischen ist folgende Situation entstanden: Die Länder erhalten einen Teil des Umsatzsteueraufkommens, und zwar in Form eines Vorwegabzugs, aber das ist mit dem Rechtsanspruch gekoppelt. Dadurch ist geklärt, dass dieses Geld zwar frei verwendet werden kann, aber in den Ausbau der Kinderbetreuung gehen muss. Außerdem ist zu berücksichtigen, dass die Länderverfassungen inzwischen ein Konnexitätsprinzip enthalten. Das heißt, die Länder müssen den Rechtsanspruch umsetzen und die Mittel an die Kommunen weiterleiten. Ich gehe davon aus, dass in allen Ländern so früh wie möglich zwischen den Landesregierungen, den Parlamenten und den Kommunen Gespräche stattfinden werden.
Es handelt sich also um ein schlüssiges Prinzip.
- Sie haben offensichtlich noch nichts über das Konnexitätsprinzip in Verfassungen gelesen.
Das Konzept, das wir jetzt gemeinsam vereinbart haben, wird so zügig wie möglich umgesetzt, und zwar in vier Schritten - Frau Lenke, weil Sie immer nach konkreten Schritten rufen, will ich das noch einmal deutlich machen - : Der erste konkrete Schritt ist der Aufbau des Sondervermögens, in das die 2,15 Milliarden Euro für die Investitionskosten fließen werden; das ist bereits auf dem Weg. Der zweite Schritt ist die Formulierung einer Verwaltungsvereinbarung, die dafür sorgen wird, dass dieses Geld abfließen kann. Im dritten konkreten Schritt wird durch die Änderung des Kinder- und Jugendhilfegesetzes der Rechtsanspruch verankert, um sicherzustellen, wohin die Gelder gehen. Im vierten konkreten Schritt wird durch eine Änderung des Finanzausgleichgesetzes dafür gesorgt, dass die Mittel über den Vorwegabzug bei der Umsatzsteuer auch tatsächlich bei den Ländern ankommen.
Wir haben dafür Sorge getragen - das lag im Interesse des Bundes -, dass nur das Gesamtpaket greift. Ich will es noch einmal sagen: Es sind keine Einzelmaßnahmen, sondern in diesem Gesamtpaket wurden alle föderalen Ebenen berücksichtigt.
Diese Vereinbarung bringt uns im europäischen Vergleich endlich voran. Während der Haushaltsdebatte in den letzten Tagen ist immer wieder darauf hingewiesen worden, dass Deutschland sich auf ökonomischem Gebiet gut entwickelt hat. Ich finde, es zeugt von einem wunderbaren Gleichschritt, dass wir jetzt auch im gesellschaftspolitischen Bereich einen großen Schritt nach vorne machen. Es ist immer gut, wenn sich Ökonomie und Gesellschaftspolitik im Gleichschritt bewegen. Es ist auch gut, dass wir auf diese Art und Weise den Weg für starke Eltern, für starke Kinder und damit für eine starke Gesellschaft bahnen. Wir freuen uns, dass dies gelungen ist. Es wäre schön, wenn Sie sich mit uns freuen würden.
Vielen Dank.
Präsident Dr. Norbert Lammert:
Ich erteile das Wort der Kollegin Diana Golze, Fraktion Die Linke.
Diana Golze (DIE LINKE):
Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Der Haushalt des Bundes soll laut Ihrer Aussage, Frau Ministerin, ein Zeichen für Familien setzen. Schauen wir uns also an, welche Pläne Union und SPD im Bereich Ihres Ministeriums haben und wie sie auf die Situation im Land reagieren wollen.
Wie sieht sie aus, die Situation im Herbst 2007? Die Kinderarmut in der Bundesrepublik steigt auf Rekordniveau. Mehr als 2,5 Millionen Kinder und Jugendliche unter 18 Jahren leben in Deutschland in Familien, die auf das Arbeitslosengeld II angewiesen sind. Im sächsischen Mügeln wurden im August indische Mitbürger durch die Stadt gejagt und mit ausländerfeindlichen Parolen bedroht. Der FDP-Bürgermeister durfte das Verhalten auf diesem Fest in den Medien - bis hin zur Jungen Freiheit - als normalen Stammtischjargon relativieren und verharmlosen. Gleichzeitig mehren sich die Forderungen nach einer besseren Integration von Kindern mit Migrationshintergrund im Bildungswesen. All das sind Bereiche, die im Einzelplan 17 des Bundeshaushaltes Widerhall finden müssten.
In dieser Situation und vor allem vor dem Hintergrund der medienwirksamen und vollmundigen Versprechungen der Familienministerin von der Leyen ist der Einzelplan 17 entweder eine Umkehrung der Realität oder er zeugt davon, welchen Stellenwert Kinder-, Jugend- und Familienpolitik in der Bundesrepublik wirklich haben.
Im Entwurf ist aus meiner Sicht keinerlei Widerspiegelung dessen zu finden, was jeder Bürgerin und jeder Bürger mit einem normalen Informationsstand aus Presse und Fernsehen täglich sehen kann. Die Bundesregierung beweist vielmehr einmal mehr, dass sie keine Antworten auf die Fragen hat, die die Bürgerinnen und Bürger stellen. Stattdessen feiern Mann und Frau auf der großen Regierungsklausur Dinge, die entweder schon Gesetzgebung sind, wie der schon vor Jahren beschlossene Kindertagesstättenausbau, oder Dinge, die aus dem eigenen Aufgabenkatalog - Koalitionsvertrag genannt - stammen, nämlich die Evaluierung des Kinderzuschlages.
Beides findet sich jedoch im vorgelegten Haushaltsentwurf gar nicht wieder. Der Ausbau der Kita-Plätze für Kinder unter drei Jahren soll über ein erst noch zu schaffendes Sondervermögen finanziert werden.
Zum Kinderzuschlag findet sich folgende Aussage im Beipackzettel zum Einzelplan 17:
Die im Koalitionsvertrag vereinbarte Weiterentwicklung konnte wegen fehlender Etatreife noch nicht berücksichtigt werden.
Sehr geehrte Damen und Herren auf der Regierungsbank, das ist für mich eher eine politische Ohrfeige als die Erfüllung Ihres Koalitionsvertrags.
Wie viele Studien, Erhebungen und Analysen braucht es eigentlich noch, um Sie endlich aufzurütteln? Ich kann Ihnen diese Lektüre nur empfehlen. Denn sie macht deutlich, wie verfehlt Ihre Sozialpolitik in den vergangenen zwei Jahren gewesen ist. Geschönt durch die überfällige Angleichung des Ostregelsatzes beim ALG II waren Sie es, die die Situation der betroffenen Familien weiter verschärft haben.
Die Kinderarmut in Deutschland ist hausgemacht. Der Haushaltsansatz für das kommende Jahr bietet aber wieder keine Lösungen. Die vagen Ankündigungen der Ministerin von der Leyen zur eben genannten Evaluierung des Kinderzuschlags lassen mich zwar hoffen, aber von diesen Ankündigungen sind in den vergangenen Monaten leider zu viele im politischen Nirwana dieses Hauses verlorengegangen.
Hoffen wir, dass diese Überarbeitung tatsächlich gemacht wird und zur Folge hat, dass mehr Familien diese Leistungen bekommen können und dass man als beantragende Eltern nicht über Rechtsanwaltswissen verfügen muss, um den Antrag auszufüllen. Hoffen wir auch, dass diesem Schritt schnell und vielleicht ausnahmsweise einmal ohne großen Streit in den Medien weitere Schritte folgen. Um Kinderarmut wirksam zu bekämpfen, brauchen wir eine Grundsicherung für Kinder, die den Bedürfnissen eines Kindes entspricht und nicht einfach 60 Prozent des Regelsatzes eines alleinstehenden 50-jährigen Mannes abbildet.
Diesen Weg zu gehen, muss politisch gewollt sein. Mut brauchen Sie dafür nicht viel, Frau von der Leyen; denn Sie würden dafür zahlreiche Unterstützung hier im Parlament, aber vor allem in der Bevölkerung bekommen.
Die Kinder auf der Schattenseite des Lebens standen zumindest am Anfang Ihrer Amtszeit auf Ihrem Programm. Fraglich ist inzwischen, ob es immer noch so ist. Ihre bisherigen politischen Unternehmungen sprechen leider eine andere Sprache. Mit der Einführung des Elterngeldes in diesem Jahr, das einen beachtlichen Teil des Aufwuchses im Einzelplan 17 hervorruft, hatten Sie die Chance, endlich eine Balance zwischen den verschiedenen Elterngruppen zu schaffen. Ich befürworte die Einführung des Elterngeldes als emanzipatorisch wertvolle Initiative, weil sie Müttern und Vätern gleichermaßen die Möglichkeit gibt, sich in den ersten Lebensmonaten um ihr Kind zu kümmern. Dass Sie es nicht vermocht haben, sich auch für die Eltern einzusetzen, die über wenig oder kein Einkommen verfügen, und diese sogar noch schlechter gestellt haben als beim Erziehungsgeld, bleibt ein Makel an diesem Gesetz.
Vorschläge, diesen Makel abzubauen oder aufzuheben, haben wir gemacht. Die Fraktion Die Linke wird diese als Forderung nach einer sozial gerechten Form des Elterngeldes in die Haushaltsberatungen einbringen.
