130. Sitzung
Berlin, Donnerstag, den 29. November 2007
Beginn: 9.00 Uhr
* * * * * * * * V O R A B - V E R Ö F F E N T L I C H U N G * * * * * * * *
* * * * * DER NACH § 117 GOBT AUTORISIERTEN FASSUNG * * * * *
* * * * * * * * VOR DER ENDGÜLTIGEN DRUCKLEGUNG * * * * * * * *
Präsident Dr. Norbert Lammert:
Die Sitzung ist eröffnet. Guten Morgen, liebe Kolleginnen und Kollegen; ich begrüße Sie alle herzlich.
Ich mache Sie auf die Zusatzpunktliste aufmerksam, die interfraktionell vereinbart worden ist:
ZP 1 Wahlvorschlag der Fraktion der SPD
Wahl eines Mitgliedes des Gemeinsamen Ausschusses gemäß Artikel 53 a des Grundgesetzes
Wahl eines vom Deutschen Bundestag zu entsendenden Mitgliedes des Ausschusses nach Artikel 77 Abs. 2 des Grundgesetzes (Vermittlungsausschuss)
Wahl eines Mitgliedes des Parlamentarischen Kontrollgremiums gemäß §§ 4 und 5 Abs. 4 des Gesetzes über die parlamentarische Kontrolle nachrichtendienstlicher Tätigkeit des Bundes (Kontrollgremiumsgesetz - PKGrG)
- Drucksache 16/7287 -
(siehe 129. Sitzung)
ZP 2 Weitere Überweisungen im vereinfachten Verfahren
(Ergänzung zu TOP V.)
a) Beratung des Antrags der Abgeordneten Dr. Petra Sitte, Dr. Kirsten Tackmann, Karin Binder, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE
Nanotechnologie für die Gesellschaft nutzen - Risiken vermeiden
- Drucksache 16/7276 -
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung (f)
Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und
Verbraucherschutz
Ausschuss für Gesundheit
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen
Union
b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Grietje Bettin, Kai Gehring, Ekin Deligöz, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Hochwertige Computerspiele fördern und bewahren
- Drucksache 16/7282 -
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Kultur und Medien (f)
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen
Union
Haushaltsausschuss
Sind Sie mit der Aufsetzung der dort aufgeführten Punkte einverstanden? - Das ist der Fall. Dann ist das so beschlossen.
Wir setzen unsere Haushaltsberatungen - Tagesordnungspunkt II - fort:
a) Zweite Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes über die Feststellung des Bundeshaushaltsplans für das Haushaltsjahr 2008
(Haushaltsgesetz 2008)
- Drucksachen 16/6000, 16/6002 -
b) Beratung der Beschlussempfehlung des Haushaltsausschusses (8. Ausschuss) zu der Unterrichtung durch die Bundesregierung
Finanzplan des Bundes 2007 bis 2011
- Drucksachen 16/6001, 16/6002, 16/6426 -
Berichterstattung:
Abgeordnete Steffen Kampeter
Carsten Schneider (Erfurt)
Otto Fricke
Dr. Gesine Lötzsch
Anja Hajduk
Dazu rufe ich jetzt den Tagesordnungspunkt II.13 auf:
Einzelplan 11
Bundesministerium für Arbeit und Soziales
- Drucksachen 16/6411, 16/6423 -
Berichterstattung:
Abgeordnete Waltraud Lehn
Hans-Joachim Fuchtel
Dr. Claudia Winterstein
Dr. Gesine Lötzsch
Anja Hajduk
Zum Einzelplan 11 liegt ein Änderungsantrag der Fraktion Die Linke vor. Außerdem liegt ein Entschließungsantrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen vor, über den wir am Freitag nach der Schlussabstimmung abstimmen werden.
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für die Aussprache eineinhalb Stunden vorgesehen. - Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort erhält zunächst die Kollegin Dr. Claudia Winterstein für die FDP-Fraktion.
