115. Sitzung
Berlin, Donnerstag, den 20. September 2007
Beginn: 9.00 Uhr
* * * * * * * * V O R A B - V E R Ö F F E N T L I C H U N G * * * * * * * *
* * * * * DER NACH § 117 GOBT AUTORISIERTEN FASSUNG * * * * *
* * * * * * * * VOR DER ENDGÜLTIGEN DRUCKLEGUNG * * * * * * * *
Präsident Dr. Norbert Lammert:
Die Sitzung ist eröffnet.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich begrüße Sie alle herzlich und wünsche uns einen guten Morgen und gute Beratungen am heutigen Plenartag.
Bevor wir in die Tagesordnung eintreten, habe ich einige wenige Mitteilungen zu machen. Der Kollege Dr. Wolfgang Schäuble feierte vorgestern seinen 65. Geburtstag und die Kollegin Petra Merkel (Berlin) ebenfalls vorgestern ihren 60. Geburtstag. Im Namen des ganzen Hauses gratuliere ich dazu herzlich und wünsche alles Gute.
Bevor wir mit den Beratungen beginnen, stehen noch zwei Wahlen zu Gremien an.
Die Bundesregierung hat den Deutschen Bundestag um Benennung von zwei Sachpreisrichterinnen oder -richtern für die Jury des internationalen Architektenwettbewerbs für das Humboldt-Forum im Berliner Schlossareal gebeten. Die Fraktion der CDU/CSU schlägt den Kollegen Dirk Fischer (Hamburg) und als seine Stellvertreterin die Kollegin Renate Blank vor. Von der SPD-Fraktion werden der Kollege Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse und als seine Stellvertreterin die Kollegin Petra Weis vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? - Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen. Dann sind, wie gerade genannt, Dirk Fischer und Dr. h. c. Wolfgang Thierse zu Mitgliedern dieser Jury und die Kolleginnen Renate Blank und Petra Weis jeweils zu ihren Stellvertreterinnen gewählt.
Die Fraktion der SPD hat mitgeteilt, dass der Kollege Dr. Carl-Christian Dressel anstelle des Kollegen Dirk Manzewski stellvertretendes Mitglied im Beirat der Bundesnetzagentur für Elektrizität, Gas, Telekommunikation, Post und Eisenbahnen werden soll. Ich vermute, dass Sie auch damit einverstanden sind. - Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist der Kollege Dr. Dressel als stellvertretendes Mitglied in den Beirat der Bundesnetzagentur gewählt.
Interfraktionell ist vereinbart worden, die verbundene Tagesordnung um die in der Zusatzpunktliste aufgeführten Punkte zu erweitern:
ZP 1 Aktuelle Stunde auf Verlangen der Fraktion der FDP:
Haltung der Bundesregierung zu den Äußerungen des Bundesministers der Verteidigung, Dr. Franz Josef Jung, in Terrorabsicht entführte Flugzeuge ohne gesetzliche Grundlage abschießen zu lassen
(siehe 114. Sitzung)
ZP 2 Weitere Überweisungen im vereinfachten Verfahren
(Ergänzung zu TOP 32)
a) Beratung des Antrags der Abgeordneten Ina Lenke, Frank Schäffler, Dr. Hermann Otto Solms, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP
Steuerklasse V abschaffen - Lohnsteuerabzug neu ordnen
- Drucksache 16/6396 -
Überweisungsvorschlag:
Finanzausschuss (f)
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Grietje Bettin, Bärbel Höhn, Kerstin Andreae, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Fehlende Verbraucherschutzregeln und Rechtsunsicherheiten im Telemediengesetz beseitigen
- Drucksache 16/6394 -
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie (f)
Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und
Verbraucherschutz
Ausschuss für Kultur und Medien
ZP 3 Aktuelle Stunde auf Verlangen der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN:
Äußerungen des Bundesinnenministers zu angeblich bevorstehenden atomaren Anschlägen durch Terroristen in Deutschland und seine Ermunterung für die verbleibende Zeit
ZP 4 Beratung des Antrags der Abgeordneten Uwe Barth, Patrick Meinhardt, Cornelia Pieper, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP
Aufhebung des Hochschulrahmengesetzes zur Stärkung autonomer Hochschulen nutzen
- Drucksache 16/6397 -
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung (f)
Innenausschuss
Rechtsausschuss
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für Gesundheit
ZP 5 Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des Bundespolizeigesetzes und anderer Gesetze
- Drucksache 16/6291 -
Überweisungsvorschlag:
Innenausschuss (f)
Rechtsausschuss
Haushaltsausschuss
Von der Frist für den Beginn der Beratungen soll, soweit erforderlich, abgewichen werden. Darf ich auch dazu Ihr Einverständnis feststellen? - Das ist offenkundig der Fall. Dann ist das so beschlossen.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, auf der Ehrentribüne hat der Vorsitzende des Großen Staatskhurals der Mongolei, Herr Professor Lundeejantsan, mit seiner Delegation Platz genommen. Im Namen aller Kolleginnen und Kollegen des Deutschen Bundestages begrüße ich Sie sehr herzlich.
Sehr geehrter Herr Präsident, liebe Kolleginnen und Kollegen, es ist uns eine große Freude, Sie und Ihre Begleitung zu einem offiziellen Besuch in Deutschland zu Gast zu haben. Ihr Aufenthalt ist Ausdruck der freundschaftlichen und gerade in den letzten Jahren immer engeren Beziehungen nicht nur zwischen unseren Ländern, sondern insbesondere auch zwischen unseren Parlamenten. Bis zu Ihrer Rückreise in die Mongolei heute Nachmittag wünsche ich Ihnen weiterhin interessante Gespräche und Eindrücke. Für Ihr weiteres parlamentarisches Wirken in Ihrem Land begleiten Sie unsere besten Wünsche.
Wir kommen nun zu den Tagesordnungspunkten 3 a und 3 b:
a) Beratung des Antrags der Bundesregierung
Fortsetzung der Beteiligung bewaffneter deutscher Streitkräfte an dem Einsatz der Internationalen Sicherheitsunterstützungstruppe in Afghanistan (International Security Assistance Force, ISAF) unter Führung der NATO auf Grundlage der Resolutionen 1386 (2001) vom 20. Dezember 2001, 1413 (2002) vom 23. Mai 2002, 1444 (2002) vom 27. November 2002, 1510 (2003) vom 13. Oktober 2003, 1563 (2004) vom 17. September 2004, 1623 (2005) vom 13. September 2005, 1707 (2006) vom 12. September 2006 und 1707 (2007) vom 19. September 2007 des Sicherheitsrates der Vereinten Nationen
- Drucksache 16/6460 -
Überweisungsvorschlag:
Auswärtiger Ausschuss (f)
Rechtsausschuss
Verteidigungsausschuss
Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe
Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und
Entwicklung
Haushaltsausschuss gemäß § 96 GO
b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Jürgen Trittin, Winfried Nachtwei, Kerstin Müller (Köln), weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
ISAF und OEF parlamentarisch gemeinsam behandeln
- Drucksache 16/6325 -
Zum Antrag der Bundesregierung liegt ein Entschließungsantrag der Fraktion Die Linke vor.
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für diese Aussprache 75 Minuten vorgesehen. - Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist das so vereinbart.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat zunächst der Bundesminister des Auswärtigen, Frank Steinmeier.
Dr. Frank-Walter Steinmeier, Bundesminister des Auswärtigen:
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Dass wir in Deutschland eine öffentliche Debatte über Auslandseinsätze und über Afghanistan führen, ist gut. Die Art und Weise, wie sie geführt wird, macht es notwendig, dass wir zu Beginn dieser Debatte an zwei Dinge erinnern:
Erstens. Es waren die mörderischen Anschläge vom 11. September, die uns nach Afghanistan gebracht haben.
Zweitens. Erst mithilfe der gesamten internationalen Staatengemeinschaft ist es gelungen, das verbrecherische Regime der Taliban niederzuringen.
Erst seither - darum geht es mir - stellen wir uns in diesem Hohen Hause jedes Jahr die Frage, wie wir verhindern können, dass sich Afghanistan erneut zum Rückzugsraum für Terroristen entwickelt.
Ich sage Ihnen gleich vorweg: Unsere Antwort auf diese Frage war nie schlicht, sie war nie einfältig. Sie lautete von Anfang an: Wir verhindern das, indem wir den Menschen in Afghanistan eine neue Perspektive, neue Hoffnung geben, indem wir sie dabei unterstützen, das Land wiederaufzubauen, indem wir es ihnen ermöglichen, die Zukunft ihres Landes wieder in die eigenen Hände zu nehmen, und indem wir sie unterstützen, die Verantwortung für die Sicherheit im eigenen Lande schrittweise wieder selbst zu übernehmen.
Das war von Anfang an unsere Politik. Möge mir heute keiner mit dem dämlichen Argument kommen, wir hätten von Anfang an nur Panzer und Soldaten in untauglicher Weise gegen Fundamentalismus eingesetzt. Das stimmt nicht.
Aus meiner Sicht kann kein Zweifel daran bestehen - wie ich weiß, haben sich viele von Ihnen in den letzten Monaten davon überzeugen können -, dass wir in Afghanistan einiges erreicht haben. Nach den jahrzehntelangen Kriegen bzw. Bürgerkriegen, durch die vieles in Trümmer gelegt wurde, ist die Wirtschaft etwas in Gang gekommen. Nach inzwischen fast sechs Jahren haben sich die staatlichen Institutionen - das gilt auch für die Regierung - etwas Freiraum erkämpft. Besonders im Norden, wo wir Verantwortung tragen, sind neue Schulen und neue Straßen gebaut sowie Brunnen gebohrt worden. Über 6 Millionen Kinder können dort wieder eine Schule besuchen. Die Schülerzahl hat sich in den letzten sechs Jahren mehr als verfünffacht. Immerhin 80 Prozent der dortigen Bevölkerung haben wieder Zugang zu medizinischer Versorgung.
Trotz alledem muss ich sagen: Ja, es stimmt; der Weg hat sich als schwieriger erwiesen, als wir, als viele von uns sich erhofft haben. Insbesondere im Süden und Südosten des Landes vollzieht sich der Aufbau, natürlich auch aus Sicht der afghanischen Bevölkerung, bei weitem nicht schnell genug. Wenn das richtig ist, frage ich: Welche Schlussfolgerung ziehen wir daraus? Gehen, weil es schwierig ist? Ich glaube nicht. Ich glaube, die einzig mögliche Schlussfolgerung, die wir daraus ziehen können, ist, dass wir mehr tun müssen, dass wir unsere Anstrengungen im Rahmen des zivilen Wiederaufbaus verstärken müssen.
Das ist ja auch der Kern des Afghanistankonzepts, das wir Ihnen gerade vorgelegt und über das wir in einigen Ausschüssen schon gesprochen haben. Wir brauchen eine deutliche Aufstockung der Mittel für die zivile Wiederaufbauhilfe. Ich bin mir sicher, dass der Deutsche Bundestag das in der Schlussabstimmung über den Haushalt auch so beschließen wird.
Wir müssen uns nicht gegenseitig darüber belehren, wie schwierig die Sicherheitslage ist. Die internationale Staatengemeinschaft hat es zwar vermocht, eine drohende Frühjahrsoffensive der Taliban zu verhindern, aber die Gefährdungen haben sich auf andere Art und Weise entwickelt. Wir haben bei den Anschlägen in Kunduz und Kabul erleben müssen, wie deutsche Polizisten und deutsche Soldaten auf tragische Weise ums Leben gekommen sind.
Meine Damen und Herren, in dieser Situation ist es notwendig, dass wir neben dem zivilen Engagement, von dem ich gesprochen habe, auch unser militärisches Engagement aufrechterhalten. Das sagen übrigens auch die Afghanen, die hier gegenwärtig zu Gast sind und mit denen Sie ja Gespräche führen. Das hat uns auch die afghanische Frauenministerin vor kurzem bei ihrem Besuch in der SPD-Fraktion gesagt, begleitet mit der dringlichen Bitte, die Menschen in Afghanistan - gerade die Frauen - in der gegenwärtigen Lage nicht alleinzulassen.
Ich könnte es zuspitzen und sagen: Es ist doch irrig, zu glauben, wir könnten gerade in der derzeitigen Situation auf die militärische Komponente unseres Einsatzes völlig verzichten. Oder noch genauer gesagt: Wer heute den Abzug unserer Truppen aus Afghanistan fordert, setzt all das aufs Spiel, was wir in den letzten sechs Jahren dort aufgebaut haben.
Wer sich dabei auch noch in der moralisch besseren Position fühlt, der sollte nicht nur den Drachenläufer von Khaled Hosseini lesen - den haben Sie alle vermutlich gelesen -, sondern auch sein neues Buch Tausend strahlende Sonnen. Schauen Sie einmal auf den Katalog an Verboten -Sie finden ihn auf den Seiten 257 f.; er ist anderthalb Seiten lang! -, durch die in zynischer und menschenverachtender Weise jedes Leben in Kabul nach dem Einzug der Taliban im Grunde genommen unmöglich gemacht worden ist. Etwas, das den Namen ?Leben“ verdient, blieb nicht übrig. Wer das will, der muss in der Tat fordern, dass wir unser Engagement in Afghanistan aufgeben. Ich glaube, an einer solchen Forderung können und sollten wir uns nicht beteiligen.
Meine Damen und Herren, aus diesen Gründen hat der Sicherheitsrat der Vereinten Nationen heute Nacht das ISAF-Mandat bestätigt. Deshalb bittet auch die Bundesregierung Sie als Abgeordnete des Deutschen Bundestages, das Mandat zu verlängern.
Es geht neben dem ISAF-Mandat gleichzeitig um die Verlängerung des Einsatzes der Aufklärungstornados. Ich habe die Debatte, die wir dazu hier im Hohen Haus vor einem halben Jahr geführt haben, in guter Erinnerung. Ich glaube, ich darf mit den meisten von Ihnen sagen, dass sich viele Befürchtungen, die sich an den Einsatz der Aufklärungstornados knüpften, nicht bestätigt haben. Ich sage: Unsere Entscheidung damals war richtig. Die Tornados werden zur Aufklärung eingesetzt. Sie helfen der ISAF, die Lage vor Ort besser zu beurteilen. Sie helfen auch, militärische Mittel angemessener einzusetzen, was ja - darüber haben wir hier in vielen Debatten miteinander diskutiert - unser gemeinsamer Wunsch war.
Wir schlagen bei alldem vor, das ISAF-Mandat und das Tornado-Mandat zusammenzulegen. Inhaltlich - das wird der Verteidigungsminister erläutern - bleiben die Mandate unverändert; aber sie geben uns die Möglichkeit, durch eine gemeinsame Obergrenze die Soldaten flexibler einzusetzen, um zum Beispiel - das haben wir hier im Hohen Hause schon als notwendig festgestellt - die afghanischen Sicherheitskräfte, vor allen Dingen die afghanische Armee, beim Aufbau und bei der Ausbildung besser zu unterstützen. Genau das müssen wir tun.
Lassen Sie mich zum Abschluss eines sagen: Unsere Soldaten leisten in Afghanistan genauso wie die zivilen Wiederaufbauhelfer und unsere Polizisten unter schwierigsten Bedingungen einen hervorragenden Job. Sie haben sich bei den Afghanen, aber auch bei unseren internationalen Partnern große Anerkennung erworben. Sie wissen das. Deshalb sage ich: Dafür gebührt ihnen unser uneingeschränkter Dank.
Bei Debatten wie dieser geht es aber nicht nur ums Danksagen, sondern auch darum, den Soldaten, Aufbauhelfern und Polizisten die breite Unterstützung des Hohen Hauses zu signalisieren, die sie bei einem solchen Einsatz unter schwierigen Bedingungen brauchen. Deshalb erhoffe ich mir am Ende dieser Debatte eine breite Zustimmung dieses Hohen Hauses. Ich bitte Sie um Unterstützung bei der Verlängerung des Antrags.
Danke.
Präsident Dr. Norbert Lammert:
Nächster Redner ist der Kollege Dr. Werner Hoyer für die FDP-Fraktion.
Dr. Werner Hoyer (FDP):
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die FDP-Bundestagsfraktion wird den Antrag der Bundesregierung, dessen endgültige Fassung wir erst seit wenigen Stunden kennen, sorgfältig, unvoreingenommen und verantwortungsbewusst prüfen. Nach allen Vorgesprächen gehe ich davon aus, dass wir nach sorgfältigen Beratungen in den Ausschüssen dem Antrag, wahrscheinlich mit überwältigender Mehrheit, zustimmen werden.
Der Bundesminister hat zu Recht noch einmal darauf hingewiesen, warum wir uns in Afghanistan engagieren, warum es unsere moralische Verpflichtung ist, warum es aber auch unserem ureigenen Interesse dient, diesen Einsatz effektiv fortzusetzen.
Wir bedauern, dass die Entscheidung über ISAF aus innerparteilichen Gründen von der Entscheidung über OEF getrennt worden ist. Man kann die beiden Dinge nicht getrennt bewerten.
Zumindest gibt dies der Bundesregierung die Chance - wir sprachen heute schon in einer Unterrichtung im Verteidigungsministerium darüber -, die betroffenen Ausschüsse, aber auch den Deutschen Bundestag insgesamt besser über das zu unterrichten, was bei der Operation Enduring Freedom passiert.
Die Unterscheidung zwischen dem vermeintlich bösen OEF-Mandat und dem guten ISAF-Aufbaumandat scheint mir nicht sachgerecht und nicht fair gegenüber unseren Partnern, die sich bei OEF besonders engagieren.
Ich möchte im Übrigen daran erinnern, dass gestern im Süden Afghanistans die große Operation ?Hammerschlag“ mit 2 500 ISAF-Soldaten begonnen hat. Diese Terrorbekämpfungsaktion wird also von der ISAF durchgeführt. Die häufig vorgenommene Unterscheidung zwischen ISAF und OEF ist daher nicht in Ordnung.
Insofern sind die Debatten auf manchen Parteitagen geradezu bizarr: Neben der Tatsache, dass die grüne Basis ihren Bundestagsabgeordneten Verantwortungsverweigerung auferlegen will - wie am letzten Wochenende beschlossen -, finde ich es bemerkenswert, mit welchem Verfahren die Parteiführung versucht hat, eine Entscheidung herbeizuführen. Wer bei einer so gravierenden Gewissensentscheidung - das ist es am Ende für jeden von uns - die Feststellung einer Parteimeinung über Fragebögen im Multiple-Choice-Verfahren ermitteln will, verabschiedet sich von Verantwortungsübernahme.
Wir haben mit der Zusammenlegung der Entscheidung über das ISAF-Mandat und der Entscheidung über den Einsatz von Tornados kein Problem. Wir richten unseren ausdrücklichen Dank an die Angehörigen des Aufklärungsgeschwaders. Unsere vor einem halben Jahr in dieser Sache getroffene Entscheidung war schwierig, aber richtig.
Wenn wir - höchstwahrscheinlich - zustimmen werden, heißt das nicht, dass wir nicht Kritik zu üben hätten und nicht auf Verbesserung drängten. Ich unterstütze zunächst einmal ausdrücklich einen Punkt, den der Minister angesprochen hat: das Umsteuern hin zur Bewältigung der Herausforderungen des Wiederaufbaus. Ich möchte darüber hinaus vier kurze Anmerkungen machen:
Erstens. Die Rolle der NATO in diesem Zusammenhang muss politischer werden. Es kann nicht sein, dass der Generalsekretär der NATO mit dem Verweis, die NATO dürfe keine Entwicklungsagentur werden, darauf besteht, dass wir uns auf das Militärische beschränken. Wenn die Gefahr besteht, dass aufgrund unseres Versagens im nichtmilitärischen Teil, nämlich dem Aufbau Afghanistans, auch die militärische Mission scheitert, dann ist es im Interesse des Bündnisses und seiner Mitglieder, dass wir unsere Aktivitäten im nichtmilitärischen Teil zumindest einmal koordinieren und gemeinsam festlegen, welche Ziele - sie sollten übrigens manchmal etwas bescheidener sein - wir verfolgen und welche effektiven Zielerreichungsstrategien wir anwenden wollen.
Übrigens möchte ich darauf hinweisen, dass die NATO ein Konsensgremium ist. Es kann keine Forderung der NATO an Deutschland geben, die nicht auch von den deutschen Vertretern abgesegnet worden ist. Deswegen frage ich mich manchmal, welche Weisungen die Leute, die für uns in den Gremien der NATO sitzen, eigentlich haben.
Zweitens. Es ist Erhebliches geleistet worden; Minister Steinmeier hat darauf hingewiesen. Das sollten wir nicht kleinreden. Was wir allerdings einfordern müssen, ist mehr Nachhaltigkeit. Unsere Kolleginnen und Kollegen aus Afghanistan, von denen einige heute auf der Besuchertribüne sitzen, haben uns gestern gesagt: Es gibt einen ?lack of continuity“, also einen Mangel an Kontinuität und auch an Nachhaltigkeit. Es ist unbefriedigend, wenn wir mit großem Aufwand Schulen bauen, nach ein paar Jahren aber nicht mehr genug Geld zur Verfügung steht, um die Stellen der Lehrer finanzieren und diese Schulen tatsächlich betreiben zu können.
Drittens. Auch und erst recht im Bereich von Verwaltung, Polizei und Justiz gibt es einen Mangel an Rechtsstaatlichkeit; das haben uns unsere Kollegen gestern berichtet. Daher müssen wir feststellen, dass der Vorsitzende des Bundeswehr-Verbandes schlicht und ergreifend recht hat, wenn er unseren Beitrag im Rahmen der Polizeiausbildung zwar als gut gemeint, aber zugleich als beschämend bescheiden darstellt. Hier müssen wir dringend zulegen und in qualitativer und quantitativer Hinsicht in neue Dimensionen vorstoßen.
Viertens. Der große Schwachpunkt all unserer Bemühungen in Afghanistan ist und bleibt das Thema Drogen. Als es damals um die Ausweitung des Einsatzes auf Kunduz ging, habe ich darauf hingewiesen, dass wir unsere Soldaten in eine ?Mission Impossible“ schicken, wenn wir auf Dauer dabei zusehen, wie unsere Soldaten vor blühenden Mohnfeldern patrouillieren und damit das dreckige Geschäft der Drogenbarone - ich meine nicht die Bauern, sondern die Zwischenhändler, die Laborbetreiber usw. - sogar noch militärisch absichern. Wenn wir uns nicht möglichst schnell gemeinsam mit unseren Partnern auf einen Weg verständigen, um dieses Problem zu lösen - dafür werden wir ein Bündel von Maßnahmen brauchen, nicht nur eine einzelne Maßnahme -, dann wird auch unsere militärische Aktion scheitern.
Präsident Dr. Norbert Lammert:
Herr Kollege, Sie müssen zum Schluss kommen.
Dr. Werner Hoyer (FDP):
Dann können wir eines Tages unseren Soldaten, unseren zivilen Aufbauhelfern und unseren Polizisten nicht mehr zumuten, dort länger tätig zu sein.
Vielen Dank.
Präsident Dr. Norbert Lammert:
Das Wort hat der Bundesminister der Verteidigung, Dr. Franz Josef Jung.
Dr. Franz Josef Jung, Bundesminister der Verteidigung:
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Ich kann nahtlos an das anschließen, was der Bundesaußenminister gerade gesagt hat. Ich denke, ganz entscheidend ist die Tatsache, dass es uns gelungen ist, innerhalb der NATO unser Konzept der vernetzten Sicherheit, das wir im Rahmen des Weißbuchs verabschiedet haben, als Gesamtkonzept für Afghanistan durchzusetzen. Wir haben es in unserem Afghanistan-Konzept wie folgt beschrieben: ohne Sicherheit keine Entwicklung und kein Wiederaufbau, aber ohne Entwicklung und Wiederaufbau auch keine Sicherheit. Ich bin der felsenfesten Überzeugung, dass das Konzept der vernetzten Sicherheit erfolgreich sein wird, um das Vertrauen der Bevölkerung, also die Herzen und die Köpfe der Menschen, zu gewinnen und in Afghanistan für Stabilität und für eine friedliche Entwicklung zu sorgen. Vor diesem Hintergrund bittet die Bundesregierung das Parlament, das Mandat ISAF und das Mandat bezüglich des Einsatzes der Recce-Tornados jetzt um ein Jahr zu verlängern.
In der jetzigen Debatte müssen wir auch unterstreichen, was wir in den Jahren, in denen wir in Afghanistan Aufbauarbeit leisten, bereits erreicht haben. Im Norden des Landes haben wir über 700 konkrete Projekte durchgeführt. Diese Projekte reichten von der Herstellung von Strom- und Wasserversorgung über die Errichtung von Straßenverbindungen, Schulen und Kindergärten bis hin zur Verbesserung der medizinischen Versorgung. Man muss den Blick allerdings auch auf Gesamtafghanistan richten. Wir haben dieses Land von der Terrorherrschaft der Taliban befreit. Nun hat das Land eine Verfassung und ein gewähltes Parlament.
Dass heute Parlamentarier aus Afghanistan, auch weibliche Parlamentarier, diese Debatte verfolgen können, ist auch ein Erfolg unserer Politik. Ich begrüße Sie, liebe Kolleginnen und Kollegen aus Afghanistan, herzlich in unserem Parlament!
Meine Damen und Herren, ich kann weitere Beispiele bringen: Als ich in Kabul war, kamen Mädchen lächelnd, freundlich und fröhlich aus den Schulen gelaufen.
Unter der Herrschaft der Taliban durften Mädchen nicht zur Schule gehen. Mit Ihrer Politik - Sie lehnen einen solchen Einsatz ja ab - wäre das nicht möglich gewesen.
Früher gingen in Afghanistans Schulen 1 Million Schüler, jetzt sind es über 6,5 Millionen. Wir haben erreicht, dass fast 80 Prozent der Bevölkerung im Land Zugang zu medizinischer Grundversorgung haben. 4,7 Millionen Flüchtlinge sind in dieses Land zurückgekehrt. Die Höhe der Einkommen hat sich verdoppelt. Wir haben eine wesentlich verbesserte Infrastruktur; wir haben gerade erst im Norden eine Brücke für eine Straßenverbindung nach Tadschikistan eingeweiht. Wir stellen Krankenhäuser wieder her. Wir sind hier auf einem Weg des Erfolges. Diesen Weg des Erfolges müssen wir weitergehen.
Der Weg, den Sie von der Linken uns empfehlen, nämlich Rückzug, wäre dagegen der falsche Weg, auch im Hinblick auf die Sicherheit unserer Bürgerinnen und Bürger. Das würde nämlich einen Rückfall zur Folge haben, sodass Afghanistan wieder zum Ausbildungszentrum für Terroristen würde.
Wir haben konkret vor, auch mit diesem Mandat, unsere Aktivitäten im Norden weiter zu verstärken. Wir sind damals mit den Provincial Reconstruction Teams, wie es in der Fachsprache heißt, also mit den Wiederaufbauteams in den einzelnen Regionen, vorangegangen. Wir wollen jetzt mit Provincial Advisory Teams den Menschen in den einzelnen Regionen mit Beratung und Unterstützung helfen. Damit dehnen wir diesen Prozess innerhalb Nordafghanistans aus.
Wir werden weiterhin, da wir im Norden die Verantwortung für den strategischen Lufttransport haben, für die medizinische Versorgung, gegebenenfalls auch für Evakuierung aus medizinischen Gründen sorgen. Wir wollen auf diesem Weg weiter erfolgreich vorangehen. Wir wollen unsere Anstrengungen zur Ausbildung der afghanischen Armee verdreifachen. Denn unser Konzept muss ja letztlich zum Ziel haben, dass die afghanische Regierung in die Lage versetzt wird, selbst für ihre Sicherheit zu sorgen: deshalb die Ausbildung der Polizei, deshalb die Verdreifachung der afghanischen Streitkräfte. Das ist unser Konzept, und ich glaube, das ist der richtige Weg für Afghanistan.
Meine Damen und Herren, im Hinblick auf die Diskussion über den Süden will ich sagen: Wir lassen in Notsituationen Freunde nicht im Stich. Wir sind zurzeit mit insgesamt 3 200 Soldaten im Norden, einer Region, die halb so groß ist wie die Bundesrepublik Deutschland. Wir haben hier eine Verantwortung für 17 Nationen. Im Süden stehen 14 500 Soldaten, im Osten 16 500, also insgesamt über 30 000 Soldaten. Aber wenn Freunde in Not kommen, helfen wir: Wir haben mit 120 Lufttransportflügen geholfen, wir haben mit Fernmeldern ausgeholfen. Um letztlich zur Stabilisierung und zur friedlichen Entwicklung des gesamten Landes zu kommen, ist es, wie ich denke, richtig, dass wir unsere Verantwortung im Norden wahrnehmen und dort unseren Weg weitergehen.
Das Thema der zivilen Opfer hat am Anfang dieses Jahres in der öffentlichen Diskussion eine bedeutende Rolle gespielt. Wir haben über eine Weisung des COM ISAF mit dafür gesorgt, dass alle Anstrengungen unternommen werden, um zivile Opfer zu vermeiden. Es ist natürlich die hinterhältige Strategie der Taliban, bewusst zivile Opfer zu verursachen, um die politische Diskussion zu instrumentalisieren. Deshalb ist es richtig, dass die entsprechende Weisung an die Soldaten ergangen ist. Dass in Zukunft zivile Opfer vermieden werden, ist wichtig, um das Vertrauen der Bevölkerung in unseren Einsatz zu gewinnen.
Deshalb denke ich, wir sind in Afghanistan auf einem erfolgreichen Weg. Diesen Weg wollen wir gemeinsam fortsetzen: im Interesse von friedlicher und stabiler Entwicklung in diesem Land, im Interesse der Menschen in diesem so geschundenen Land Afghanistan, aber auch im Interesse der Sicherheit unserer Bürgerinnen und Bürger. Deshalb bitte ich Sie um Zustimmung zu diesem Mandat.
Besten Dank.
Präsident Dr. Norbert Lammert:
Nächster Redner ist der Kollege Dr. Gregor Gysi für die Fraktion Die Linke.
Dr. Gregor Gysi (DIE LINKE):
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Da Sie, Herr Bundesverteidigungsminister Jung, vor mir gesprochen und Sie gesagt haben, dass Sie sich auf bestimmte Wege nicht einlassen, muss ich Ihnen sagen: Die Wege, die Sie planen zu gehen, sind fernab von anderen Vorstellungen, fernab vom Grundgesetz und fernab vom Bundesverfassungsgericht. Das ist nicht hinnehmbar.
Lassen Sie mich einige Sätze dazu sagen. Ich kenne die Theorie, wonach man, wenn man ein entführtes Passagierflugzeug abschießt, zwar Tote verursacht, die es sowieso geben würde, aber das Leben anderer rettet. Das ist doch Ihr Ausgangspunkt.
- Ich sage gleich etwas zu Afghanistan. - Herr Minister Jung, Sie haben in einer solchen Situation aber nur wenige Minuten, um zu entscheiden, und Sie können nur vermuten, was der Pilot macht.
Es ist doch abenteuerlich, prophylaktisch zu töten. Das ist das, was Sie erklärt haben. Ich sage Ihnen: Das wäre eine Anstiftung zum vielfachen Totschlag und ist in unserer Gesellschaft nicht hinnehmbar.
Da wir jetzt über Afghanistan sprechen: Es gibt in unserer Gesellschaft sehr unterschiedliche Positionen, die Sie nicht zur Kenntnis nehmen. Der Parteitag der Grünen hat sich jetzt wieder früheren antimilitaristischen Positionen angenähert, was wir im Unterschied zu anderen begrüßen. Die anderen kritisieren die Grünen dafür, dass sie außenpolitisch unzuverlässig werden. Sie merken gar nicht mehr, dass Militär und Außenpolitik für sie zu einer Einheit geworden sind, was wir überwinden wollen.
Natürlich haben die Grünen dem völkerrechtswidrigen Angriffskrieg gegen Jugoslawien und bisher allen Militäreinsätzen in Afghanistan zugestimmt. Es wird höchste Zeit, dass Sie wieder einmal auf Ihre Basis hören und Ihre Positionen schrittweise verändern.
Der Außenminister hat zu Recht gesagt, dass die Taliban in Afghanistan bekämpft und entmachtet werden sollten. Nun sollen auch die Menschenrechte wiederhergestellt werden. Das Talibanregime wurde beseitigt; das ist wahr. Es wird aber nie dazugesagt, dass die Nordallianz deutlich an Macht gewonnen hat. Die Stellung der Nordallianz zu Frauen- und zu Menschenrechten ist ähnlich wie die der Taliban. Das wird verschwiegen.