Auch ein anderes Prestigeobjekt Ihres Hauses richtet sich ausschließlich an Eltern, die sich in Erwerbstätigkeit befinden. Sie begründen den notwendigen Ausbau der Tagesbetreuung für Kinder unter drei Jahren stets mit der Erleichterung der Vereinbarkeit von Familie und Beruf. Was aber ist mit den Kindern, deren Eltern keine Erwerbstätigkeit oder adäquate Beschäftigung nachweisen können? Von einem Rechtsanspruch, wie ihn inzwischen nicht nur wir, sondern auch die SPD gern möchte, ist das weit entfernt.
Nichts von der nötigen Beschleunigung der Bemühungen ist im vorgelegten Bundeshaushalt zu finden. Stattdessen haben Sie gemeinsam mit Herrn Steinbrück in den vergangenen Wochen auf Ihren Pressekonferenzen so getan, als wäre Ihnen das Problem gerade erst vor die Füße gefallen. Zu allem Übel erklären Ihnen nun auch noch die Länder und Kommunen, dass sie nicht bereit sind, die Umsetzung dieses Gesetzes in diesem Maße mitzufinanzieren. Der Kompromiss, den Sie in den vergangenen Wochen in der Presse gefeiert haben, wird aus unserer Sicht zu Recht als nicht ausreichend kritisiert.
Wenn man dann noch in Betracht zieht, dass Sie die ostdeutschen Länder immer deshalb lobend erwähnen, weil die Betreuungsquote dort zum Glück noch hoch ist, ist zu befürchten, dass genau diese Länder mit den Aufgaben, die mit dem Erhalt der Kindertagesstätten verbunden sind, in Zukunft ziemlich allein dastehen könnten
oder dass diese Länder die Ausbildung der dringend benötigten qualifizierten Erzieherinnen und Erzieher schultern müssen, von einer angemessenen Bezahlung der Fachkräfte - ob in den Kitas oder in der Tagespflege - ganz zu schweigen.
Präsident Dr. Norbert Lammert:
Frau Kollegin Golze, gestatten Sie eine Zwischenfrage der Kollegin Kressl?
Diana Golze (DIE LINKE):
Natürlich.
Präsident Dr. Norbert Lammert:
Bitte schön.
Nicolette Kressl (SPD):
Frau Kollegin, bevor sich hier Unwahrheiten festsetzen: Sie sollten eigentlich gelesen bzw. gerade von mir gehört haben, dass wir es sehr bewusst nicht nur über die Investitionskosten, sondern auch - das ist ganz besonders im Interesse der neuen Bundesländer - über den Anteil an der Umsatzsteuer ermöglichen, dass die Qualifikation, die Erhaltung, die Sicherung und die Beteiligung an den laufenden Betriebskosten vom Bund mitfinanziert werden. Ich bitte Sie dringend, solche Aussagen wie die, die Sie gerade gemacht haben, nicht zu verbreiten, da wir es in einem durchaus schwierigen Prozess - auch im Gespräch mit dem Finanzminister - erreicht haben, dass diese Mittel frei verfügbar sind und dadurch insbesondere für die neuen Bundesländer Sicherheit gewährleistet ist.
Diana Golze (DIE LINKE):
Obwohl das keine Frage war, will ich gerne auf das, was Sie gesagt haben, eingehen.
Erstens. Sie wissen sehr genau, dass die Förderung erst 2009 beginnt. Das heißt, dass gerade die ostdeutschen Bundesländer, die jetzt mit der Situation zu kämpfen haben, dass die Erzieherinnen und Erzieher im Durchschnitt ein Alter von über 50 Jahren haben und daher sofort in die Qualifizierung von Erzieherinnen und Erzieher investiert werden müsste, wenn überhaupt, erst ab 2009 davon profitieren werden.
- Jetzt bin ich dran. Ich habe das Wort.
Zweitens hat die Bundesregierung in ihrer Antwort auf die kleine Anfrage meiner Fraktion nicht einmal anerkannt, dass es hier Handlungsbedarf gibt, was zum Beispiel den Fachkräftebedarf und die Bezahlung der in diesem Bereich beschäftigten Personen betrifft. Das nehmen Sie überhaupt nicht zur Kenntnis.
- Ich bin immer noch bei der Beantwortung Ihrer nicht gestellten Frage.
- Sie haben ja keine Frage gestellt. Was soll ich denn da machen?
Entschuldigung, Herr Präsident. Ich bin immer noch bei der Beantwortung dieser Anregung.
Präsident Dr. Norbert Lammert:
Nachdem Sie gerade erläutert haben, dass Sie bei der Beantwortung einer nicht gestellten Frage sind, können wir uns vielleicht gemeinsam darauf verständigen, dass Sie schlicht mit Ihrer Rede fortfahren.
Diana Golze (DIE LINKE):
Dann möchte ich, dass geprüft wird, wie lange hier nach der Geschäftsordnung Fragen beantwortet bzw. Anregungen gegeben werden dürfen.
Ich möchte auf die Qualität der Ausbildung der Fachkräfte zurückkommen. Ich bin der festen Überzeugung, dass das Gelingen des Ausbaus der Kindertagesbetreuung von der Qualität der Ausbildung abhängt. Die Linke wird dem Ausbau der Kindertagesbetreuung nur dann zustimmen, wenn unter anderem auch Tagesmütter und Tagesväter endlich eine Absicherung durch eine zertifizierte Ausbildung erhalten, wenn dazu bundesweit geltende rechtliche Regelungen geschaffen werden und wenn sie eine angemessene Entlohnung bekommen.
Einer Billigvariante des geplanten Ausbaus der Kinderbetreuung werden wir nicht zustimmen.
Sehr geehrte Damen und Herren, ich bin gespannt, ob bzw. wie die Bundesregierung in den kommenden Monaten das wachsende Problem der Ausländerfeindlichkeit und des Rechtsextremismus auf die Tagesordnung bringt. Es wird wohl nicht ausreichen, in die Schlagzeilen gekommene Kommunen und ihre Bürgermeister letztlich doch in das entsprechende Bundesprogramm aufzunehmen. Ich bin mir nicht sicher, ob der Gemeinde Mügeln dies allein helfen wird.
Die Politik der Bundesregierung sollte sich vielmehr darauf konzentrieren, die Träger der freien Jugendhilfe, die Vereine und Verbände zu stärken, sodass dort ein gutes Freizeit- und Bildungsangebot für junge Menschen entsteht. Denn das ist die Grundvoraussetzung für das Gelingen eines solchen Bundesprogramms.
Abschließend ein paar Worte zu einem Politikfeld, das zumindest noch in der Bezeichnung des Ministeriums eine Rolle spielt. Beim Lesen des Haushaltsentwurfs fragt man sich allerdings, ob dieses Themengebiet dort überhaupt noch beackert wird. Die Ministerin gibt nämlich gern viel Geld für Öffentlichkeitsarbeit aus. Ein gutes Beispiel ist die PR-Aktion zu den Mehrgenerationenhäusern. Was aber das Politikfeld Frauen betrifft, gibt der Haushaltsentwurf sehr zu denken. In den nächsten vier Jahren möchte Frau Ministerin jährlich 392 000 Euro für Infobörsen für Frauen ausgeben. Das ist für mich Selbstbeweihräucherung, die die Bundesrepublik gleichstellungspolitisch keinen Deut weiterbringt.
Warum finanzieren Sie mit dem Geld nicht ein Projekt zur Förderung von Berufsrückkehrerinnen nach der Elternzeit?
Ein bisschen weniger Show und ein bisschen mehr Handeln würden nicht nur diesem Haushalt guttun.
Vielen Dank.
Präsident Dr. Norbert Lammert:
Nächste Rednerin ist die Kollegin Britta Haßelmann von der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.
Britta Haßelmann (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Liebe Frau Ministerin, ich möchte einmal so beginnen: Manchmal gilt selbst für die Opposition: Lob und Ermutigung beschleunigen den Lernfortschritt.
Das erhoffe ich mir bei Ihnen in vielen familienpolitischen Fragen.
Ich fange mit dem an, was an Ihrem Etat zu begrüßen ist. Uns als Familienpolitikerinnen und Familienpolitiker kann es sicherlich freuen, dass der Etat von 5,2 Milliarden Euro auf 6,2 Milliarden Euro gestiegen ist.
Das ist gut so. Denn die vielen strukturellen Probleme im Hinblick auf eine verlässliche Kinderbetreuung, die Herausforderungen des demografischen Wandels, eine zukunftsfähige Altenpolitik, eine konsequente Frauenpolitik, die mehr bedeuten muss als die Vereinbarkeit von Familie und Beruf, und eine konzeptionell fundierte Jugendpolitik brauchen ein solides Fundament. Da haben Sie reihenweise Nachholbedarf.
Aber, Frau Ministerin, Sie können von uns nicht erwarten, dass wir Sie allein dafür besonders loben, dass Sie in der Familienpolitik richtige und notwendige Schlussfolgerungen ziehen,
obwohl Sie von der familienpolitisch lernverzögerten CDU kommen. Von der CSU rede ich erst gar nicht.
Wir nehmen uns die Freiheit, Ihre Politik schlicht und ergreifend anhand von Fakten zu beurteilen.
Ich sage an Sie persönlich gerichtet - nicht nur an die programmatischen Grundlagen der CDU/CSU -,
dass längst nicht alles Gold ist, was glänzt und sich öffentlich wunderbar in Geschenktüten verpacken lässt.
Ich möchte nun die Zahlen bewerten: Die hohe Steigerung des Gesamtetats geht zu einem Großteil auf das Konto des Elterngeldes; das haben Sie eingangs selbst betont.
Ein Elterngeld macht familienpolitisch aus meiner Sicht erst dann Sinn, wenn nach der Elternzeit auch wirklich eine Anschlussbetreuung gewährleistet ist.