Dr. Claudia Winterstein (FDP):
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Konrad Adenauer hat einmal gesagt: In der Politik ist es nie zu spät; es ist immer Zeit für einen Neuanfang. Ich begrüße den neuen Arbeitsminister, für den die Haushaltsberatung heute eine Premiere ist. Herr Scholz, Sie übernehmen den größten Einzeletat des Bundes in Höhe von 124 Milliarden Euro. Dafür wünsche ich Ihnen alles Gute und einen klaren Blick; denn Sie übernehmen damit eine große Verantwortung.
Ein personeller Neuanfang bedeutet ja auch immer die Chance einer inhaltlichen Neuausrichtung. Auf diese hoffe ich natürlich sehr, weil ich sie für notwendig halte.
Zwei Probleme kennzeichnen diesen Haushalt:
Erstens. Die Bundesagentur für Arbeit wird immer mehr zum Selbstbedienungsladen für den Bundeshaushalt.
Den Aussteuerungsbetrag schafft die Koalition zwar ab, weil er verfassungswidrig ist und außerdem nur noch eine geringe Summe erbringt; zugleich aber greift die Regierung dem Beitragszahler noch unverschämter in die Tasche als je zuvor.
Die Beschlüsse zur Arbeitsmarktpolitik - das betrifft den Eingliederungsbeitrag, den Beitragssatz und das Arbeitslosengeld I - bilden sich im Haushalt des Arbeitsministers recht einseitig ab. Im Haushalt des Arbeitsministers findet eine Entlastung statt, im Haushalt der Bundesagentur für Arbeit eine Belastung. Mit dem Eingliederungsbeitrag bereichert sich der Arbeitsminister mit über 5 Milliarden Euro aus den Taschen der Beitragszahler. Es zahlt die Bundesagentur für Arbeit. Der Beitragssatz zur Arbeitslosenversicherung wird gesenkt. Es zahlt die Bundesagentur für Arbeit. Das Arbeitslosengeld I wird verlängert. Es zahlt die Bundesagentur für Arbeit.
Die Koalition verübt auch beim Arbeitslosengeld I Betrug am Beitragszahler.
Die Verlängerung des Arbeitslosengeldes I sollte nämlich kostenneutral erfolgen. Stattdessen gibt der Bund lediglich 270 Millionen Euro zu den insgesamt mindestens 800 Millionen Euro Mehrkosten hinzu.
Zur Kritik an dem politischen Vorhaben selbst will ich nur die Bundesbank zitieren. Sie nennt die längere Bezugsdauer des Arbeitslosengeldes I einen ?Rückschlag im Bemühen um günstigere Rahmenbedingungen für mehr Beschäftigung“.
Kurzum: Sie treffen die falschen Beschlüsse, Sie richten Schaden statt Nutzen an, und Sie bezahlen das mit dem Geld der Beitragszahler.
Zweitens. Die Ausgaben für die aktive Arbeitsmarktpolitik werden erhöht, aber die nötigen Schlussfolgerungen aus der Evaluierung werden nicht gezogen. In der Koalitionsvereinbarung 2005 hieß es:
Die Vielzahl unterschiedlicher Förder-Instrumente ist für die Menschen kaum noch überschaubar. Vieles deutet darauf hin, dass einzelne Maßnahmen und die damit verbundenen, teilweise umfangreichen Mittel der Arbeitslosenversicherung zielgenauer, sparsamer und effizienter eingesetzt werden können.
Die Erkenntnis war richtig. Geschehen ist bisher jedoch so gut wie nichts. Es wird also nach wie vor Geld verschwendet.
Der bisherige Arbeitsminister hat sich jetzt mit der Zusage verabschiedet, dass der Bericht zu den Instrumenten der Arbeitsmarktpolitik in diesem Herbst vorgelegt wird. Das hat er im letzten Jahr auch schon versprochen. Herr Scholz, ich hoffe, dass Sie dieses Versprechen jetzt tatsächlich einlösen.
Im Haushalt 2008 wird der Maßnahmendschungel nicht gelichtet. Im Gegenteil: Es kommen immer weitere neue Arbeitsmarktinstrumente hinzu. Die Koalition handelt nach dem Motto ?Viel hilft viel“. Das ist, wie die Untersuchungen gezeigt haben, völlig falsch.