Es gibt jetzt eine Macht von Drogenbaronen und von Warlords, die einfach nicht hinnehmbar ist. Das Bild, das hier gemalt wird, dass jetzt alle in traumhaften Zuständen dort leben würden, hat mit der Realität nichts zu tun.
Es gibt entsprechende Studien. Nach sechs Jahren geht jedes fünfte Mädchen in Afghanistan zur Schule.
- Jedes fünfte Mädchen. - Das ist für Sie ein Riesenerfolg. Ich finde das eine Schande. Jedes Mädchen muss zur Schule gehen.
Ich erkläre Ihnen, warum Sie so aufgeregt sind: Die Mehrheit der Bevölkerung ist auf unserer Seite und nicht auf Ihrer. Das macht Sie so nervös.
Jetzt sage ich Ihnen noch etwas: Wir hatten gerade Besuch von Malalai Joya, einer sehr tapferen und mutigen afghanischen Frau.
- Finden Sie nicht? - Sie ist mit vielen Stimmen in die verfassunggebende Versammlung gewählt worden. Natürlich kannte sie die Herren und sagte ganz konkret, wer Drogenbaron, wer Warlord etc. war. Daraufhin hat die Mehrheit beschlossen, sie wieder aus dem Parlament herauszuschmeißen. Das versteht man dort auch unter Demokratie.
Ich bin sehr froh, dass sie zu uns gekommen ist.
Sie vertritt nicht in allen Punkten unsere Auffassung; seien Sie doch ganz ruhig. Sie hat zum Beispiel gesagt, dass mit den deutschen Soldaten die Hoffnung auf Befreiung verbunden war. Das stimmt. Sie hat auch gesagt, dass diese Hoffnung weniger mit den US-Soldaten und eher mit den europäischen Soldaten verbunden war. Das Problem war nur, sagte sie, dass man die Nordallianz hätte entwaffnen müssen, sie aber aufgerüstet worden sei. Sie sagte weiter: Die Nordallianz achtet Frauenrechte genauso wenig wie die Taliban. - Das ist das Problem.
Dasselbe sagt sie von den Warlords und den Drogenbaronen.
Eines kommt noch hinzu: Sie sagte, sie habe auf die deutschen Soldaten gehofft. Das Problem sei nur, dass sich die deutschen Soldaten der US-Strategie unterwerfen. Deshalb sei es keine Befreiung, sondern eine Besatzung geworden. - Das sagen nicht wir, das sagt diese afghanische Frau. Reden Sie doch mit ihr!
Da ich weiß, dass sie auf der Besuchertribüne sitzt, möchte ich sie - mit Ihrer Erlaubnis, Herr Präsident - herzlich begrüßen.
Lassen Sie mich noch etwas zu Ihren Argumenten anmerken. Unter der sowjetischen Besatzung konnten Mädchen zur Schule gehen. Frauen durften sogar Fußball spielen. Das hat die Besatzung niemals gerechtfertigt. Damals haben Sie das auch nicht behauptet. Sie haben Ihre Vorstellungen im Laufe der Jahre sehr stark geändert. Darauf muss man hinweisen.
Derzeit wird - auch bei den Grünen - darüber diskutiert, ob die Strategie der deutschen Soldaten geändert und dann gegebenenfalls dem ISAF-Mandat zugestimmt werden könnte. Abgesehen davon, dass ISAF gerade eine große Offensive gestartet hat, ist eines zu bedenken: Weder die rot-grüne noch die heutige Regierung hatten die Kraft, sich gegen die USA zu stellen und eine andere Strategie zu verfolgen. Sie wollen es auch nicht. Deshalb müssten Sie nach Ihrem Parteitagbeschluss auch gegen ISAF stimmen, so wie wir das tun.
Sie haben über die Frauen- und Menschenrechte gesprochen. In wie vielen Ländern wollen Sie eigentlich aus diesem Grund intervenieren? Wie ist es um die Frauenrechte in Saudi-Arabien bestellt?
Dort dürfen die Frauen nicht einmal Auto fahren. Sie dürfen ohne Genehmigung ihres Ehemannes nicht das Land verlassen. Sie werden schlicht und einfach unterdrückt. Aber Herr Bush und seine Familie machen dickste Geschäfte mit der herrschenden Familie in Saudi-Arabien.
Deshalb interessieren ihn dort die Menschenrechte nicht.
Es gibt sehr viele Länder in Afrika, Asien und Lateinamerika, in denen Sie einmarschieren müssten. Selbst die USA müssten Sie wegen Guantánamo angreifen. Werden Sie doch nicht albern: Als ob Sie Ihr Militär überall dorthin schicken, wo Menschenrechte verletzt werden.
Es wird immer wieder gefragt, was passiert, wenn wir das Land verlassen. Als Antwort wird immer die schlimme Herrschaft der Taliban genannt. Das ist völlig falsch.
Wir müssen die Nordallianz entwaffnen.
Sie bewaffnen hingegen die Nordallianz. Das ist die Wahrheit. Sie sehen zu, wie die Nachbarländer eine völlig unterschiedliche Politik betreiben. Ob Russland, Usbekistan, Pakistan oder der Iran: Sie alle bewaffnen entweder die Taliban oder die Nordallianz. Sie aber schauen nur zu. Das ist die Realität; darin liegt das Problem.
Sie haben angekündigt, Sie wollten die Polizei und Armee ausbilden. Was machen Sie denn seit sechs Jahren?
Warum gibt es noch keine eigenständige Polizei in Afghanistan? Warum gibt es keine Armee? Nichts ist diesbezüglich ernsthaft geleistet worden.
Sie tun immer, als ginge es um die Menschenrechte. Ich zitiere in diesem Zusammenhang Herrn Greenspan - er ist kein Linker -, der erste Notenbankpräsident der USA, der einen ausgeglichenen Haushalt zustande gebracht hat und gerade seine Memoiren veröffentlich hat: Der wesentliche Grund für den Krieg im Irak war das Öl.
- Ja, das stammt nicht von mir, sondern von ihm.
Im Übrigen haben die USA hervorragend mit den menschenverachtenden Taliban verhandelt, und zwar über eine Gaspipeline durch Afghanistan.
Erst als die Verhandlungen über die Gaspipeline gescheitert waren, entdeckten sie die Menschenrechte in Afghanistan. Das ist die Wahrheit.
Sie verweisen immer darauf, dass im Falle eines Abzugs der Soldaten auch die Aufbauhelfer abgezogen werden müssten. In diesem Zusammenhang beziehe ich mich wieder auf einen Nichtlinken, einen ehemaligen Arzt der Bundeswehr, mit dem ich bei einer Sendung im Bayerischen Fernsehen zusammengetroffen bin und der im Süden Afghanistans Schulen baut. Er sagt, dass das nur dann funktioniert, wenn der nächste Soldat 10 Kilometer entfernt ist. Er wurde gebeten, seine Schulen für die Wahl des Präsidenten zur Verfügung zu stellen. Er hat sich unter einer Bedingung dazu bereit erklärt, nämlich dass der nächste Soldat 10 Kilometer entfernt ist. Das hat er auch durchgesetzt mit der Folge, dass 60 Prozent der Wahlberechtigten zur Wahl gekommen sind, davon 40 Prozent Frauen. Wo die US-Soldaten standen, betrug die Wahlbeteiligung 10 Prozent, darunter nur 1 Prozent Frauen. Das ist die Wahrheit: Er braucht nicht den Schutz der Soldaten; er braucht die Soldaten nicht, um seine Aufbauarbeit in Afghanistan zu leisten.
Das sagt ein ehemaliger Arzt der Bundeswehr.
Lassen Sie mich abschließend sagen: Herr Außenminister, Sie haben hier erklärt, dass derjenige, der für den Abzug der Soldaten ist, die Macht der Taliban wiederherstellen will.
Das ist eine Unverschämtheit,
die Sie zwar äußern können, Herr Außenminister, aber Sie müssen eines wissen: Zwei Drittel der deutschen Bevölkerung ist für den Abzug der deutschen Soldaten aus Afghanistan.
Damit unterstellen Sie zwei Drittel der Bevölkerung, dass sie für die Taliban ist. Was Sie hier geboten haben, ist indiskutabel.
Präsident Dr. Norbert Lammert:
Nächster Redner ist der Kollege Fritz Kuhn für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.
Fritz Kuhn (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Lieber Herr Gysi, das war eine skurrile Mischung aus dummem Zeug, das Sie hier vorgetragen haben. Das habe ich selten gehört.
Ich sage Ihnen, warum. Herr Gysi, Sie haben sich hier aufgeblasen wie ein Ochsenfrosch und gesagt, nur ein Fünftel der Mädchen in Afghanistan könnten zur Schule gehen, nicht fünf Fünftel. Sie haben aber niemals gesagt, wie Sie es seit 2001 durchgesetzt hätten, dass zumindest dieses Fünftel zur Schule gehen kann. Das ist absolut billig.
Herr Gysi, Sie haben argumentiert, wir, die Grünen, die CDU/CSU, die SPD und die FDP, seien inkonsequent, weil wir in vielen Regionen der Welt, in denen es ebenfalls Menschenrechtsverletzungen gebe, nicht eingriffen. Das ist noch nicht einmal winkeladvokatisch, sondern einfach nur unter der Gürtellinie. Ich stelle fest, dass Ihr Vorsitzender, wenn er nach Kuba fährt, keinen Piep zu dem sagt, was dort passiert.
Herr Dehm, ich will Ihnen auch den Grund sagen. Sie sagen nichts zur dortigen Situation der Menschenrechte, weil es Sie so sehr an die DDR erinnert. Was dort geschehen ist, haben viele von Ihnen als ganz normal empfunden.
Ich muss Sie enttäuschen, was unsere Position angeht. Die Mehrheit hat auf dem Parteitag der Grünen entschieden, dass wir für ISAF und gegen den Tornado-Einsatz sind. Deswegen wird die Mehrheit meiner Fraktion bei der verbundenen Abstimmung nicht zustimmen, also sich enthalten oder mit Nein stimmen. Aber wir haben klar gesagt, dass wir gegen OEF und für ISAF sind. Ein Antrag auf unserem Parteitag, der den sofortigen Abzug der ISAF-Truppen vorsah, hat nur 10 Prozent der Stimmen erhalten und wurde nicht verabschiedet. Das ist die Sachlage.
Herr Westerwelle, Sie haben sich über unseren Parteitag so sehr gefreut und gesagt - das haben alle gehört -, wir, die Grünen, seien nicht regierungsfähig, während die FDP eine andere Einschätzung der Verantwortung in der Welt habe. Ich will in diesem Zusammenhang daran erinnern, wie die FDP bei den Abstimmungen in den letzten Jahren die Verantwortung in der Welt wahrgenommen hat. Die FDP hat 2003 und 2004 - Herr Hoyer, Sie waren in Ihrer Rede sehr unvorsichtig - den Bundeswehreinsatz im Rahmen des ISAF-Mandats abgelehnt. Danach hat sie wieder zugestimmt. Die FDP hat 2003 das OEF-Mandat mit deutlicher Mehrheit abgelehnt. Des Weiteren hat die FDP zweimal gegen die UNIFIL-Mission gestimmt, genauso wie gegen die EUFOR-Mission anlässlich der Wahlen im Kongo 2006 und das KFOR-Mandat im Juni 2001. Wenn Sie meinen, dass derjenige, der irgendwann einmal gegen einen Einsatz gestimmt hat, nicht regierungsfähig ist, Herr Westerwelle, dann kann ich Ihnen nur sagen, dass Sie angesichts des Abstimmungsverhaltens Ihrer Fraktion auf 20 Jahre nicht regierungsfähig sind.
Ich will nun zur Sache, zu den Mandaten, kommen. Wir sind für einen Strategiewechsel. Auch die Bundesregierung, insbesondere Herr Steinmeier, tritt für einen Strategiewechsel ein. Aber die entscheidende Frage ist, ob ein Strategiewechsel in Afghanistan tatsächlich stattfindet, wenn OEF in der heutigen Form bestehen bleibt. Ein Strategiewechsel ist kein theoretisches Konstrukt, das wir uns im Parlament oder in den Ausschüssen ausdenken. Vielmehr geht es um die Frage, was vor Ort tatsächlich stattfindet und von der Bevölkerung wahrgenommen wird.
Es war nicht Anfang des Jahres, wie Sie, Herr Jung, gesagt haben, dass es Klagen über die Strategie von OEF gab. Britische Führungsoffiziere haben sich noch im August dieses Jahres beklagt und gesagt - lesen Sie die New York Times vom 9. August -, dass sie bei sich im Süden kein OEF haben wollten, weil es kontraproduktiv sei und der Glaubwürdigkeit des ISAF-Einsatzes des britischen Kontingents zuwiderlaufe. An der Stelle schweigen die Kanzlerin und auch der Außenminister nachhaltig.
Die Frage, die Kollegen meiner Fraktion und ich mehrfach gestellt haben, lautet: Haben Sie auf dem politischen Wege im Dialog mit der amerikanischen Regierung angemahnt, dass OEF eine andere Strategie verfolgt, als es in der Vergangenheit der Fall war? Welches Ergebnis wurde erreicht, und welche Verabredung gab es dazu? Dazu sagen Sie nichts. Sie sagen auch dem Parlament nicht, was genau bei OEF geschieht. Dazu gibt es keinerlei präzise Aufklärung. Wir haben den Eindruck, dass Sie es nicht wissen und nicht wissen können.
Allen muss klar sein, Herr Hoyer, warum wir immer auf dem Unterschied bestehen: ISAF ist ein Mandat, das auf dem Multilateralismus gründet. Die NATO entscheidet. Ich stimme Ihnen ausdrücklich zu, dass - das haben Sie vorhin gesagt - die NATO politischer als in der Vergangenheit entscheiden muss. OEF hingegen ist ein unilaterales Mandat, bei dem die Amerikaner entscheiden, was geschieht, und niemanden, weder diejenigen, die dabei sind, noch diejenigen, die nicht dabei sind, darüber aufklären, welche Strategie verfolgt wird. Dies muss aufhören. Das ist der Grund, warum wir sagen, dass OEF keine sinnvolle strategische Legitimation hat.
Frau Bundeskanzlerin, Sie müssten einmal sagen, wie Sie das sehen; denn seit Sie Kanzlerin sind, verstecken Sie sich systematisch, wenn es um die Beantwortung dieser Frage geht. Wir können Ihnen das nicht durchgehen lassen.
Übrigens, Herr Außenminister, auch die Legitimation der Operation ?Enduring Freedom“ wird immer öfter mit Fragezeigen versehen. Erinnern wir uns an das Jahr 2001. Der Grund, warum der Sicherheitsrat dem zugestimmt und OEF legitimiert hat, war, dass der Angriff auf New York von Terrorlagern aus, die in Afghanistan lagen, ausgeführt wurde und somit der Verteidigungsfall eingetreten war. Diese Begründung kann man zum heutigen Zeitpunkt nicht mehr anführen. Heute geht es um die Frage, ob die Taliban wieder zurückkommen, wenn ISAF zurückgezogen würde. Wir sagen klar, dass dem so wäre und wir das deswegen nicht tun können.
Aber die Frage hinsichtlich der Legitimation müssen Sie beantworten. Die Terroristencamps sind heute in Pakistan oder sonst wo auf der Welt, aber mit Sicherheit nicht mehr wie vor 2001 in Afghanistan. Deswegen meine ich, dass Sie sich vor einer Antwort drücken. Auch die Verschiebung der Entscheidung über OEF - ich weiß nicht genau, ob sie verschoben wurde, aber man kann das manchmal hören - auf einen Zeitpunkt nach dem SPD-Parteitag ist nicht dazu geeignet, die Diskussion in diesem Hause über ein Gesamtkonzept für Afghanistan zu erleichtern.
Frau Merkel und Herr Steinmeier, wir sind für einen Strategiewechsel. Wir finden, dass der zivile Aufbau zu schleppend erfolgt und die Mittel in Höhe von 25 Millionen Euro dafür zu gering sind. Ich glaube, dass Deutschland - die Amerikaner haben das übrigens anders gemacht - einen größeren Sprung in Richtung ziviler Aufbau machen müsste, als dies bisher geschehen ist.
Den Einsatz der Tornados lehnt meine Partei ab - übrigens im Unterschied zu vielen in der Fraktion -, weil er in einem Kontext zu OEF stehe und von dieser Operation nicht unterschieden werden könne. Andere von uns - ich gehöre dazu - sagen, dass die Tornados auch dem Schutz der ISAF-Truppen dienen. Es gibt also eine Differenz. Aber eines, was ich der Bundesregierung sagen möchte, ist wichtig: Eine klare Evaluation dessen, was die Tornados in diesem halben Jahr tatsächlich gemacht haben, hat bisher weder in den Ausschüssen oder im Parlament noch in der Öffentlichkeit stattgefunden, Frau Merkel. Sie sagen das eine oder andere in Unterrichtungen, aber Sie legen keine klare Evaluation der einzelnen Aufklärungsflüge und dessen, was daraus praktisch gefolgt ist, vor.
Von diesem Vorwurf kann ich Sie nicht entlasten. Eine Evaluation wäre die Pflicht der Bundesregierung, aber Herr Jung, der dafür zuständig ist, hat dies bisher nicht getan.
Ich komme zum Schluss. Wir als Grüne stehen zur Verantwortung Deutschlands in Afghanistan. Wir tun dies am Beispiel des ISAF-Mandats. Wir lehnen OEF ab, wenn im Oktober oder November in diesem Hohen Haus über die Verlängerung des Mandats diskutiert und entschieden wird. Ich will für meine Fraktion ganz deutlich machen, dass sich an der Grundüberzeugung, dass es in der Situation die Aufgabe deutscher Politik ist, zu helfen und für den zivilen Aufbau und den Strategiewechsel in Afghanistan einzutreten, nichts, aber auch gar nichts geändert hat.
Ich danke Ihnen.
Präsident Dr. Norbert Lammert:
Zu einer Kurzintervention erhält der Kollege Gysi noch einmal das Wort.
Dr. Gregor Gysi (DIE LINKE):
Herr Präsident! Herr Kuhn, ich will auf Ihre Beleidigungen gar nicht weiter eingehen, sondern nur auf einen Vorhalt: Sie sagen, es sei eine beachtliche Leistung, dass nach sechs Jahren jedes fünfte Mädchen zur Schule gehe, und wir hätten nicht erklärt, wie wir das hätten durchsetzen können. Wenn nach sechs Jahren jedes fünfte Mädchen zur Schule geht und die Zeitabschnitte so bleiben, brauchen wir noch ungefähr 30 Jahre, bis alle Mädchen zur Schule gehen. Ich halte das nicht für eine Leistung. Ich halte das für viel zu wenig. Dort üben die Besatzungsmächte die Macht aus, die für entsprechende Veränderungen sorgen können.
- Ich sage Ihnen gleich etwas dazu. Warten Sie doch ab! Sie halten keine Bemerkung aus, nur weil Sie in der Bevölkerung in der Minderheit sind. - Lassen Sie mich das noch einmal sagen: Das ist überhaupt keine Leistung. Ich bleibe dabei.
Entscheidend ist das unterschiedliche Konzept. Ich bin für die Selbstbefreiung der Völker.
Ich bin dafür, dass man die reichhaltig vorhandenen demokratischen Kräfte in Afghanistan unterstützt. Jetzt haben wir eine Macht der Nordallianz, der Warlords und der Drogenbarone. Das ist doch kein menschenrechtlicher Fortschritt. Ich bitte Sie! Deshalb müssen wir andere Kräfte unterstützen. Das funktioniert militärisch nicht. Das haben die letzten sechs Jahre bewiesen.
Präsident Dr. Norbert Lammert:
Zur Erwiderung Herr Kollege Kuhn.
Fritz Kuhn (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Herr Gysi, niemand von meiner Fraktion - ich nehme auch an, niemand von den anderen Fraktionen - würde sagen, es sei ausreichend, dass ein Fünftel der Mädchen in die Schulen gehen können. Selbstverständlich wollen wir mehr. Das steht doch gar nicht zur Diskussion. Zur Diskussion steht aber, dass Sie keinerlei Beitrag zu der von Ihnen proklamierten Selbstbefreiung der Völker geleistet haben, weil Sie immer Nein sagen. Haben Sie eigentlich noch in Erinnerung, was das Taliban-Regime vor 2001 in Afghanistan gemacht hat?
Daher ist Ihre Forderung nach Selbstbefreiung der Völker nichts anderes als eine leere Phrase, mithin sogar eine Ausrede.
Präsident Dr. Norbert Lammert:
Nächster Redner für die SPD-Fraktion ist Kollege Christoph Strässer.
Christoph Strässer (SPD):
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Herr Kollege Dr. Gysi, ich sage es ganz deutlich: Ich bin Ihnen sehr dankbar für Ihre Rede. Ich bin Ihnen deswegen sehr dankbar - ich bin mir ziemlich sicher, dass es nicht nur mir, sondern vielen Kolleginnen und Kollegen aus meiner Fraktion auch so geht -, weil die Zustimmung zu diesem Mandat nach Ihrem Redebeitrag bei uns deutlich höher geworden ist. Die letzten Zweifel, die ich hatte, sind durch Ihren zynischen Beitrag über die Menschenrechte in Afghanistan zu einem großen Teil beseitigt worden. Herzlichen Dank für diesen Beitrag.
Ich will es anhand der Frage, die Sie aus meiner Sicht in wirklich unerträglicher Weise gestellt haben, verdeutlichen. Mir ist es nicht ganz so wichtig, welche Leistung wie von Ihnen bewertet wird. Wenn aber von Ihrem Parteivorsitzenden in Kuba dem Rest dieses Hauses eine großspurige Auseinandersetzung mit Menschenrechten vorgeworfen wird, dann wird ein Schuh daraus. Denn es ist Ihnen offenbar völlig egal ist, ob 5 oder 6 Millionen Menschen in Afghanistan wieder zur Schule gehen können. Fahren Sie einmal nach Afghanistan und reden Sie mit den Mädchen. Fragen Sie sie, was sie davon halten, wie Sie über diese Situation reden. Das ist zynisch und menschenverachtend. Damit haben Sie sich endgültig aus der Debatte über Menschenrechte verabschiedet. Das ist die Wahrheit, die hier heute zutage gekommen ist.
In diesem Punkt haben Sie zum Teil recht: Uns allen verläuft die Entwicklung in Afghanistan viel zu langsam. In vielen Bereichen müsste viel mehr viel schneller geschehen. Wir tragen Verantwortung für den Aufbau der zivilen Strukturen und der Gerichtsbarkeit. Dort ist es schlicht und ergreifend nicht vorangegangen.
Die Arbeitsgruppe ?Rechtspolitik“ meiner Fraktion hat dem Rechtsausschuss und anderen Institutionen des Deutschen Bundestages zum Beispiel empfohlen, doch einmal nach Afghanistan zu fahren und dort am Aufbau mitzuwirken, wenn schon Delegationsreisen durchgeführt werden. In Afghanistan braucht man Rat und Unterstützung, auch materieller und ideeller Art, dringlicher als zum Beispiel die Juristen in Neuseeland oder in Australien. Vielleicht sollten wir uns einmal an die eigene Nase fassen und überlegen, was wir selber besser machen können.
Ich möchte noch auf den Zeitfaktor eingehen. Darüber sollten wir hier in Deutschland einmal intensiver diskutieren. Wie wir gehört haben, gibt es in Afghanistan seit mehr als 30 Jahren Krieg, Zerstörung, Missachtung der Menschenwürde, Missachtung der elementaren Grundregeln des menschlichen Zusammenlebens, auch durch Drogenbarone - das bestreitet in diesem Saal doch kein Mensch -, auch durch Warlords und die Taliban. Man hat sich die ehrgeizige Aufgabe gestellt, im Rahmen der internationalen Staatengemeinschaft dafür zu sorgen, dass die Missstände abgeschafft und dass der Wiederaufbau vorangebracht wird. Wer kann schon, bitte schön, dafür Gewähr bieten, dass diese Aufgabe in sechs, sieben oder acht Jahren erfolgreich abgeschlossen ist?
Ich empfehle, bei der Diskussion über Demokratieentwicklung und über Menschenrechtsentwicklung in anderen Ländern und in anderen Gesellschaftsformen ein bisschen mehr Bescheidenheit und auch ein bisschen mehr Demut an den Tag zu legen. Schauen wir doch einmal in unsere eigene Geschichte: Vom Zeitpunkt der Aufklärung bis zur Durchsetzung der Menschenrechte in Europa sind 300 Jahre vergangen. Ich hoffe nicht, dass wir den Aufbau in Afghanistan ebenfalls 300 Jahre lang unterstützen müssen. Aber zu fordern, dass das alles in sechs oder sieben Jahren geschieht, ist absurd. Niemand konnte glauben, dass das gelingt. Wir sollten beharrlich daran arbeiten, dass die Situation dort auf Sicht besser wird. Mit dieser Aufgabe haben wir es nämlich zu tun.
Ich stelle einmal etwas polemisch fest: Vom Ende des Zweiten Weltkrieges bis zur Umsetzung demokratischer Grundregeln auf dem gesamten deutschen Boden sind über 40 Jahre vergangen. Das sollten wir im Hinterkopf behalten. Was Deutschland angeht, waren die Voraussetzungen anders. Schon allein deshalb sollte man Demut zeigen.
Ich komme zum Schluss. Hier wurde darauf hingewiesen, dass sich nach dem ?ZDF-Politbarometer“ 49 Prozent der Befragten für einen Verbleib in Afghanistan ausgesprochen hätten. Das ist für mich nicht das zentrale Problem.
Stichwort Tornado-Jets: Ich bekenne ganz klar, dass ich in diesem Hohen Hause vor einem halben Jahr gegen den Tornado-Einsatz gestimmt habe. Ich habe das damals aus Überzeugung getan. Wenn ich heute wieder nur die damals vorliegenden Informationen hätte, dann würde ich heute wieder dagegenstimmen.
Was ich allen empfehle, ist, sich Klarheit darüber zu verschaffen, was Tornados machen. Ich habe gelernt: Meine Befürchtungen, dass es durch den Einsatz von Tornados im Rahmen dieses Mandats zu einer Unterstützung von Bodentruppen kommt, waren unberechtigt. Deshalb werde ich zwar mit großen Bauchschmerzen, aber mit voller Überzeugung mit meiner vorherigen Position brechen. Ich spreche mich dafür aus, dass dieser Antrag der Bundesregierung durch den Deutschen Bundestag mit großer Mehrheit angenommen wird. Ich werde dafür werben, dass es dafür auch eine gesellschaftliche Akzeptanz in unserem Land gibt.
Herzlichen Dank.
Präsident Dr. Norbert Lammert:
Nächste Rednerin ist die Kollegin Birgit Homburger für die FDP-Fraktion.
Birgit Homburger (FDP):
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Zu Beginn unserer heutigen Diskussion über den Antrag der Bundesregierung möchte ich sehr deutlich sagen, dass die FDP-Bundestagsfraktion die Zusammenlegung der Mandate von ISAF und OEF begrüßt. Ich denke, das sorgt für mehr Flexibilität bei der Umsetzung der Mandate und für Synergieeffekte, und das begrüßen wir.
Wenn man heute Bilanz zieht, stellt man fest: Durch die Aufklärungsaktivitäten der Tornados kann ein Beitrag zur Verbesserung der Sicherheitslage geleistet werden. Das dient letztlich auch dem Schutz der dort stationierten Soldatinnen und Soldaten, aber auch der Zivilbevölkerung. Herr Kuhn, Sie haben hier mit Blick auf das Abstimmungsverhalten darauf hingewiesen, dass die FDP-Bundestagsfraktion im Jahre 2003 und im Jahre 2004 den Antrag zur Fortsetzung der Beteiligung bewaffneter deutscher Streitkräfte an dem ISAF-Einsatz abgelehnt hat. Ja, Herr Kuhn, wir haben es damals abgelehnt, weil es kein durchgängiges PRT-Konzept gab. Wir haben immer gesagt, dass wir in der Fläche Wiederaufbauteams brauchen. Das hat sich am Ende auch als richtig herausgestellt. Wir haben das OEF-Mandat im Jahr 2003 abgelehnt, weil die Obergrenze von der Bundesregierung damals auf 3 100 Soldaten angesetzt war, aber nur 700 im Einsatz waren. Die FDP lehnt Mondzahlen und solche Vorratsbeschlüsse schlicht ab. - Das waren die Begründungen.
Herr Kuhn, der entscheidende Unterschied zwischen unserer Position und Ihrer Position heute ist, dass wir uns immer bemüht haben, uns intensiv mit diesen Fragen auseinanderzusetzen, und dann für uns auch ein Ergebnis gefunden haben. Wir sind zu unseren Ablehnungen damals nicht in der Folge eines innerparteilichen Streits gekommen, sondern wir haben unsere Ablehnungen klar begründet.
Wir haben damit auch etwas erreicht. Es hat sich in der Folge in all den Punkten, die wir angemahnt hatten, eine Veränderung ergeben. Deswegen haben wir dann auch wieder zugestimmt.
Wenn wir das alles betrachten, ist es heute wichtig, zu fragen: Wo standen wir vor einem Jahr, und wo stehen wir heute? Das betrifft vor allen Dingen die Frage nach der Umsetzung des Strategiewechsels, nämlich hin zu einem stärkeren Gewicht für mehr Wiederaufbau und zivil-militärische Zusammenarbeit. Im Sommer wurden Diskussionen über ein immer größeres militärisches Engagement geführt. Das ist falsch. Wir werden die Lage allein durch immer größeres militärisches Engagement nicht in den Griff bekommen; vielmehr bedarf es eines Gesamtkonzepts und der Umsetzung des angekündigten Strategiewechsels.
Wir als FDP-Bundestagsfraktion erkennen hier Bewegung, beispielsweise bei den Bemühungen, im Rahmen der militärischen Operation zivile Opfer zu vermeiden - es gibt neue Einsatzregeln -, beispielsweise beim Ansatz der Bundesregierung, im Bereich der zivil-militärischen Zusammenarbeit die Präsenz in der Fläche weiter auszubauen. Es ist kein Geheimnis, dass die westlichen Aufbauanstrengungen anfangs zu sehr auf die Städte konzentriert waren und zu spät auf die Fläche ausgedehnt worden sind. Deshalb begrüßen wir es, dass es jetzt weitere regionale Beraterteams geben soll. Wir sollten weiter an dieser Optimierung des Wiederaufbaus und der zivil-militärischen Zusammenarbeit arbeiten.
Die Berichterstattung der letzten Wochen war immer wieder von schlechten Nachrichten dominiert. Sicherlich, die Sicherheitslage bleibt angespannt. Gerade hat der Kommandeur der internationalen Schutztruppe ISAF in der Nordregion, General Warnecke, gesagt, die Qualität der Anschläge habe sich deutlich verändert. Das möchte ich zum Anlass nehmen, nochmals deutlich zu machen: Wir als FDP-Fraktion erwarten, dass die Soldatinnen und Soldaten die bestmögliche Ausrüstung mit in den Einsatz bekommen.
Wir erkennen, dass es hierbei Fortschritte gibt, aber wir erwarten, dass bestimmte Anstrengungen weiter intensiviert werden und die Versorgung mit entsprechendem Material beschleunigt wird. Ich sage an dieser Stelle sehr deutlich: Es müsste manchmal schneller gehandelt werden. Das wird nur funktionieren, wenn die teilweise langwierigen bürokratischen Verfahren zur Prüfung von Materialanforderungen vor solch einem Einsatz deutlich verbessert werden. Andere Partner sind in dieser Frage schneller, Herr Minister, und an diesen Partnern sollten wir uns orientieren.
Der Aufbau von Militär und Polizei und eines funktionierenden Justiz- und Strafvollzugswesens bleibt das Herzstück der Bemühungen. Deshalb ist es richtig, die Ausbildung des Militärs zu forcieren. Deshalb ist es auch richtig, dass wir uns in der Polizeiausbildung engagieren.
An dieser Stelle muss man, wenn man resümiert, fragen, was hier geschehen ist. Was bei der Polizeiausbildung erreicht worden ist, ist ein einziges Fiasko, und es zeichnet sich ab, dass es weitere Probleme geben wird.