Frau Ministerin, selbst wenn wir noch so viel Geld in Ihren Etat pumpen, hilft das nichts, wenn Sie Ihre Familienpolitik nicht konzeptionell unterlegen,
sodass eine Maßnahme in die andere greift und im Ergebnis schlüssig ist. Es gilt die Erkenntnis: Geld allein macht nicht glücklich. Wir brauchen nicht nur eine nominale Erhöhung des Etats des Familienressorts, wir brauchen auch eine qualitative Steigerung Ihrer Politik in den verschiedenen Ressorts; ich denke vor allen Dingen an die Jugendpolitik.
Von Ihren zahlreichen öffentlichen Erklärungen, dass wir mehr Kinderbetreuungsplätze in unserem Land brauchen, ist noch kein einziger Kinderbetreuungsplatz für Kinder unter drei Jahren vor Ort eingerichtet worden. Liebe Nicolette Kressl, Sie können so wütend sein, wie Sie wollen, aber es ist schlicht ein Fakt, dass die Kommunen, nachdem sie sich diesen wunderbaren Kompromiss angesehen haben, merken, dass die Länder längst nicht all das nachvollziehen, was auf Bundesebene vereinbart worden ist. Es gibt in den Kommunen jede Menge Widerstand, weil man Angst hat, dass die Kosten für die Umsetzung des Rechtsanspruchs bei ihnen hängen bleiben werden.
Es war nun zu hören, dass das Bundeskabinett sich am 28. August mit den Ländern geeinigt hat. Die Zahlen sind im Hinblick auf Investitionskosten und Betriebskostenzuschüsse klar. Ab 2014 sollen die laufenden Kosten in Höhe von 770 Millionen Euro von Bundesseite mitfinanziert werden. Das ist gut so. Haushaltsrechtlich ist aus meiner Sicht allerdings Kritik angebracht.
Nennen Sie mir doch einen sachlichen Grund dafür, bereits jetzt für Ausgaben in den Jahren 2008 bis 2013 Geldabflüsse in ein Sondervermögen auf den Weg zu bringen. Es sind ja genügend Haushälter da, die gleich noch reden werden. Auf die Auflösung bin ich gespannt.
Eltern brauchen Sicherheit, sie müssen mit verlässlicher Unterstützung rechnen können, und zwar schon bald; sie wollen nicht bis 2013 auf die Realisierung warten. Was wollen Sie denn denjenigen Familien sagen, die Sie jetzt mit dem Elterngeld beglücken? ?Seht her, ihr bekommt das Elterngeld; einen Rechtsanspruch auf Betreuung gibt es aber erst ab 2013“? ?Eure Enkelkinder haben einen Betreuungsplatz sicher“?
Wir reden über Geld, über viel Geld. Dieses Geld muss gut angelegt sein. Beenden Sie deshalb endlich den Unfug mit dem Betreuungsgeld! Eine Herdprämie - auch wenn sich manche über diesen Begriff echauffieren - bleibt eine Zuhausebleibprämie.
Präsident Dr. Norbert Lammert:
Frau Kollegin Haßelmann, darf Ihnen der Kollege Kampeter kurz vor Schluss noch eine Zwischenfrage stellen?
Britta Haßelmann (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Lassen Sie mich gerade zur Herdprämie zu Ende sprechen; dann kann Herr Kampeter fragen.
Präsident Dr. Norbert Lammert:
Nein, das kann er eben nicht; denn dann ist Ihre Redezeit vorbei.
Britta Haßelmann (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Herr Kampeter, bitte.
Steffen Kampeter (CDU/CSU):
Frau Kollegin, Sie haben noch einmal die Finanzierung der Investitionskosten angesprochen und deutlich gemacht, dass Sie das noch nicht verstanden haben. Deshalb bitte ich Sie, Folgendes zur Kenntnis zu nehmen: Mit der Einbringung dieses materiellen Teils ist verbunden, dass wir 2,15 Milliarden Euro möglichst nah an die Gemeinden bringen wollen.
Sie haben in Nordrhein-Westfalen an der Umsetzung des TAG politisch mitgewirkt. Als Sie aus der politischen Verantwortung ausgeschieden sind, war die Ausstattung für die Betreuung der unter Dreijährigen relativ schlecht.
Im Zusammenhang mit dem jetzigen Gesetzgebungsverfahren geht es auch um die nahezu vor dem Abschluss stehende Verwaltungsvereinbarung zwischen Bund und Ländern, über die wir hier im Parlament im Oktober ringen werden. Anders als beim TAG soll es - dazu diese Verwaltungsvereinbarung - Erfolgskontrollen und eine Rückzahlungsoption geben für den Fall, dass die Länder das Geld nicht in den Ausbau der Betreuung der unter Dreijährigen stecken. Das ist ein qualitativer Unterschied gegenüber allen bisherigen Fördermaßnahmen. Ich bedanke mich ausdrücklich bei Peer Steinbrück, dass er eine solch ambitionierte Verwaltungsvereinbarung mit den Ländern ausgehandelt hat.
Meine Frage lautet: Wann sind Sie endlich bereit, dies zur Kenntnis zu nehmen?
Britta Haßelmann (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Herr Kampeter, um Ihre Frage zu beantworten: Ich habe verstanden, dass wir mit unseren finanziellen Ressourcen sehr verantwortungsvoll umgehen müssen. Deshalb halte ich Ihre Idee des Betreuungsgeldes für besonders fahrlässig: Milliardengeschenke für die CSU, nur um ihre ideologischen familienpolitischen Vorstellungen durchzusetzen.
Ich frage die sozialdemokratischen Kolleginnen und Kollegen: Warum sagen Sie da eigentlich nicht: ?Das läuft mit uns nicht!“? Nach meiner Information ist im Begründungsteil des Gesetzentwurfs ein Sollbetrag für das Betreuungsgeld vorgesehen. Sind Sie ernsthaft gewillt, so etwas mitzumachen, während Sie öffentlich über das Betreuungsgeld reden?
Zu dem zweiten Teil Ihrer Frage, Herr Kampeter: Ich habe sehr wohl verstanden, was Sie mit dem Sondervermögen vorhaben. Deshalb frage ich auch, wie Sie das haushalterisch erläutern wollen.
Zuletzt zum Thema Kinderarmut. Beim Thema Kinderarmut machen Sie den Leuten etwas vor. Seit Wochen und Monaten wird öffentlich darüber geredet, dass es Kinderarmut in Deutschland gibt, dass 2,5 Millionen Kinder davon betroffen sind. Ich bitte Sie: Im Rahmen des Haushaltes - sowohl bei Arbeit und Sozialem als auch bei Familie - können Sie unter Beweis stellen, dass Sie das, was Kurt Beck, was Ihre Familienpolitikerinnen, was CDU-Politikerinnen und -Politiker sagen, ernst meinen. Unterlegen Sie das mit einer finanziellen Ausstattung, anstatt es bei der Ankündigung, gegen Kinderarmut in diesem Land etwas zu tun, zu belassen!
Vielen Dank.
Präsident Dr. Norbert Lammert:
Nun erhält der Kollege Dr. Ole Schröder für die CDU/CSU-Fraktion das Wort,
bevor der Kollege Fricke nach zwei gescheiterten Versuchen, nach Ablauf der Redezeit des jeweiligen Redners noch eine Zwischenfrage zu stellen, seine Ausführungen nun in seiner eigenen knappen Redezeit unterbringen muss.
Dr. Ole Schröder (CDU/CSU):
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Die Debatte zeigt ja langsam, dass Schwung in die familienpolitische Diskussion gekommen ist.
Das haben wir Ihnen zu verdanken, Frau Ministerin von der Leyen. Sie haben es geschafft, die Familienpolitik in den Mittelpunkt der gesellschaftlichen Diskussion zu stellen und sie vor allen Dingen dort auch zu verankern. Noch wichtiger: Sie haben die notwendigen Maßnahmen auf den Weg gebracht.
Der Bedeutungszuwachs der Familienpolitik lässt sich an diesem Haushalt sehr gut nachvollziehen. Gegenüber dem Vorjahr ist für den Einzelplan 17 eine Steigerung von 18 Prozent zu verzeichnen. Trotz der notwendigen Haushaltskonsolidierung setzt die Große Koalition hier einen wichtigen Akzent. Die Förderung von Kindern und Familie ist eine wichtige Investition in die Zukunft. Sie, Frau Ministerin, haben Ihr Ministerium, das Ministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend, zum Zukunftsministerium gemacht.
Das Elterngeld wird gut angenommen. Darauf ist bereits hingewiesen worden. Auch die gesellschaftliche Akzeptanz der Vätermonate steigt. Das Bewusstsein, dass die Vereinbarkeit von Familie und Beruf nicht allein Sache der Frauen ist, sondern eine Herausforderung, der sich Männer und Frauen gleichermaßen stellen müssen, wächst.
So hat sich schon in den ersten Monaten der Anteil der Männer erheblich erhöht, die bereit sind, für die Kindererziehung für einen bestimmten Zeitraum auf eine berufliche Tätigkeit zu verzichten. Insgesamt schaffen wir mit dem Elterngeld im ersten wichtigen Jahr nach der Geburt Sicherheit für die Familien. Jungen Paaren wird es damit leichter gemacht, sich für Kinder zu entscheiden.