Das Geldausgeben fällt Ihnen umso leichter, weil alle Wohltaten zur Hälfte von der Bundesagentur für Arbeit mitfinanziert werden, und zwar ohne dass diese in irgendeiner Form ein Mitspracherecht hätte. Es ist leicht, das Geld anderer Leute zu verschwenden. Das ist das Motto der Koalition.
Wir haben im liberalen Sparbuch vorgeschlagen, diesen finanziellen Verschiebebahnhof endlich zu beenden. Der Vorschlag lautet: Die Bundesagentur für Arbeit zahlt keinen Eingliederungsbeitrag an den Bund, und der Bund überträgt auch keinen Mehrwertsteuerpunkt an die Bundesagentur für Arbeit. Mit dem Verschieben von Milliarden zwischen den beiden Stellen muss endlich Schluss sein. Wir brauchen eine klare und saubere Trennung. Die Bundesagentur würde - das wurde in den Haushaltsberatungen sehr deutlich - einen solchen Schritt begrüßen.
Wir haben außerdem gefordert, der Bundesagentur keine neuen Lasten aufzubürden; denn dadurch wäre es möglich, den Beitragssatz auf 3 Prozent zu senken. Das halten wir für sehr richtig.
Zum Schluss will ich eine Personalangelegenheit ansprechen. Die Stelle des dritten Staatssekretärs, der zum neuen Vizekanzler ins Außenministerium wandert,
wurde im Stellenplan des Arbeitsministeriums übrigens nicht gestrichen,
sondern nur gesperrt. Als neuer Arbeitsminister könnten Sie, Herr Scholz, ein Signal setzen: Verzichten Sie doch auf die Besetzung dieser Stelle! Das wäre ein erster guter Schritt.
Auf die weiteren Schritte bin ich gespannt. Wir helfen mit unserem Sparbuch gerne weiter, damit diese Schritte in die richtige Richtung gehen.
Danke.
Präsident Dr. Norbert Lammert:
Das Wort erhält nun der Bundesminister für Arbeit und Soziales, Olaf Scholz.
Olaf Scholz, Bundesminister für Arbeit und Soziales:
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Zunächst möchte ich mich bei den Berichterstattern und den Mitgliedern des Haushaltsausschusses für die gute Zusammenarbeit mit dem Ministerium in den vergangenen Wochen bedanken. Ich war - das muss nicht geheimnisvoll verborgen werden - die meiste Zeit nicht als Arbeits- und Sozialminister dabei, aber ich habe mir von meinen Mitarbeitern berichten lassen, dass die Kooperation gewohnt gut verlaufen ist. Deshalb hoffe ich auf gute Zusammenarbeit auch in der Zukunft.
Der Bereich Arbeit und Soziales ist entscheidend für den Erfolg der Bundesregierung, für die wirtschaftliche Prosperität und für die Entwicklung des Zusammenhaltes in unserer Gesellschaft. Franz Müntefering hat das Ressort mit großer Umsicht geleitet und viele bedeutende Weichen gestellt. Auch an dieser Stelle geht mein großer Dank an Franz Müntefering für seine Arbeit als Minister.
Ich kann nahtlos dort fortfahren, wo Franz Müntefering aufgehört hat. Es geht in dem Ressort nicht um abstrakte Politik, sondern um Einzelschicksale, um individuelle Chancen, um Teilhabe und um Selbstbestimmung. Da kommen wir voran.
Ein Beispiel sind die Arbeitsmarktzahlen, die die Bundesagentur für Arbeit heute präsentiert: die niedrigsten in einem November seit 1992. Wir haben derzeit 3,38 Millionen Arbeitslose, über 600 000 weniger als vor einem Jahr, über 1 Million weniger als vor zwei Jahren. 40 Millionen Menschen sind in Arbeit, über 27 Millionen davon in sozialversicherungspflichtiger Beschäftigung,
und - das darf nicht vergessen werden - es gibt knapp 1 Million Stellen, die zum Teil sofort besetzt werden können - eine gute Hoffnung für die Menschen, die Arbeit suchen. Das sind Erfolge, auf die wir alle stolz sein können und die für die Menschen natürlich wichtig sind, weil es nicht nur um Zahlen geht, sondern auch um Möglichkeiten, sein Leben zu verbessern.