Deshalb müssen wir dafür sorgen, dass es zu der im Rahmen der ESVP-Mission geplanten Aufstockung der Anzahl der Ausbilder auf 195 wirklich kommt. Das sollte im Oktober erreicht sein. Wir haben jetzt 80 Ausbilder vor Ort. Das ist deutlich zu wenig.
Deswegen ist es von zentraler und entscheidender Bedeutung, dass wir es gemeinsam mit den europäischen Partnern schaffen, die Polizeiausbildung zu verstärken.
Abschließend möchte ich eines sagen: Die Probleme, vor denen wir stehen, sind vielfältig und komplex: Korruption, das Fehlen funktionierender staatlicher Strukturen, die Problematik des Drogenanbaus und die Probleme im pakistanisch-afghanischen Grenzgebiet.
Meine Damen und Herren, bei uns besteht der Eindruck, dass es nicht nur um eine bessere Abstimmung zwischen den Mandaten bei den Partnern geht, sondern auch um eine bessere politische Koordinierung. Daher erbitten wir vonseiten der FDP von der Bundesregierung, dass sie uns vor der abschließenden Entscheidung darlegt, wie der Strategiewechsel umgesetzt werden kann und wie es vor allen Dingen zu einer besseren politischen Koordinierung innerhalb der NATO kommen kann. Diese Punkte müssen wir nach unserer Überzeugung hier in den Mittelpunkt stellen.
Vielen Dank.
Präsident Dr. Norbert Lammert:
Das Wort hat nun der Kollege Dr. Andreas Schockenhoff für die CDU/CSU-Fraktion.
Dr. Andreas Schockenhoff (CDU/CSU):
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Völlig zu Recht haben mit einer Ausnahme alle Vorredner auf die erreichten Fortschritte beim Wiederaufbau in Afghanistan hingewiesen. Bis 2001 war Afghanistan auf einen Entwicklungsstand des Mittelalters zurückgefallen. Heute haben wir die Lebenssituation der Menschen durch die Versorgung mit Trinkwasser und Strom sowie den Bau von Straßen, Krankenhäusern und Schulen verbessert. Wo immer Infrastrukturverbesserungen geschaffen wurden, gibt es einen sichtbaren Wirtschaftsaufschwung.
All diese Fortschritte wären ohne militärische Absicherung nicht möglich gewesen.
Es ist doch bekannt, dass beispielsweise Lehrerinnen von Mädchenschulen von radikalen Taliban ermordet und Mädchenschulen niedergebrannt wurden, weil den Taliban Bildung und Gleichberechtigung von Frauen nicht ins ideologische Konzept passen. Wer ISAF als militärische Schutzkomponente des Wiederaufbaus ablehnt und damit den Abzug der internationalen Streitkräfte fordert, trüge die Verantwortung dafür, dass Afghanistan wieder zurück ins Mittelalter terrorisiert würde.
Die Folge wäre, Afghanistan den Terroristen und den Drogenbaronen zu überlassen. Die Menschen in Afghanistan jedenfalls - einige von ihnen sitzen heute bei uns auf der Zuschauertribüne - wollen das nicht. Auch liegt dies nicht in unserem Sicherheitsinteresse. Wiederaufbau geht nicht ohne militärische Absicherung.
Deshalb trägt jeder die gleiche Verantwortung, auch derjenige, der zwar zu den Wiederaufbaumaßnahmen Ja sagt, sich aber der Stimme enthalten will, weil er zur militärischen Schutzkomponente oder auch nur zu Teilen davon Nein sagt. Dies gilt erst recht für diejenigen, die wegen der Aufklärungstornados Nein sagen oder sich enthalten wollen. Wer Nein zu einer Aufklärungskomponente sagt, die auch dem Schutz der Bevölkerung dient, und deshalb dem Mandat nicht zustimmen will, der sagt zugleich Nein zur gesamten Schutzkomponente und damit in der Konsequenz auch Nein zu Wiederaufbau und Modernisierung.
Verehrter Herr Kuhn, Sie haben das Notwendige zum Kollegen Gysi gesagt. Aber wie wollen Sie eigentlich einer afghanischen Frau, die endlich an einer Universität studieren kann, und einem Mädchen, das eine bessere Lebensperspektive hat, weil es in die Schule gehen kann, erklären, dass ihnen diese Chance wieder genommen würde oder sie gar um ihr Leben fürchten müssten, weil wegen der Tornadoluftaufklärung die gesamte Schutzkomponente abgelehnt wird? Das wäre doch die absurde Konsequenz!
Herr Kuhn, Sie haben in dieser Woche schon ganz offen vor Journalisten und auch heute dargelegt, die Führung und die Mehrheit Ihrer Fraktion seien für ISAF und die Tornadoaufklärung, Sie hätten sich aber untereinander abgesprochen, dass mehr Fraktionsmitglieder mit Enthaltung und Nein stimmen müssten als ihrem Gewissen folgen und zustimmen dürften. Dies, lieber Herr Kuhn, hat mit Freiheit des Abgeordnetenmandats nichts zu tun; das ist blanker Zynismus und Flucht aus der Verantwortung.
Die CDU/CSU-Fraktion unterstützt den Afghanistaneinsatz, auch wenn vieles besser gemacht und verstärkt werden muss, was den Beitrag der internationalen Gemeinschaft, aber vor allem auch die Arbeit der afghanischen Verantwortlichen betrifft. Dringend erforderlich ist der verstärkte Kampf gegen die Korruption. Sonst kann die afghanische Regierung nicht das Vertrauen ihrer Bevölkerung gewinnen oder die international getroffenen Vereinbarungen umsetzen. Daher muss die internationale Gemeinschaft Präsident Karzai hier zu härterem Durchgreifen drängen.
Der Kampf gegen Drogenanbau und -handel zeigt Wirkung. Die Zahl der drogenfreien Provinzen konnte in diesem Jahr von 6 auf 13 erhöht werden. Das muss unbedingt verstärkt werden; denn noch immer gibt es 21 Provinzen, in denen Drogen angebaut werden.
Nicht zuletzt muss unsere Entwicklungshilfe auch im bisher vernachlässigten Süden und Südosten Afghanistans verstärkt greifen, um der dortigen paschtunischen Bevölkerung eine Entwicklungsperspektive und Zukunftshoffnung zu geben. Je effektiver afghanische Sicherheitsstrukturen geschaffen werden, desto früher werden wir zusammen mit der internationalen Gemeinschaft unseren militärischen Beitrag reduzieren und irgendwann einmal beenden können. Deshalb müssen Polizei- und Militärausbildung beschleunigt und erweitert werden.
Meine Damen und Herren, die CDU/CSU-Bundestagsfraktion wird dem Antrag der Bundesregierung zum Afghanistan-Einsatz der Bundeswehr zustimmen, weil die Bundesregierung ein überzeugendes Afghanistan-Konzept zur Verbesserung und Verstärkung beim Wiederaufbau und bei der Ausbildung von Polizei und Militär vorgelegt hat. Weil Wiederaufbau nicht ohne militärische Schutzkomponente möglich ist, stimmen wir dem ISAF-Einsatz mit allen Komponenten zu. Es ist richtig, dass sich der Einsatz der Bundeswehr auf den Norden und auf Kabul konzentriert. Es wäre unverantwortlich, würden wir angesichts der zunehmend schwieriger werdenden Sicherheitslage unsere verfügbaren Kräfte überdehnen.
Richtig ist aber auch, was der Verteidigungsminister dargelegt hat: Das Mandat gilt in seinem vollen Umfang, und das schließt ein, dass die Bundeswehr für zeitlich und im Umfang begrenzte Unterstützungsmaßnahmen, sofern diese zur Erfüllung des ISAF-Gesamtauftrages unabweisbar sind, in Gesamtafghanistan eingesetzt werden kann. Das tun wir bereits, und dieses Mandat gilt für alle Kräfte der Bundeswehr. Es gehört zur Erfüllung des ISAF-Gesamtauftrags, dass wir im Notfall in der Lage sind, auch im Süden zeitlich und im Umfang begrenzt effektiv und robust zu helfen.
Wir brauchen für die Stabilisierung und den Wiederaufbau Afghanistans mehr Zeit, mehr Energie, mehr Geduld und mehr Geld, bis wir sicher sein können, dass von Afghanistan keine Bedrohung für die Sicherheit Deutschlands mehr ausgeht. Afghanistan darf nicht wieder zur Brutstätte des Terrorismus werden.
Vielen Dank.
Präsident Dr. Norbert Lammert:
Zu einer Kurzintervention erhält die Kollegin Monika Knoche das Wort.
Monika Knoche (DIE LINKE):
Herr Präsident! Die Möglichkeit zur Kurzintervention kommt etwas spät; ich wollte direkt auf die Rede von Herrn Kollegen Strässer von der SPD reagieren. - Ich muss Ihnen sagen: Als Frau in der Politik bin ich mehr als überrascht, mit welcher Selbstgerechtigkeit Sie über die tatsächliche heutige Lage der Frauen in Afghanistan hinweggehen. Ich finde es auch nicht korrekt, dass der Auswärtige Ausschuss, der gestern Parlamentarierinnen und Parlamentarier des afghanischen Parlaments eingeladen hatte, es nicht für erforderlich gehalten hat, Malalai Joya in den Ausschuss einzuladen. Sie ist zurzeit in Berlin und kann authentisch Auskunft darüber geben, was es bedeutet, in der angeblich demokratischen Regierung unter Karzai als Frau die Wahrheit über die Verbindung von Korruption und Drogenhandel in der Regierung zu sagen. Sie ist als Parlamentarierin ausgeschlossen worden, und das kann in gar keinem Fall als Beweis für eine demokratische Realität in Afghanistan bezeichnet werden.
Wir haben Berichte, auch von den Frauen aus der afghanischen Delegation in Berlin, die deutlich zum Ausdruck bringen: Die Situation der Frauen ist unter den Bedingungen der heutigen Karzai-Regierung, die quasi im Rahmen der Petersberger Gespräche installiert wurde, so schlimm, wie sie auch vorher war.
Wer damals - ich gehörte zu den Kritikerinnen des Krieges unter den Grünen - genau hingeschaut hat, wer in die afghanische Regierung gesetzt wird, hat wissen können und wissen müssen, dass die Korruption in diese Regierung gesetzt wird. Unter solchen Bedingungen erlaube ich es mir als Frau nicht, mich mit scheinheiligen Argumenten zufriedenzugeben, die sich auf die Situation der Mädchen in den Schulen begrenzen.
Wir wissen heute, dass Mädchen unter der Macht der Warlords und gewissermaßen unter der Obhut der Regierung Karzai nach wie vor als Tauschobjekt für Autos und Hunde betrachtet werden. Es ist nach wie vor so, dass 80 Prozent der Gerichtsbarkeit von den Stammesfürsten ausgeübt wird. Diese gehen mit den Frauen genauso übel und schlimm um wie die Taliban.
Ich bin nicht erst seit heute Parlamentarierin. Ich empöre mich, wenn die Situation der Frauen als kriegslegitimierender Grund herangezogen wird.
Das ist ein Missbrauch der Frauen in diesem instrumentellen Verhältnis. Keiner und keine derer, die heute die weitere militärische Präsenz in Afghanistan mit der Situation der Frauen begründen, hat sich vor dem 11. September um die Lage der Frauen unter den Taliban, die unter den USA groß geworden sind, gekümmert. Kommen Sie mir also, bitte sehr, nicht mit diesen scheinheiligen menschenrechtlichen Argumenten! Herr Gregor Gysi hat vollkommen recht gehabt, als er diese Doppelzüngigkeit in Bezug auf die Menschenrechtsfrage deutlich dargestellt hat.
Es ist schlichtweg infam -
Präsident Dr. Norbert Lammert:
Frau Kollegin Knoche, ich muss Sie bitten, zum Ende zu kommen.
Monika Knoche (DIE LINKE):
- ich bin sofort fertig -, wenn Sie sagen, dass diejenigen - dazu gehören wir -, die gegen den Abzug des Militärs sind, kein Engagement für die Zivilbevölkerung übrighätten. Wer das sagt, verbreitet schlichtweg Unwahrheiten. Niemand anderes in diesem Haus außer uns sagt, dass die Mittel für das Militär konsequent für den zivilen Aufbau in diesem Land umgewidmet werden müssen.
Präsident Dr. Norbert Lammert:
Zur Erwiderung hat Herr Kollege Strässer das Wort.
Christoph Strässer (SPD):
Frau Kollegin Knoche, das ist schon ein starkes Stück, was Sie hier vortragen. Dass Sie Menschen, die sich über die veränderte Situation von afghanischen Schulmädchen unterhalten und Gedanken machen, als selbstgerecht, zynisch und menschenrechtlich mit doppelten Standards ausgestattet kennzeichnen, das ist Zynismus!
Wenn Sie richtig zugehört hätten, dann würden Sie vielleicht respektieren und akzeptieren, dass zum Beispiel ich in meiner Rede über die Situation der Frauen in Afghanistan kein einziges Wort verloren habe. Sie können mir diesbezüglich gar nichts vorwerfen, außer vielleicht, dass ich sie nicht erwähnt habe.
Sie sprechen nicht nur die Parlamentarierinnen und Parlamentarier in diesem Land an, sondern auch ganz viele NGOs.
Fragen Sie zum Beispiel einmal die NGO Kinderberg, die in Kunduz arbeitet, warum in ihrem Bericht über Basic-health-Projekte in Nordafghanistan unter anderem steht, dass diese nur mit Unterstützung der Bundeswehr möglich sind. Ich kann Ihnen diesen Bericht gern zeigen. In diesem Bericht steht neben anderem, dass die Unterstützung der Bundeswehr unter anderem durch das Identifizieren und Vorschlagen von Einsatzorten der mobilen Behandlungsteams stattfinde. Ich frage Sie: Wo bekommen sie die Informationen denn her, die sie in die Lage versetzen, ihre Arbeit dort zu machen? Das ist nur durch die Informationen der Bundeswehr möglich und durch nichts anderes.
Wenn die Bundeswehr aus Afghanistan herausginge, würden diese Projekte schlicht und ergreifend im Orkus des afghanischen Landes untergehen.
Lassen Sie mich noch einen letzen Satz sagen: Es wird hier immer so getan, als sei es die einhellige Auffassung von NGOs und anderen, dass in Afghanistan alles besser ginge ohne die Bundeswehr.
- Entschuldigung, lassen Sie mich bitte einmal ausreden. - Human Rights Watch ist bekanntermaßen kein Büttel diktatorischer Regierungen weltweit. Human Rights Watch hat an Sie alle einen Brief geschrieben, aus dem ich den letzten Satz zitieren möchte:
... Deutschlands Rolle in der internationalen Staatengemeinschaft würde aber ein schlechter Dienst erwiesen, würde die Bundeswehr ihr Engagement in Afghanistan reduzieren oder gar beenden.
Ich schließe mich diesem Zitat an. Human Rights Watch hat wie in allen menschenrechtlichen Fragen auch in dieser Frage vollständig recht. Sie sollten sich das einmal näher anschauen.
Präsident Dr. Norbert Lammert:
Das Wort erhält nun der Kollege Gert Winkelmeier.
Gert Winkelmeier (fraktionslos):
Herr Präsident! Sehr geehrte Damen und Herren! Der Herr Bundespräsident hat aus Anlass des 50-jährigen Bestehens der Führungsakademie letzten Freitag die dort ausgebildete militärische Elite in den höchsten Tönen gelobt. Das hat durchaus etwas für sich, wenn man die Offiziere der Bundeswehr mit denen des einen oder anderen NATO-Partners vergleicht. Nur habe ich mich in den letzten Tagen nach dieser Jubiläumsrede sehr gewundert. Ich habe mich gefragt: Wo waren denn die hochgelobten Eliten? Wo waren der Generalinspekteur, der Leiter der Führungsakademie und der Kommandeur des Zentrums Innere Führung? Wo waren die goldbetressten Staatsbürger in Uniform mit ihrer Zivilcourage, als sie sich anlässlich des Focus-Interviews ihres Ministers schützend vor ihre Wittmunder und Neuburger Piloten hätten stellen müssen? Dazu kann ich nur sagen: Es reicht nicht aus, einmal im Jahr, am 20. Juli, im Bendlerblock des moralischen Vorbilds zu gedenken, aber zu kneifen, wenn es darauf ankommt.
Der Bundesminister der Verteidigung hat zu Verfassungsbruch und Straftaten aufgerufen, und die sogenannte Elite hat es Oberst Gertz und einem ehemaligen Piloten überlassen, sich schützend vor die fliegenden Besatzungen zu stellen. Statt seinen Rücktritt einzureichen, lässt sich der Inspekteur der Luftwaffe politisch für das Ziel des Ministers missbrauchen, innere und äußere Sicherheit mithilfe eines ungeheuerlichen Tabubruchs zu verschmelzen.
Mehr als: ?Offiziere haben ihre Befehle zu erfüllen“, und zwar ohne Diskussion - so die Financial Times Deutschland von gestern -, fällt Herrn Stieglitz dazu nicht ein. Der General sollte eher einmal einen Blick in das Wehrstrafgesetz und das Soldatengesetz werfen
und sich an seine Grundpflicht erinnern, ?Recht und Freiheit des deutschen Volkes tapfer zu verteidigen“. - So viel zu den Eliten.
Damit komme ich zum Antrag der Bundesregierung.
Sie beantragen, die Mandate für ISAF und für den Tornadoeinsatz zusammenzulegen, dies jedoch nicht aus sachlichen Erwägungen. Nein, Sie haben zu einem kleinen schäbigen Trick gegriffen. Es geht Ihnen darum, den Widerstand in den Koalitionsfraktionen auszuhebeln. Wer im März dieses Jahres den Tornadoeinsatz abgelehnt hatte, den ISAF-Einsatz aber grundsätzlich befürwortet, soll nun die Kröte durch Verabschiedung eines Gesamtpaktes schlucken. Ganz nebenbei konnten Sie so einer Oppositionsfraktion auch noch kräftig in die Suppe spucken.
Ich bin zwar nicht der Auffassung, dass das ISAF-Konzept der Bundeswehr im Norden Afghanistans mit seiner zivil-militärischen Zusammenarbeit Aussicht auf Erfolg hat; aber es ist völkerrechtlich nicht zu beanstanden. Es gibt Kollegen, die die zivil-militärische Zusammenarbeit anders bewerten. Darunter sind aber Kollegen, die Luftbilder als Beihilfe zur Bombardierung einer großen Anzahl Unschuldiger nicht verantworten wollen. Denen nehmen Sie mit Ihrem Taschenspielertrick die Möglichkeit, sich frei zu entscheiden. Das ist der Versuch eines Anschlages auf Art. 38 des Grundgesetzes. Es ist ein weiteres Beispiel dafür, wie Sie das Parlament schleichend zu Ihrem Büttel degradieren.
Seit dem Focus-Interview vom Montag haben wir übrigens auch beim Thema Afghanistan eine neue Situation. Wie kann man denn einer Bundesregierung noch trauen, die diesen Minister deckt? Da stellen sich doch noch ganz andere Fragen, zum Beispiel beim Thema ?restriktive“ Weitergabe von Luftbildern an den OEF-Kommandierenden mit dem Doppelhut. Ergingen vielleicht Anweisungen an den deutschen Chef des Stabes, das nicht zu restriktiv, zu eng zu sehen, um die von der Kanzlerin reanimierten transatlantischen Beziehungen nicht zu gefährden? Werden die sogenannten Erfolge beim Wiederaufbau nicht vielleicht ein wenig aufgehübscht? Werden kritische Meldungen aus dem Protektorat unterdrückt? Diese Fragen müssen Sie sich gefallen lassen, zumal Ihnen afghanische Experten bei nahezu allem widersprechen, was Sie als Erfolg ausgeben. Fragen Sie doch einmal Dr. Matin Baraki aus Marburg oder die NGOs Brot für die Welt, Welthungerhilfe und medico-international. Oder fragen Sie das neutrale Rote Kreuz, was es von Ihrem Konzept hält, zivile Hilfe mit Militär zu verknüpfen: nämlich gar nichts.
Sie dürfen sich nicht länger in die eigene Tasche lügen. Sie sind gescheitert. Afghanistan wird zunehmend irakisiert; das ist die Folge Ihres falschen Kurses. Allein von 2005 bis 2006 hat sich die Zahl der Selbstmordattentate verfünffacht und die der direkten Attentate verdreifacht. Ziehen Sie also die Bundeswehr ab, solange das noch unter würdigen Umständen geht!
Dem Verteidigungsminister muss ich von dieser Stelle noch etwas sagen: Herr Minister, Sie haben etwas geschafft, was noch keinem Ihrer Vorgänger gelungen ist: an sich brave Soldaten ohne Not als Gehorsamsverweigerer auf die Titelseiten zu bringen. Gratulation! Das gab es noch nicht einmal im Kalten Krieg.
Vielen Dank.
Präsident Dr. Norbert Lammert:
Nächster Redner ist der Kollege Rainer Arnold für die SPD-Fraktion.
Rainer Arnold (SPD):
Herr Präsident! Werte Kolleginnen und Kollegen! Unter dem Eindruck meiner letzten Reise nach Afghanistan kann ich Ihnen zwei Dinge berichten:
Die Gespräche mit der afghanischen Zivilbevölkerung haben eines erfreulicherweise sehr deutlich gezeigt: Die Deutschen sind in Afghanistan außerordentlich erwünscht - das gilt für die zivilen Helfer, in hohem Maße aber auch für die Soldaten -, weil die Deutschen bei ihrer Arbeit die einheimische Kultur respektieren und die gewachsenen Strukturen Afghanistans in die Aufbauüberlegungen einbeziehen.
Überall haben wir aber auch eine kritische Anmerkung vernommen: Die Akzeptanz der afghanischen Regierung sinkt bedrohlich. Wir wissen, dass klare Worte der Staatengemeinschaft gelegentlich notwendig sind, wenn es um Korruption geht. Wir wissen aber auch, dass man Demokratie nicht von außen aufbauen kann. Es braucht Zeit, bis sich die Demokratie in den Dörfern und in Kabul ausgebreitet hat. Wir müssen Geduld haben. Problematisch ist, dass mit der sinkenden Akzeptanz der zentralen Administration auch die Hoffnungen der Menschen in Afghanistan sinken. Es ist ganz wichtig, dem entgegenzutreten. Das tun wir, indem wir den Menschen Perspektiven eröffnen, ihnen durch den zivilen Aufbau Hoffnung geben.
Ich finde es schon bemerkenswert, was Herr Gysi von den Linken dazu gesagt hat. In einer Hinsicht ist Die Linke sehr konsequent: Sie verweigert durchgängig, von der Arbeits- und Sozialpolitik bis zur Außenpolitik, die Akzeptanz der Wirklichkeit. Sie verdrängt die Realität.
Folgendes ist die Realität: Afghanistan würde ohne die Bundeswehr, die in Afghanistan übrigens 700 zivile Aufbauprojekte durchgeführt hat, in Bürgerkrieg und Chaos zurückfallen.
Würde die Nordallianz entsprechend Ihrer Forderung entwaffnet, würde das Talibanregime dort am Ende die Oberhand behalten. Das würde bedeuten, dass keine Frau mehr im Parlament säße, überhaupt keine. Das würde bedeuten, dass, wie früher, kein einziges Mädchen eine Chance hätte, dass kluge, intelligente Frauen ihr Dasein in den Kellern fristen müssten. Diesen Weg schlagen Sie hier vor. Das ist zutiefst menschenverachtend.
Gleichwohl wissen wir alle, dass ein einfaches ?Weiter so“ in Afghanistan nicht ausreicht. Deshalb sind wir sehr dankbar für die Vorschläge der Bundesregierung. Ich bin der Meinung, dass in den nächsten Jahren eine ganze Menge erreicht werden kann. Der Vorschlag, mehr Ausbildungshilfe zu leisten, Soldaten der ANA im Norden für den Norden auszubilden, ist vernünftig. Wir müssen darüber diskutieren, ob die Einzelverantwortung von Nationen für bestimmte Prozesse,
zum Beispiel im Rahmen der Militärausbildung, im Polizei- oder Justizwesen, richtig ist oder ob wir in Afghanistan nicht eine kohärentere Organisation und Führung dieser Prozesse brauchen. Das wird eine wichtige Aufgabe für uns in den nächsten Monaten sein.
Präsident Dr. Norbert Lammert:
Herr Kollege Arnold, gestatten Sie eine Zwischenfrage?
Rainer Arnold (SPD):
Ja, selbstverständlich.
Präsident Dr. Norbert Lammert:
Bitte.
Gert Weisskirchen (Wiesloch) (SPD):
Lieber Kollege Arnold, ein zentraler Punkt ist ja, dass das Tornado-Mandat jetzt - das ist der Vorschlag der Bundesregierung - in das ISAF-Mandat einbezogen werden soll. Als wir im Frühjahr darüber debattiert haben, haben viele Kolleginnen und Kollegen große Sorgen und sogar Ängste geäußert. Sie haben sich gefragt, wie das Tornado-Mandat in Afghanistan wahrgenommen wird und was dort geschehen wird. Können Sie uns sagen, wie im Rahmen des Tornado-Mandates nach Ihrer Kenntnis in Afghanistan agiert wird?
Rainer Arnold (SPD):
Kollege Kuhn von den Grünen meinte vorhin, wir wüssten nichts darüber. Herr Kollege, das ist falsch. Zumindest die Obleute im Verteidigungsausschuss verfügen über eine sehr gute Informationsdichte.
Ich kann hier dazu sagen: Wir wissen, dass die Tornados mehr als 500-mal geflogen sind. 83 Prozent dieser Einsätze waren erfolgreich. Für uns ist besonders wichtig, dass 40 Prozent dieser Flüge im Norden und Westen des Landes stattgefunden haben, also im deutschen bzw. italienischen Verantwortungsbereich. Bei den Einsätzen geht es in erster Linie um Aufklärung im Bereich Infrastruktur; das ist das Allerwichtigste. Es geht darum, festzustellen, ob Straßen verändert wurden. Es geht auch darum, bei Entführungen Aufklärung zu leisten und die Grenze in dieser Region zu überwachen. Alles in allem heißt das: Das Tornado-Mandat ist für das ISAF-Mandat elementar und extrem wichtig.
Die Befürchtung, die immer wieder geäußert wurde, dass zwei oder drei Stunden, nachdem die Tornados über ein Gebiet geflogen sind, dort Bomben abgeworfen werden, ist eindeutig zu widerlegen, und zwar deshalb, weil diese Kollateralschäden - wie der Ausdruck ja heißt -, die zivilen Opfer, die es leider gibt, dann entstehen, wenn Bodentruppen Luftunterstützung anfordern müssen, weil sie allein nicht mehr zurechtkommen. Diese Luftunterstützung können die Tornados gar nicht leisten. Erstens können sie es nicht, weil sie in Kampfzonen gar nicht fliegen dürfen.
Präsident Dr. Norbert Lammert:
Herr Kollege Arnold, ich muss Sie bitten, zum Ende zu kommen.
Rainer Arnold (SPD):
Ich bin mit der Beantwortung der Zwischenfrage gleich fertig.
Präsident Dr. Norbert Lammert:
Sehr schön.
Rainer Arnold (SPD):
Zweitens können sie es nicht, weil ihre Bilder nicht zeitgleich übermittelt werden können; die Auswertung dauert anderthalb bis zweieinhalb Stunden. Deshalb ist diese Sorge nach dem heutigen Kenntnisstand unbegründet. Deshalb kann dieses Mandat mit dem ISAF-Mandat verbunden werden, und deshalb können wir aus meiner Sicht mit einer breiten Mehrheit dem Teil, der die Tornados betrifft, zustimmen.
Präsident Dr. Norbert Lammert:
Es gibt jetzt noch den Wunsch nach einer Zwischenfrage des Kollegen Gehrcke. Wollen Sie die auch noch zulassen?
Rainer Arnold (SPD):
Ja, gerne.
Präsident Dr. Norbert Lammert:
Ich bitte, sowohl die Frage als auch die Antwort in einer gewissen Proportion zu der ansonsten verfügbaren Redezeit zu halten.
Rainer Arnold (SPD):
Ich werde mich bemühen, Herr Präsident.
Wolfgang Gehrcke (DIE LINKE):
Herr Präsident, ich habe Ihren Hinweis verstanden; Kollege Arnold sicherlich auch.
Kollege Arnold, können Sie mir bestätigen, dass wir beide und der Kollege Weisskirchen heute bei einer Unterrichtung im Verteidigungsministerium waren und dort gebeten worden ist, dass man in der Bevölkerung mehr propagiert, dass die Tornados nichts mit der Kriegsführung zu tun haben, und dass Kollege Weisskirchen diesem Auftrag sofort nachgekommen ist?
Rainer Arnold (SPD):
Kollege Weisskirchen habe ich heute früh dort leider gar nicht gesehen, Herr Kollege.
Zweitens kenne ich den Kollegen Weisskirchen als einen ziemlich eigenständigen Politiker, der nicht einfach Aufträge ausführt.
Ich glaube, da haben Sie ein falsches Bild vom Parlamentarier Weisskirchen.
War die Antwort kurz genug, Herr Präsident?
Präsident Dr. Norbert Lammert:
Ja.
Rainer Arnold (SPD):
Ich möchte jetzt noch darüber reden, was vor uns liegt. Ich habe den Eindruck, dass eine Chance möglicherweise stärker genutzt werden muss. Meine Beobachtung im Deutschen Bundestag ist, dass viele Parlamentarier sehen, dass mehr Verantwortung übernommen werden muss. Ich glaube, die Bundesregierung könnte dies bei zukünftigen Überlegungen durchaus berücksichtigen.
Es gibt ein weiteres ernsthaftes Problem in der Staatengemeinschaft. Die Beobachtung in den NATO-Gremien ist, dass dort gerade so etwas wie NATO-Mikado gespielt wird: Keiner bewegt sich. Die Deutschen müssen das aus meiner Sicht nicht als Erste tun; als drittstärkstes Kontingent leisten wir wichtige Beiträge. Aber auf Dauer wird das nicht ausreichen. Wir müssen in der NATO erreichen, dass das, was Afghanistan zugesagt wurde und notwendig ist, von den Staaten insgesamt erfüllt werden kann. Ich gehe davon aus, dass wir deshalb in den nächsten Monaten hier noch wichtige Debatten zu führen haben.
Nun haben die Linken immer wieder argumentiert, dass die Bevölkerung diesen Einsatz nicht möchte. Das ist erstens in einem unglaublichen Maß populistisch, und zweitens wünsche ich mir eine Zeitung oder ein Institut, das nicht fragt: Wollen Sie, dass die deutschen Soldaten heimkommen? Das wollen wir doch alle; jeder vernünftige Mensch will das. Ich wünsche mir eine Umfrage, in der gefragt wird: Möchten Sie, dass die deutschen Soldaten heimkommen und das Risiko tragen, dass dieses Land wieder dem Terror anheimfällt -
Präsident Dr. Norbert Lammert:
Herr Kollege.
Rainer Arnold (SPD):
- und Deutschland durch Terrorcamps in Afghanistan gefährdet wird? Diese Umfrage würde aus meiner Sicht ganz anders ausgehen.
Ich komme zum Ende. Mit Blick auf die afghanische Delegation sage ich, dass sie in ihre Heimat mitnehmen kann, dass der große, verantwortungsvolle Teil in der deutschen Politik das afghanische Volk nicht im Stich lassen wird. Dies soll ihre Gesellschaft wissen. Wir stehen zu unseren Zusagen. Dies müssen auch alle Kriminellen und Terroristen wissen.
Danke schön.
Präsident Dr. Norbert Lammert:
Nächster Redner ist der Kollege Dr. Christian Ruck für die CDU/CSU-Fraktion.
Dr. Christian Ruck (CDU/CSU):
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Ich möchte zunächst der Bundesregierung für etwas danken, was sie international durchgesetzt hat, was vor einem Jahr noch nicht selbstverständlich war und jetzt bei uns Konsens ist, nämlich dass die Zukunft Afghanistans und des gesamten internationalen Engagements dort langfristig und letztlich von einem erfolgreichen zivilen Aufbau und der Überwindung von Armut und Unterdrückung abhängt. Nur so fassen die Menschen Mut, können die Herzen der Menschen erreicht werden, fallen die Menschen nicht auf falsche Propheten herein. Nur so kann eine Stabilisierung Afghanistans von innen bewirkt werden; das Land befindet sich jedoch in einer sehr schwierigen Nachbarschaft. Die Bundesregierung musste diese Erkenntnis, die heute für uns selbstverständlich ist, erst durchsetzen; der Durchbruch wurde in London mit dem Afghan Compact erreicht: Erst damit wurde die Entwicklungspolitik in Afghanistan - das ist die größte Baustelle - auch international in den Fokus gerückt.