Das gleiche Ziel verfolgen wir auch mit dem Ausbau der Betreuungsplätze für unter Dreijährige. Mit der Einigung zur Finanzierung mit den Ländern und Kommunen ist nun der Weg frei, dass wir die Anzahl der Betreuungsplätze für unter Dreijährige auf 750 000 verdreifachen. Das Sondervermögen ist wichtig, damit wir den Mittelabfluss direkt an die Kommunen zielgenau organisieren können, sodass das Geld nicht bei den Finanzministern, sondern bei den Kommunen vor Ort und den Familien landet.
Wir vergessen auch nicht die Eltern, die ihr Kind selbst betreuen wollen und dafür auf ihre Berufstätigkeit verzichten. Die Familienpolitik hat die Aufgabe, auch diese Eltern besser zu unterstützen.
Ein weiteres zentrales Ziel der Unionsfraktion ist die bessere Bekämpfung der Kinderarmut. Es freut mich daher, dass sich die Familienministerin dieser Aufgabe stellt und das Instrument des Kinderzuschlags
endlich so ausgestaltet, dass mehr Familien davon profitieren. Besonders wichtig ist mir schon aus haushaltspolitischen Gründen, dass wir die unterschiedlichen familienpolitischen Maßnahmen besser aufeinander abstimmen, damit das Geld bei den Eltern und Familien ankommt, statt in der Förderbürokratie zu versickern.
Präsident Dr. Norbert Lammert:
Herr Kollege Schröder, gestatten Sie eine Zwischenfrage der Kollegin Lührmann?
Dr. Ole Schröder (CDU/CSU):
Bitte schön.
Anna Lührmann (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Herr Kollege, ich möchte Ihnen eine Frage zu dem Sondervermögen stellen, das Sie eben als sehr gut bezeichnet haben.
Inwieweit können Sie das mit Ihrer Vorstellung von Generationengerechtigkeit verbinden? Nach meiner Auffassung hat das Sondervermögen vor allem den einen Zweck, die Nettokreditaufnahme in diesem Jahr möglichst hoch zu halten, um sie in den nächsten Jahren langsam zu senken.
Ich führe dafür als Beleg ein Zitat aus dem Handelsblatt aus der vergangenen Woche an:
Steinbrück will unter allen Umständen vermeiden, dass die Nettokreditaufnahme in diesem Jahr unter die Planzahl von 12,9 Milliarden Euro für das nächste Jahr rutscht. ?Das wäre politisch problematisch. Die Neuverschuldung sollte besser Schritt für Schritt abgebaut werden“, sagte Steinbrücks Sprecher.
Deshalb frage ich noch einmal: Ist das Sondervermögen nicht vielmehr ein Haushaltstrick, um die Nettokreditaufnahme möglichst hoch zu halten?
Dr. Ole Schröder (CDU/CSU):
Überhaupt nicht. Wir sichern mit dem Sondervermögen, dass die Mittel dann zielgenau an die Kommunen fließen können, wenn die Kommunen es benötigen, und nicht abhängig von der Haushaltslage.
Wir werden damit Planungssicherheit für die Kommunen erzielen.
Präsident Dr. Norbert Lammert:
Möchten Sie vielleicht auch Frau Lenke noch mit einer Zwischenfrage zu Wort kommen lassen?
Dr. Ole Schröder (CDU/CSU):
Bitte schön.
Ina Lenke (FDP):
Herr Kollege, meinen Sie, dass das Konzept des Kinderzuschlags richtig ist, wenn Sie sehen - ich meine das ernst; das hat mit Parteipolitik nichts zu tun -, dass es notwendig ist, 27 Seiten auszufüllen, um den Zuschlag zu erhalten, dass 18 Prozent der Mittel zur Deckung der Gesamtkosten für Bürokratie draufgehen, dass nur 12 Prozent der Anträge genehmigt werden und dass über 80 Prozent der Bürgerinnen und Bürger, bei denen Sie große Erwartungen erwecken, enttäuscht sein werden, wenn sie den Kinderzuschlag, der bis zu 150 Euro betragen kann - das können in manchen Fällen auch nur 10 oder 20 Euro sein -, nicht erhalten? Meine Frage ist folgende: Fällt Ihnen nichts Besseres ein als dieser missglückte Vorschlag, der auf dem alten Kinderzuschlag aufbaut? Ich bitte Sie herzlich, andere Antworten zu finden. Wir von der Opposition werden das dann nicht ausschlachten.
Dr. Ole Schröder (CDU/CSU):
Frau Lenke, Sie haben völlig recht: Die bisherige Regelung des Kinderzuschlags ist viel zu bürokratisch; das ist ein bürokratisches Monstrum. Ich habe in den letzten Haushaltsdebatten immer wieder angesprochen und angemahnt, dass wir diese Regelung unbedingt reformieren müssen.
Ich habe daher eben positiv erwähnt, dass wir das nun machen. Wir sollten in den Beratungen gemeinsam darauf achten, dass wir den Kinderzuschlag nicht nur erhöhen und dafür sorgen, dass mehr Eltern davon profitieren, sondern dass wir ihn auch entbürokratisieren. Sie haben völlig recht: Es ist unzumutbar, dass so viele Anträge - ich habe in Erinnerung: neun von zehn - abgelehnt werden. Wir brauchen dringend schlankere Organisationsformen, um den Eltern und Kindern tatsächlich zu helfen.
Das Geld soll schließlich bei den Eltern und Kindern ankommen und nicht in der Förderbürokratie versickern.
Um sich der Veränderung der Altersstruktur umfassend zu stellen, sind bessere Rahmenbedingungen für Kinder und Eltern nur eine Seite der Medaille. Genauso wichtig ist es, die Alterung der Gesellschaft positiv aufzunehmen und die Politik auf einen höheren Anteil an Senioren auszurichten. Genau dies geschieht mit Maßnahmen zum Thema ?Wirtschaftsfaktor Alter“, der Initiative ?Erfahrung ist Zukunft“ oder mit der Förderung von Seniorenorganisationen, um nur wenige Beispiele aus dem Haushalt zu nennen. Auch die im Einzelplan 17 geförderten Mehrgenerationenhäuser sind ein wichtiges Projekt. Sie helfen die Bindungen zu stärken, die die Gesellschaft zusammenhalten. Ältere Menschen können hier ihre Kompetenzen und Erfahrungen besser einbringen. Die Vielfalt an Umsetzungen, die wir vor Ort erleben, zeigt, dass wir hier auf einem richtigen Weg sind.
Darüber hinaus müssen wir aber auch an die älteren Menschen denken, die nicht mehr so aktiv am gesellschaftlichen Leben teilnehmen können. Es bleibt unsere Aufgabe, für die steigende Zahl pflegebedürftiger Menschen eine bessere Politik zu betreiben. Die von der Bundesregierung geplante Pflegereform ist hierzu ein erster Schritt. In vielen Einrichtungen herrschen nach wie vor unbefriedigende Zustände. Hauptursache hierfür ist vor allem in der Dementenbetreuung fehlendes Personal. Daher haben wir, die wir heute über den Einzelplan 17 diskutieren, die Aufgabe, uns Gedanken über die Zukunft des Zivildienstes machen. Zivildienstleistende übernehmen wichtige Betreuungsaufgaben. Sie helfen älteren Menschen beim Essen. Sie gehen mit Demenzkranken spazieren. Sie übernehmen Fahrdienste. Das sind sehr wertvolle Dienste, die bei der gegebenen Finanzausstattung zurzeit nicht allein von regulär Beschäftigten übernommen werden können. Auch wenn ich die Wehrpflicht nicht mit dem Zivildienst begründen möchte, möchte ich anmerken, dass die CDU/CSU-Fraktion in diesem Haus die einzige politische Kraft ist, die an der Wehrpflicht und damit auch am Zivildienst festhält.
Jeder, der diese Dienste abschaffen will, muss sich darüber Gedanken machen, wie er die dann entstehenden Betreuungslücken schließen und das finanzieren will.
Bei allen wichtigen Investitionen in eine gute Familienpolitik dürfen wir ein zentrales Ziel nicht aus den Augen lassen, das für die Handlungsfähigkeit der jungen Generation von entscheidender Bedeutung ist: Das ist die Haushaltssanierung. Wir müssen daher so schnell wie möglich zu einem ausgeglichenen Haushalt kommen. Der jetzige Finanzplan setzt ein positives Signal, aber angesichts des enormen Schuldenbergs des Bundes von über 900 Milliarden Euro dürfen wir diesen Pfad der Sanierung auf gar keinen Fall verlassen.
Ich freue mich auf die gemeinsamen Ausschussberatungen, die hoffentlich sehr konstruktiv verlaufen, damit wir auch im Jahr 2008 eine noch bessere Politik für Familie, Senioren, Frauen und Jugend gestalten können.
Vielen Dank.
Präsident Dr. Norbert Lammert:
Nun hat der Kollege Otto Fricke für die FDP-Fraktion das Wort.
Otto Fricke (FDP):
Herr Präsident! Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Ja, ja - nein, nein, so könnte man diesen Haushalt, jedenfalls was dieses Ministerium angeht, zusammenfassen. Wir haben an vielen Stellen richtige Entwicklungen. Es war auch dringend Zeit. Ich muss immer wieder sagen, dass die ?Entwicklungshilfeministerin“ von der Leyen bei der CDU/CSU sehr viel erreicht hat.
Aber es reicht nicht, das Elterngeld einzuführen, und es reicht nicht, die Betreuung der unter Dreijährigen stärker auszubauen.
Das sind richtige Dinge, aber man muss das alles auf Dauer richtig machen. Da fällt mir eines auf: Wir wissen jetzt seit mehreren Jahren, dass wir über 180 Milliarden Euro - es gibt dazu unterschiedliche Angaben - für Familienleistungen im weitesten Sinne ausgeben. Irgendwann muss man doch sagen: Okay, wir brauchen neue Leistungen. Wir hinken da hinterher, weil meine Partei etwas länger gebraucht hat. - Man muss sich aber auch fragen, welche der Leistungen falsch ist, wenn man feststellt, wie hoch die Kinderarmut bei uns ist.
Frau Ministerin, ich erwarte von Ihnen spätestens noch im Laufe dieses Jahres eine klare Identifizierung der Leistungen, die Sie für falsch halten, weil sie nicht bei den Betroffenen ankommen.
Dazu sind Sie - ich bleibe dabei - verpflichtet; denn Sie sind es, die die Kinder davor schützen muss, dass diejenigen, die heute Leistungen bekommen, später für diese Leistungen doppelt und dreifach bezahlen. Sie müssen Ihren Kabinettskollegen sagen: Hört auf, mehr zu fordern! Das müssen sonst die Kinder, denen ich zu helfen versuche, damit sie in der Zukunft weitere Chancen haben, bezahlen, wenn sie erwachsen sind. -
Ich bleibe dabei, dass die Konstruktion des Elterngeldes nicht zu Hartz IV passt. Da gibt es so viele Widersprüche, dass wir uns damit sicher noch einmal befassen müssen.
Zum Sondervermögen. Der Kollege Kampeter hat sehr geschickt zu vermeiden versucht, zu sagen, warum man das 2007 macht. Das ist - die Kollegin Lührmann hat recht - ein schlichter Trick. Man will lieber in diesem Jahr etwas mehr ausgeben, damit man im nächsten Jahr und im folgenden Jahr behaupten kann, etwas weniger ausgegeben zu haben.
Es wird eine Geschichte fortgeschrieben, anstatt das Ganze so schnell wie möglich abzuschreiben. Kollege Schröder sagt, er wolle das schon jetzt machen. Vielleicht hat die Koalition Angst, dass ihr in den nächsten Jahren das Geld nicht mehr zur Verfügung steht, und sichert es deswegen lieber in diesem Jahr ab. Notwendig wäre das nicht gewesen. Es wäre besser gewesen, wenn man den Kommunen das Geld direkt gegeben hätte.
- Erzählen Sie doch keine Geschichten, die nicht stimmen! - Das hätte man auch über das Finanzausgleichsgesetz machen können. Es sind den Kommunen doch schon wiederholt Umsatzsteuerpunkte gegeben worden. Sie haben die Finanzierung deswegen über die Länder organisiert - das ist kein Vorwurf an die Koalitionsfraktionen -, weil die Länder ihre klebrigen Finger daran halten wollen und weil die Länder die Kommunen kontrollieren wollen. Es ist doch nichts anderes.
Ich finde es dennoch gut, dass sich die Regierung dazu entschlossen hat, das Ganze in einem Nachtragshaushalt zu regeln. Ich bin gespannt, in welcher Weise wir dann hier über den Nachtragshaushalt debattieren werden. Insofern ist wenigstens das Parlament als Haushaltsgesetzgeber geachtet worden.
Ich will zu der sogenannten Herdprämie nur eines sagen.
- Sie wird so genannt, und man muss sich überlegen, warum sich der Begriff hält. - Es wird viel darüber diskutiert. Die SPD bestreitet, dass sie kommt, die CSU behauptet, sie vereinbart zu haben.
Für die Bürger draußen: In einer Formulierungshilfe der Bundesregierung steht in der Begründung, dass man so etwas in Zukunft vorhabe. In der Begründung könnte auch stehen, dass Angela Merkel im Jahre 2013 noch Bundeskanzlerin ist. Der Effekt ist der gleiche: Es ist nur beschriebenes Papier, nicht mehr. Deswegen sollte die CDU/CSU einfach sagen, dass sie in dieser Beziehung rechtlich noch gar nichts erreicht hat. Ein Gesetz müsste es geben, wenn Sie dieses Geld auf Dauer für Familien ausgeben wollen.
Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner:
Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage Ihrer Kollegin Pieper?
Otto Fricke (FDP):
Aber selbstverständlich.
Cornelia Pieper (FDP):
Herr Kollege Fricke, geben Sie mir recht, dass insbesondere die Liberalen bemüht sind, Bildung mit Kinderbetreuung und frühkindlicher Erziehung zu verbinden und dass das mit der ?Herdprämie“ nichts zu tun hat? Können Sie mir einmal erklären, warum es gerade in den neuen Bundesländern seit der deutschen Einheit einen mit Bildung verknüpften Rechtsanspruch auf Krippen- und Kindergartenplätze gibt, obwohl der Bund damals keine größeren Zuschüsse gegeben hat? Nach der Wiedervereinigung, als der Rechtsanspruch auf einen Kindergartenplatz für Kinder ab drei Jahre eingeführt wurde, haben die neuen Länder den Kommunen übrigens keinerlei Einnahmen aus der Umsatzsteuer weitergereicht. Diese Regierungskoalition will den Rechtsanspruch auf Krippenplätze erst 2013, also erst in der übernächsten Legislaturperiode, verwirklichen. Für mich ist das eine ?Vergackeierung“ der Wähler.
Otto Fricke (FDP):
Frau Kollegin Pieper, ein Grundproblem der gesamtdeutschen Gesellschaft ist, dass der westliche Teil gedacht hat, dass alles, was aus der DDR kommt, schlicht falsch ist, und das wiederum war falsch. Über die Frage ?Ab wann setzt Bildung ein?“ hat die westliche Gesellschaft unseres Landes lange nachgedacht. Wenn man in Diskussionen bei uns zu Hause vor zehn Jahren gesagt hat: ?Bildung fängt schon bei den unter Dreijährigen an“, dann wurde man angeschaut, als wäre man von einem anderen Planeten. Insofern können die neuen Bundesländer stolz sein, dass sie im vereinigten Deutschland eine Vorreiterrolle bezüglich der Frage der vorschulischen Bildung spielen.
Die neuen Bundesländer hätten sich - gerade weil die Bundeskanzlerin aus den neuen Ländern kommt - schneller durchsetzen können. Wenn ich mir den Kollegen Kampeter anschaue, dann bin ich sicher, dass er mit der Bundeskanzlerin noch darüber reden wird, an welcher anderen Stelle man einsparen kann, um für so etwas in Zukunft mehr und vor allen Dingen schneller Geld in die Hände zu nehmen. Oder Kollege Kampeter?
Ich komme zum letzten Punkt, weil meine Redezeit langsam zu Ende geht. In der Debatte über Kinder, aber eben auch über Soziales hat der Kollege Kurth von den Grünen gesagt, man müsse die Hartz-IV-Regelsätze erhöhen. Es geht immer wieder um Geld. Der Präsident - er ist leider nicht mehr anwesend - hat gestern Abend bei einer Veranstaltung mit jungen Christen gesagt: Der christliche Wert der Nächstenliebe ist in der Politik sehr wichtig. Er hat aber auch gesagt, dass wir Politiker viel zu oft meinen, Nächstenliebe sei nur etwas, was wir durch mehr soziale Leistungen zustande bringen können.
Ich warne ausdrücklich davor, diesem Gedanken zu folgen. Es ist schön, wenn es durch finanzielle Leistungen zu einem gerüttelt Maß an zusätzlicher Freiheit und zu mehr, was die Kinder erreicht, kommt. Wir dürfen aber nicht glauben, dass wir dadurch, dass wir mehr finanzielle Mittel zur Verfügung stellen, auch mehr Nächstenliebe geben.
Durch das, was Pastor Bernd Siggelkow - er arbeitet bei der Arche - in dem Buch Deutschlands vergessene Kinder geschrieben hat, habe ich gelernt: Wir werden über finanzielle Leistungen niemals dafür sorgen können, dass wir bei dem Thema Kinderbetreuung in irgendeiner Weise Ruhe bekommen, sodass wir sagen können: Wir haben genug getan.
Wir müssen uns in der nächsten Zeit - Frau Ministerin, ich würde mich freuen, wenn Sie dabei einen Schwerpunkt setzten - mit der Frage ?Liebe, Zuneigung, Nähe“ viel mehr beschäftigen, und wir dürfen uns nicht nur mit abstrakten Fragen wie ?finanzielle Mittel“ befassen.
Herzlichen Dank für die Aufmerksamkeit.
Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner:
Ich gebe das Wort der Kollegin Christel Humme, SPD-Fraktion.
Christel Humme (SPD):
Frau Präsidentin! Liebe Kollegen! Liebe Kolleginnen! Ein bisschen verwundert mich diese Debatte schon.
Vor einem Jahr habe ich hier gestanden und gefordert: Wenn der bedarfsgerechte Ausbau von Betreuungsplätzen für unter Dreijährige bis 2010 nicht kommt, dann muss es einen Rechtsanspruch geben. Heute, nur ein Jahr später, stehe ich hier und kann sagen: Dieser Rechtsanspruch kommt, und das nicht 2010, sondern wir regeln ihn jetzt. Deshalb bitte ich Sie von der Opposition, sich mit uns zu freuen. Erkennen Sie an, dass wir dank des Engagements von Peer Steinbrück und Frau von der Leyen neue Wege gehen.
Neue Wege sind: erstens Unterstützung durch den Bund bei den Investitionskosten - wann hat es das bei der Betreuung unter Dreijähriger schon einmal gegeben? -, zweitens Unterstützung bei den Betriebskosten, und zwar so, dass das Geld tatsächlich bei den Kommunen ankommt. Sie unterstellen da etwas. Durch den Rechtsanspruch ist gewährleistet, dass das Geld, 770 Millionen Euro jährlich ab 2013, tatsächlich bei den Kommunen ankommt. Darauf können wir mit Recht stolz sein.