Gerade an Afghanistan sehen wir, was eine moderne Entwicklungspolitik leisten muss: Sie muss die Funktionsfähigkeit eines ganzen Landes wiederherstellen, und zwar nicht von außen aufgezwungen, sondern Schritt für Schritt mit der Bevölkerung.
Dabei gibt es drei Schlüsselbereiche, die gleichzeitig angepackt werden müssen: erstens die rasche und sichtbare Wiederherstellung der physischen Infrastruktur, also der Straßen, der Brücken und der Energieversorgung; zweitens die Befähigung der Afghanen, ihr Land, die Regierung, die Administration und vor allem die Wirtschaft - hier ist an den Mittelstand zu denken - selbst in die Hand zu nehmen, und drittens die Schaffung der Grundlagen für eine langfristige Aufwärtsentwicklung durch Bildungs- und Erziehungsarbeit für die Kinder.
Wir haben heute gehört, dass wir große Fortschritte erreicht haben. Darauf können wir, unsere Soldaten, unsere Entwicklungsexperten und die internationale Gemeinschaft, stolz sein. Wir haben zum Beispiel erreicht, dass in 19 Universitäten Afghanistans fast 10 000 junge Frauen studieren; vorher waren es null.
Wir haben ferner erreicht, dass die Kindersterblichkeit in Afghanistan dramatisch gesunken ist, dass hingegen das Wachstum der Wirtschaft drastisch steigt, und zwar um 12 bis 13 Prozent pro Jahr, wenn man die Drogenökonomie herausrechnet. Darauf können wir, aber auch die Entwicklungsexperten stolz sein. Ich möchte an dieser Stelle erwähnen, dass das mit Opfern verbunden ist: Mindestens 50 Entwicklungshelfer haben bisher ihr Leben in Afghanistan verloren.
Auch ich begrüße ausdrücklich, dass wir das Entwicklungshilfebudget für Afghanistan kontinuierlich aufwachsen lassen. Ich möchte aber auch für eines plädieren: Wir sollten die finanziellen Mittel nicht nur stetig erhöhen, sondern auch dafür sorgen, dass das Geld sinnvoll angelegt wird, dass es auch abfließt. Es hat keinen Sinn, dass in den Provinzen dringend benötigtes Geld in Kabul bleibt, weil die Administration dort noch zu schwach ist und das Geld nicht abfließen lässt. Das ist eines der Probleme, auf die wir reagieren müssen; es gibt aber auch andere.
Wichtig ist, dass wir, die internationale Gemeinschaft, gerade in Afghanistan bereit sind, aus Fehlern zu lernen und bei der Korruptionsbekämpfung, bei der Hilfe für die Provinzen und bei der gigantischen Aufgabe der Koordination die Afghanen nicht zu überfordern, sondern sie mitzunehmen.
Wir müssen auch lernen, dass ohne eine Stabilisierung Pakistans eine Stabilisierung Afghanistans sehr schwierig wird.
Im Hinblick auf die Drogenökonomie können wir zwei Dinge lernen:
Erstens. Wir können den Kampf gegen die Drogenökonomie nicht ohne die rückhaltlose Unterstützung der Bevölkerung führen. Deswegen ist es gut, dass immer mehr Mullahs in ihren Freitagsgebeten den Kampf gegen die Drogenökonomie führen, Seite an Seite mit uns.
Zweitens. Der Kampf gegen die Drogenökonomie und für den Wiederaufbau ist sinnlos, wenn wir nicht Sicherheit garantieren können, vor allem auf dem flachen Land, wo die Menschen erkennen müssen, dass es nicht nur die Taliban, die infiltrieren, sondern auch eine Staatsmacht gibt. Das heißt, wir müssen mehr bei der Polizei tun. Ich möchte daran erinnern, dass bereits 19 000 Polizisten ausgebildet wurden. Auch beim Aufbau der Armee ist etwas getan worden. Darüber hinaus ist es ein zutiefst entwicklungspolitisches Anliegen, dass wir beim Aufbau des Justizwesens Fortschritte erzielen müssen. Es nützt nichts, wenn wir sagen, das sei keine Aufgabe Deutschlands. In Afghanistan muss ein Gesamtkunstwerk entstehen.
Präsident Dr. Norbert Lammert:
Herr Kollege Ruck, Sie müssen zum Ende kommen.
Dr. Christian Ruck (CDU/CSU):
Meine Damen und Herren, ich komme zum Schluss. Wer den Zusammenhang zwischen Aufbau und Sicherheit nicht sieht und unsere Sicherheitsanstrengungen torpediert, der torpediert die Mission Afghanistan. Wer die Mission Afghanistan torpediert, der torpediert die Möglichkeit des Westens, Gefahren in der Welt gemeinsam abzuwehren. Wer dies tut - in einer durchgeknallten Rede von den Linken konnten wir feststellen, wer das tut -,
der gefährdet das Wohl unseres eigenen Landes.
Wir jedenfalls wissen, wohin wir gehören: an die Seite der Afghanen. Darüber hinaus wollen wir die Sicherheit unserer eigenen Bevölkerung gewährleisten. Ich bitte auch die Grünen, ihrem Gewissen einen Ruck zu geben, wenn es so weit ist.
Präsident Dr. Norbert Lammert:
Ich erteile das Wort dem Kollegen Andreas Weigel für die SPD-Fraktion.
Andreas Weigel (SPD):
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! In großer Verbundenheit mit meinen Kollegen von Bündnis 90/Die Grünen möchte ich an dieser Stelle meinen Respekt vor der Debatte, die in dieser Partei zurzeit stattfindet, zum Ausdruck bringen. Der Parteitag am letzten Wochenende hat die Zerrissenheit in dieser Partei gezeigt.
Herr Kollege Kuhn, in Ihrer heutigen Rede haben Sie deutlich gemacht, dass Sie durchaus gewillt sind, fundiert über die anstehenden Fragen zu diskutieren. Das unterscheidet Sie von dem, was dieser Tage in der Presse geschrieben wurde. In der taz von vorgestern erschien zum Beispiel ein Interview mit Ihrem Parteikollegen Herrn Spanta, dem Außenminister von Afghanistan. Die Überschrift lautete: ?Grüne sind unsolidarisch und naiv“.
Ich kann nur an Sie appellieren und Sie darum bitten, in dieser Frage auch weiterhin mit uns zusammenzuarbeiten. Ich glaube, das haben wir in den vergangenen Jahren gut gemacht. Wir wollen dafür kämpfen, dass das so bleibt.
Ich möchte an dieser Stelle nicht ausführlich auf das eingehen, was Herr Gysi von den Linken heute zum Besten gegeben hat. Aber, Herr Gysi, an eines möchte ich Sie erinnern: Da Sie das Beispiel angeführt haben, dass Sie Gespräche mit afghanischen Parlamentarierinnen geführt haben - sie haben übrigens auf der Besuchertribüne Platz genommen -, und dies kritisch dargestellt haben - darüber kann man ja durchaus diskutieren -, bitte ich Sie, dabei nicht zu vergessen, dass solche Gespräche im Jahr 2002 oder vorher nie möglich gewesen wären, weil sie nicht nach Deutschland hätten kommen können und wir keine Gespräche mit ihnen hätten führen können.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, gelegentlich entsteht der Eindruck, dass wir eine oberflächliche Diskussion führen; das war heute teilweise festzustellen. Daher möchte ich ausdrücklich daran erinnern, dass in den letzten Wochen und Monaten viele deutsche Parlamentarierinnen und Parlamentarier nach Afghanistan gereist sind, sich im Land umgeschaut und Gespräche mit Vertretern des Militärs und mit Vertretern der Zivilorganisationen geführt haben. Das zeigt, wie fundiert und bewusst wir die Auseinandersetzung mit diesem Thema führen. Daran wird auch deutlich, dass wir gewillt sind, uns damit zu beschäftigen.
Wir, die SPD-Fraktion, haben aus diesem Grunde eine Taskforce ins Leben gerufen, eine Arbeitsgruppe, die sich aus Politikern ganz unterschiedlicher Fachbereiche zusammensetzt, und zwar aus Politikern all der Politikbereiche, die mit dem Aufbau in Afghanistan beschäftigt sind. Außen- und Verteidigungspolitiker, Menschenrechtspolitiker und Innen- und Entwicklungspolitiker arbeiten ressortübergreifend zusammen.
Ich glaube, hierin liegen die Chance und das Geheimnis, bei der Entwicklung Afghanistans voranzukommen. Wir brauchen eine ressortübergreifende Zusammenarbeit, nicht nur hier im Parlament, sondern auch vor Ort.
Diese Zusammenarbeit wird in den PRTs praktiziert. Allerdings möchte ich an dieser Stelle selbstkritisch sagen: Manches kann durchaus noch besser werden. Natürlich müssen wir überdenken, ob die Verweildauer unserer Kontaktleute in den PRTs auf vier oder sechs Monate begrenzt sein sollte oder ob eine längere Verweildauer erforderlich ist, um gerade erst entstandene Kontakte auszubauen, nützliche Informationen zu beschaffen und Vertrauensverhältnisse aufzubauen.
Wir müssen über die elementare, entscheidende Frage des Drogenanbaus noch intensiver als bisher nachdenken. Natürlich bedarf es zuallererst der Zerschlagung der Strukturen und Verflechtungen der Drogenmafia mit lokaler Verwaltung und lokaler Polizei. Aber wir müssen uns darüber hinaus Gedanken über Alternativen machen, wie also der Anbau anderer landwirtschaftlicher Erzeugnisse und andere legale Einnahmequellen für die Bevölkerung entwickelt werden können. Wir brauchen entwicklungspolitische Leuchttürme. Ich sage das bewusst, weil wir bei all unseren Diskussionen über entwicklungspolitische Ziele eines nicht vergessen dürfen: Wir dürfen uns nicht nur mit Projekten beschäftigen, die langfristig wirken. Unsere Projekte müssen sofort greifen. Die Bevölkerung vor Ort muss unmittelbar spüren, dass unser Engagement wirkt.
Eine Vielzahl von positiven Projekten ist heute schon angesprochen worden: Schulen, Bildungsmaßnahmen. Ich will zum Schluss meiner Rede noch einmal auf den Aufbau der Polizeistrukturen zu sprechen kommen.
Präsident Dr. Norbert Lammert:
Die können Sie jetzt aber nicht mehr im Einzelnen erläutern; das ist Ihnen klar.
Andreas Weigel (SPD):
Wir haben die Polizeiakademie im Jahr 2004 eröffnet. Seitdem sind 18 600 Polizisten ausgebildet worden. Wir müssen uns an diesem Punkt weiter engagieren - was wir tun wollen. Wir führen gemeinsam mit der EU Gespräche und verhandeln. Es braucht ein größeres Engagement, mehr deutsche Beteiligung. Die Weiterführung des ISAF-Mandates bietet dafür die besten Rahmenbedingungen. Ich bitte um große Unterstützung.
Präsident Dr. Norbert Lammert:
Letzter Redner in dieser Debatte ist der Kollege Bernd Siebert für die CDU/CSU-Fraktion.
Bernd Siebert (CDU/CSU):
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Als letzter Redner möchte ich doch noch einmal auf das, was in Afghanistan in der Vergangenheit geleistet wurde, zurückkommen und mich im Namen der Arbeitsgruppe ?Verteidigung“, aber auch im Namen der übrigen Mitglieder der CDU/CSU-Fraktion in besonderer Weise bei all denen bedanken, die vor Ort Besonderes geleistet haben, nämlich bei den Soldatinnen und Soldaten und bei den vielen zivilen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern, die seit Beginn der Afghanistan-Mission ihren schweren Dienst leisten und - auch das muss hier erwähnt werden - zum Teil mit ihrem Leben bezahlt haben. Insbesondere Letzteren und ihren Angehörigen gehören unser besonderer Respekt und natürlich auch unser Mitgefühl.
Die Aufgaben, die wir dort erfüllen - und auch erfüllen wollen -, werden auch in Zukunft nicht ohne Gefahr für Leib und Leben der dort eingesetzten Menschen erledigt werden können. Aber gerade aufgrund der Leistungen, der Erfolge unserer Aufbauarbeit in Afghanistan fühlen wir uns verpflichtet, der Verlängerung des ISAF-Mandates bzw. der Zusammenlegung von ISAF- und Tornado-Mandat zuzustimmen.
Das ISAF-Mandat, welches vor allem dem Wiederaufbau des unter den Taliban zerstörten Landes dient, steht zugegebenermaßen in der Kontinuität der rot-grünen Vorgängerregierung. Gleichwohl ist der eingeschlagene Weg immer noch richtig. Umso erstaunlicher ist es für mich, zu sehen, dass sich die Grünen, die mit dem damaligen Außenminister Joschka Fischer einen entscheidenden Befürworter des Einsatzes in ihren Reihen hatten, am vergangenen Wochenende in Göttingen aus ihrer Verantwortung für Afghanistan, so befürchte ich, verabschiedet haben.
- Herr Kuhn hat in der Tat vorhin vernünftige Bemerkungen gemacht, die in den wesentlichen Teilen zu unterstützen sind.
Nur, wenn jemand noch nicht einmal in der Lage ist, in der eigenen Partei für eine Mehrheit zu sorgen, wird das, was er hinterher hier erklärt, mit dem Wort ?Glaubwürdigkeit“ nicht zu verbinden sein. Deswegen wünsche ich Ihrer Führung, dass sie in Zukunft wieder Ihre Parteibasis
überzeugt. Denn wenn Sie das umsetzen würden, Herr Trittin - und Sie haben ja mehrheitlich beschlossen, hier im Parlament der Verlängerung des Mandates nicht zuzustimmen -, dann bedeutet das im Ergebnis: Sie sind für den Abzug. Dann sind Sie letztlich für nichts wesentlich anderes als das, was die Linken seit Jahr und Tag propagieren. Das müssen Sie wissen bei dem, was Sie diskutieren und was Sie beschließen.
Jedem politisch denkenden und die Realität betrachtenden Menschen ist jedoch klar, dass es keine Alternative zum ISAF-Mandat in Afghanistan gibt. Ein Ende des Engagements in Afghanistan hätte für das Land und die dort lebenden Menschen verheerende Folgen. Es muss aber auch in aller Deutlichkeit gesagt werden: Wir brauchen noch auf Jahre hinaus die militärische Absicherung des Wiederaufbaus in Afghanistan. Nur so, im Sinne des im Weißbuch von 2006 beschriebenen Konzeptes der vernetzten Sicherheit, können wir auch langfristig zum Erfolg gelangen.
Für diesen Wiederaufbau im Norden Afghanistans ist die im Mandat enthaltene Höchstgrenze von 3 500 Soldaten und Soldatinnen aus unserer Sicht vollkommen ausreichend. Da die Tornados ohnehin unter dem ISAF-Befehl standen und stehen, macht es auch Sinn, diese bisher getrennten Mandate unter einem gemeinsamen Mandat zusammenzufassen.
Darüber hinaus hat sich der Einsatz der Tornados bewährt. Das ist hier einige Male ausgeführt worden; deswegen brauche ich das nicht zu wiederholen. Dass er so erfolgreich war, haben viele hier in diesem Parlament - auch in der Vergangenheit - bezweifelt. Wir haben vorhin ein Statement besonderer Art gehört. Ich muss den Kollegen beglückwünschen, dass er seine Gedankengänge hier in aller Offenheit dargestellt hat.
Einige Kolleginnen und Kollegen haben im Vorfeld dieser Debatte geäußert, dass man sich durchaus auch mit einer dauerhaften Ausdehnung unseres Auftrages - mit Ausbildung im Süden - beschäftigen sollte. Ich denke, dass damit der Rahmen des Mandates, das wir in der Vergangenheit beschlossen haben und heute wieder beschließen wollen, gesprengt würde. Deshalb glaube ich nicht, dass es sinnvoll ist, einen anderen Ansatz von Kräften und Mitteln für diese Aufgabe zu wählen.
Zum Schluss möchte ich noch einmal feststellen: Der bisherige Ansatz für den Wiederaufbau Afghanistans hat sich bewährt und wird mit dem Afghanistan-Konzept der Bundesregierung dort nachjustiert, wo es nötig ist. Aus diesem Grunde werden wir das vorläufige ISAF-Mandat verbunden mit dem Tornado-Mandat unterstützen und entsprechend zustimmen.
Herzlichen Dank.
Präsident Dr. Norbert Lammert:
Ich schließe die Aussprache.
Tagesordnungspunkt 3 a. Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlage auf der Drucksache 16/6460 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Der Entschließungsantrag auf der Drucksache 16/6461 soll an dieselben Ausschüsse überwiesen werden, an den Haushaltsausschuss jedoch nicht nach § 96 der Geschäftsordnung. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist offenkundig der Fall. Dann sind die Überweisungen so beschlossen.
Wir kommen nun unter dem Tagesordnungspunkt 3 b zur Abstimmung über den Antrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen auf der Drucksache 16/6325 mit dem Titel ISAF und OEF parlamentarisch gemeinsam behandeln. Wer stimmt für diesen Antrag? - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich der Stimme? - Dann ist dieser Antrag mit großer Mehrheit abgelehnt.
Ich rufe die Tagesordnungspunkte 4 a und 4 b auf:
a) Erste Beratung des von den Abgeordneten Anja Hajduk, Alexander Bonde, Anna Lührmann, weiteren Abgeordneten und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Sicherung der Handlungsfähigkeit von Haushaltspolitik in der Zukunft
- Drucksache 16/5955 -
Überweisungsvorschlag:
Haushaltsausschuss (f)
Rechtsausschuss
Finanzausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
b) Erste Beratung des von den Abgeordneten Anja Hajduk, Alexander Bonde, Anna Lührmann, weiteren Abgeordneten und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN eingebrachten Entwurfs eines Begleitgesetzes zum Gesetz zur Sicherung der Handlungsfähigkeit von Haushaltspolitik in der Zukunft (Zukunftshaushaltsgesetz-Begleitgesetz)
- Drucksache 16/5954 -
Überweisungsvorschlag:
Haushaltsausschuss (f)
Rechtsausschuss
Finanzausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Für diese Aussprache sind nach einer interfraktionellen Vereinbarung wiederum 75 Minuten vorgesehen. - Ich höre keinen Widerspruch dazu. Dann ist das so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache und erteile der Kollegin Anja Hajduk, Bündnis 90/Die Grünen, das Wort.
Anja Hajduk (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Sehr geehrter Herr Präsident! Meine werten Kollegen! Was in diesem Hohen Hause in den letzten knapp 40 Jahren jährlich als Haushaltsgesetz beschlossen wurde, muss man in seiner Gesamtheit so bewerten, dass es mit Blick auf die Haushaltslage nicht nachhaltig war und nicht verantwortungsvoll gegenüber den zukünftigen Generationen ist. Wenn man eine solche Aussage trifft, dann muss man daraus Konsequenzen ziehen. Deswegen legen wir von Bündnis 90/Die Grünen Ihnen heute einen Gesetzentwurf zur Sicherung der Handlungsfähigkeit der Haushaltspolitik in der Zukunft vor. Das ist nichts Geringeres als ein Vorschlag zur Änderung des Grundgesetzes.
Zum Problem. Wie ich schon erwähnte, ist es lange her, dass der Haushalt ausgeglichen war. Der letzte ausgeglichene Haushalt war 1969. Das ist fast 40 Jahre her. Das bedeutet in Zahlen ausgedrückt, dass der Bund über 900 Milliarden Euro Schulden aufgehäuft hat. Was die Dynamik angeht, muss man feststellen, dass sich der Schuldenstand in den letzten zehn Jahren verdoppelt hat. Auf ein Jahr bezogen ist festzuhalten, dass wir mehr als 40 Milliarden Euro - das ist ein Sechstel des Bundeshaushaltes - Zinsen zahlen, ohne dass an Tilgung auch nur zu denken ist.
Dieses Problem müssen wir alle ernst nehmen. Wir müssen feststellen, dass die bisherigen Regeln zum Eindämmen von Verschuldung nicht ausgereicht haben. Angesichts der Tatsache, wie häufig wir den dehnbaren Begriff ?Erhalt des gesamtwirtschaftlichen Gleichgewichts“ gebraucht haben, um übermäßig viel Schulden zu machen, müssten wir uns einig sein, dass die bisherigen Regeln im Grundgesetz und die dort formulierten Ausnahmetatbestände dringend geändert werden müssen.
Welchen Lösungsweg kann man aufzeigen? Wir Grünen plädieren für eine Neuausrichtung der gesetzlichen Rahmenbedingungen, indem wir Folgendes berücksichtigt sehen wollen: Wir wollen, dass grundsätzlich die Ausgaben stärker an die Einnahmen gekoppelt werden. Der Zusammenhang ist eigentlich einfach: Wir können so viel ausgeben, wie wir einnehmen. Aber um auch den wirtschaftlichen Rahmenbedingungen Rechnung zu tragen, ist es klug, diese Regel so zu konzipieren, dass mit dem Konjunkturverlauf Ausgaben und Einnahmen atmen können.
Deswegen sind wir gegen ein absolutes Verbot von Schulden. Das halten wir für volkswirtschaftlich nicht durchdacht. Wir sind für einen über den Konjunkturzyklus ausgeglichenen Haushalt. Das müssen wir auch im Grundgesetz normieren. Diese Lösung ist Maastricht-konform, und es ist eine striktere Lösung als die bestehenden Regelungen. Wir Grünen haben uns umgesehen, wie man eine solche Lösung entwickeln kann.
Wir haben in die Schweiz geschaut. Wir haben aber nicht die Schweizer Schuldenbremse kopiert, sondern eine Schuldenbremse entwickelt, die den Verhältnissen in Deutschland angepasst ist. Das heißt, wir schließen eine Finanzierung von Investitionen über Kredite nicht aus, wenn sie streng dem Maßstab genügen, dass sie das Volksvermögen wirklich mehren. Das heißt, wir müssen Privatisierungen abziehen und kalkulatorische Abschreibungen vornehmen. Solche sogenannten Nettoinvestitionen, die das Volksvermögen mehren, wollen wir durchaus kreditfinanzieren können.
Des Weiteren glauben wir - dieser Vorschlag wurde in ähnlicher Form vom Sachverständigenrat vorgelegt und diskutiert -, dass man sich damit auseinandersetzen muss, dass Prognosen für die Zukunft nicht immer einfach sind. Wenn wir vorschlagen, dass sich die Ausgaben an den Einnahmen orientieren sollen, dann stehen wir damit vor dem Problem, die Konjunkturentwicklung einschätzen zu müssen. Deswegen gehört zu einer angepassten Schuldenbremse auch, dass Schätzfehler nach einem Jahr korrigiert werden können. Ich erwähne das aus folgendem Grund: Mir ist der Einwand bekannt, dass die Schweizer Schuldenbremse schon im zweiten oder dritten Jahr nicht richtig funktioniert hat und korrigiert werden musste. Ich sage den Kritikern: Wir haben das untersucht und festgestellt, dass die Schweizer Schuldenbremse einem die Flexibilität lässt, auf die Konjunktur zu reagieren. Dass sie bei ihrer Einführung nicht sofort funktioniert und unmittelbar gewirkt hat, hat auch damit zu tun, dass sie nicht auf einen ausgeglichenen Haushalt aufsetzen konnte. Aber die Schweizer Schuldenbremse ist strikter, und sie ist Maastricht-konform. Deswegen ist für uns eine an die deutschen Verhältnisse angepasste Schuldenbremse ein intelligentes Modell. Wir sollten dies in unsere Finanzpolitik übertragen.
Ich möchte noch etwas dazu sagen, dass wir über Schuldenregeln auch in der Föderalismuskommission II diskutieren. Das ist gut so. Dabei geht es nicht nur um den Bund, sondern auch um die Bundesländer. Wir reden dort also nicht nur über eine Schuldenbremse für den Bund, sondern auch über die Altschulden, die sehr unterschiedliche Situation in den einzelnen Bundesländern und Möglichkeiten, die Finanzautonomie aufseiten der Bundesländer und im Verhältnis zwischen Bund und Ländern zu verändern. Ich finde es richtig, dass wir in der Föderalismuskommission II auch über Schuldenregeln sprechen. Aber eines ist für mich klar: Selbst wenn es mit den Bundesländern keine gemeinsame Regelung betreffend Ausgaben und Einnahmen gibt - wir sind auf Zusagen der Bundesländer angewiesen -, weil es unterschiedliche Interessen bei den Altschulden und beim Länderfinanzausgleich gibt, braucht der Bund in jedem Fall neue Regeln für seine Haushaltsgesetzgebung; das möchte ich deutlich betonen.
Ich möchte das begründen. Nach Art. 109 des Grundgesetzes sind Bund und Länder in ihrer Haushaltspolitik selbstständig. Selbst wenn es keine Einigung mit den Bundesländern gibt, müssen wir vorangehen, weil wir die große Chance haben, bald einen ausgeglichenen Bundeshaushalt vorzulegen - ich bin davon überzeugt: noch in dieser Legislaturperiode -, und die historische Chance, mit der Großen Koalition und der Unterstützung von uns, der grünen Opposition, mit Zweidrittelmehrheit das Grundgesetz zu ändern. Wir dürfen das Zeitfenster dafür keinesfalls verstreichen lassen, sondern müssen diese Chance nutzen. Das sind wir zukünftigen Generationen schuldig, wenn wir endlich nach Maßgabe einer nachhaltigen Haushaltspolitik umsteuern wollen.
Das Budgetrecht ist das Königsrecht des Parlamentes. Es ist gut, dass darüber mit den Bundesländern in der Föderalismuskommission beraten wird. Es ist aber auch wichtig, dass der Bundestag über eine Änderung des Budgetrechts ausführlich berät und nicht nur auf die Ergebnisse der Föderalismuskommission wartet. Deswegen setze ich auf eine intensive und gute Beratung über die von uns vorgeschlagene Grundgesetzänderung. Wir wollen die Ausgaben wieder stärker an die Einnahmen koppeln. Wir wollen vermögenssteigernde Investitionen finanzieren. Wir wollen einen Haushalt, der mit der Konjunktur atmet, aber auch generationengerecht ist und eine nachhaltige Haushaltspolitik ermöglicht.
Vielen Dank.
Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner:
Ich gebe das Wort dem Kollegen Jochen-Konrad Fromme, CDU/CSU-Fraktion.
Jochen-Konrad Fromme (CDU/CSU):
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Ich begrüße außerordentlich, dass dieses Thema an so prominenter Stelle hier im Plenum diskutiert wird; denn es geht um Nachhaltigkeit und um langfristige Entwicklungen. Die Kredite von heute sind die Zinsen und damit die Steuern von morgen. Ich möchte festhalten: Kinder können auf Schuldenbergen nicht spielen. Deswegen ist es wichtig, dass wir uns um den Schuldenabbau kümmern.
Das Thema ist aber natürlich nicht neu, Frau Kollegin Hajduk. Sie wissen, dass sich die Berichterstatter im Haushaltsausschuss schon lange mit der Frage befassen, wie wir diese Entwicklung ändern können. Das ist ein Hauptthema auch der Föderalismuskommission. Der Rechnungsprüfungsausschuss hat dieses Thema aufgegriffen. Ich denke, dass es nicht darauf ankommt, in einer frühen Phase mit einem fertigen Vorschlag zu kommen; vielmehr müssen wir ausloten, wo die Probleme liegen. Mir geht Ihr Entwurf - ich komme darauf zurück - nicht tief genug.
Ich will eines gerade hier im Plenum, wo nicht nur die Haushälter versammelt sind - das geht das gesamte Plenum an -, deutlich machen: Dass jeden Tag in der Zeitung etwas von weniger Neuverschuldung und mehr Steuereinnahmen steht, worüber wir uns freuen, ist Zeichen einer guten Entwicklung. Es darf aber nicht der Eindruck entstehen, die Probleme seien gelöst;
denn die Fixierung auf die Neuverschuldung ist falsch. Solange wir eine Neuverschuldung haben, heißt das, dass wir mehr ausgeben, als wir einnehmen. Es ist längst nicht mit der Beseitigung der Neuverschuldung getan. Wir dürfen auch nicht mehr die Einnahmen aus Verkaufserlösen im Haushalt berücksichtigen. Erst wenn wir mehr einnehmen, als wir ausgeben, dann liegen wir richtig, und dann sind die Probleme gelöst. Das sage ich zu allen Kolleginnen und Kollegen; denn manch einer wünscht sich schon wieder neue Programme und denkt, man könne die Ausgaben wieder steigern.
Wir müssen uns über eines im Klaren sein: Wenn es heißt, dass Deutschland möglicherweise ohne neue Schulden auskommt, dann muss man auch die sehr unterschiedlichen Strukturen betrachten. Die Lage ist auf den verschiedenen Ebenen völlig unterschiedlich. Auf Bundesebene gibt es nach wie vor ein strukturelles Defizit von 23 Milliarden Euro. Das heißt, nach der jetzigen Planung für 2008 geben wir 23 Milliarden Euro mehr aus, als wir einnehmen. Die positiven Entwicklungen, über die wir uns natürlich freuen, betreffen eher die Länderebene und die Gemeindeebene, wobei man auch da sehr differenzieren muss. Kassenkredite von 26 Milliarden Euro bedeuten, dass die kommunalen Haushalte in dieser Größenordnung aus dem Ruder gelaufen sind. Anderen hingegen geht es gut. Deswegen plädiere ich für eine sehr differenzierte Betrachtungsweise. Wir müssen uns mit dieser Frage beschäftigen.
Wer Fehlentwicklungen beseitigen will, muss sich zunächst einmal mit den Ursachen dieser Fehlentwicklungen vertraut machen. Was ist eigentlich schiefgelaufen? Eigentlich gilt auch in Deutschland der rechtliche Grundsatz: Laufende Ausgaben dürfen nicht mit Krediten finanziert werden. Angesichts dessen fragt man sich, wie es eigentlich zu dieser Entwicklung kommen konnte. Ich sage Ihnen, dass sich an vier Punkten etwas ändern muss: Erstens müssen wir verhindern, dass konsumtive Ausgaben direkt oder indirekt mit Krediten finanziert werden. Zweitens müssen wir die Ausgaben - ich komme darauf differenzierter zurück - an die Einnahmen binden und nicht umgekehrt; das ist strukturell falsch gelaufen.
Drittens müssen wir die Finanz- und Handlungsverantwortung auch innerhalb unserer Haushaltssysteme wieder in eine Hand legen; wir haben eine völlig falsche Arbeitsteilung. Viertens müssen wir Fehlanreize im Länderfinanzausgleich beseitigen und eine richtige Entwicklung initiieren.
Was ist passiert? Wir haben 1969 in der Großen Koalition das Haushaltsrecht verändert. Bis dahin war völlig klar, dass Ausgaben nur mit Einnahmen finanziert werden dürfen. In eng begrenzten Ausnahmen durften Investitionen, die zusätzliche Einnahmen für den Staat gebracht haben, durch Kredite finanziert werden. 1969 haben wir zwei Punkte verändert: Wir haben dafür gesorgt, dass Investitionen generell mit Krediten finanziert werden durften, und wir haben dann die Konjunkturregelung hinzugefügt, wonach zur Bekämpfung eines gesamtwirtschaftlichen Ungleichgewichts zusätzlich Kredite aufgenommen werden dürfen. Genau das ist der Fehler. Deswegen glaube ich, dass alles, was an einen engeren Investitionsbegriff anknüpft, die Probleme nicht lösen wird. Ich glaube, dass uns die Bindung der Verschuldungsgrenze an Maastricht-Kriterien oder an das BIP nicht weiterbringt; denn der Normalfall sowohl nach Maastricht als auch nach dem Grundgesetz ist eine Neuverschuldung von null. Also generell keine Finanzierung durch Kredite, nur in eng begrenzten Ausnahmefällen.
Es gilt der Grundsatz: Niemand kann auf Dauer mehr ausgeben, als er einnimmt.
Ich sage präziser: Niemand kann mehr verbrauchen, als er einnimmt. Da gibt es einen deutlichen Unterschied. Ich will Ihnen am Beispiel eines Autokaufs klarmachen, was wir in Deutschland falsch machen: Wenn wir für den Bund ein Kraftfahrzeug beschaffen, ist es eine Investition. Sie darf nach unserem geltenden Haushaltsrecht mit Krediten finanziert werden und ist in den letzten Jahrzehnten auch mit Krediten finanziert worden. Wir haben alles ausgereizt. Durch den Kauf des Autos ändert sich die Vermögenslage des Staates aber überhaupt nicht. Er hat ein bisschen mehr Schulden, und er hat einen Vermögensgegenstand. Die Vermögenslage des Staates ändert sich erst, wenn das Auto gebraucht wird und damit an Wert verliert. Das wird im staatlichen Budget aber überhaupt nicht erfasst. Das heißt, wir haben die Investition über einen Kredit finanziert, der Verbrauch erfolgt aber neben dem Haushalt. Dadurch, dass die Bundesrepublik Deutschland Kredite gar nicht tilgt, haben wir ein Verbrauchsgut indirekt mit Krediten finanziert. Das genau ist das Problem.
Ich habe nachgeschaut: Wir haben dieses Haushaltsrecht seit 1969. Seit 1972 kaufen wir Dienstwagen auf Kredit. Wir zahlen heute noch Zinsen für Dienstwagen, von denen nicht einmal mehr die Asche oder der Schrott übrig geblieben ist. Das genau ist das Problem. Deswegen konnten sich die Schulden so hochschaukeln. Es hat nichts damit zu tun, dass wir Dienstwagen brauchen, aber es hat etwas damit zu tun, dass wir den Verbrauch nicht durch laufende Einnahmen finanzieren.
Potenziert haben wir diesen Prozess noch durch die Konjunkturregelung, mit der wir festgelegt haben, dass man zur Bekämpfung eines gesamtwirtschaftlichen Ungleichgewichts mehr Kredite aufnehmen kann. In Wahrheit haben wir aber immer nur Verbrauchsausgaben finanziert und damit den Prozess noch gesteigert.
Eine ganz besondere Überdehnung dieser Möglichkeit wurde durch das Verfassungsgerichtsurteil vom letzten Sommer bestätigt. Was war der Streitgegenstand? Im Haushalt 2004 hatten wir - man höre und staune! - im November die Einnahmen verändert und die Kreditaufnahme um rund 20 Milliarden erhöht, während sich bei den Ausgaben nichts verändert hat. Das heißt, wir haben normale haushaltsmäßige Ausgaben mit Krediten finanziert. Das Bundesverfassungsgericht hat dies sogar durchgehen lassen. Dafür habe ich überhaupt kein Verständnis. Damals wäre die Gelegenheit gewesen, ein deutliches Zeichen zu setzen, dass dieser Prozess geändert werden muss.
Die Gemeinden stehen im Übrigen im Vergleich besser da als Bund und Länder. Warum ist das so? Die Gemeinden sind durch die Kommunalaufsicht immer gezwungen worden, mindestens 2 Prozent ihrer Schulden zu tilgen. Dieses Verhalten war zwar wirtschaftlich nicht sauber, aber die Gemeinden haben immerhin getilgt. Deswegen hatten sie nicht die Möglichkeit, einen solch einmaligen Schuldenberg aufzuhäufen.
Im Übrigen waren wir, und zwar alle Parteien - ich sage das ganz wertfrei -, an der Fehlentwicklung beteiligt. Aber dies müssen wir korrigieren. 1969 herrschte noch der Geist, nur das mit Krediten zu finanzieren, was für die Zukunft Werte schafft, aber nicht das, was in der Zukunft verzehrt wird. Die Entwicklung aber ist falsch gelaufen.
Frau Kollegin Hajduk, ein absolutes Schuldenverbot in dem Sinne, dass überhaupt keine Kreditaufnahme mehr zulässig ist, halte ich auch nicht für sinnvoll. Schulden an sich sind weder gut noch böse. Es ist wie mit dem Feuer: Es kann verbrennen, es kann aber auch wärmen. Genauso ist es mit Krediten. Wenn man es schafft, den Staat durch eine Kreditaufnahme besserzustellen, dann sollte man das auch tun. Wir haben zum Beispiel viele alte Gebäude mit alten Heizungssystemen und daher relativ hohen Heizkosten. Wenn es gelingt, durch eine Investition die Heizkosten so stark zu senken, dass die Einsparungen höher sind als die Zinsen und die Abschreibungen für diese Investition, ist es wirtschaftlich vernünftig und sinnvoll, in diesem Fall Schulden zu machen.
Wir müssen unser Rechnungswesen so verändern, dass der Werteverzehr abgebildet wird, damit wir zu dem Ergebnis kommen können, wie viele Einnahmen wir haben und wie viel wir verbraucht haben. Das darf sich nicht nur in den kassenmäßigen Ausgaben widerspiegeln, es muss sich im Fall des Autokaufs auch im Werteverzehr widerspiegeln. Wenn wir das geschafft haben, können wir messen, was wir auf der Einnahmenseite und was wir auf der Ausgabenseite haben. Dann spielen auch Schulden keine Rolle mehr. Der Investitionsbegriff ist ein falscher Indikator. Damit wird nicht gemessen, ob ich mich finanzwirtschaftlich ordentlich verhalte oder nicht.
Es gibt noch etwas, was wir im Bundeshaushalt völlig falsch machen: die Aufteilung der Investitionsveranschlagung. Wenn der Bund ein Gebäude beschafft, dann stehen im Fachhaushalt die notwendigen Angaben zu den Investitionen, allerdings noch nicht einmal vollständig; denn die Planungs- und Bauleitungskosten - sie machen ungefähr ein Viertel der Kosten eines Bauvorhabens aus - sind im Haushalt des Bundesministeriums für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung oder des Bundesministeriums der Finanzen veranschlagt, da sie bei den Länderbauverwaltungen anfallen. Die übrigen Finanzierungskosten im Zusammenhang mit der Investitionsentscheidung erscheinen im Fachhaushalt überhaupt nicht, sondern lediglich im Einzelplan 32, um den sich keiner kümmert.
Wenn man bei einer Abschreibungsdauer von 50 Jahren - für heutige Verhältnisse ist das eigentlich schon viel zu lange - und einem Zinssatz von 5 Prozent ein Gebäude beschafft, dann machen die Finanzierungskosten das 1,4-Fache der Bauinvestitionen aus, die im Haushalt allerdings gar nicht erscheinen. Wir müssen dafür sorgen, dass die Folgekosten von Investitionen im Haushalt wieder angegeben werden. Das heißt, diejenigen, die eine Entscheidung über eine Investition treffen, müssen die lebenszeitbezogenen Gesamtkosten berücksichtigen. Wenn das der Fall ist, wird diese Entscheidung schwieriger, weil man sämtliche Kosten vor Augen hat, und dann kommen wir wieder zu einem angemessenen Umgang mit den Ressourcen.
Auf die Notwendigkeit, bei konjunkturellen Schwankungen reagieren zu können, ist ausreichend eingegangen worden. Da müssen wir uns etwas einfallen lassen.
Mir ist wichtig, dass wir aus der Klemme herauskommen, dass finanzwirtschaftliche Grundsätze durch politische Entscheidungen unterlaufen werden können.
Politiker sind Menschen, und Menschen sind schwach, und sie suchen in einer konkreten Situation immer den leichtesten Ausweg. Das ist unsere Erfahrung seit 1969. Wir brauchen eine instrumentelle Absicherung, durch die es unmöglich wird, auszuweichen. Auf diesem Wege muss das süße Gift des Verlagerns finanzieller Lasten in die Zukunft beseitigt werden. Wenn wir das schaffen, kommen wir finanzwirtschaftlich besser über die Runden. Dann werden wir der Verantwortung unseren Kindern gegenüber gerecht, weil wir ihnen keinen Schuldenberg, sondern ein geordnetes Staatswesen hinterlassen.
Schönen Dank.
Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner:
Nächste Rednerin ist die Kollegin Ulrike Flach, FDP-Fraktion.
Ulrike Flach (FDP):
Frau Präsidentin! Liebe Kollegen und Kolleginnen! Ich finde es gut, Frau Hajduk, dass die Fraktion Die Grünen eine Woche nach unserer Haushaltsdebatte im Plenum diesen Vorschlag macht. Manchmal hat man das Gefühl, dass der Finanzminister und die hier versammelte Große Koalition den Eindruck vermitteln möchten, alles sei im Lot, der Bundesfinanzminister sei nicht nur ?Peer im Glück“, sondern auch das Sterntalermädchen. Aber in der Realität nimmt die Verschuldung der öffentlichen Haushalte weiter zu, zwar etwas langsamer - das ist sicherlich positiv zu vermerken -, aber deutlich und stetig.
Die Situation ist nach wie vor dramatisch - da stimme ich meinen beiden Vorrednern ausdrücklich zu -, und sie rechtfertigt keineswegs - das sage ich auch für unsere Fraktion - Forderungen nach umfangreichen Ausgaben, für welchen guten Zweck auch immer.
Sparen ist angesagt. Wir müssen von den 40 Milliarden Euro Zinslasten des Bundes - das muss man sich einmal auf der Zunge zergehen lassen - endgültig runter.
Für das Jahr 2008 hält nun auch der Finanzminister ein kleines Plus im Staatshaushalt für möglich. Da fragen wir uns natürlich: Wann, wenn nicht jetzt, sollten wir grundsätzliche Entscheidungen treffen, um die Staatsverschuldung in den Griff zu bekommen? Das können wir nur in konjunkturell guten Zeiten mit hohen Steuereinnahmen. Wenn die Bürger schon durch die massiven Steuererhöhungen erhebliche Lasten tragen müssen, um den Haushalt zu sanieren, dann müssen wir jetzt Halteseile einziehen, damit in schlechten Zeiten nicht wieder der Weg in die Schulden gesucht und damit nicht wieder auf Kosten der nächsten Generation gewirtschaftet wird.
Da sind wir völlig bei Ihnen, Herr Fromme. Diesen Weg gehen wir gemeinsam.
Insofern freue ich mich, dass die Grünen mit der sogenannten Schweizer Schuldenbremse zumindest einmal einen Vorschlag auf den Tisch gelegt haben. Ich will Ihnen aber auch gleich sagen: Die FDP steht dem kritisch gegenüber, und zwar aus folgenden Gründen:
Erstens. Bislang orientiert sich die Höhe der Kreditaufnahme an den Bruttoinvestitionen. Frau Hajduk, Sie haben eben erläutert, dass Sie das ändern wollen, indem nur noch ein Bezug zu den Nettoinvestitionen hergestellt wird. Das bedeutet, dass der Kreditrahmen um Abschreibungen und Privatisierungserlöse verringert wird; aber - das ist für uns entscheidend - eine steigende Verschuldung wird nicht grundsätzlich verhindert. Der Sachverständigenrat schätzt die Ermächtigung, die aus den Nettoinvestitionen herrührt, auf circa 6 bis 8 Milliarden Euro. Als Haushälter muss man sich überlegen, ob man das will; wir wollen es nicht.
Zweitens. Schulden, die aufgrund von Schätzfehlern beim Haushaltsvollzug auftreten, werden auf einem virtuellen Ausgleichskonto gesammelt.
Sie sagen, dass diese Summe 2 Prozent des BIP nicht überschreiten darf. Da frage ich mich natürlich: Warum 2 Prozent?
Das ist im Prinzip eine willkürlich gegriffene Zahl. Wenn man dies nach dem augenblicklichen Stand berechnet, kommt man zu dem Ergebnis, dass dort 50 Milliarden Euro Schulden geparkt werden können. Das ist eine nicht unerhebliche Summe. Steigt das BIP, steigt auch die Höhe der dort hinterlegten möglichen Schulden. Das sehen wir als problematisch und auch als intransparent an.
Drittens. Ihr Modell sieht bei Naturkatastrophen oder Unglücksfällen die Möglichkeit einer höheren Verschuldung vor, wenngleich dies nur mit einer Zweidrittelmehrheit im Bundestag beschlossen werden kann. Da sind sich unsere Positionen näher, Frau Hajduk, als es im Augenblick vielleicht scheint; aber es wird wirklich schwierig. Widmen wir uns zum Beispiel dem Klimawandel, dessen Abfederung erhebliche Geldströme benötigt! Wie schätzt man das ein? Dazu ist sicherlich noch eine vertiefte Diskussion nötig.
Im Bundeshaushalt fallen die meisten Ausgaben für Transferleistungen an. Ein kurzfristiges Umsteuern ist hierbei äußerst schwer.
Sie geben nun etwas vor, was ich an Ihrem finanzpolitisch sonst sehr stringenten Entwurf für völlig sachfremd halte: Sie setzen das Ziel der Einhaltung des ökologischen Gleichgewichts und der kontinuierlichen Senkung der Umweltbelastung. Das heißt, Sie mischen Haushaltsgrundsätze und politische Zielvorstellungen.
Ebenso gut könnte man zum Beispiel das Ziel der Senkung der Belastung für Familien oder aber das Ziel der Senkung der Staatsquote einbeziehen. Das passt aus unserer Sicht nicht zusammen. Das öffnet Schleusen, die wir gerade schließen wollen.
Was schlagen wir nun alternativ vor? Die FDP hat bereits im letzten Jahr einen Antrag eingebracht, nach dem ein generelles Neuverschuldungsverbot bestehen soll, von dem nur in Ausnahmefällen und nur mit einer Zweidrittelmehrheit im Bundestag abgewichen werden darf. Wir haben seit 40 Jahren erstmals die Chance, einen Haushalt ohne Neuverschuldung aufzustellen, sogar schon 2008. Man muss aber sehen, dass wir mit einer schwarzen Null im Bundeshaushalt nicht am Ziel sind. Dann geht es natürlich erst richtig los; Herr Fromme, da sind wir völlig einer Meinung. Rund 900 Milliarden Euro der gesamtstaatlichen Verschuldung entfallen auf den Bund. Erst wenn wir diesen Betrag abgebaut haben - wie schwierig das ist, werden wir alle in den kommenden Wochen mit unseren Kollegen in den einzelnen Fachausschüssen hautnah erleben -, sind wir am Ziel.
Wir brauchen aus unserer Sicht sehr restriktive Verschuldungsverbote; denn schon im ersten Jahr eines Haushaltsüberschusses sehen wir das begierige Funkeln in den Augen vieler Minister. Frau von der Leyen ist gerade nicht hier; sie hätte ich als besonders gutes Beispiel dafür nennen können. Diesbezüglich stehen wir zum Finanzminister - Frau Hendricks, wenn Sie es ihm mitteilen würden, wären wir Ihnen dankbar -: Haushaltssanierung muss Priorität haben.
Die FDP will die Subventionen um 20 Prozent kürzen und den Subventionsbegriff erweitern. Wir wollen - darin unterscheiden wir uns sehr deutlich von der Koalition und auch von den Linken - im Haushalt erheblich mehr einsparen. Sie könnten schon heute einen ausgeglichenen Haushalt ohne Neuverschuldung vorlegen, wenn Sie nur den Ausgabenzuwachs von 2007 auf 2008 begrenzen würden.
Lassen Sie mich einen letzten Aspekt ansprechen. Bund, Länder und Kommunen zusammen müssen zu einer anderen Haushaltsführung kommen; da bin ich mit Ihnen völlig einer Meinung, Herr Fromme. Die Schuldenbremse, die die Grünen vorschlagen, wird aber schon bei den Ländern methodisch problematisch, weil die Länder kaum eigene Steuergestaltungsmöglichkeiten haben und somit ihre Einnahmen nicht so planen können wie der Bund. Bei den Kreisen ist es ähnlich. Es gibt schon heute Kreise, deren Einnahmen nicht mehr ausreichen, um die Pflichtaufgaben zu erfüllen.
Die Föderalismuskommission hat im ersten Teil der Reform einiges auf den Weg gebracht, aus unserer Sicht nicht genug. Sie hat vor allen Dingen genau diesen empfindlichen Punkt im ersten Teil nicht erledigt. Sie hat jetzt die Chance, die Finanzbeziehungen zwischen Bund und Ländern auf eine sehr solide Basis zu stellen. Eine konsequente Beschränkung der Neuverschuldungsmöglichkeiten wäre angesichts ihrer guten Einnahmesituation natürlich auch für die Länder möglich.
Das Modell der Grünen, Frau Hajduk, ist aus unserer Sicht dazu nicht geeignet. Aber ich bin auf die Diskussionen gespannt, die wir in nächster Zukunft dazu haben werden. Wir sind völlig mit Ihnen einig, dass wir hier im Interesse unserer Kinder und Enkelkinder einen neuen Weg gehen müssen und nicht so wie bisher weitermachen können.
Wir sind für ein generelles Neuverschuldungsverbot und hoffen, dass uns dabei ein Großteil des Hauses folgen wird.
Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner:
Das Wort hat der Kollege Volker Kröning, SPD-Fraktion.
Volker Kröning (SPD):
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Nach der Devise ?Weniger ist mehr“ werde ich die Redezeit der SPD-Fraktion von 24 Minuten nicht ausschöpfen.
Ich werde mir ein gutes Beispiel an den Vorrednerinnen und Vorrednern nehmen und mich kurz fassen; vielleicht können es die Nachfolgenden entsprechend machen.
Ohne Frage besteht Handlungsbedarf im Hinblick auf ein System gesamtstaatlicher Haushaltsdisziplin. Es wurde schon gesagt: 1 500 Milliarden Euro öffentliche Schulden, also Schulden des Gesamthaushalts von Bund, Sozialversicherungen, Ländern und Gemeinden, sind zu viel und verlangen nach einer Trendumkehr, einem Weg aus der Schuldenfalle. Wenn Sie - ich spreche hier vor allem unsere Zuhörerinnen und Zuhörer an - sehen, dass wir im Bundeshaushalt allein 40 bis 45 Milliarden Euro jährlich für Zinsen ausgeben und gar nicht tilgen, dann zeigt ihnen dies, welche Handlungsmöglichkeiten uns nicht erst in Zukunft, sondern schon in der Gegenwart durch die Last entgehen, die unter anderem die Teilung und Einigung Deutschlands den öffentlichen Finanzen aufgebürdet haben.
Ich freue mich, feststellen zu können, dass es nicht mehr um das Ob, sondern nur noch um das Wie einer Schuldenschranke geht. Dazu ist der Vorschlag, den die Grünen dankenswerterweise eingebracht haben, verdienstvoll. Er kommt nicht mehr aus der Regierung heraus, sondern wurde mit den Mitteln einer Oppositionsfraktion erarbeitet. Als Rechts- und Verfassungspolitiker halte ich ihn auch deshalb für maßstabsetzend, weil er nicht nur die Verfassung, sondern auch die Ausführungsgesetze ins Auge fasst, die wir uns ebenfalls anschauen müssen. Es sind das Stabilitäts- und Wachstumsgesetz und die Bundeshaushaltsordnung für unseren Haushalt und das Haushaltsgrundsätzegesetz für die nachgeordneten Gebietskörperschaften, also die Länder inklusive der Gemeinden.
Allerdings zeigt das Verfahren der Grünen bei allem Charme dieser Debatte in der Kernzeit, dass wir noch längst nicht so weit sind, eine Entscheidung treffen zu können. Heute geht es ja auch um die erste Lesung des Gesetzentwurfs. Die Grünen haben ihr Vorschlagspaket in die Kommission eingebracht, von der schon die Rede war. Dort ist es eine der Lösungsalternativen, die wir bei der Bewältigung dieser Aufgabe, die unserer Generation für unsere Nachkommen zu lösen aufgegeben ist, zu beurteilen haben. Dieses Verfahren, das ein bisschen an Spagat erinnert, ist nicht nur unschädlich, sondern sogar nützlich, weil der Vorschlag eine Vorlage für eine gesamtstaatliche Verständigung bildet, die wir brauchen und zu der der Bund und zumindest verbal im Augenblick auch die Länder bereit sind, wie unsere Kommissionsarbeit zeigt.
Um entsprechend vorarbeiten zu können, kennzeichne ich auch die anderen Alternativen: den Vorschlag des Sachverständigenrates, um den die Bundeskanzlerin gebeten hatte und der uns in der Kommission beschäftigt hat und weiter beschäftigen wird - in ihm geht es um das sogenannte Nettoinvestitionenmodell -, und die Überlegung, das Regime, das die Europäische Union inzwischen mit dem Vertrag von Maastricht, dem Stabilitäts- und Wachstumspakt und der Reform des Paktes eingeführt hat, auf die innerstaatlichen Verhältnisse zu übertragen. Diesen sehr einleuchtenden Ansatz kann man ebenfalls auf einen Begriff bringen.
Da wir inzwischen akzeptieren müssen, dass Englisch die Weltsprache ist, verwende ich den Fachbegriff ?close to balance“, das heißt Haushaltsausgleich innerhalb eines Konjunkturzyklus mit normalen Aufschwüngen und Abschwüngen, also abgesehen von unvorhersehbaren und unvermeidbaren Fällen, die einer Sonderregelung bedürfen.
Wir haben - das gerät bei dieser Diskussion oft in Vergessenheit - bereits mit der Bundesstaatsreform I die Weichen dafür gestellt. Ich zitiere aus Art. 109 Abs. 5 Satz 1 des Grundgesetzes, der dankenswerterweise - der im Saal anwesende damalige Vorsitzende der Föderalismuskommission, Franz Müntefering, wird meine Erinnerung bestätigen - vor allen Dingen auf eine Verständigung mit dem hessischen Ministerpräsidenten zurückgeht:
Verpflichtungen der Bundesrepublik Deutschland aus Rechtsakten der Europäischen Gemeinschaft auf Grund des Artikels 104 des Vertrags zur Gründung der Europäischen Gemeinschaft zur Einhaltung der Haushaltsdisziplin sind von Bund und Ländern gemeinsam zu erfüllen.
Mit dieser Bestimmung wird eine Regelungslücke geschlossen, die wir seit den 90er-Jahren hatten, seit dem Vertrag von Maastricht und dem Stabilitäts- und Wachstumspakt; allerdings wird sie nur teilweise geschlossen. Sie ist sozusagen eine repressive Regelung, eine Regelung für den Fall, dass wir gegen die übergeordnete Regelung der Europäischen Union verstoßen und uns Sanktionen auferlegt werden, die dann zwischen Bund und Ländern und unter den Ländern verteilt werden müssen.
Ich bin sehr zufrieden damit, dass wir diese Regelung getroffen haben. Hier ist bei früheren Anlässen schon festgestellt worden, dass sie eine präventive Wirkung entfalten wird. Nicht nur die konjunkturelle Situation, in der wir uns augenblicklich befinden, nicht nur die Fortschritte im Strukturwandel bei den öffentlichen Finanzen, die wir auf der Ausgaben- wie Einnahmenseite verzeichnen können, sondern auch diese Verpflichtung ist richtungsweisend und gibt uns Rückenwind für die Aufgabe, die verbliebene Regelungslücke zu schließen.
Die verbliebene Regelungslücke muss ein präventives Element aufnehmen, muss Vorbeugung gegen Haushaltskrisen, Überwindung von Haushaltsnotlagen auf beiden Ebenen, der Bundesebene und der Länderebene, einschließen und muss auch die wichtigen Elemente, die Europa liefert, umfassen, nämlich Früherkennung, Frühwarnung, gemeinschaftliche Kontrolle und gegebenenfalls Sanktioen, die nicht den Beigeschmack einer Abstrafung im föderalen Verhältnis haben oder den Beigeschmack, dass jemand extraordinäre Mehreinnahmen erzielen muss oder Minderausgaben auferlegt bekommt. Das wird in der föderalen Gemeinschaft sicherlich nicht zu einer Einigung zu führen sein.
Mit Blick auf das Wie noch ein Wort zum Vorschlag der Grünen. Es ist schon gesagt worden: Mit der Erweiterung des sogenannten magischen Vierecks, das wir seit der großen Finanzreform und seit dem Stabilitäts- und Wachstumsgesetz der ausgehenden 60er-Jahre haben, um weitere Ziele, Prinzipien und Interessen, wie sich Ihr Gesetzentwurf ausdrückt, Frau Hajduk, droht die Reform zu verwässern.
Frau Flach hat dies richtigerweise gesagt, und ich möchte das unterstreichen. Ich freue mich, nebenbei gesagt, sehr darüber - auch wenn es ein bisschen traurig ist, dass heute fast nur Haushaltspolitiker und wenig Steuerpolitiker im Saal sind -, dass Sie ein klares Bekenntnis zum Vorrang der Haushaltskonsolidierung vor Steuersenkungen abgegeben haben.
Das müssen wir festhalten. Denn was wollen wir eigentlich mit den Überschüssen machen, die wir anstreben? Nicht nur Haushaltsausgleich, sondern auch Haushaltsüberschuss ist unser Ziel; dies ist die Voraussetzung für einen nationalen Entschuldungspakt. Wenn das die gültige Linie der FDP werden sollte, dann können sogar wir uns wieder näherkommen.
Der Kollege Fromme hat zum Schluss seiner Ausführungen eine mehr technische Bemerkung gemacht, die aber hochpolitisch ist. Er hat deutlich gemacht, dass auf dem Prüfstand der jetzt bevorstehenden Finanzverfassungsreform nicht nur die Vorschrift über die Grenzen des Kredits, Art. 115 des Grundgesetzes, steht oder die Vorschrift in Art. 109, die mehr oder weniger fiktiv von einer Haushaltsautonomie von Bund einerseits und Ländern andererseits ausgeht, steht. ?Fiktiv“ sage ich übrigens deshalb, weil die Länder entscheiden müssen, ob sie ihre Staatlichkeit überhaupt ernst nehmen oder nicht. Das ist eine hinkende Staatlichkeit, eine Staatlichkeit, die auf der Ausgabenseite relativ groß ist, doch auf der Einnahmenseite fast gleich null ist und im Wesentlichen darin besteht, dass die Länder an der Steuergesetzgebung des Bundes mitwirken. Das ist sozusagen Beteiligungsförderalismus und kein Gestaltungsförderalismus. Deshalb kommt die größte verfassungspolitische Herausforderung nicht auf den Bund, sondern auf die Länder zu.
Wichtig ist - das hat Herr Kollege Fromme zu Recht hervorgehoben; diesbezüglich kann ich ein bisschen die Katze aus dem Sack lassen -, dass es auch um Art. 114 des Grundgesetzes, nämlich die Vorschriften über Rechnungslegung und Rechnungsprüfung, geht. Das ist ein ganz interessantes Thema. Wir haben bei unserer Arbeit ja auch den Bundesrechnungshof auf unserer Seite. Und es geht in Art. 110 Grundgesetz um die sogenannte Kameralistik. In Art. 110 Abs. 1 Grundgesetz heißt es:
Alle Einnahmen und Ausgaben des Bundes sind in den Haushaltsplan einzustellen; bei Bundesbetrieben und bei Sondervermögen brauchen nur die Zuführungen oder die Ablieferungen eingestellt zu werden.
Diese zwei kleinen Sätze zeigen, dass wir überhaupt nicht wissen, was unseren Schulden an Vermögen gegenübersteht. Wir haben keine Vermögensrechnung. Wir machen keine Bilanz und keine Gewinn- und Verlustrechnung. Wir müssen uns die grundlegende Frage stellen, ob das, was in der privaten Finanzwirtschaft üblich ist, auf die öffentliche Finanzwirtschaft übertragen werden muss und kann. Einige Länder und viele Gemeinden sind da schon weiter als der Bund.
Wir als Koalitionsarbeitsgruppe Haushalt sind - so viel, Herr Fromme, darf ich ausplaudern - bereit und fühlen uns durch die Unterstützung des Finanzministeriums in wachsendem Maße in der Lage, die Erweiterung der Kameralistik oder sogar die Umstellung auf die Doppik noch in dieser Legislaturperiode einzuleiten, um die Grundlage für das, was ich System gesamtstaatlicher Haushaltsdisziplin genannt habe, zu schaffen.
Zusammengefasst: Es wird keine Regel im Gesamtstaat geben, oder es wird eine gute geben. Nur eine gute Regel wird die Voraussetzung dafür schaffen, die von mir genannte Trendumkehr zu erreichen und den Ausweg aus der Schuldenfalle zu finden.
Danke schön.
Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner:
Ich gebe das Wort dem Kollegen Dr. Axel Troost, Fraktion Die Linke.
Dr. Axel Troost (DIE LINKE):
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Den Antrag der Grünen und vieles in der Debatte durchzieht ein roter Faden, wonach antizyklische Finanz- und Wirtschaftspolitik gescheitert sei. Ich gehöre seit 1975 zusammen mit dem Kollegen Herbert Schui zu einer Arbeitsgruppe von Professoren, die seit nunmehr 32 Jahren in jedem Jahr in einem Memorandum nachweisen, dass keine antizyklische Wirtschaftspolitik betrieben wird und dem Stabilitäts- und Wachstumsgesetz, demzufolge in entscheidendem Umfang die Arbeitslosigkeit zu bekämpfen ist, nicht nachgekommen wird, sondern dass eine Politik betrieben wird, die letztlich durch Steuersenkungen für Unternehmen und Reiche sowie durch Sozialabbau eher zu einem weiteren Anstieg der Arbeitslosigkeit und damit zu geringerem Wachstum der Steuereinnahmen beigetragen hat.
Das ist seit 1975 unter verschiedenen Koalitionen der Fall: erst unter der sozial-liberalen unter Helmut Schmidt, dann der schwarz-gelben unter Herrn Kohl, dann der rot-grünen unter Herrn Schröder und nun unter der Großen Koalition.
Letztlich ist es aber immer das gleiche Politikmodell.
In der Tat haben wir einen sehr hohen Schuldenstand. Aber wenn man sich anschaut, woher er in den letzten 20 Jahren gekommen ist, dann kann man insbesondere zwei Zeiträume hervorheben: Das sind zum Ersten in ganz erheblichem Umfang die Jahre nach 1990 mit dem sogenannten Aufbau Ost.
Wenn man das aufsummiert, sind darauf allein rund 700 Milliarden Euro des Schuldenstandes von 1,5 Billionen Euro zurückzuführen. Es ist zum Zweiten die Politik seit 2000, die dazu geführt hat, dass der Schuldenstand noch einmal um rund 300 Milliarden Euro gestiegen ist; darauf gehe ich gleich ein. Zwei Drittel des gesamten Schuldenstandes, über den wir reden, sind also nur durch diese zwei Phänomene verursacht.
Es wird gesagt, in Bezug auf den Aufbau Ost habe man andere Finanzierungsvorstellungen gehabt und es für falsch gehalten, zu meinen, das könne man aus der Portokasse bezahlen. Da manche sagen, das sei verschüttete Milch, schauen wir uns einmal an, was seit 2000 passiert ist.
Es ist in der Tat so, dass unter Rot-Grün - natürlich mit Unterstützung der CDU/CSU - eine angebotsorientierte Politik gemacht worden ist, indem vorwiegend an Unternehmen und Reiche milliardenteure Steuergeschenke gegeben worden sind in der Hoffnung, dies führe zu mehr Wachstum und zu einem Abbau der Arbeitslosigkeit. Das Gegenteil ist eingetreten. Seitdem haben wir jährlich rund 50 Milliarden Euro weniger an Einnahmen. Im Jahre 2006 hätten wir insgesamt 53 Milliarden Euro mehr in den öffentlichen Haushalten gehabt, wenn wir die Steuerquote des Jahres 2000 noch gehabt hätten.
Das Ergebnis ist nicht, dass mehr Arbeitsplätze entstanden sind. Das Ergebnis sind vielmehr ein niedrigeres Wachstum und riesige Haushaltsdefizite, weil Steuermehreinnahmen ausgeblieben sind. Sie haben nämlich makroökonomische Grundzusammenhänge schlicht und einfach ignoriert. Die angebotsorientierten Steuersenkungen haben hauptsächlich Unternehmen und Spitzenverdiener entlastet und deswegen gerade nicht zu Wachstum geführt.
Die Unternehmen belohnten diese Steuergeschenke in den Jahren bis 2005 nicht mit einem Investitionsboom. Nein, sie nahmen die Steuersenkungen als willkommenes Geschenk mit und warteten auf steigende Nachfrage. Aber diese Nachfrage gab es aufgrund der Binnenmarktschwäche nicht im Inland, sondern ausschließlich im Export. Dies hat zu einer verteilungspolitischen Schieflage in erheblichem Umfang geführt und dazu, dass dem Anstieg der Schulden mit neuer Sparpolitik und - wohlgemerkt - Steuersenkungen entgegengewirkt wurde. Insofern glauben wir, dass ein Politikwechsel dringend erforderlich ist, ein Wechsel, der letztlich zu mehr Wachstum führt, das dann zu einer Sanierung der Staatsfinanzen beitragen kann.