Wir wollen damit natürlich den Ausbau etwas beschleunigen. Da gebe ich Ihnen von der Opposition recht: Das Ganze geht in der Tat nur im Schneckentempo voran. Wir brauchen das Betreuungsangebot aber schnell. Am 1. Januar 2008 wird unser Elterngeld ein Jahr alt. Alle, die nach einem Jahr Elternzeit wieder ihre Berufstätigkeit aufnehmen wollen, müssen natürlich einen adäquaten Betreuungsplatz haben. Mit unseren Maßnahmen helfen wir diesen Vätern und Müttern. Sie brauchen mehr Wahlfreiheit, was Familie und Beruf angeht; Frau Kressl hat das vorhin schon gesagt. Wahlfreiheit haben sie - das ist entscheidend - heute nämlich nicht. Diese Ungerechtigkeit müssen wir so schnell wie möglich aus der Welt schaffen. Deshalb gebe ich der Kanzlerin recht, die gesagt hat: Unsere erste Priorität ist, bis 2013 mit einem finanziellen Kraftakt von 12 Milliarden Euro - das sage ich noch einmal ganz deutlich - 750 000 Betreuungsplätze zu schaffen.
Auch in den ersten Tagen der Haushaltsdebatte hat sich wieder gezeigt, dass wir keine Gelegenheit auslassen, zu sagen: Gute Deutschkenntnisse sind eine wichtige Voraussetzung für eine erfolgreiche Integration. Darum müssen wir die richtigen Konsequenzen ziehen. Allein Sprachtests, ohne vorher eine Förderung zu organisieren, machen wenig Sinn. Fehlende Bildungsintegration ist nicht nur ein Problem der Kinder mit Migrationshintergrund, sondern auch zunehmend ein Problem deutscher Kinder. Allen Kindern müssen wir die größtmögliche Förderung zukommen lassen - und das von Anfang an. Das ist unsere zentrale Aufgabe.
Das Projekt ?Die 2. Chance“ des Familienministeriums zur Unterstützung Jugendlicher ohne Schulabschluss ist zurzeit notwendig und richtig und wird von uns ausdrücklich begrüßt. Zusammen mit den in Meseberg verabschiedeten Einstiegsprogrammen für mehr Ausbildung sind das heute die richtigen Ansätze, um jungen Menschen eine Perspektive zu bieten. Für die Zukunft heißt das aber auch: Wir dürfen gar nicht erst zulassen, dass es Schulabbrecher gibt, wie das heute der Fall ist.
Auch das ist nur mit einem qualitativ guten Bildungs- und Betreuungsangebot von Anfang an zu erreichen. - Das sind unsere Vorstellungen von Chancengleichheit.
Zu diesen Vorstellungen von Chancengleichheit gehört natürlich auch, dass Bildung von Anfang an kostenfrei gestellt werden muss - das ist unser langfristiges Ziel -; denn nur so erreichen wir, dass alle Kinder die gleichen Bildungschancen haben, ob arm oder reich, Deutsche oder Ausländer.
Chancengleichheit, das schließt auch ein - wir haben das heute an vielen verschiedenen Stellen gehört -, dass wir unsere Anstrengungen zur Armutsprävention fortsetzen müssen. Wir haben gehört, dass es in der Tat Familien gibt, die ein so geringes Einkommen haben, dass es nicht ausreicht, den Unterhalt der Kinder zu decken. Ihnen helfen wir zurzeit mit dem von der SPD am 1. Januar 2005 eingeführten Kinderzuschlag. Ich gebe allen recht, die gesagt haben: Das muss reformiert werden, weil es viel zu kompliziert und bürokratisch ist.
Ich gebe allen recht, die sagen: Das System muss vereinfacht werden. Genau deshalb ist in Meseberg beschlossen worden, ein Gesamtkonzept für Familien mit Kindern vorzulegen, um sie dann zu unterstützen, wenn ihr Einkommen nicht ausreicht, für ihre Kinder zu sorgen. Das wollen wir, weil wir im Vergleich zu heute mehr als doppelt so viele Kinder aus der Armut holen wollen. Das ist ein wichtiges Ziel, das wir verfolgen müssen.
Aber ich sage auch: Wer es mit der Bekämpfung von Kinderarmut wirklich ernst meint, der muss sich der Frage stellen, wie wir erreichen, dass existenzsichernde Löhne gezahlt, dass gesetzliche Mindestlöhne auf den Weg gebracht werden; denn gesetzliche Mindestlöhne bekämpfen meiner Ansicht nach wirkungsvoll Kinderarmut.
Ich bleibe dabei: Die bessere Vereinbarkeit von Familie und Beruf durch mehr gute Betreuungsplätze und die damit verbundene Erhöhung der Frauenerwerbsquote sind die besten Instrumente, Familienarmut zu verhindern.
Wir haben uns zum Ziel gesetzt, die Frauenerwerbsquote zu erhöhen. Auch hier muss das Prinzip der fairen Entlohnung gelten, nämlich: gleicher Lohn bei gleicher Arbeit. Ich wünsche mir, dass die Antidiskriminierungsstelle des Bundes, im Familienministerium angesiedelt, ihr Augenmerk auch darauf richtet. Wir haben für diese Stelle gekämpft, damit endlich auch in Deutschland die Akzeptanz von Vielfalt selbstverständlich wird.
Für diese wichtige Arbeit muss die Stelle voll arbeitsfähig sein. Dafür sind im Gleichbehandlungsgesetz 5,6 Millionen Euro vorgesehen, bisher sind im Haushalt aber lediglich 2,8 Millionen Euro eingestellt. Darüber müssen wir noch reden, da müssen wir noch nachjustieren.
Die Stelle hat einen ambitionierten Auftrag: Sie soll unter anderem über Öffentlichkeitsarbeit ein Bewusstsein für Toleranz und gegen Ausgrenzung schaffen. Ausgrenzung findet bei uns leider täglich statt und zeigt ihr hässliches Gesicht in Vorfällen wie in Mügeln als Spitze des Eisbergs. Rechtsextreme Gewalt gegen ausländische Mitbürgerinnen und Mitbürger ist die schlimmste Form von Ausländerfeindlichkeit und Intoleranz. Der Kampf gegen Rechtsextremismus ist eine Daueraufgabe und braucht dauerhafte Strukturen.
- Ja, da darf ruhig applaudiert werden. Strohfeuermaßnahmen immer dann, wenn gerade etwas Furchtbares passiert ist, helfen nicht.
Im letzten Jahr hat die SPD erkämpft, die Mittel für Programme gegen Rechtsextremismus um 5 Millionen Euro auf insgesamt 24 Millionen Euro aufzustocken.
- Ich kenne die Debatte sehr gut, Herr Kampeter. - Wir wollten mit den zusätzlichen 5 Millionen Euro die Arbeit von mobilen Beratungsteams und Opferberatungsstellen sichern.
Frau von der Leyen, wir müssen jetzt alles daransetzen, dass die Programme gegen rechts konsequent fortgeführt werden können; denn wir sind zutiefst davon überzeugt, dass es mehr zivilgesellschaftlicher Initiativen bedarf, wenn Rechtsextremismus erfolgreich bekämpft werden soll.
Ich freue mich auf die Debatte über den Haushaltsplan 2008; denn er zeigt eindeutig, Frau Lührmann - ist sie noch da? -, dass beides geht: auf der einen Seite die niedrigste Nettoneuverschuldung und damit die Konsolidierung des Haushalts, auf der anderen Seite Investitionen in die Zukunft über Bildung. Beides machen wir im Interesse der Familien, der Senioren, der Kinder und auch der Enkelkinder.
Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner:
Frau Kollegin, darf ich Sie an Ihre Redezeit erinnern.
Christel Humme (SPD):
Ich höre sofort auf. - Zum Abschluss möchte ich sagen: Der wichtige Bereich der Seniorenpolitik ist in meiner Rede, der Zeit geschuldet, zu kurz gekommen. Ich lade Sie alle ein: In der nächsten Woche gibt es eine ausführliche Debatte zum Fünften Altenbericht. Dort werden wir das Ganze noch einmal aufrollen.
Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner:
Das Wort hat die Kollegin Monika Lazar, Bündnis 90/Die Grünen. Bevor ich Ihnen aber das Wort gebe, Frau Kollegin, gratuliere ich im Namen aller Kolleginnen und Kollegen in diesem Hohen Hause zu Ihrem 40. Geburtstag.
Monika Lazar (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Vielen Dank! - Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Seit einigen Wochen kennt hier wahrscheinlich fast jeder - meine Vorrednerin ist auch schon darauf eingegangen - die sächsische Kleinstadt Mügeln. Mitte August ereignete sich ein Vorfall auf dem Stadtfest: Acht Inder flohen vor einer Gruppe von Deutschen in eine zum Glück nahegelegene Pizzeria. Rufe wie ?Ausländer raus!“ begleiteten den Übergriff. Es gab Verletzungen, die Opfer waren traumatisiert. Die mediale Empörung war groß - und kurz. Dies ist leider beispielhaft für den beschämenden Umgang mit rassistischen Übergriffen in unserem Land.
Die immer wieder zu beobachtende Strategie heißt: Leugnen und Beschwichtigen. Es sei gar kein rechtsextremer Übergriff gewesen, meinte sogar der Bürgermeister Deuse aus Mügeln. Er verstieg sich gar zu Aussagen wie: ?Solche Parolen können jedem mal über die Lippen kommen.“
- Doch! - Dazu kann ich nur sagen: Für solch eine Äußerung habe ich kein Verständnis.