Sie dagegen haben den Versuch unternommen - der Sachverständige Bofinger hat Deutschland als Weltmeister im Sparen auf dem öffentlichen Sektor bezeichnet -, der ständig steigenden Verschuldung mit Steuersenkungen und einer Schrumpfungspolitik entgegenzuwirken. Aber dieses Spiel geht nicht auf und hat zur Konsequenz, dass die öffentlichen Investitionen inzwischen dramatisch gesunken sind: zwischen 2000 und 2005 allein um 3,9 Prozent. Mit einer Investitionsquote von 1,3 Prozent haben wir inzwischen den niedrigsten Stand überhaupt in der Geschichte der Bundesrepublik.
Auch die Bundesländer mussten sich in der Tat totsparen. In Bremen zum Beispiel sind die Ausgaben zwischen 2000 und 2005 um jährlich 2 Prozent gefallen. Es gab drastische Einschnitte, aber auch dramatische Einbrüche auf der Einnahmenseite: Die Einnahmen sind in diesem Zeitraum pro Jahr um sage und schreibe 5,9 Prozent gesunken. Dies hat natürlich dazu geführt, dass die Verschuldung auch in diesem Land trotz Sparpolitik angestiegen und nicht zurückgegangen ist. Auf kommunaler Ebene herrscht mittlerweile ein dramatischer Investitionsstau. Es wurde errechnet, dass wir allein bis 2009 jährliche Investitionsbedarfe von über 70 Milliarden Euro haben.
Was heißt dies letztlich? Dies bedeutet wachsende Kinderarmut in einem der reichsten Länder der Welt, Bildungsnotstand, überall bröckelnde öffentliche Gebäude. Dies bedeutet tausendfache Armut durch Hartz IV, einen massiven Arbeitsplatzabbau sowie Lohn- und Gehaltskürzungen im öffentlichen Dienst. Das alles ist aber nicht Folge einer misslungenen antizyklischen Politik. Es ist das Ergebnis der gigantischen Steuergeschenke an Unternehmen und der gescheiterten angebotsorientierten Politik.
Deswegen sagen wir: Wir brauchen keine Schuldenbremse, sondern eine Steuersenkungsbremse.
Wenn Sie, liebe Kolleginnen und Kollegen von Rot-Grün - damals natürlich mit Unterstützung der Union und der FDP -, nicht wirtschaftspolitisch unsinnige Steuergeschenke an Unternehmen und Reiche beschlossen hätten, dann hätten wir diesen Schuldenanstieg seit 2000 nicht zu verzeichnen und deutlich geringere Zinslasten auszugleichen.
Es ist daher völlig unredlich, so zu tun, als würde antizyklische Politik immer scheitern. Schauen wir uns in Europa oder der Welt doch einmal um. Laut Financial Times gibt es elf OECD-Länder, die seit zehn Jahren Haushaltsüberschüsse erwirtschaften. Davon haben acht Länder, unter anderem Kanada, Dänemark und Schweden, weder etwas mit dem europäischen Stabilitätspakt noch mit den Maastricht-Kriterien zu tun noch gelten dort großartige Verfassungsverbote. In anderen Ländern sind die Politikerinnen und Politiker also verantwortungsbewusst genug, um das wirtschaftspolitische Instrument Staatsverschuldung sinnvoll und effizient einzusetzen.
Dieses Verantwortungsbewusstsein lässt sich bei den Vorschlägen zur Verschuldungsgrenze nicht erkennen. Letztendlich verbirgt sich dahinter eine Selbstaufgabe. Dieses makroökonomische Instrument kann man in Zukunft nicht mehr antizyklisch einsetzen, was aber nötig wäre.
Faktisch wird eine solche Schuldenbremse dazu führen, dass in Krisenzeiten noch eher Ausgaben gekürzt werden und noch eher Sozialabbau betrieben wird. Faktisch entsteht eine Spirale aus Sparpaketen, niedrigem Wachstum und niedrigen Steuereinnahmen, die mit Verfassungssiegel und dem Etikett ?Sachzwang“ verkauft wird. Das ist wirtschaftspolitisch fragwürdig. Deswegen sagen wir dazu Nein.
Stattdessen sagen wir Ja zu einer Politik, die mit einem Zukunfts- und Investitionsprogramm gute Beschäftigung fördert, die in einem nationalen Pakt für Bildung und Ausbildung ausreichend Finanzmittel für Investitionen in die Zukunft unserer Kinder zur Verfügung stellt, die die öffentliche Daseinsvorsorge wieder aus- und nicht weiter abbaut, die öffentlich geförderte Beschäftigungsverhältnisse für Arbeitssuchende schafft - trotz Aufschwung sind noch mindestens 5 Millionen Menschen arbeitssuchend - und die, sobald sich der Aufschwung verfestigt hat, eine Reduzierung der Verschuldung vornimmt.
Vor allen Dingen sagen wir aber Ja zu einer Politik, die sich ausreichend Steuern bei denen zurückholt, die von den Geschenken der letzten Jahre profitiert haben. Wir sagen Ja zu einer Wirtschaftspolitik, die demokratisch ist, die sozial gerecht ist und die nicht auf den wirtschaftspolitischen Lebenslügen von vorgestern aufbaut.
Danke schön.
Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner:
Ich gebe das Wort dem Kollegen Georg Fahrenschon, CDU/CSU-Fraktion.
Georg Fahrenschon (CDU/CSU):
Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Lieber Herr Kollege Troost, wir sitzen auf einem Schuldenberg von 1 500 Milliarden Euro, und das Einzige, was die Linke uns anbietet, ist: Weiter so!
- Doch, das haben Sie gerade gesagt. Sie haben gerade gesagt: Die Regeln sind so wunderbar, dass wir einfach so weitermachen können.
Eines kann ich Ihnen sagen: Das Einzige, was die Regierungen vereint, die Sie gerade als Vorbild in Ihrer Argumentation genannt haben, ist, dass in keiner dieser Regierungen ein Kommunist am Ruder sitzt. Die Kommunisten stehen in diesen Ländern auf der Straße und demonstrieren gegen die rigide Sparpolitik.
Wir stehen in der Pflicht, unseren Kindern mehr als einen gigantischen Schuldenberg zu hinterlassen. Wir stehen in der Pflicht, unseren Kindern Chancen und Perspektiven zu eröffnen. Ein wesentlicher Grundstein dafür ist eine nachhaltige und stabilitätsorientierte Haushalts- und Finanzpolitik. Deshalb ist eine solche Politik der Kern bürgerlicher Politik, der Kern der erfolgreichen Politik von CDU und CSU.
Die Kollegin Flach hat zu Recht darauf hingewiesen, dass wir uns schon während der Haushaltsberatungen in der letzten Woche über den Ausblick unterhalten und eine Zwischenbilanz gezogen haben. Ich glaube, man muss noch einmal deutlich machen, dass die Einhaltung des europäischen Stabilitätspaktes, die Einhaltung des Art. 115 Grundgesetz die Grundlage dafür ist, dass wir uns jetzt über die Zukunft unterhalten können.
Wir machen deutlich - Kollege Fromme hat ein Stück weit die Entwicklung beschrieben -, dass wir mit dieser Situation noch nicht zufrieden sind. Wir können mit dem Erreichten noch nicht zufrieden sein. Wir sind allerdings überzeugt, dass wir die doppelte Politik von Konsolidierung einerseits und Wachstum andererseits benötigen. Denn am Ende brauchen wir Wachstumsimpulse, um überhaupt in die Lage versetzt zu werden, diesen riesigen Berg an Staatsschulden abzuarbeiten. Wer Konsolidierung und Wachstum gegeneinander ausspielt, macht schon im Kern einen Fehler und wird die Zukunft nicht gestalten können.
Wir haben immer noch ein zu großes strukturelles Defizit in Höhe von 23,5 Milliarden Euro, und wir reißen immer noch das Schuldenstandskriterium; denn wir liegen bei 67,9 Prozent. Das ist sage und schreibe das 3,6-Fache der Verschuldung, die wir in den 70er-Jahren hatten. Deshalb ist es nach Auffassung der Union gerade in konjunkturell guten Zeiten von so großer Wichtigkeit, die weiterhin bestehenden Haushaltsungleichgewichte so schnell wie möglich zu beseitigen und der Intention der europäischen Haushaltsregeln folgend einen ausgeglichenen Haushalt nicht nur zu erreichen, sondern auch für die Zukunft zu sichern.
Insoweit sind wir uns einig: Generationengerechte Haushaltspolitik bedeutet, keine vermeidbaren Kosten auf die folgenden Generationen zu übertragen. Diese Grundregel ist im Grunde nichts Neues. Schon Bundesfinanzminister Theo Waigel hat diesen Grundgedanken als Leitlinie in den Vertrag von Maastricht, in das Stabilitäts- und Wachstumsrecht von 1997 eingebaut.
Liebe Frau Kollegin Hajduk, es war - das ist nur als Halbsatz zu werten - Ihr Finanzminister, der Finanzminister, den Sie in der Zeit von Rot-Grün unterstützt haben, der als eine wesentliche Arbeit diesen Stabilitäts- und Wachstumspakt erheblich geändert hat. Das heißt, Sie waren mit dabei.
Wir müssen uns auch darüber unterhalten, dass der im März 2002 eingerichtete nationale Stabilitätspakt durch die Einführung des § 51 a in das Haushaltsgrundsätzegesetz zwischen Bund und Ländern zwar vereinbart wurde, wir aber heute feststellen müssen, dass dieser nationale Stabilitätspakt nicht funktioniert.
Darüber hinaus besteht die Sachlage, dass das Bundesverfassungsgericht zu der Klage Berlins auf Gewährung von Sanierungshilfen im vergangenen Jahr klar und deutlich gesagt hat, dass wir verfahrensrechtliche und inhaltliche Regelungen zwischen Bund und Ländern zum Umgang mit Sanierungsfällen brauchen. Beide Aufgaben - die Optimierung des nationalen Stabilitätspakts und die fehlenden verfahrensrechtlichen und inhaltlichen Regelungen - hat die Föderalismuskommission II jetzt zu bearbeiten.
CDU und CSU unterstützen diese Bestrebungen ausdrücklich. Denn - das will ich noch einmal deutlich machen - wir brauchen ein System, das dazu führt, dass jede Gebietskörperschaft schnellstmöglich einen ausgeglichenen Haushalt anstrebt und durch entsprechende Überschüsse in ihrem Wirken in die Lage versetzt wird, Schulden abzubauen.
Im Grunde ist es ein ganz einfacher Dreiklang. Nur wenn wir in guten Zeiten Überschüsse erwirtschaften und in normalen Zeiten einen ausgeglichenen Haushalt erreichen, sind wir in der Lage, in schlechten Zeiten quasi über den Griff in die Rücklage Politik zu machen. Wenn wir diesen Dreiklang nicht erreichen, wenn wir nicht erreichen, dass wir in besonders guten Zeiten besonders hohe Überschüsse erwirtschaften, dürfen wir uns in besonders schlechten Zeiten nicht verschulden. Das ist der klassische Dreiklang, zu dem wir zurück müssen. Dafür brauchen wir eine Grundlage.
Wir sind deshalb der Auffassung, dass die Reform des nationalen Haushaltsrechts eine Verfassungsänderung einschließt, die nicht nur den Verpflichtungen der Bundesrepublik Deutschland im Rahmen der Europäischen Union Rechnung trägt, sondern auch alle anderen Gebietskörperschaften verfassungsrechtlich auf den Grundsatz der Nachhaltigkeit in der Haushaltspolitik verpflichtet. Unser klares Ziel ist es darüber hinaus, dass sich Gebietskörperschaften, die dieses Ziel nicht sofort erreichen können, auf einen Weg des schrittweisen Abbaus des Defizits begeben.
Deshalb wollen wir über die Verfassungsänderung hinaus ein Frühwarnsystem aufbauen, das bei Störungen der Haushalte ausgelöst wird, um sie schon in einem frühen Stadium korrigieren zu können. Die Einleitung eines solchen Warnverfahrens muss die jeweilig betroffene Körperschaft zur Darlegung ihrer vergangenen und zukünftigen Haushaltspolitik und zur Festlegung verbindlicher Ziele für den Abbau der Verschuldung verpflichten.
Wenn wir über solch ein Frühwarnsystem und die damit verbundenen Verpflichtungen reden, müssen wir uns natürlich auch über Sanktionen unterhalten. Selbstverständlich müssen wir die klare Ansage mit aufnehmen, dass im Falle eines Bruchs dieser Verpflichtungen ein Sanktionsverfahren eröffnet wird, welches nach unserer Auffassung in letzter Konsequenz die Möglichkeit umfassen sollte, dass ein Land Ansprüche auf Bundesergänzungszuweisungen im Rahmen des Finanzausgleichs verliert. Wenn das Gesetz keine Sanktionen vorsieht, wird es wiederum nicht klappen, Schulden zu vermeiden. Das dürfen wir nicht zulassen.
Wenn wir ein Frühwarnsystem einrichten und Sanktionen verhängen wollen, dann brauchen wir ein Gremium, das über die Frühwarnmechanismen wacht und über Sanktionen entscheidet. Wir müssen einem besonderen Gremium, das über Haushaltsdisziplin und Haushaltssanierung wacht und über Sanktionen entscheidet, Kompetenzen übertragen. Der Finanzplanungsrat, über den wir momentan verfügen, ist dafür nicht hinreichend ausgestattet und von seiner Konzeption her letztendlich nicht dazu geeignet, diese Aufgabe durchzuführen.
Die CSU-Landesgruppe - wir debattieren auch in der Union darüber - spricht sich aus diesem Grund für die Schaffung eines Stabilitätsrates aus, zu dessen Mitgliedern die Landesfinanzminister, der Bundesfinanzminister sowie die höchsten Repräsentanten von Bundesrechnungshof und Bundesbank zählen sollten. Diesem Stabilitätsrat obliegt es, auf gesetzlichem Wege alle erforderlichen Befugnisse zur Überwachung der Haushaltswirtschaft, zur Durchführung der notwendigen Sanktionsverfahren und zur Durchsetzung der gebotenen Haushaltsdisziplin zu erhalten, um dem Anliegen, in Zukunft nicht dieselben Fehler wie in der Vergangenheit zu machen, gerecht zu werden.
Es ist und bleibt ein Kernanliegen von CDU und CSU, die öffentlichen Finanzen schnellstmöglich und nachhaltig auf eine tragfähige Grundlage zu stellen; denn nur wenn es uns heute gelingt, finanzielle Handlungsspielräume für eine aktive, gestaltende Finanzpolitik zurückzugewinnen, kann Deutschland der Zukunft erfolgreich begegnen.
Herzlichen Dank.
Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner:
Ich gebe das Wort dem Kollegen Ernst Burgbacher, FDP-Fraktion.
Ernst Burgbacher (FDP):
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich möchte zur Klarstellung in aller Kürze drei Punkte nennen:
Erstens. Herr Kollege Kröning, wir sind für Haushaltskonsolidierung; wir sind dabei immer an der Spitze marschiert. Haushaltskonsolidierung ist aber nur möglich, wenn wir Strukturreformen vornehmen, insbesondere eine Steuerreform, die zu einer deutlichen Vereinfachung, aber auch zu einer Steuersenkung führt.
Nur dadurch werden wir dauerhaft eine Haushaltskonsolidierung erreichen.
Zweitens. Art. 115 Grundgesetz wurde 1969 von der Politik gegen die damalige Troeger-Kommission durchgesetzt. Die Politik ist zum Teil gut damit gefahren, das Land aber nicht.
Deshalb gibt es nur eines: Art. 115 Grundgesetz ersatzlos streichen.
Drittens, Schweizer Schuldenbremse. Man muss ehrlich sagen: Es gibt in der Schweiz sehr unterschiedliche Schuldenbremsen. Die Kantone haben unterschiedliche Schuldenbremsen; die Eidgenossenschaft hat eine eigene Schuldenbremse, die bisher nur einmal angewendet werden sollte.
Was hat die Politik gemacht? Sie hat die Verantwortung verschoben, weil sie sich zur Durchsetzung nicht imstande sah. Das zeigt doch, dass die Schweizer Schuldenbremse nicht zum Ziel führt.
Wir brauchen ein Neuverschuldungsverbot. Nur das wird dauerhaft dazu führen, den Marsch in den Schuldenstaat zu stoppen und aus den Schulden herauszukommen.
Eines muss dann aber klar sein: Wenn wir die Länder dazu verpflichten wollen, dauerhaft auf Schulden zu verzichten, dann müssen wir den Ländern die Instrumente geben, die das politisch überhaupt ermöglichen. Die Länder brauchen dann Gestaltungsmöglichkeiten auf der Einnahmenseite. Wenn wir den Ländern keine Steuerautonomie einräumen, wird jede Lösung von vornherein zum Scheitern verurteilt sein.
Schließlich möchte ich einen Punkt nennen, der heute noch nicht angesprochen wurde. Wenn wir dauerhaft auf Schulden verzichten wollen, dann müssen wir Änderungen am Länderfinanzausgleich vornehmen. Der anreizfeindliche Länderfinanzausgleich kann so nicht bestehen bleiben.
Meine Damen und Herren, wir haben eine große Verantwortung gegenüber den nächsten Generationen. Haben Sie den Mut, jetzt deutliche Reformen durchzuführen!
Herzlichen Dank.
Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner:
Ich schließe die Aussprache.
Interfraktionell wird Überweisung der Gesetzentwürfe auf den Drucksachen 16/5955 und 16/5954 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Gibt es dazu anderweitige Vorschläge? - Das ist nicht der Fall. Dann ist die Überweisung so beschlossen.
Ich rufe die Tagesordnungspunkte 32 a bis 32 g sowie die Zusatzpunkte 2 a und 2 b auf:
32 a) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Protokoll vom 28. Oktober 1993 zur Änderung des Europäischen Übereinkommens vom 30. September 1957 über die internationale Beförderung gefährlicher Güter auf der Straße (ADR)
- Drucksache 16/6121 -
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung (f)
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
b) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Neuordnung der Ressortforschung im Geschäftsbereich des Bundesministeriums für Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz
- Drucksache 16/6124 -
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und
Verbraucherschutz (f)
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
Haushaltsausschuss
c) Erste Beratung des von den Fraktionen der CDU/CSU und SPD eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des Pflanzenschutzgesetzes und des BVL-Gesetzes
- Drucksache 16/6386 -
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und
Verbraucherschutz (f)
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Gesundheit
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
d) Beratung des Antrags der Abgeordneten Harald Leibrecht, Dr. Werner Hoyer, Jens Ackermann, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP
Den gemeinsamen Standpunkt der EU zu Birma/Myanmar stärken
- Drucksache 16/5608 -
Überweisungsvorschlag:
Auswärtiger Ausschuss (f)
Verteidigungsausschuss
Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe
wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen
Union
e) Beratung des Antrags der Abgeordneten Cornelia Behm, Alexander Bonde, Hans-Josef Fell, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Programm ?Energiewende in Gewächshäusern“ auflegen
- Drucksache 16/5969 -
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und
Verbraucherschutz (f)
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung
Haushaltsausschuss
f) Beratung des Antrags des Präsidenten des Bundesrechnungshofes
Rechnung des Bundesrechnungshofes für das Haushaltsjahr 2006
- Einzelplan 20 -
- Drucksache 16/6129 -
Überweisungsvorschlag:
Haushaltsausschuss
g) Beratung des Antrags der Abgeordneten Dr. Herbert Schui, Dr. Barbara Höll, Ulla Lötzer, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE
Initiative Frankreichs aufgreifen - EADS durch Kapitalerhöhung stärken und staatliche Sperrminorität sicherstellen
- Drucksache 16/6395 -
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
ZP 2 a) Beratung des Antrags der Abgeordneten Ina Lenke, Frank Schäffler, Dr. Hermann Otto Solms, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP
Steuerklasse V abschaffen - Lohnsteuerabzug neu ordnen
- Drucksache 16/6396 -
Überweisungsvorschlag:
Finanzausschuss (f)
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Grietje Bettin, Bärbel Höhn, Kerstin Andreae, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Fehlende Verbraucherschutzregeln und Rechtsunsicherheiten im Telemediengesetz beseitigen
- Drucksache 16/6394 -
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie (f)
Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und
Verbraucherschutz
Ausschuss für Kultur und Medien
Es handelt sich um Überweisungen im vereinfachten Verfahren ohne Debatte. Interfraktionell wird vorgeschlagen, die Vorlagen an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse zu überweisen. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall. Dann sind die Überweisungen so beschlossen.
Ich rufe die Tagesordnungspunkte 33 a bis 33 k auf. Es handelt sich um die Beschlussfassung zu Vorlagen, zu denen keine Aussprache vorgesehen ist.
Tagesordnungspunkt 33 a:
Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zum Schutz vor Gefährdung der Sicherheit der Bundesrepublik Deutschland durch das Verbreiten von hochwertigen Erdfernerkundungsdaten (Satellitendatensicherheitsgesetz - SatDSiG)
- Drucksache 16/4763 -
Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Wirtschaft und Technologie (9. Ausschuss)
- Drucksache 16/6438 -
Berichterstattung:
Abgeordneter Martin Dörmann
Der Ausschuss für Wirtschaft und Technologie empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 16/6438, den Gesetzentwurf der Bundesregierung auf Drucksache 16/4763 in der Ausschussfassung anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, um das Handzeichen. - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist damit in zweiter Beratung mit den Stimmen von SPD, Bündnis 90/Die Grünen und CDU/CSU bei Enthaltung der FDP und der Fraktion Die Linke angenommen.
und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist damit in dritter Beratung mit demselben Stimmenergebnis wie in der zweiten Beratung angenommen.
Tagesordnungspunkt 33 b:
Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Umsetzung der Richtlinie 2005/36/EG des Europäischen Parlaments und des Rates über die Anerkennung von Berufsqualifikationen der Heilberufe
- Drucksache 16/5385 -
Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Gesundheit (14. Ausschuss)
- Drucksache 16/6458 -
Berichterstattung:
Abgeordneter Dr. Hans Georg Faust
Der Ausschuss für Gesundheit empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 16/6458, den Gesetzentwurf der Bundesregierung auf Drucksache 16/5385 in der Ausschussfassung anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf in der Ausschussfassung zustimmen wollen, um das Handzeichen. - Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist damit in zweiter Beratung mit den Stimmen von SPD, der Fraktion Die Linke und der CDU/CSU bei Enthaltung von Bündnis 90/Die Grünen und FDP angenommen.
und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Damit ist auch dieser Gesetzentwurf in der dritten Beratung mit demselben Stimmenergebnis wie in der zweiten Beratung angenommen.
Tagesordnungspunkt 33 c:
Zweite und dritte Beratung des vom Bundesrat eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des Allgemeinen Eisenbahngesetzes
- Drucksache 16/5725 -
Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung (15. Ausschuss)
- Drucksache 16/6439 -
Berichterstattung:
Abgeordneter Horst Friedrich (Bayreuth)
Der Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 16/6439, den Gesetzentwurf des Bundesrates auf Drucksache 16/5725 in der Ausschussfassung anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf in der Ausschussfassung zustimmen wollen, um das Handzeichen. - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist damit in zweiter Beratung mit den Stimmen des ganzen Hauses angenommen.
und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist auch in dritter Beratung mit den Stimmen des ganzen Hauses angenommen.
Tagesordnungspunkt 33 d:
Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Wirtschaft und Technologie (9. Ausschuss) zu dem Antrag der Abgeordneten Rainer Brüderle, Birgit Homburger, Dr. Karl Addicks, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP
Mehr Wettbewerb im Schornsteinfegerwesen
- Drucksachen 16/3344, 16/4601 -
Berichterstattung:
Abgeordneter Christian Lange (Backnang)
Der Ausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 16/4601, den Antrag der Fraktion der FDP auf Drucksache 16/3344 abzulehnen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung ist damit mit dem größten Teil der Fraktion Die Linke, SPD und CDU/CSU bei Enthaltung von zwei Mitgliedern der Fraktion Die Linke und gegen die Stimmen von Bündnis 90/Die Grünen und FDP angenommen.
Wir kommen zu den Beschlussempfehlungen des Petitionsausschusses.
Tagesordnungspunkt 33 e:
e) Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses (2. Ausschuss)
Sammelübersicht 262 zu Petitionen
- Drucksache 16/6348 -
Wer stimmt dafür? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Sammelübersicht 262 ist mit den Stimmen des ganzen Hauses angenommen.
Tagesordnungspunkt 33 f:
f) Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses (2. Ausschuss)
Sammelübersicht 263 zu Petitionen
- Drucksache 16/6349 -
Wer stimmt dafür? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Sammelübersicht 263 ist auch mit den Stimmen des ganzen Hauses angenommen.
Tagesordnungspunkt 33 g:
g) Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses (2. Ausschuss)
Sammelübersicht 264 zu Petitionen
- Drucksache 16/6350 -
Wer stimmt dafür? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Sammelübersicht 264 ist mit den Stimmen von SPD, CDU/CSU und FDP bei Gegenstimmen der Fraktion Die Linke und Enthaltung der Grünen angenommen.
Tagesordnungspunkt 33 i:
i) Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses (2. Ausschuss)
Sammelübersicht 266 zu Petitionen
- Drucksache 16/6352 -
Wer stimmt dafür? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Sammelübersicht 266 ist bei Gegenstimmen der Fraktion Die Linke mit den Stimmen des Hauses im Übrigen angenommen.
Tagesordnungspunkt 33 j:
j) Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses (2. Ausschuss)
Sammelübersicht 267 zu Petitionen
- Drucksache 16/6353 -
Wer stimmt dafür? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Sammelübersicht 267 ist mit den Stimmen von SPD, CDU/CSU und FDP bei Gegenstimmen von Bündnis 90/Die Grünen und der Fraktion Die Linke angenommen.
Ich rufe den Zusatzpunkt 3 auf:
Aktuelle Stunde
Äußerungen des Bundesinnenministers zu angeblich bevorstehenden atomaren Anschlägen durch Terroristen in Deutschland und seine Ermunterung für die verbleibende Zeit
Diese Aktuelle Stunde findet auf Verlangen der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen statt.
Ich gebe das Wort dem Kollegen Wolfgang Wieland, Bündnis 90/Die Grünen.
Wolfgang Wieland (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Es war ja nicht irgendjemand, der in der Sommerpause angesichts des Stakkatos aus dem Hause Schäuble geradezu flehentlich um eine Atempause für die Bevölkerung bat. Es war der Bundespräsident Horst Köhler. Aber selbst dessen Appell ist ungehört verhallt. Im Gegenteil: Als wäre er dadurch noch angestachelt worden, hat Wolfgang Schäuble nun am Wochenende Dürers Apokalyptische Reiter geradezu durch den Blätterwald galoppieren lassen.
Bis sie uns einholen, so sagt er, mögen wir die verbleibende Zeit doch bitte schön noch genießen.
Man könnte das als schwarze Satire nehmen: Dr. Schäuble oder wie ich lernte, die Bombe zu fürchten. Aber der, der hier solche Ängste schürt, sitzt nun nicht als Kabarettist da, das ist kein Feuilletonist im Geiste von Oswald Spengler. Er ist der zuständige Mann, ebendies zu verhindern, er muss die Gefahr einer solchen schmutzigen Bombe bekämpfen, konkret, mit Augenmaß. Wenn er sich dies nicht zutraut, dann ist er falsch am Platz, dann muss er gehen.
Natürlich haben Terroristen jedweder Couleur auch nach Atommaterial gegiert, nach atomaren Abfällen, nach Plutonium. Deswegen hat gestern der Kollege Hermann Scheer von der SPD völlig richtig gesagt: Ein erster Schritt wäre die Abschaltung von Biblis.
Wir haben das vorgeschlagen. Der Antrag liegt seit Monaten im Innenausschuss; er wird geschoben und geschoben und geschoben. Dazu sage ich: Die Bürger wollen, dass man der Gefahr real begegnet, dass man handelt und nicht schwafelt. Dazu sind wir aufgefordert.
Herr Schäuble macht sich da gar keine Gedanken. Er sagt: Es ist gar nicht die Frage, ob, sondern nur, wann es passiert. Das sagen die meisten Experten. Dahinter verschanzt er sich. Dann kommt dieser nette Rat, die Zwischenzeit fröhlich auszufüllen. Da sage ich klipp und klar: Angst zu schüren, das ist das Ziel von Terroristen. Ängste abzubauen und reale Sicherheit zu verstärken, das ist die Aufgabe und sollte das Ziel des Bundesinnenministers sein.
Das Motiv für diese Kampagne ist klar: Mit den immer neuen Horrorszenarien soll der Koalitionspartner sturmreif geschossen werden.
Es ist doch nachgerade absurd: Nach den Festnahmeerfolgen im Sauerland ging eine Debatte darüber los, welche Lücken und Mängel wir haben. Man stelle sich doch einmal einen Fußballtrainer vor, dessen Mannschaft 3:0 gewonnen hat und der sagt: Wir sind den gegnerischen Angriffen schutzlos ausgeliefert, wir müssen jetzt alles, Strategie und Taktik, anders machen. Den würde man für plemplem erklären.
Der Bundesinnenminister nimmt sich diese Narrenfreiheit aber. Warum? Er tut dies, weil er - das steht heute völlig richtig in der Zeit - die andere Republik will. Er haut mit dem Vorschlaghammer auf die bewährte Sicherheitsarchitektur ein. Das ist für einen Verfassungsminister unglaublich.
Die Schritte sind vorgegeben und liegen als Referentenentwürfe auf dem Tisch. Er will das BKA zu einem deutschen FBI aus- bzw. umbauen, und zwar so, dass es die vollen geheimdienstlichen Befugnisse der CIA gleich noch mit erhält. Die Länderpolizeien werden dann nur noch Hilfspolizeien sein und Amtshilfe leisten dürfen. Mehr nicht. Dabei wird die Abkopplung vom Generalbundesanwalt und dessen Sachleitungsbefugnis erfolgen. Er wird noch nicht einmal mehr darüber informiert, was das BKA tut. Auch dies ist Absicht; denn das ist dann auch eine Abkopplung von der Strafprozessordnung. Das will Wolfgang Schäuble, weil dort, wie er meint, alleine die Unschuldsvermutung gilt, im Polizeirecht also nicht. Deswegen will er Polizeirecht pur und schranken- sowie uferlos vorgehen.
Zu den Vorschlägen aus dem Hause Zypries in dieser Woche zu Terrorcamps und dem Abschießen von Flugzeugen vom heutigen Tage an, sofern es keine Passagiermaschinen sind, sage ich hier ganz deutlich auch in Richtung der SPD-Fraktion: Wer Wolfgang Schäuble, Wolfgang Bosbach und der ganzen Kompanie den kleinen Finger gibt, der wird erleben, dass sie nach der ganzen Hand, ja sogar nach dem ganzen Arm greifen. Das ist das Problem. Deswegen muss man Nein sagen und standhaft sein. Man darf hier nicht nachgeben.
Schließlich und endlich zum Militäreinsatz im Inneren. Das galt zunächst ja als eine Art persönliche Marotte von Wolfgang Schäuble. In den 90er-Jahren hat er wegen der Asylantenfluten damit angefangen. Dann hat er es für die Fußballweltmeisterschaft 2006 immerhin erreicht, dass sich die CDU/CSU-Innenminister hinter ihn gestellt haben. Nun, in diesem Jahr, sagt die Bundeskanzlerin auf die Gretchenfrage, was an der Union denn noch konservativ sei: ?Wir sind für den Bundeswehreinsatz im Inneren.“ Das ist sozusagen der konservative Marienschatz.
Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner:
Herr Kollege, in der Aktuellen Stunde haben Sie fünf Minuten Redezeit. Ich bitte Sie, diese auch einzuhalten.
Wolfgang Wieland (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Ja, Frau Präsidentin, das ist richtig. Ich komme zu meinem letzten Satz.
Wolfgang Schäuble will die Vermischung von Militär und Polizei. Er will die Vermischung von äußerer und innerer Sicherheit und nicht mehr die Trennung von Krieg und Frieden. Dieser Minister wähnt sich im Krieg. Er führt Krieg gegen den gesamten rechtstaatlichen Fundus unserer Republik.
Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner:
Herr Kollege, der eine Satz ist bereits beendet.
Wolfgang Wieland (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Er ist als Verfassungsminister untragbar.
- Es ist richtig, was ich hier mache.
Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner:
Das Wort hat der Bundesinnenminister Dr. Wolfgang Schäuble.
Dr. Wolfgang Schäuble, Bundesminister des Innern:
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Wer das, was ich in der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung gesagt habe, liest, der wird ein bisschen Mühe haben, irgendetwas von dem, was der Kollege Wieland eben gesagt hat, darin zu finden.
Ich möchte Ihnen gerne eine kurze Passage aus einem Interview mit al-Baradei, dem Chef der UNO-Atomkontrolleure, im Spiegel von Anfang September vorlesen.
Ihm wurde in diesem Interview die Frage gestellt:
Im Umfeld von al-Qaida hieß es ja schon, man strebe nach Atomwaffen. Halten Sie die Gefahr für realistisch, dass Terroristen an die ultimative Waffe kommen?
Die Antwort al-Baradeis lautete:
Das ist meine größte Sorge, ein Horrorszenario. Ich denke jetzt nicht an eine Atomwaffe - dafür reichen das Know-how und das Beschaffungspotential keiner Terrorgruppe. Aber eine kleine, sogenannte schmutzige Bombe mit radioaktivem Material, irgendwo gezündet in einer Großstadt, könnte Menschenleben kosten, massiven Terror auslösen mit schweren wirtschaftlichen Folgen. Manchmal denke ich, es ist ein Wunder, dass das noch nicht passiert ist. Und bete, dass es so bleibt.
Wollen Sie das, was Sie gesagt haben, in Bezug auf die Äußerungen von Herrn al-Baradei verstanden wissen oder nicht?
Ich habe festgestellt, dass das - übrigens nicht seit neuestem - die größte Sorge der Sicherheitsexperten ist. Als wir uns - wie meistens - am Montag getroffen haben, Herr Kollege Körper, haben Sie zu Recht festgestellt, dass das nichts Neues ist. Wir wissen, dass Bin Laden schon 1998 - das war noch vor dem 11. September - nach den Anschlägen in Nairobi und Daressalam gesagt hat, es sei heilige Pflicht aller Muslime im Kampf gegen die USA, sich aller verfügbaren Waffen - ob A-, B- oder C-Waffen - zu bemächtigen. Das ist weder neu, noch - um das auch zu sagen - gibt es konkrete Hinweise darauf, dass uns in Deutschland ein derartiger Anschlag droht. Trotzdem ist es die große Sorge aller Sicherheitsexperten. Die Aussage ist leider richtig, und wenn al-Baradei sich so äußert, dann wird man das wohl feststellen müssen.
Deswegen hat man damals - ich habe noch in Erinnerung, wer seinerzeit Regierungsverantwortung getragen hat - in völligem Einvernehmen von Bund und allen Ländern - ich bin derjenige, der diese bewährte Sicherheitsarchitektur in ihrer Wirkungskraft immer verteidigt und dies auch begründet - richtigerweise beschlossen, auch übrigens in der Vorbereitung auf das große Ereignis der Fußballweltmeisterschaft 2006, im Bevölkerungsschutz Elemente der ABC-Vorsorge einzuführen, und hat daraufhin 500 Dekontaminationsfahrzeuge, also Fahrzeuge für den ABC-Schutz, angeschafft. Das heißt, wir bereiten uns vor. Damit habe nicht erst ich angefangen. Das wäre auch völlig unverantwortlich. Wir stehen vielmehr in einer Kontinuität und nehmen die Lage ernst.
Wie ich schon nach den erfolgreichen Fahndungsmaßnahmen im Zusammenhang mit dem Ermittlungsverfahren der Bundesanwaltschaft festgestellt habe, gibt es zwei Botschaften aus diesem Ereignis. Die gute Botschaft ist: Wir haben gute Sicherheitsbehörden, die gute Arbeit leisten. Die Bevölkerung kann auf die gute Arbeit dieser Sicherheitsbehörden auch angesichts ernst zu nehmender Bedrohungen vertrauen.
Die andere nicht ganz so frohe Botschaft lautet: Wir sind bedroht. Auch das ist nicht neu; es ist nur ein Stück konkreter geworden. Das ist nicht erfreulich, aber es ist die Wahrheit. Wir können diese Wahrheit nicht verschweigen. Wir müssen sie sagen. Wir müssen darauf nicht überzogen reagieren, überhaupt nicht; aber wir sollten uns bemühen, sie nicht zu verdrängen.
Wir alle reden immer vom mündigen Bürger. Wenn wir ihn ernst nehmen, dann sollten wir ihm sagen: Wir haben gute Sicherheitsbehörden; sie leisten gute Arbeit. Da die Arbeit der Sicherheitsbehörden so gut ist, bin ich auch dafür, auf sie zu hören, wenn sie uns gerade im Angesicht eines so zu rühmenden Fahndungserfolges geradezu beschwören, ihnen angesichts der rasanten Entwicklungen in den Kommunikationstechnologien die notwendigen gesetzlichen Instrumente zu geben, damit sie auch in Zukunft gute Arbeit leisten können. Wer die Auffassung des Präsidenten des Bundeskriminalamts oder der verfahrensleitenden Generalbundesanwältin kennt, der wird doch nicht sagen, dass die CDU/CSU verrückt geworden ist. Auch sie wollen versuchen, den Sicherheitsbehörden, die gute Arbeit leisten, auch in der Zukunft die notwendigen gesetzlichen Grundlagen zu geben, damit sie auch in der Zukunft gute Arbeit leisten können. Das ist unsere Verantwortung als Gesetzgeber, nicht mehr und nicht weniger.
Darüber können wir gerne streiten, aber nicht in dieser Form von Diffamierung.
- Doch. Sie unterstellen einem abwechselnd, man wolle die Verfassung abschaffen oder man sei geisteskrank. Dazwischen gibt es kaum etwas bei Ihnen.
- Frau Künast, ich verstehe, dass Sie Herrn Wieland nicht so genau zuhören. Wenn man ihn öfter hören muss, dann kann ich das gut nachempfinden. Aber lassen wir das. Das Thema ist offensichtlich ernst.
Lassen Sie uns in allem Ernst über die Frage der Abgrenzung und darüber reden, wie wir sicherstellen können, dass wir auch in der Zukunft ausschließlich auf klarer und eindeutiger verfassungsrechtlicher Grundlage handeln. Ich erinnere mich dunkel daran, dass der Entwurf eines Luftsicherheitsgesetzes, über den wir gestern im Rahmen der Aktuellen Stunde zu den Äußerungen des Kollegen Jung debattiert haben, von der rot-grünen Bundesregierung stammt. Ich erinnere mich präzise daran, dass der damalige Redner der Opposition - das war der Abgeordnete Schäuble - gesagt hat: Den Schutzzweck teilen wir, aber die verfassungsrechtliche Grundlage dafür ist fraglich.
Wir haben im Koalitionsvertrag sodann einen Prüfungsauftrag vereinbart, der bei der Beantwortung der Frage helfen sollte, was wir machen, wenn das Verfassungsgericht so entscheidet, wie es damals nicht auszuschließen war. Dann haben die drei fachlich beteiligten Ressorts, Innenministerium, Justizministerium und Verteidigungsministerium auf fachlicher Ebene, politisch nicht abgestimmt - Frau Kollegin Zypries hat immer gesagt, das ist politisch nicht entschieden; darüber gibt es keine Dissens; diese Entscheidung kann nicht in der Verantwortung der Ressorts getroffen werden, sondern nur in der Koalition im Ganzen -, einen auf Abteilungsleiterebene abgestimmten Vorschlag erarbeitet, aus dem hervorgeht, wie man das Problem lösen kann, das aufgrund des Urteils des Bundesverfassungsgerichts zum rot-grünen Gesetzentwurf entstanden ist. Diesen Vorschlag haben wir der Koalitionsführung unterbreitet. Es ist bisher nicht entschieden worden. Das kritisiere ich nicht, aber ich verstehe die Not des Kollegen Jung und bitte, sie ernst zu nehmen.
- Herr Kollege, über den Gegenvorschlag der SPD reden wir.
Bis es aber entschieden ist, hat der Kollege Jung genauso wie sein direkter Vorgänger, Herr Struck - von ihm gibt es entsprechende Äußerungen - , und alle anderen Vorgänger seit Georg Leber die Not zu tragen, in einer verfassungsrechtlich nicht einwandfrei geregelten Situation - was Gott verhindern möge - Entscheidungen treffen zu müssen, für die ich lieber eine verfassungsrechtlich einwandfreie Lösung haben möchte. Dafür werbe ich.
Das gilt - um es noch einmal zu sagen - in gleicher Weise für die Bitten von Generalbundesanwaltschaft und Bundeskriminalamt, gerade angesichts der Fahndungserfolge.
Verehrte Kolleginnen und Kollegen, die Gefahr ist nicht vorüber. Die Islamische Dschihad-Union hat uns eine Woche danach erklärt: Jawohl, das stimmt so, und man wird die Planungen fortsetzen. Das müssen die Sicherheitsbehörden ernst nehmen. Wenn sie uns geradezu beschwörend bitten, gebt uns einwandfreie Rechtsgrundlagen - übrigens sind die Rechtsgrundlagen aus rot-grüner Zeit vom Bundesgerichtshof für nicht einwandfrei erklärt worden -, dann ist es unsere Pflicht, Rechtsgrundlagen zu schaffen; nicht mehr, aber auch nicht weniger. Diejenigen, die sagen, auf der Basis unseres Grundgesetzes wollen wir auch in Zukunft unsere Freiheit wahren und im Rahmen dieser Freiheit den Menschen das mögliche Maß an Sicherheit gewähren, planen keine Anschläge auf die Verfassung, sondern machen die Verfassung auch in Zukunft krisenfest. Dafür bitte ich Sie um Ihre Unterstützung.
Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner:
Ich habe gebe das Wort der Kollegin Gisela Piltz, FDP-Fraktion.
Gisela Piltz (FDP):
Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Herr Schäuble, ich bin wirklich verwundert, dass Sie hier und heute für das, was Sie am Wochenende der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung gesagt haben, ein Spiegel-Interview als Erklärung anbieten. Ist dieses Interview, das Bemerkungen von al-Baradei enthält, wirklich alles, was Sie heute dem Deutschen Bundestag und der Bevölkerung zu bieten haben? Ich finde, das ist eines Innenministers nicht würdig.
Es nützt überhaupt nichts, dass Sie von der CDU/CSU-Fraktion so lange klatschen. Eines ist heute und gestern klar geworden: Diese Koalition ist in der Innenpolitik total zerrüttet.
Das ging sehr schnell; das muss Ihnen erst einmal jemand nachmachen.
Als ich am Sonntagmorgen die Sonntagsausgabe der FAZ gelesen habe, konnte ich jedenfalls nicht gelassen bleiben. Sie können sich vorstellen, dass es mir schon schwerfällt - ich bin Rheinländerin -, nicht gelassen zu bleiben.
Viele Fachleute sind inzwischen überzeugt, dass es nur noch darum geht, wann solch ein Anschlag kommt, nicht mehr, ob.
Das ist ein Zitat von Ihnen. Der Höhepunkt ist aus meiner Sicht aber, dann auch noch zur Gelassenheit aufzurufen. Was sollen denn die Eltern, die gerade mit ihren Kindern am Frühstückstisch sitzen, damit anfangen? Sollen wir jetzt unsere Häuser verkaufen, unser Testament ändern und fröhlich in den Tag leben? Das kann doch wirklich nicht Ihr Rat an uns sein.
Nicht gelassen war ich deshalb, weil Sie die Ängste unserer Bürgerinnen und Bürger schüren, ohne ihnen einen Ausweg aufzuzeigen, aber auch, weil ich nicht akzeptieren kann, wie Sie zum wiederholten Male mit unserer Verfassung umgehen. Falls Sie sich nicht so richtig erinnern können, hier ein kleiner Auszug. Ich könnte das Material als Beipackzettel mit der Überschrift ?Der Innenminister warnt“ verteilen lassen.
Es geht los mit einem Interview in der Welt vom Februar 2007: ?Es gibt aktuell keine ganz besondere Gefährdung.“ Das nur, um den Widerspruch aufzuzeigen. Dann sagten Sie im Februar 2007:
Ich kenne und respektiere die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zum Schutz der Privatsphäre. Aber wir müssen auch sehen, dass dieser Schutz in der Alltagswirklichkeit praktikabel bleibt. Verbrecher und Terroristen sind klug genug, so etwas auszunutzen.
Am 12. März: ?Die Gefahr von Anschlägen durch den internationalen Terrorismus ist groß, und sie kann überall jeden treffen.“ Im April:
Die Unschuldsvermutung heißt im Kern, dass wir lieber zehn Schuldige nicht bestrafen, als einen Unschuldigen zu bestrafen. Der Grundsatz kann nicht für die Gefahrenabwehr gelten.
Im Mai gab es eine Warnung der australischen Regierung, nach Deutschland zu reisen. In der Welt hieß es: ?Wie das australische Ministerium bekannt gibt, ist dieser Sicherheitshinweis mit den Verlautbarungen des deutschen Innenministers zu erklären.“ Am 9. Juli sagten Sie, dass die rechtlichen Probleme bis hin zu Extremfällen wie dem sogenannten Targeted Killing reichten.
Lieber Herr Innenminister, Ihre Karriere als Nostradamus unserer Zeit ist damit vorprogrammiert. Als Innenminister bekämpfen Sie aber damit keine Unsicherheit.
Was wollen Sie damit eigentlich erreichen? Sie wollen die SPD unter Druck setzen. Dass Sie dafür die Ängste unserer Bevölkerung nutzen, halte ich für skandalös.
Das, was Sie tun, ist nicht ehrlich und zugleich gefährlich, weil Onlinedurchsuchungen nicht das Allheilmittel gegen Terrorismus sind.
Wir brauchen mehr. Über viele Dinge, zum Beispiel über die bessere Ausstattung der Polizei, bessere Kommunikation
- ich nenne nur den BOS-Digitalfunk - und über die Vermeidung von Doppelarbeit und Doppelzuständigkeiten hört man im Moment sehr wenig von Ihnen. Hingegen gibt es einen Bericht des Bundesrechnungshofs, der ganz klar sagt, dass in Ihrem eigenen Programm zur Stärkung der inneren Sicherheit bei der Mehrzahl der untersuchten Maßnahmepakete nicht erkennbar ist, dass die Bundespolizei ihre Ziele in absehbarer Zeit erreichen kann. Auch davon ist in Ihren Interviews nichts zu lesen.
Das könnten Sie dann nicht einschränken oder zurücknehmen. Das ist nämlich die Wahrheit.
Aber Sie schrecken auch vor der nächsten Stufe nicht zurück; Sie haben sich vielmehr mit dem Bundesverteidigungsminister zusammengetan, sozusagen als Tandem, das an der Bedrohungsspirale dreht.
Sie machen gemeinsame Sache mit dem Bundesverteidigungsminister. Sie haben es sich wirklich klug ausgedacht, dass Sie an einem Wochenende zwei Interviews geben. Allerdings hat Ihnen der Bundesverteidigungsminister einen Strich durch die Rechnung gemacht. Das Interview hätten Sie selber redigieren sollen. Ehrlich gesagt: Das, was Ihrem Kollegen passiert ist, wäre Ihnen nicht passiert. Das sollten Sie in Zukunft besser machen.
Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner:
Frau Kollegin, Sie müssen zum Schluss kommen.
Gisela Piltz (FDP):
Mein letzter Satz. - Daraus wird eines klar: Genau wie die USA wollen Sie die terroristische Bedrohung nicht mit den Mitteln des Rechtsstaats bekämpfen, sondern Sie wollen ein Sonderrecht außerhalb unserer Verfassung. Den Rechtsstaat und seine Bürgerinnen und Bürger zu schützen, das ist kein Firlefanz, wie es gestern hier gesagt worden ist.
Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner:
Frau Kollegin.
Gisela Piltz (FDP):
Das ist vielmehr die Aufgabe dieses Hauses. Wir jedenfalls arbeiten daran.
Herzlichen Dank.
Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner:
Nächster Redner ist der Kollege Fritz Rudolf Körper von der SPD-Fraktion.
Fritz Rudolf Körper (SPD):
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Lieber Herr Schäuble, freitagabends scheint Sie die Sorge zu befallen, was Sie nur mit dem bevorstehenden Wochenende machen sollen.
Diese Frage ist mir aufgefallen. Sie beantworten Sie in der Regel durch die Abgabe eines Interviews oder durch die Verbreitung auch manchmal alarmierender Pressemeldungen. Wenn ich die letzten Wochenenden Revue passieren lasse, fallen mir einige dieser Freizeitbeschäftigungen auf. Eigentlich ist es keine Freizeitbeschäftigung, sondern eher deren Vermeidung. Es ist eine Art Dienst an Wochenenden, allerdings mit Folgen, die niemandem nützen, auch nicht der innenpolitischen Debatte in Deutschland.
Ich gebe zu, es wäre auch sinnvoller gewesen, eine so unverantwortliche ins Auge gefasste Maßnahme wie die Herabsenkung des Mindestalters für den Erwerb und den Besitz großkalibriger Waffen von 21 auf 18 Jahre, nicht aus der Presse zu erfahren.
Ich bin auch sehr froh darüber, dass diese Maßnahme zurückgenommen worden ist. Das zeugt auch zu einem Teil davon, wie Öffentlichkeitsarbeit gemacht wird.
Lieber Herr Schäuble, am vergangenen Wochenende plagte Sie offensichtlich wieder die Langeweile. Also gaben Sie der FAS vom 16. September ein Interview. Darin beschäftigten Sie sich mit der Möglichkeit eines terroristischen Anschlags mit nuklearem Material. Sie entwarfen ein Gefahrenszenario, das die Sicherheitsbehörden schon seit langer Zeit beschäftigt. Das weiß ich aus eigener Anschauung. Leider erweckten Sie aber den Eindruck, dass dieses Szenario nicht nur die bekannten abstrakten Gefahren abbildet, sondern dass ihm eine gewisse Aktualität zukommt. Und darin besteht das Problem.
Hätte es eine Aktualität gegeben, wären Sie verpflichtet gewesen, die zuständigen Gremien zu unterrichten. Dies ist nicht erfolgt, deswegen gab es auch keine Aktualität.
Herr Schäuble, ich hätte gern, dass Sie jetzt noch einmal zuhören.
Im gleichen Interview rufen Sie die Bevölkerung in einem Atemzug mit der Warnung vor einem Terrorangriff mit Nuklearmaterial zu Gelassenheit auf. Das ist nach meinem Dafürhalten die Besonderheit.
Der Aufruf hat daher nur den Hintergrund, Beunruhigung zu erzeugen. Wenn Sie diesen Nachsatz, den Sie gesagt haben, den Sie aber heute nicht angesprochen haben, ins Pfälzische übersetzen, könnte man sagen: Trink noch einen Schoppen oder zwei, es ist ohnehin bald alles vorbei.
Ich halte es für sehr unverantwortlich, mit diesem Thema so umzugehen.
Sie tragen auch die Verantwortung dafür, die Sicherheitslage objektiv darzustellen.
Wir können darauf stolz sein, dass Deutschland im internationalen Vergleich eines der sichersten Länder der Welt ist.
Wenn das subjektive Empfinden der Menschen nicht mit dieser objektiven Lage, dass wir eines der sichersten Länder der Welt sind, übereinstimmt, sind diese Interviews dafür verantwortlich.
Es gibt ein Sprichwort ?Reden ist Silber, Schweigen ist Gold“.
Lieber Herr Schäuble, mein Rat an Sie lautet, sich dieses Sprichwort zu Herzen zu nehmen. Damit dienen Sie auch der innenpolitischen Debatte.
Diese Öffentlichkeitsarbeit überlagert im Grunde genommen die innenpolitische Arbeit. Ich finde das schade, denn wer die Koalition von innen heraus kennt, wird feststellen, dass wir auf einem guten Weg sind. Nicht umsonst wollen wir beispielsweise das Bundeskriminalamt mit einer Präventionszuständigkeit ausstatten. Das ist für den Kampf gegen den internationalen Terrorismus dringend notwendig. Wir hätten da viel weiter sein können, wenn es nach den Vorstellungen der SPD-Fraktion gegangen wäre.
Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner:
Herr Kollege!
Fritz Rudolf Körper (SPD):
Ich bedanke mich ganz herzlich für die Aufmerksamkeit.
Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner:
Das Wort hat die Kollegin Petra Pau, Fraktion Die Linke.
Petra Pau (DIE LINKE):
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Das zur Rede stehende Zitat spricht für sich. Ich kommentiere das nicht. Es ist mir einfach zu zynisch.
Mich ärgert etwas anderes mehr: Seit Wochen, ja Monaten erleben wir ein Stakkato von Angriffen auf Recht und Gesetz, auf die grundsätzliche Verfasstheit der Bundesrepublik. Diese Attacken auf das Grundgesetz kommen nicht von Extremisten und auch nicht von Terroristen, sondern direkt aus den Ministerien und dem Bundeskanzleramt. Ich finde, das ist ein unhaltbarer Zustand.
Der eine Minister sagt: Das Grundgesetz taugt nicht mehr für diese Zeit. Der andere Minister, Franz Josef Jung, sagt: Das Grundgesetz interessiert mich nicht. Ich sage dazu: Es ist etwas faul. Ich finde, die Loyalität der Bundeskanzlerin darf nicht so weit gehen, dass sie solche Angriffe auf das Grundgesetz duldet oder gar stützt.
Das aktuelle Tohuwabohu von Amts wegen begann übrigens schon rund um den G-8-Gipfel. Ich will nur einen Punkt ansprechen. Mit mehreren tausend Soldatinnen und Soldaten nebst Militärgerät wurde die Bundeswehr rund um Heiligendamm und damit im Inneren eingesetzt. Bis heute ist im Übrigen nicht einmal klar, wer den Tornados die Flüge über die G-8-Camps genehmigt hat. Ich finde, das ist ein Ding aus dem Tollhaus. Trotzdem verweist die Bundesregierung auf Art. 35 Grundgesetz und behauptet, alles sei rechtens gewesen. Art. 35 Grundgesetz gestattet den Einsatz der Bundeswehr im Innern bei außerordentlichen Naturkatastrophen und bei besonders schweren Unglücksfällen. Liebe Kolleginnen und Kollegen, ist das Ihr Ernst? Wenn der G-8-Gipfel eine außerordentliche Naturkatastrophe war und ein besonders schwerer Unglücksfall,
dann frage ich die Bundesregierung: Warum holen Sie so viel Unglück in unser Land?
Die Unionsparteien wollen seit langem die Bundeswehr im Innern einsetzen, und sie setzen dabei auch auf so etwas wie Gewohnheitsrecht. Selbst bei sogenannten Sicherheitskonferenzen, die von Rüstungskonzernen organisiert werden, sichert die Bundeswehr rechtswidrig die Logistik. Anders gesagt, der einfache Steuerzahler finanziert die Rüstungslobby. Das ist inzwischen Usus, und das ist für die Linke nicht hinnehmbar.
Verteidigungsminister Jung hat wiederholt, er werde von Terroristen entführte Passagierflugzeuge abschießen lassen. Das wollten schon damals SPD und Bündnis 90/Die Grünen, bis das Bundesverfassungsgericht entschied: Niemand darf Gott spielen und Menschenleben gegen Menschenleben aufwiegen. Minister Jung will es dennoch. Ich finde, das offenbart ein gefährliches Rechts-, aber auch Religionsverständnis der CDU.
Es ist übrigens nicht das erste Mal, dass Bundesregierungen Urteile hoher Gerichte - wie der Berliner sagt - wurscht finden. Das Bundesverwaltungsgericht hat im Jahre 2005 festgestellt, dass Deutschland sehr wohl am völkerrechtswidrigen Krieg der USA gegen den Irak beteiligt ist. Was macht die Bundesregierung bis heute mit diesem Urteil? Sie ignoriert es. Wer so mit Recht und Gesetz umspringt, darf sich über eine allgemeine Verrohung der Sitten nicht wundern.
Innenminister Schäuble will beharrlich Computer klammheimlich online überwachen lassen. Auch das ist ein Angriff auf verbriefte Grundrechte; er weiß das. Herr Minister, hätte ich nicht ein gestörtes Verhältnis zu dieser Behörde, so würde ich sagen: Wolfgang Schäuble ist ein typischer Fall für den Verfassungsschutz.
Ich gebe zu, Herr Minister: Sie sind intelligent. Sie lenken den Fokus auf die Onlineuntersuchung, und ganz nebenbei forcieren Sie den größten Umbau in der Geschichte der Bundesrepublik, weg vom demokratischen Rechtsstaat hin zum präventiven Sicherheitsstaat. Sie setzen dabei auf die SPD, denn nie war die Koalition so groß und damit offensichtlich auch die Versuchung, einen Pakt mit dem Teufel zu schließen. Liebe Kolleginnen und Kollegen von der SPD, da die Union teuflisch entschlossen zu sein scheint, kann ich an Sie nur appellieren: Verweigern Sie sich, und helfen Sie, das Grundgesetz zu schützen!
Ganz in diesem Sinne wird es übrigens am Sonnabend in Berlin eine bundesweite Demonstration geben. Ich lade Sie alle dazu ein. 14.30 Uhr am Brandenburger Tor: Gegen Überwachung und Datenklau, für Freiheit und Bürgerrechte. - Ich werde jedenfalls dabei sein.
Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner:
Ich gebe das Wort dem Kollegen Clemens Binninger, CDU/CSU-Fraktion.
Clemens Binninger (CDU/CSU):
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Kolleginnen und Kollegen! Vor etwa zweieinhalb Wochen hat - es wurde schon angesprochen - der Chef der Atomenergiebehörde, al-Baradei, gesagt, seine größte Sorge sei, dass Terroristen mit radioaktivem Material eine schmutzige Bombe zünden könnten. Gab es darauf Empörung oder andere Reaktionen? Nein. Hat sich die FDP oder haben sich die Grünen irgendwie empört? Nein. Gab es eine medial aufgeblasene Debatte über die Unsinnigkeit dieser Behauptung? Nein.
Wolfgang Schäuble hat vor vier Tagen in der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung genau das Gleiche gesagt. Daraufhin haben Grüne und FDP ihre Empörungsmaschine eingeschaltet und Betroffenheit geheuchelt. Das ist nicht nur scheinheilig, sondern in hohem Maße auch unglaubwürdig.
Ich würde mir wünschen, dass Sie sich etwas mehr der Sicherheitslage widmen, statt sich intensiv nur mit den Interviews des Ministers auseinander zu setzen.
Dass Deutschland innerhalb der letzten zwölf Monate nur zweimal knapp einem verheerenden Anschlag entgangen ist, das kommt bei Ihnen nicht vor.
Dass die drei Attentäter, die vorletzte Woche festgenommen wurden, mehr als eine halbe Tonne Sprengstoff an belebten Orten zünden wollten, das kommt bei Ihnen nicht vor. Dass es in Deutschland unverändert mehr als 100 sogenannte Gefährder gibt, die eine permanente Bedrohung für unser Land sind, die sich sehr konspirativ verhalten, die modernste Technik benutzen, die sich abschotten, das alles kommt bei Ihnen nicht vor. Sie von FDP und Grünen blenden die Sicherheitspolitik in Ihren Debatten völlig aus und konzentrieren sich stattdessen auf Polemik gegenüber dem Innenminister.
Das ist nicht nur unanständig, sondern auch schädlich für die Sicherheit unseres Landes.
Herr Kollege Körper, man kann über Interviews natürlich immer unterschiedlicher Meinung sein, aber eines, glaube ich, muss klar sein: Es ist die Pflicht und die Aufgabe eines Innenministers, auf die Sicherheitslage und die Bedrohungslage sowie die damit verbundenen Herausforderungen hinzuweisen.
Es ist eben nicht so, dass die Bedrohungslage seit dem 11. September unverändert wäre. Sie hat sich gewandelt. Die Bundesrepublik ist von einem Ruhe- und Rückzugsraum zu einem Anschlagsziel geworden. Das Täterprofil hat sich gewandelt. Madrid und London, daran sieht man: Die Vorgehensweise wird hemmungsloser, brutaler. Die Abschottung nimmt zu, und das Handeln wird immer konspirativer. Neue Technik wird eingesetzt. All das hat sich gewandelt.
Es ist die Aufgabe und die Pflicht von Minister Schäuble - ich bin ihm dankbar dafür, dass er ihr nachkommt -, dies zu benennen und zu sagen, was wir tun müssen, wenn wir die Sicherheit der Menschen in unserem Land gewährleisten wollen, und wir wollen das.
In diesem Zusammenhang ist die heutige Debatte eine gute Gelegenheit, einmal darauf hinzuweisen, wo sich die FDP und teilweise auch die Grünen in den letzten Jahren bei notwendigen sicherheitspolitischen Maßnahmen immer wieder verweigert haben. Die Einrichtung eines Antiterrorzentrums - dies trifft nicht die Grünen -: Die FDP hat dagegen gestimmt. Mehr Befugnisse zur Informationsbeschaffung für die Sicherheitsbehörden, vor einem halben Jahr beschlossen: Die FDP hat dagegen gestimmt. Die überfällige Antiterrordatei: Grüne und FDP haben dagegen gestimmt.
So ließe es sich fortsetzen. Überall, wo wir etwas für die Sicherheit unseres Landes tun, blenden sich FDP und Grüne aus. Das ist fahrlässig und unverantwortlich.
Bei der FDP hat dies ja ein bisschen Tradition. Viele werden sich daran erinnern, wie sehr die FDP den großen Lauschangriff politisch bekämpft hat. Seinerzeit gab es sogar einen Rücktritt; den Namen habe ich vergessen.
Heute sind wir froh, dass wir dieses Instrument für unsere Sicherheitsbehörden haben. Ohne den großen Lauschangriff, den die FDP bekämpft hat, wären die Sicherheitsbehörden nicht in der Lage gewesen, die Anschläge zu verhindern. Gott sei Dank haben wir dieses Instrument, das die FDP verhindern wollte.
Wir müssen uns über eines im Klaren sein: Die große Mehrheit der Bevölkerung in diesem Land möchte, wenn es um die Bekämpfung des Terrorismus geht, einen starken Staat. Die Große Koalition will das auch.
FDP und Grüne wollen es offensichtlich nicht. Sie schüren Misstrauen, sie polemisieren gegen den Innenminister; aber vernünftige Vorschläge für die Sicherheit unseres Landes kommen von ihnen beiden nicht. Das ist die Botschaft der heutigen Debatte.
Herzlichen Dank.
Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner:
Nächste Rednerin ist die Kollegin Silke Stokar für Bündnis 90/Die Grünen.
Silke Stokar von Neuforn (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Wäre die Situation in Deutschland nicht so ernst - wir haben ja eine reale Bedrohung durch Terrorismus -, könnte man über einen Teil der innenpolitischen Debatte, die hier im Plenum so offen geführt wird - im Innenausschuss läuft sie viel schlimmer ab -, durchaus amüsiert sein.
Herr Binninger, Sie haben uns vorgeworfen, wir würden die Sicherheit nicht ernst nehmen. Ich möchte Ihnen sagen: Zwei in Deutschland geplante Terroranschläge wurden auf der Grundlage der unter Rot-Grün geschaffenen Sicherheitsgesetze verhindert.
Genau die Gesetze, die damals unaufgeregt, unter Achtung der Verfassung,
ohne Schüren von Ängsten und in Einigkeit der Koalition geschaffen wurden, waren die Grundlage für die Erfolge der Sicherheitsbehörden, über die wir alle froh sind.
Herr Bundesinnenminister Schäuble, ich empfinde es als merkwürdig, was Sie hier seit einiger Zeit abziehen. Einerseits werfen Sie uns an jedem Wochenende über die Sonntagszeitungen Brocken hin und freuen sich darüber, wie es Ihnen mit den Interviews gelingt, zum einen die SPD vor sich her zu treiben und zum anderen - dies halte ich für unverantwortlich - die Bevölkerung in Angst und Verunsicherung zu versetzen. Andererseits sagen Sie, wenn Sie im Innenausschuss oder im Parlament sind - ich weiß nicht, ob das feige oder Strategie ist; das ist mir auch egal -, Sie hätten doch gar nichts gemacht. Es ist doch ein Unterschied, in welchem Zusammenhang ein Zitat vorgebracht wird. Dass seit dem 11. September über eine dreckige Bombe geredet wird, ist uns allen bekannt. Es geht doch darum, auf welche Art und Weise, in welchem Kontext und mit welcher Empfehlung an die Bevölkerung Sie darüber reden. Dies ist hier zu Recht gesagt worden.