Wer so etwas nie denkt, dem kommt es auch nicht über die Lippen, egal ob nüchtern oder betrunken.
Dass der Mügelner Bürgermeister seine Relativierungen ausgerechnet in einem Interview mit der rechtslastigen Zeitung Junge Freiheit wiederholte, ist ein Beispiel für den alltäglichen Rassismus in der Mitte der Gesellschaft.
Warum gehört das alles nun zur Debatte über den Familienhaushalt? Weil es dort die beiden Bundesprogramme ?Vielfalt tut gut“ und ?Förderung von Beratungsnetzwerken“ - -
- Der ist von der FDP. Ich bin extra nicht darauf eingegangen. Also lassen Sie mich bitte fortfahren.
- Ja, jeder weiß es. Aber sind Sie darauf stolz? Ich hoffe, nicht. Die sächsische FDP hat sich somit nicht mit Ruhm bekleckert.
- Nein, das habe ich nicht behauptet. Ich bin darauf nicht eingegangen. Deshalb können Sie sich beruhigen. Sie haben schon gesprochen. Das ist doch okay.
- Herr Mücke, bitte!
An beiden Programmen gibt es Kritik von uns. Am Beispiel Mügeln lässt sich das gut verdeutlichen. Etablierte Initiativen können sich um längerfristige Förderung nicht selbst bewerben. Nur noch Kommunen und Landkreise dürfen Anträge stellen. Was aber, wie wieder das Beispiel Mügeln zeigt, wenn die Bürgermeister selbst Teil des Problems sind? Der Landkreis Torgau-Oschatz, in dem Mügeln liegt, beantragte Mittel für einen lokalen Aktionsplan, erhielt sie aber nicht, weil es in Sachsen wie in anderen Ländern mehr Anträge gab, als bewilligt werden konnten.
Nach den blutigen Auseinandersetzungen will Frau Ministerin von der Leyen plötzlich doch noch Fördermittel freigeben. Makaber, dass erst Menschen verletzt werden müssen, damit die Arbeit gegen Rassismus unterstützt wird.
Ich hoffe, der Landkreis bezieht nun die Initiativen vor Ort mit ein. Einen offiziellen Anspruch darauf haben sie nicht. Das muss sich ändern. Das Programm muss umstrukturiert werden, damit zivilgesellschaftliche Projekte wieder selbst Gelder beantragen können.
Ich fordere die Große Koalition auf: Blockieren Sie die demokratischen Projekte vor Ort nicht länger! Ändern Sie jetzt in diesem Haushaltsverfahren die Förderrichtlinien. In diesem Jahr gab es genügend negative Beispiele.
In den Tagen nach dem Mügelner Vorfall gab es etliche Stimmen, auch vonseiten der SPD, die forderten, die Mittel für die Bundesprogramme zu erhöhen. Denen schließen wir uns an: Liebe Kolleginnen und Kollegen von der SPD, hier haben Sie uns auf Ihrer Seite. Lassen Sie uns in den nächsten Wochen gemeinsam darum kämpfen, dass der Haushaltsansatz erhöht wird, damit Opfer, Aussteiger aus der Naziszene, überforderte Eltern und ratlose Lehrer in Ost und West im nächsten Jahr mehr Beratungsangebote bekommen.
Vielen Dank.
Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner:
Nächster Redner ist der Kollege Johannes Singhammer, CDU/CSU-Fraktion.
Johannes Singhammer (CDU/CSU):
Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Wer im Februar dieses Jahres 2007 behauptet hätte, dass im September dieses Jahres 4 Milliarden Euro in Berlin für den Ausbau der Kinderbetreuung abholbereit liegen, der wäre als Märchenerzähler verspottet worden. Heute liegt das Geld bereit. Diese Bundesregierung, diese Ministerin, diese Große Koalition, diese Fraktion der CDU/CSU haben es geschafft, was Millionen von Menschen und insbesondere Eltern sehnsüchtig erwartet haben: ein größeres Angebot an Kinderbetreuung mit einer gesicherten finanziellen Zukunft.
Wir haben die Sorge um die Zukunft der Familien vom Gedöns hin zu einem politischen Spitzenthema befördert. Vom ersten Tag in der Großen Koalition an war es unser fester Wille, mit Siebenmeilenstiefeln bessere Bedingungen für Familien in Deutschland zu schaffen.
Denn nichts wird die Entwicklung unseres Landes nachhaltiger bestimmen, Frau Kollegin Kressl, als das Wohlergehen der Familien.
Deshalb haben wir als Allererstes das Elterngeld durchgesetzt. Im Haushaltsjahr 2008 wird das Elterngeld erstmals voll zum Tragen kommen. Mit gut 4 Milliarden Euro jährlich unterstützen wir Eltern im ersten Lebensjahr ihres Kindes, und zwar alle Eltern, die das wünschen. Gegen zunächst erhebliche Widerstände haben wir durchgesetzt, dass ein sogenanntes Mindestelterngeld, ein Sockelelterngeld, von 300 Euro pro Monat gezahlt wird. Siehe da, die ersten nachprüfbaren Zahlen zeigen: Das Sockelelterngeld, das Mindestelterngeld, ist der Renner des Jahres. 54 Prozent der Mütter und Väter erhalten diese 300 Euro im Monat. Das sind nicht weniger als derzeit 108 000 Eltern. Die meisten hätten nach einem früheren Entwurf keinen einzigen Cent gesehen.
Dieses Elterngeld fördert die Vereinbarkeit von Familie und Beruf; das ist unser Ziel. Es unterstützt aber auch die Alleinverdienerfamilie, junge Studenten
und Erwerbslose, die nach der ursprünglichen Fassung leer ausgegangen wären. Ich sage das deshalb, weil damit der rote Faden der Unionspolitik deutlich wird. Wir wollen den Familien keine Vorschriften machen, wie sie zu leben haben. Wir wollen alle Familien und damit die Vielfalt der Lebensmodelle unterstützen und ihnen mehr und nicht weniger Wahlfreiheit geben.
Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner:
Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage der Kollegin Lenke?
Johannes Singhammer (CDU/CSU):
Sehr gerne.
Ina Lenke (FDP):
Herr Kollege, ich glaube, ich habe Sie nicht ganz richtig verstanden. Sie haben gesagt, es sei auch für Studenten gut, dass sie Elterngeld bekämen. Ich will Sie einmal aufklären: Wenn Sie das entsprechende Gesetz durchlesen, können Sie feststellen: Jetzt, nach dem System des Elterngelds, werden nur 12 Monate lang 300 Euro an betroffene Studenten gezahlt, während nach dem alten System des Erziehungsgeldes 24 Monate lang 300 Euro gezahlt worden sind. Wir haben den Vorschlag eines Baby-BAföG gemacht, damit Studenten länger Unterstützung erhalten. Darauf sind Sie nicht eingegangen. Für Studenten ist dieses Elterngeld also kein Fortschritt. Was sagen Sie dazu?
Johannes Singhammer (CDU/CSU):
Frau Kollegin Lenke, Sie haben mich, glaube ich, sehr gut verstanden. Ich habe ausgeführt, dass entgegen den ursprünglichen Planungen, in denen kein Mindestelterngeld, kein Sockelbetrag, vorgesehen war, die von Ihnen beschriebene Gruppe, also Studentinnen, ein Elterngeld von 300 Euro erhalten.
Jeder, der es beantragt, bekommt das Elterngeld. Das ist ein Fortschritt im Vergleich zu früheren Planungen.
Echte Wahlfreiheit bedeutet - jetzt komme ich auf den entscheidenden Punkt zu sprechen -, dass mehr Kinderbetreuungsplätze vorgehalten werden. Denn wer keine Chance hat, eine qualitativ hochwertige Kinderbetreuung zu finden, kann auch keine Wahl treffen. Deshalb wollen wir, wie versprochen, die Verdreifachung des Angebots an Kleinkinderbetreuung. Daher haben wir eine entsprechende Finanzierung auf den Weg gebracht.
Wir sagen aber auch, dass parallel dazu ab dem Jahr 2013 ein Betreuungsgeld eingeführt werden soll.
Manchmal wird der Eindruck erweckt, Kinder zu Hause zu erziehen, sei eine vergleichsweise bequeme Angelegenheit, die man in der Hängematte erledigen könne. Doch Familienmanagerin oder Familienmanager zu sein, hat wenig mit Freizeit und Erholung zu tun, aber viel mit täglichem Stress und täglicher Arbeit. Ich möchte heute hier meinen Respekt, meine Hochachtung und meine Dankbarkeit gegenüber denjenigen Müttern und Vätern zum Ausdruck bringen, die diese schwierige, aber sicher auch wunderschöne Arbeit tagtäglich bewältigen.
Respekt und Schulterklopfen genügt jedoch für die meisten dieser Familien nicht; sie brauchen auch Bares, finanzielle Unterstützung. Das Betreuungsgeld hat ein Ziel: den Familien mehr Raum, mehr Entfaltungsmöglichkeiten und mehr Freiheit zu geben, ihr Familienmodell zu leben und zu gestalten.
In der Diskussion werden immer wieder Bedenken vorgebracht, das Betreuungsgeld werde möglicherweise nicht zum Wohl der Kinder eingesetzt. Dazu sage ich: Ja, es stimmt, dass es bei Steuergeldern leider immer wieder vorkommt, dass sie nicht bestimmungsgemäß eingesetzt werden. Es stimmt, dass uns immer wieder Meldungen von spektakulären Kindesvernachlässigungen oder gar Kindesmisshandlungen erreichen. Es stimmt, dass es Problemfamilien gibt. Es stimmt auch, dass es Einwandererfamilien guttut, wenn ihre Kinder in Kinderbetreuungseinrichtungen möglichst rasch Deutsch lernen.
Es wäre aber verhängnisvoll, wenn wir den Blick nur auf Problemfamilien, auf Schwierigkeiten richten würden und die Millionen von Familien aus dem Blick nähmen, die sich darum bemühen, ihre Kinder sorgfältig und mit Liebe zu erziehen, die oft viel mehr Geld einsetzen, als sie überhaupt aufbringen können, die sich jeden Tag krumm machen, damit sie es finanziell einigermaßen packen. Für diese Millionen von Familien ist das Betreuungsgeld eine echte Erleichterung.
Es ist nichts Unrechtes, wenn man Vertrauen in die Eltern setzt; denn sie wissen am besten, was ihre Kinder brauchen.
Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner:
Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage? Mir ist nur gerade der Name der Kollegin nicht eingefallen. Entschuldigung.
Johannes Singhammer (CDU/CSU):
Kollegin Gruß. - Bitte sehr.
Miriam Gruß (FDP):
Schönen Gruß an dieser Stelle. - Sehr geehrter Herr Kollege Singhammer, sind Sie bereit, zur Kenntnis zu nehmen, dass jede Familie aufgrund anderer von der Großen Koalition beschlossener Reformen bereits seit einigen Monaten 136 Euro mehr im Monat zu zahlen hat? Wären Sie also geneigt, darüber nachzudenken, wie sich Reformen, die Sie in anderen Politikbereichen vollziehen, auf Familien auswirken, bevor Sie ein Betreuungsgeld planen, das letzten Endes wahrscheinlich nicht bei den Kindern ankommt, obwohl dies wünschenswert wäre?
Johannes Singhammer (CDU/CSU):
Frau Kollegin Gruß, es freut mich, dass Sie die Erfolge der Bundesregierung loben und zu Recht konstatieren, dass hier vieles getan worden ist. Ich meine, dass wir diesen Weg fortsetzen müssen.
Sie haben gerade wieder die Bedenken angesprochen, die Eltern würden gerade das geplante Betreuungsgeld möglicherweise missbräuchlich einsetzen. Deshalb möchte ich noch einmal darauf eingehen.
- Gleich! - Wir diskutieren heute in dieser Debatte auch über die Frage des Kinderzuschlags in Höhe von 140 Euro. Beim Betreuungsgeld ist ein Betrag von 150 Euro in der Diskussion. Jetzt bitte ich Sie, meinem Gedankengang zu folgen: Die Argumentation, beim Kinderzuschlag sei das Risiko gering, dass ein Euro missbräuchlich - möglicherweise für Alkohol oder Flachbildschirme - verwendet und nicht zum Wohl der Kinder eingesetzt werde, während dieses Risiko beim Betreuungsgeld ungeheuer groß sei, kann man nicht als seriös betrachten. Das ist eine Unterstellung.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, es ist jedenfalls richtig, dass wir die Kinderbetreuung in dem vorgeschriebenen Tempo ausbauen und dass das Betreuungsgeld zeitgleich mit dem Rechtsanspruch im Jahre 2013 fixiert wird. Darauf wartet auch die Mehrheit der Eltern.
Mit unserer Familienpolitik verfolgen wir zwei Ziele: Wir wollen es den Familien in Deutschland leichter machen, mit ihren Kindern zu leben und sich für Kinder zu entscheiden, und wir wollen in der Politik Rahmenbedingungen dafür schaffen, dass die Vielfalt der Familien und der unterschiedlichen Lebensentscheidungen von Familien nicht eingeengt wird, sondern dass sie neuen Freiraum gewinnen.
Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner:
Letzte Rednerin in dieser Debatte ist die Kollegin Petra Hinz, SPD-Fraktion.
Petra Hinz (Essen) (SPD):
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Vor fast einem Jahr hat die Ministerin, Frau von der Leyen, die erste Lesung des Haushalts damit begonnen: Geld ist zwar nicht alles, aber im Rahmen der Haushaltsberatung redet man auch über Geld. - Genau das werde ich jetzt tun.
Viele von Ihnen haben einzelne Positionen im Haushalt des Familienministeriums aufgeführt. Ich möchte mich auf einige wenige beschränken. Wer sich im Wahlkreis umtut - ich gehe davon aus, dass wir alle uns in den sitzungsfreien Wochen im Wahlkreis bewegen -, wird sicherlich oft gefragt: Was habe ich eigentlich von dem, was ihr in den Haushaltsberatungen beschließt? - Ich finde es legitim, dass die Menschen, die uns in dieses Parlament geschickt haben, uns das fragen.
Die Maßnahmen und Projekte, die im Haushalt des Familienministeriums aufgeführt sind, erreichen die Menschen unterschiedlicher Generationen sofort und unmittelbar, weil die Menschen die Förderung - sei es in Bezug auf die Kindergartenplätze oder die Mehrgenerationenhäuser, um nur zwei Beispiele herauszugreifen - in ihren Familien unmittelbar erleben. Das Ministerium ist erlebbar, und die Menschen erfahren sofort Unterstützung oder Ablehnung.
Wir haben uns in der Großen Koalition als großes gesellschaftliches Ziel vorgenommen, mehr für Familienförderung und Chancengleichheit in Bildung und Entwicklung der Kinder, der jungen Erwachsenen, der Männer und Frauen, der Migranten, kurz: der Familien, zu investieren. Dies muss allerdings eine gemeinsame Anstrengung von Bund, Ländern und Kommunen sein.
Ich widerspreche meiner Kollegin Nicolette Kressl eigentlich sehr ungern.
Ich komme aus Nordrhein-Westfalen und habe bei der jetzigen Landesregierung sehr wohl einen anderen Eindruck, nämlich dass der Ministerpräsident bei den Geldern, die an die Kommunen weitergeleitet werden sollen, in der Tat sehr klebrige Finger hat. Dort werden seit 2005 insbesondere im Bereich der Kinderbetreuung - gerade im Sozialbereich; wir diskutieren jetzt über den Bereich Kibiz - Kürzungen vorgenommen. Das meine ich mit einer gemeinsamen Anstrengung. Ob Bund, Land oder Kommune: Wir müssen ein Ziel verfolgen, nämlich die Förderung der Familien und der Kinder.
Es ist schon viel darüber gesagt worden, welche Ansätze und Rahmenbedingungen wir in unserem Ministerium für den Haushalt 2008 vorfinden. Ich möchte als Haushälterin auf eines aufmerksam machen - das ist unsere Aufgabe; so verstehe ich meine Aufgabe als Haushälterin -: Das, was die Fachpolitikerinnen und Fachpolitiker in den Gremien beschlossen und auf den Weg gebracht haben, wird von der Regierungsbank insgesamt - auch von unserer Ministerin - umgesetzt.
Ich greife ein Projekt heraus: das Mehrgenerationenhaus. Herr Schröder, Sie haben zu Recht darauf aufmerksam gemacht - deswegen will ich hier gar nicht ins Detail gehen -, wie wichtig gerade dieses Projekt ist. Durch Mehrgenerationenhäuser wird eine Verbindung, eine Brücke zwischen Jung und Alt gebaut, zwischen Menschen, die im Arbeitsprozess stehen, und anderen, die diesen hinter sich haben, sich aber noch einbringen können. Dieses Projekt wird in diesem Jahr wie auch im Vorjahr, also unverändert, mit 20,5 Millionen Euro gefördert. Insgesamt stehen für dieses Projekt 98 Millionen Euro zur Verfügung. 200 Anträge liegen zur Bewilligung vor. 157 sind bereits bearbeitet worden.
Frau Ministerin, ich weiß nicht, ob Sie sich darüber im Klaren sind, dass von den 98 Millionen Euro 10 Millionen Euro an externe Unternehmen gehen. Rund 10 Prozent des operativen Etats werden also von Ihrem Haus für PR, Imagekampagnen und Öffentlichkeitsarbeit ausgegeben.
Sind das vielleicht verdeckte Personalkosten? Wir können uns gerne im Rahmen der Haushaltsberatungen damit beschäftigen. Mit diesen 10 Millionen Euro könnten wir 30 bis 50 weitere Projekte unterstützen.
Dieses Vorhaben soll ein Beispiel dafür sein, dass Mittel, die für sinnvolle Förderprogramme bereitgestellt werden, auch zu hundert Prozent sachbezogen ausgegeben werden sollten. Es darf im Rahmen der Haushaltsberatung kein Tabu geben. Ich sage es noch einmal: Die Prioritäten, die das Parlament setzt und die im Fachausschuss beraten werden, müssen von dem Ministerium beachtet werden.
Jung und Alt, Migranten, Frauen und Männer, Seniorinnen und Senioren müssen sich insgesamt wiederfinden. Sie müssen eine Antwort auf die Frage bekommen - ich habe sie eingangs erwähnt -, was sie von den Haushaltsberatungen haben. Dann werden die Menschen draußen erkennen, was wir im Parlament für sie im Rahmen der Projektförderung auf den Weg bringen.
Ich freue mich auf die Haushaltsberatungen und auf die Debatte.
Vielen Dank.
Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner:
Weitere Wortmeldungen zu diesem Einzelplan liegen nicht vor.
[Der folgende Berichtsteil - und damit der gesamte Stenografische Bericht der 112. Sitzung - wird morgen,
Freitag, den 14. September 2007,
an dieser Stelle veröffentlicht.]