Sie können als Innenminister hier doch nicht sagen, es sei möglich, dass Terroristen eine Nuklearbombe bauten, und dann der Bevölkerung die Empfehlung geben: Genießen Sie bis dahin das Leben! Das ist ein Fatalismus, mit dem Sie das Vertrauen in Politik unterminieren, mit dem Sie den Eindruck erwecken, der demokratische Rechtsstaat sei mit seiner Verfassung in einer solchen Bedrohungslage nicht handlungsfähig. Ich nenne ein solches Verhalten unverantwortlich; es ist ein parteipolitisches Ausschlachten von Innenpolitik, ohne dass Lösungen oder Konzepte angeboten würden.
Rot-Grün hat damals anders gehandelt; das haben Sie zu Recht gesagt. Wir haben damals in Anbetracht der möglichen Anthrax-Anschläge zivile ABC-Fahrzeuge angeschafft, damit wir mit zivilen Mitteln, ohne Einsatz der Bundeswehr, mit neuen Bedrohungslagen im Innern umgehen können. Das war genau die richtige Antwort.
Erkennbare Gemeinsamkeiten - auch das finde ich fatal; ich denke, dass die innenpolitische Debatte so nicht weitergehen kann - in der Innenpolitik gibt es in dieser Großen Koalition nicht. Ich will Ihnen nur einmal Einblick gewähren, wie das im Innenausschuss aussieht; dagegen ist das hier eine softe Veranstaltung. Im Innenausschuss sagt Herr Bosbach zum innenpolitischen Sprecher ?Lügner“; da leisten sich SPD und Union im Beisein des BKA-Chefs Ziercke eine Schlammschlacht über Innenpolitik; sachlich-inhaltlich haben sie gemeinsam keinen Beitrag zu leisten.
Ich schaue da auch in Richtung SPD: Ich finde es eine verkehrte Welt, wenn ein Landesinnenminister wie Herr Stegner in Schleswig-Holstein gehen muss und Herr Schäuble hier sitzen bleiben kann. Da erwarte ich von Ihnen von der SPD nicht nur eine vorsichtige Auseinandersetzung, sondern dass Sie, wie Herr Struck das getan hat, deutlich machen, wohin es in der Innenpolitik in Deutschland gehen soll.
Eine Regierungserklärung dazu, wie sie gestern gefordert wurde, hat es nicht gegeben. Aber ich denke, Bevölkerung und Parlament haben Anspruch darauf, dass die Bundeskanzlerin erklärt, welche Innenpolitik in Deutschland in den nächsten Monaten -
Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner:
Frau Kollegin!
Silke Stokar von Neuforn (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
- von der Großen Koalition verantwortlich betrieben werden kann und soll. Vom Bundesinnenminister -
Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner:
Frau Kollegin, Sie müssen zum Ende kommen. Auch wenn Sie mich weiterhin ignorieren, muss ich Sie daran erinnern, dass Ihre Redezeit zu Ende ist.
Silke Stokar von Neuforn (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
- mein letzter Satz - erwarte ich eine offene Darstellung. Sie haben hier gesagt, Sie wollen im Rahmen der Verfassung -
Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner:
Frau Kollegin!
Silke Stokar von Neuforn (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
- Politik machen. Dann erklären Sie hier auch öffentlich, dass Sie die Verfassung nicht ändern wollen.
Danke schön.
Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner:
Das Wort hat der Kollege Michael Hartmann, SPD-Fraktion.
Michael Hartmann (Wackernheim) (SPD):
Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Ich finde es schade, Herr Kollege Binninger, dass Herr Westerwelle - vielleicht zufällig - nach Ihrer Rede den Saal verlassen hat. Vielleicht kann aber jemand von den Kolleginnen und Kollegen aus der FDP ihm meinen Zuruf noch übermitteln: ?Viel Spaß bei allen schwarz-gelben Blütenträumen!“
Das muss ja richtig lustig werden, wenn ihr über innere Sicherheit verhandelt.
Herr Bundesinnenminister, Sie haben vor zwei Tagen Ihren 65. Geburtstag gefeiert. Ich darf Ihnen nachträglich dazu noch recht herzlich gratulieren. Ich denke, Sie hätten diesen Geburtstag lieber etwas unbeschwerter gefeiert - unbeschwerter von den Belastungen in der inneren Sicherheit, aber vielleicht auch von den Kommentaren und Reaktionen auf Ihre in der Tat nicht sehr glückliche Interviewäußerung.
Was uns eint, Herr Bundesinnenminister - nicht nur das eint uns -, ist die Sorge um die innere Sicherheit in unserem Land. Deshalb seien Sie versichert: Die SPD-Fraktion wird bei allen notwendigen Maßnahmen und Entscheidungen an Ihrer Seite stehen. Da werden wir nicht wackeln und nicht rütteln, sondern sind bei Ihnen. Wir werden aber darauf achten, ob sie wirklich notwendig sind und wie weit sie notwendig sind, Herr Minister.
Es gibt Netzwerke des Terrors in unserem Land, denen wir Netzwerke der Sicherheit entgegenstellen wollen. Die jüngsten Festnahmen - da haben Sie völlig recht mit Ihrer Analyse - sind noch kein Grund zur Entwarnung, keineswegs! Das Täterbild ist differenziert und wird immer differenzierter. Die Anschlagsplanung ist differenziert und wird gerade nach den jetzigen Festnahmen immer differenzierter werden. Gerade deshalb ist ein bedachtes und besonnenes Agieren auf allen Seiten dieses Hauses erforderlich.
Wir brauchen sicherlich hohe Aufmerksamkeit bei der Betrachtung des Problems des vagabundierenden atomaren Materials.
Spätestens seit dem Zusammenbruch des Warschauer Paktes ist das ein Thema, das oben auf der Tagesordnung steht.
- Vielen Dank, vielleicht applaudieren Sie ja auch bei dem nächsten Satz; es würde mich freuen. - Das vagabundierende Atommaterial wird aber nicht gestoppt und die entsprechende Problematik nicht gelöst durch vagabundierende Interviews, die jedes Wochenende erneut stattfinden.
Es kommt darauf an, in Ruhe zu handeln und nicht ständig über mögliches Handeln öffentlich zu reden, zumal dies nur zur Verunsicherung und zur Aufregung beiträgt. Wir brauchen abwägende Vernunft, Herr Bundesinnenminister. Ich weiß sehr genau - wir alle wissen es -, dass Sie dazu in der Lage sein können.
Wer stark sein will in der inneren Sicherheit - ich denke, auch das eint uns hier im Haus -, der muss seine Stärke nicht unbedingt dadurch beweisen, dass er dauernd in die Trompete bläst. Das gilt, mit Verlaub, auch für Ihr Interview. Überlegen Sie doch einmal, was ein unbedarfter Zeitungsleser denkt, wenn er hört, dass der für die innere Sicherheit verantwortliche Minister praktisch sagt: Das Ende ist nah, aber bis dahin seid noch fröhlich und lustig. Das kann nicht gut gehen, das muss ins Auge gehen, und die Reaktionen sind ja leider auch entsprechend gewesen.
Sehr geehrter Herr Bundesinnenminister, meine Damen und Herren, die SPD ist bereit, mit Ihnen an der Architektur der inneren Sicherheit weiterzuarbeiten. Nach dem 11. September ist die Bedrohungslage für unser Land offenbar geworden. Wir haben damals unter Rot-Grün sofort reagiert, und zwar schnell, sachgerecht und verantwortungsbewusst. Verschiedenes haben wir uns abringen müssen; es ist uns nicht alles leicht gefallen. Otto Schily war ohne Frage ein Garant für verantwortungsbewusste Politik hinsichtlich der inneren Sicherheit. In dieser Tradition stehen wir als Sozialdemokraten heute und stehen Sie als sein Amtsnachfolger.
Wir haben, Herr Schäuble, mit Ihnen zusammen bereits eine Menge geleistet. Wir haben bis zur Hälfte dieser Wahlperiode rund elf Gesetze zur inneren Sicherheit gemeinsam verabschiedet. Wir haben über BKA-Kompetenzen auf der Grundlage eines Gesetzes, das damals von Sozialdemokraten angeregt wurde, zu diskutieren.
Wir haben das Gemeinsame Terrorismusabwehrzentrum eingerichtet, das auch auf eine sozialdemokratische Initiative unter Otto Schily zurückgeht. So wollen wir weiterarbeiten. Wir wollen konstruktiv und an unserer inneren Sicherheit orientiert über die Reform der Bundespolizei, über das BKA-Gesetz, über die Warndatei und über vieles mehr mit Ihnen reden. Die Justizministerin hat ein Gesetz zur Strafbarkeit des Besitzes waffenfähigen Materials und der Ausbildung in Terrorcamps vorgelegt. Sie sehen also, dass wir an der Sache dran sind.
Wir sollten in dieser Situation aufpassen, dass wir auf allen Seiten dieses Hauses nicht in reflexartige Reaktionen verfallen. Vor 30 Jahren - wir durften jüngst daran erinnern -
Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner:
Herr Kollege Hartmann!
Michael Hartmann (Wackernheim) (SPD):
- hat Bundeskanzler Helmut Schmidt alle an den Tisch geholt, als eine Terrorbedrohung vorlag. Er hat nicht gespalten, -
Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner:
Herr Kollege Hartmann, Sie müssen zum Ende kommen.
Michael Hartmann (Wackernheim) (SPD):
- sondern zusammengeführt. Versuchen Sie das auch, Herr Bundesinnenminister!
Vielen Dank.
Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner:
Nächster Redner ist der Kollege Stephan Mayer, CDU/CSU-Fraktion.
Stephan Mayer (Altötting) (CDU/CSU):
Sehr verehrte Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Kollegen und Kolleginnen! Was wir in dieser Woche erlebt haben, ist ein unwürdiges politisches Schauspiel,
das von der Opposition und leider Gottes auch von einigen Teilen der SPD initiiert und instrumentalisiert wurde.
Die Kritik und die Attacken mancher Kolleginnen und Kollegen gehen wirklich bis an die Grenze der Verleumdung und des menschlich Erträglichen.
Dies gilt ausgerechnet unter anderem für eine Partei wie die Grünen,
die ihre hohe Kompetenz in Sachen innerer und äußerer Sicherheit bei ihrem Parteitag am vergangenen Wochenende ja eindrucksvoll unter Beweis gestellt hat.
Der Leitantrag des Vorstandes ist vom Parteitag abgeschmettert worden. Sie haben eindrucksvoll gezeigt, dass Sie nach wie vor nicht regierungsfähig sind. Das macht deutlich, dass man insbesondere die Gewährleistung der Sicherheit der deutschen Bürgerinnen und Bürger nicht in Ihre Hand geben darf.
Was hat denn Bundesinnenminister Schäuble tatsächlich gesagt? Ich zitiere nochmals ganz bewusst, um die Debatte auf den Kern zurückzuführen, aus dem Interview vom vergangenen Sonntag:
Erinnern Sie sich an die Zeit unmittelbar nach dem 11. September, als die Angst existierte, nun könnten chemische oder biologische Anschläge folgen. Einen vollständigen Überblick haben wir auch heute nicht.
Der Bundesinnenminister hat weiter darauf hingewiesen, dass unter Fachleuten die Sorge existiert, dass durch Terroristen - ich zitiere wiederum -
ein Anschlag mit nuklearem Material vorbereitet werden könnte.
Ende des Zitats.
Dies sind keine Neuigkeiten. Dies ist seit Jahren bzw. Jahrzehnten bekannt.
Solange die Atombombe nur in der Hand von demokratischen Staaten ist, ist eine solche Gefahr mit Sicherheit relativ kalkulierbar. Deswegen ist es richtig, dass es mittlerweile, angestoßen von den Präsidenten Bush und Putin, eine globale Initiative zur Bekämpfung des Nuklearterrorismus gibt. Aber die Gefährdung wird dann erheblich größer, wenn Schurkenstaaten wie beispielsweise der Iran oder Afghanistan in den Besitz von Nuklearwaffen kommen.
Unter Fachleuten ist anerkannt, dass die abstrakte Gefährdung dann unermesslich wird und nicht mehr kalkulierbar ist, sobald nichtstaatliche Organisationen, also Terrororganisationen, in den Besitz der Atombombe oder auch nur von radioaktivem Material gelangen; ich möchte an dieser Stelle nur an den Fall Litwinenko erinnern.
Das Interview von Mohammed al-Baradei im Spiegel vom 3. September ist bereits erwähnt worden. Ich darf wortwörtlich daraus zitieren:
… es ist ein Wunder, dass das noch nicht passiert ist.
Er meint damit, dass schmutzige Bomben von Terroristen zur Zündung gebracht wurden oder dass es Sprengstoffanschläge mit nuklearem Material in Europa gegeben hat. Meine sehr verehrten Kolleginnen und Kollegen von der Opposition und teilweise von der SPD, wo bleiben denn Ihre Empörung und Ihre Aufregung über die Aussagen in diesem Interview?
Darum geht es. Sie betreiben eine schäbige, unverantwortliche Betroffenheits- und Empörungspolitik.
Es ist eine himmelschreiende und verantwortungslose Realitätsverweigerung, wenn man nicht zur Kenntnis nimmt, dass Deutschland auch nach der Festnahme der drei potenziellen Attentäter im Sauerland am 4. September nach wie vor vor der abstrakten - dies hat der Bundesinnenminister deutlich gemacht - Gefahr steht, zum Operationsraum von islamistischen Terroristen zu werden,
und zwar nicht nur im Hinblick auf konventionelle Sprengstoffanschläge, sondern durchaus auch im Hinblick auf Bioterrorangriffe oder Anschläge mit radioaktivem Material.
Ich finde es gerade deshalb richtig, dass die Bundesjustizministerin Zypries, SPD, in dem von ihr in dieser Woche vorgestellten Entwurf zur Verbesserung und Veränderung des Strafrechts einen neuen § 89 a vorsieht, mit dem die Herstellung, das Beschaffen, das Überlassen und Aufbewahren nicht nur von Sprengstoffen und Viren, sondern ganz bewusst und ausdrücklich auch von radioaktivem Material mit einer Freiheitsstrafe von bis zu zehn Jahren bewehrt werden soll.
Der ehemalige Generalinspekteur der Bundeswehr Klaus Naumann hat auf dem gestrigen Symposium zum Thema ?Nukleare Sicherheitsrisiken im 21. Jahrhundert“, das die Hanns-Seidel-Stiftung veranstaltet hat, deutlich darauf hingewiesen, dass eine Differenzierung zwischen innerer und äußerer Sicherheit einer Denkweise des letzten Jahrhunderts entspricht. Deswegen handelt der Bundesinnenminister umsichtig und außerordentlich verantwortungsbewusst, wenn er zum einen die Gefahren ernst nimmt und deutlich macht, dass es zwar keine hundertprozentige Sicherheit gibt, aber man durchaus gelassen in die Zukunft sehen kann, und wenn er zum anderen immer wieder deutlich darauf hinweist und fordert, dass man unseren Sicherheitsbehörden alle technischen Möglichkeiten an die Hand geben muss, um insbesondere mit potenziellen islamistischen Terroristen auf gleicher Augenhöhe kämpfen und diese zur Strecke bringen zu können.
Deswegen ist es richtig, dass wir weiterhin um solche Themen wie Onlinedurchsuchungen streiten und ringen, die wir alsbald gesetzlich festlegen müssen. Es ist zynisch und wirklich verantwortungslos - ich komme zum Schluss -, wie die Grünen argumentieren, wenn sie sagen: Die bisherigen potenziellen Attentate sind doch mit den schon vorhandenen gesetzlichen Möglichkeiten aufgeklärt worden.
Terroristen gehen inzwischen intelligenter und perfider vor. Deshalb ist es notwendig, insbesondere den Sicherheitsbehörden in Zukunft erweiterte technische Möglichkeiten wie die Onlinedurchsuchung an die Hand zu geben.
Abschließend bitte ich Sie, in der zukünftigen Debatte zu der Gelassenheit, zu der uns der Bundesinnenminister aufgefordert hat, zurückzukehren.
Herzlichen Dank.
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms:
Das Wort hat jetzt der Kollege Klaus Uwe Benneter von der SPD-Fraktion.
Klaus Uwe Benneter (SPD):
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Frau Schriftführerin, herzlichen Glückwunsch zu Ihrem heutigen Geburtstag. Wir sollten nicht vergessen, dass jemand unter uns ist, der heute Geburtstag feiert.
Der entscheidende Satz in dem Interview, über das wir in dieser Aktuellen Stunde sprechen, lautet meiner Meinung nach:
Es hat keinen Zweck, dass wir uns die verbleibende Zeit
- ich betone: die verbleibende Zeit -
auch noch verderben, weil wir uns vorher schon in eine Weltuntergangsstimmung versetzen.
Was ist denn das für eine Haltung? Erst selbst den Untergang prophezeien und dann die verbleibende Zeit hochleben lassen. Das ist doch verrückt. Das ist absurd. Das ist so etwas von abwegig.
Das kann der Innenminister doch nicht als seine Aufgabe ansehen, seinen Wochenendfrust in Sonntagsinterviews über uns auszuschütten..
Niemand hier im Hause bestreitet die Bedrohung, auch nicht das Ausmaß der Bedrohung. Das, was am 11. September 2001 geschehen ist, war vorher unvorstellbar. Wir machen uns sicher keine Illusionen. Wir alle wissen, was alles hätte passieren können. Es kann doch aber nicht darum gehen, von der ?verbleibenden Zeit“ zu reden und die Hände in den Schoß zu legen. Es muss gehandelt werden.
Rot-Grün hat gehandelt. Es ist schon mehrfach darauf hingewiesen worden, dass wir eine Sicherheitsarchitektur aufgebaut haben. Wir haben auf das, was am 11. September 2001 passiert ist, reagiert. Wir haben gemeinsame Einrichtungen und gemeinsame Dateien geschaffen. Wir haben erstmals eine Zusammenarbeit der Polizeien und Sicherheitsbehörden von Bund und Ländern herbeigeführt. Wir waren diejenigen, die das in die Wege geleitet haben. Dieses Konzept funktioniert. Das zeigen die Fahndungserfolge der letzten Zeit. Bei uns braucht niemand komplexhaft Otto Schily zu kopieren.
Wir haben in diesem Lande eine Sicherheitsarchitektur geschaffen, die zumindest bei den bisherigen Anschlagsversuchen gezeigt hat, dass sie ausreicht und richtig ist, weil sie zielführend ist.
Jetzt muss es darum gehen - Herr Mayer, da kann keiner anderer Auffassung sein -, das, was wir bei diesen Anschlagsversuchen erfahren haben, genau aufzuarbeiten und zu analysieren. Es geht darum, genau zu schauen, ob es Schwachstellen gibt. An diesen Stellen muss dann gegebenenfalls nachgearbeitet werden. Natürlich müssen wir immer im Auge haben, dass es auch bei den Kriminellen, bei denjenigen, die terroristische Anschläge planen, Fortschritte gibt. Wir müssen aber sachlich und seriös vorgehen. Das ist unsere Aufgabe.
Wir können den Menschen sagen: Solange Sozialdemokratinnen und Sozialdemokraten in der Regierung sind, sorgen wir dafür, dass sie keine Albträume erleben. Wir arbeiten an und für unser aller Sicherheit. Das ist die Aufgabe der Sozialdemokraten in dieser Regierung.
Ihr Interview, Herr Schäuble, hefte ich zusammen mit anderen in meinem Ordner ?Sonderliches“ ab. Er enthält übrigens schon ein Interview vom 29. Januar 2006. Vor über anderthalb Jahren hat Herr Schäuble fast wortgleich dasselbe gesagt wie heute.
Damals ging es ihm bei der Vorbereitung der Fußballweltmeisterschaft darum, eine Zustimmung zum Einsatz der Bundeswehr im Innern zu bekommen. Das war der Hintergrund des Bedrohungsszenarios, das er damals aufgebaut hatte. Aber auch damals ließ er alles im Unklaren und hat es einfach nur zur Ängstigung der Gesellschaft getan. Das ist nicht die Aufgabe eines Bundesinnenministers. Das, denke ich, müssen wir hier klarmachen.
Insofern möchte ich noch einmal deutlich hervorheben: Wir haben die Fußballweltmeisterschaft 2006 gut über die Bühne gebracht. Es war ein freudiges Ereignis. Die Sicherheitsarchitektur dafür wurde unter Rot-Grün vorbereitet.
- Die Sicherheitsarchitektur für diese Weltmeisterschaft ist von Rot-Grün vorbereitet worden.
Das ist alles schon längst in Szene gesetzt worden. Da konnte man sich auf den fahrenden Zug begeben.
Solange wir in der Regierung sind, wird nicht rumgefaselt, sondern seriös und verantwortungsvoll gehandelt, gerade im Innen- und im Sicherheitsbereich. Darauf können sich die Menschen in diesem Land verlassen.
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms:
Das Wort hat der Kollege Ralf Göbel von der CDU/CSU-Fraktion.
Ralf Göbel (CDU/CSU):
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die Debatte hat sich in weiten Teilen von dem entfernt, worüber wir eigentlich reden wollten, nämlich das Interview des Bundesinnenministers. Ich will trotzdem noch zwei Sätze sagen:
Zum Ersten. Wenn die FDP hier hinsichtlich des Vorschlags zur Onlinedurchsuchung den Vorwurf eines Verfassungsbruchs erhebt, dann will ich nachdrücklich daran erinnern, dass eine gesetzliche Regelung zur Onlinedurchsuchung in der Verantwortung eines FDP-Innenministers in Nordrhein-Westfalen erarbeitet worden ist und derzeit beim Verfassungsgericht liegt. Das sollte man nicht vergessen.
Zum Zweiten. Wir haben heute viel über Rot-Grün gehört und mit Rot-Grün auch einiges erlebt. Ich erinnere mich noch gut daran, dass der ehemalige Bundesinnenminister Otto Schily hier im Deutschen Bundestag gesagt hat: ?Wer den Tod haben will, kann ihn haben.“ Alle saßen Sie da, einige waren betroffen, aber die meisten haben Beifall geklatscht; denn Otto Schily ist Garant für eine verantwortungsvolle Innenpolitik.
Herr Benneter wird diese Rede von Otto Schily sicherlich auch im Ordner ?Absonderliches“ abgeheftet haben.
Zu Ihrer Rede, Herr Körper, kann man mit den Philosophen sagen: ?Si tacuisses ...“
Was ist an den Äußerungen des Bundesinnenministers falsch? Nichts. Was ist daran hysterisierend? Ebenfalls nichts.
Liegt eine solche Bedrohung außerhalb der Vorstellungskraft? Nein.
Und warum? Ich komme auf die neue Videobotschaft von al-Qaida zu sprechen, in der es heißt:
Es gilt, den islamistischen Terrorismus in den Westen zu tragen, damit dieser ein den Naturkatastrophen ähnliches Phänomen wird.
Die Botschaft kommt an bei uns.
Ich will Ihnen ein Beispiel dazu nennen. Im Jahre 2001 wurde in meiner Heimatstadt, in Landau, ein Arbeiter festgenommen, der in der Wiederaufarbeitungsanlage in Karlsruhe ein Röhrchen mit Plutonium entwendet hatte. Anschließend war ein riesiger Aufwand notwendig, um die Kontamination, die in der Umwelt, im Haus und bei den Menschen entstanden ist, zu beseitigen. Es ist also möglich, an solches Material zu kommen.
Wenn man dann noch weiß, Frau Stokar - auch das ist in der Presse nachzulesen -, dass einer der Gefährder, die jetzt aus Pakistan zurückgekommen sind, bei der Ingenieurfirma gearbeitet hat, die unter anderem ein Institut beim Forschungszentrum Karlsruhe betreut, dann zeigt das, dass die Möglichkeit, an solches Material heranzukommen, gar nicht mehr so fern ist.
Im Übrigen hat sich damals auch Bundesumweltminister Trittin mit diesem Vorgang befasst. Insoweit müssten Sie wissen, dass die Gefährdung sehr konkret ist
und wir nicht über irgendwelche abstrakten Spinnereien reden, sondern über das, was in dieser Bundesrepublik jeden Tag vorkommen kann.
Was verlangen Sie eigentlich vom Bundesinnenminister?
Soll der Bundesinnenminister sagen: Wir ignorieren es, ähnlich wie es die Grünen machen; wir stecken den Kopf in den Sand, dann wird schon nichts passieren;
wir ignorieren die Gefahren, dann gibt es sie auch nicht?
Das ist keine verantwortungsvolle Innenpolitik.
Es ist richtig, den Menschen zu sagen, wo Gefahren entstehen können, wo Gefahren herrühren und wie wir Gefahren beseitigen können.
Wir diskutieren seit einigen Monaten über dieses Thema; ich muss sagen: bisher leider ohne Ergebnis. Es wäre schön, wenn wir langsam zu einem Ende der Debatte kämen und den Leuten signalisieren könnten: Wir haben die Gefahr erkannt, wir haben das Problem verstanden, und wir haben Lösungen für dieses Problem erarbeitet.
Insoweit appelliere ich an die Kolleginnen und Kollegen, jetzt zügig zur Sacharbeit zurückzukehren und hysterische Debatten zu vermeiden, weil bei diesen Themen Hysterie eigentlich fehl am Platze ist.
Das erwartet die Bevölkerung von uns, dafür sind wir gewählt worden. Dementsprechend möchte die CDU/CSU handeln.
Vielen Dank.
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms:
Als letzter Redner in dieser Aktuellen Stunde hat das Wort der Kollege Gerold Reichenbach von der SPD-Fraktion.
Gerold Reichenbach (SPD):
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Erlauben Sie mir eine Replik. Als ich im Jahre 2002 in dieses Parlament gewählt wurde, habe ich meine erste Rede - damals übrigens auch im Rahmen einer Aktuellen Stunde - zum Thema ?Terrorgefahr durch Pocken“ gehalten. Der damalige Ausgangspunkt war ähnlich: ein Vermerk über theoretische Potenziale. Damals stand in der Zeitung mit den großen Lettern nicht etwas von Atomterror, sondern von Pockenterror. Wie sich nachher herausstellte, bestand gar keine konkrete Gefahr von Pockenanschlägen, damals aus dem Irak; vielmehr ging es damals darum, in der Bevölkerung Akzeptanz für die von der CDU geforderte Bereitschaft zur Teilnahme am Irakkrieg herzustellen.
Herr Minister, angesichts dessen ist es nicht nur entscheidend, was aus Fachdiskussionen zitiert wird, sondern auch, in welchen gesellschaftlichen und medialen Kontext die Zitate gestellt werden. Ich gehe davon aus, dass ein so erfahrener Minister und Politiker wie Sie dies weiß und nicht fahrlässig vorgeht.
Wenden wir uns der Fachdiskussion zu. Der Zufall will es, dass die anerkannte und renommierte Hessische Stiftung für Friedens- und Konfliktforschung in ihrem Heft 2/2007 eine Studie mit dem Titel Nuklearterrorismus: Akute Bedrohung oder politisches Schreckgespenst? veröffentlicht hat. Ich würde gern mit Ihrer Erlaubnis, Herr Präsident, daraus zitieren:
Ein als ultimatives ?politisches Schreckgespenst“ ins Feld geführter ?Terror mit Atombomben“ bringt dabei die Gefahr mit sich, durch absichtlich falsche oder in Unkenntnis verzerrte Risikodarstellungen hinsichtlich der terroristischen Möglichkeiten den gesellschaftlichen Abwägeprozess zwischen Sicherheit und Freiheitsrechten in eine Schieflage zu bringen. Die vorliegende Risikoabschätzung zeigt, dass die vom Nuklearterrorismus ausgehende Bedrohung keinen Anlass dazu gibt, den Weg über die Verschärfung der inneren Sicherheit als besonders erfolgversprechend zu werten.
Dem habe ich nichts hinzuzufügen.
Diese Studie führt übrigens auch aus - der von Ihnen zitierte Chef der UN-Atombehörde hat das auch intendiert -, dass Antiproliferationsbemühungen auf internationaler und nationaler Ebene am wirksamsten sind. Dazu haben Sie kein Wort gesagt.
Zur Gefahr einer Dirty Bomb sagen alle Fachleute: Natürlich kann man damit Schaden anrichten, aber das Schadenspotenzial ist begrenzt. Die eigentliche Funktion einer solchen Dirty Bomb ist, in einer Gesellschaft Panik hervorzurufen und damit Bevölkerung und Wirtschaft zu schädigen, psychologisch und auch ökonomisch.
Die Studie führt dazu aus, dass jemand, der in der Bevölkerung Atomterrorhysterie schürt, den Tätern bewusst oder unbewusst in die Hände spielt, weil er den Boden dafür bereitet, dass ein Anschlag mit einer Dirty Bomb die gewünschten Effekte zeitigt. Die Studie kommt dann zu dem Ergebnis, das ich auch gern mit Ihrer Erlaubnis, Herr Präsident, zitieren würde:
Eine Verschärfung von Sicherheitsmaßnahmen drohte damit letztlich übers Ziel hinauszuschießen und denjenigen in die Hände zu spielen, denen eigentlich das Handwerk gelegt werden soll.
Deswegen ist das Angebot, das wir Sozialdemokraten auf den Tisch gelegt haben und Netzwerk für Sicherheit nennen, darauf die richtige Antwort. Gehen wir darauf ein! Wir sollten also für den Bereich, in dem die Polizei gemäß dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts keine entsprechenden Möglichkeiten hat - ich nehme Bezug auf unsere gestrige Diskussion -, in Art. 35 des Grundgesetzes klarstellen, dass dann, wenn eine Bedrohung aus der Luft oder von der See vorliegt, in beschränktem Rahmen militärische Mittel im Sinne des Polizeirechts eingesetzt werden dürfen.
Herr Minister, da ich Sie und Ihre Sorge ernst nehme, füge ich hinzu: Wir als Ihr Koalitionspartner verstehen manches, was in Ihrem Hause geschieht, nicht. Wenn der Einsatz einer Dirty Bomb eine potenzielle Bedrohung darstellt, dann verstehe ich nicht, warum Sie nicht, wie es Ihr Vorgänger Otto Schily getan hat, dafür sorgen, dass die Schutzlücke bei der zivilen ABC-Abwehr geschlossen wird,
sondern einen Großteil des zur Verfügung gestellten Geldes verwenden, um bei Ihren Innenministerkollegen in den Ländern Gutwetter zu machen und die Finanzierung von Aufgaben zu übernehmen, die eigentlich in deren Zuständigkeit fallen.
Auch verstehe ich nicht - das ist der letzte Kritikpunkt, den ich ansprechen möchte -, dass wir in diesem Hause zwar darüber reden, was passiert, wenn ein Flugzeug entführt worden ist, Ihr Haus aber gleichzeitig die Intervalle der Sicherheitsüberprüfung im Bereich des Luftverkehrs von einem auf fünf Jahre verlängert und dadurch ökonomischen Begehren nachgibt.
- Auf zwei und dann auf fünf.
- Doch, erst zwei und dann fünf Jahre; so steht es in der Verordnung. Lesen Sie das nach, Herr Binninger. - Dadurch schwächen Sie ein bislang redundantes Sicherheitssystem.
Wir Sozialdemokraten sagen: Im Bereich der inneren Sicherheit kommt es in der Praxis darauf an, Vernunft und Augenmaß an den Tag zu legen und den großen Zusammenhang im Auge zu behalten, und zwar auf allen Ebenen, nicht nur bei spektakulären Gesetzesvorhaben. In diesem Sinne sollten wir, wie ich meine, zu einer sachlichen Diskussion zurückkehren.
Unsere Angebote dazu liegen auf dem Tisch, nicht in Form von spektakulären Interviews, sondern in Form von sachlicher gesetzestechnischer Arbeit.
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms:
Die Aktuelle Stunde ist beendet.
[Der folgende Berichtsteil - und damit der gesamte Stenografische Bericht der 115. Sitzung - wird morgen,
Freitag, den 21. September 2007,
an dieser Stelle veröffentlicht.]