Wachstum ist die entscheidende Voraussetzung dafür, dass wir diese Entwicklung verstetigen können. Das brauchen wir, damit neue Arbeit entsteht und mehr Menschen die Chance auf Arbeit haben. Denen, die geringere Aussichten und Chancen auf einen Arbeitsplatz haben, wollen wir gezielt mit Programmen helfen. Das sind vor allem Jüngere, Ältere, Langzeitarbeitslose und Menschen mit Behinderungen. Wir haben ein paar Ziele, die man ganz klar verfolgen muss: Kein junger Mensch soll von der Schulbank in die Arbeitslosigkeit geraten. Die Chancen ?50 plus“ müssen weiter wachsen. Die Beschäftigungsquote der über 55-Jährigen liegt derzeit bei 52 Prozent. Das ist viel zu wenig. Wir wollen das ändern.
Mehr Chancen auf Arbeit, das ist auch der Maßstab für die Neuordnung der arbeitsmarktpolitischen Instrumente. Der Instrumentenkasten muss kleiner werden,
um arbeitsuchende Bürgerinnen und Bürger besser und zielgerichteter zu unterstützen. Ich kann Ihnen versichern - Sie haben nachgefragt -: In wenigen Wochen werden Ihnen die Vorschläge des Ministers und der Koalitionsparteien dazu vorliegen.
Vor allem aber will ich dafür sorgen, dass die Arbeitsvermittlung in Deutschland die leistungsfähigste Institution wird, denn die Menschen in diesem Land sind darauf angewiesen. Es darf keine Behörde, keine öffentliche Einrichtung in Deutschland geben, die leistungsfähiger ist als die Bundesagentur für Arbeit und die Arbeitsgemeinschaften.
Niemand auf der Welt soll uns berichten können, dass er es besser organisiert hat, als es in diesem Land der Fall ist. Das ist eine große und ständige Aufgabe.
Ich glaube, dass wir mit den Reformen der letzten Jahre gute Fortschritte gemacht haben, aber ich bin auch ganz sicher, dass wir noch viel Arbeit vor uns haben - praktische Arbeit und nicht immer nur Gesetzgebungsarbeit -, damit die Menschen, die arbeitslos werden oder die nach der Schule das erste Mal einen Arbeitsplatz suchen, sagen können: Ich weiß, da wird mir mit allen Möglichkeiten geholfen. Die Leute haben Verständnis für meine Probleme, und sie werden alles tun, damit ich so schnell wie möglich Arbeit finde.
Arbeit ist die Grundlage dafür, dass der Sozialstaat auch in Zukunft soziale Sicherung durch die Sozialversicherungen gewährleisten kann. Dieses Modell der organisierten Solidarität, in dem Menschen für Menschen einstehen, hat in über 100 Jahren bewiesen, dass es krisenfest und leistungsstark ist. Ich will an dieser Stelle ausdrücklich sagen: Das wird auch in Zukunft im Mittelpunkt der sozialen Sicherheit der Menschen in diesem Land stehen.
Da wir schon bei Traditionen sind: Zu den Erfolgsbedingungen unserer Wirtschaftsverfassung gehört für mich auch die Sozialpartnerschaft. Es gibt Leute, die diese Tradition verachten und die Suche nach Konsens zwischen den Parteien des Arbeitslebens eher beklagen. Ganze Leitartikel sind zu diesem Thema geschrieben worden. Aber Deutschland ist gut damit gefahren, dass Gewerkschaften und Arbeitgeberverbände ihre Interessen zum Ausgleich bringen. Ich will an diese Erfahrung anknüpfen und die Sozialpartnerschaft wieder stärker mit Leben füllen. Gleiche Augenhöhe zwischen Arbeitnehmern und Arbeitgebern - das ist eine Errungenschaft, auf die wir in Deutschland stolz sein können.
Wir wollen, dass Arbeit gute Arbeit ist und eben keine Arbeit, die erst mit Sozialtransfers erträglich wird. Mehr Chancen auf gute Arbeit, darum geht es uns.
Die gute Entwicklung in der Wirtschaft und auf dem Arbeitsmarkt ist auch ein Ergebnis der politischen Anstrengungen der letzten Jahre. Wir sind im Jahre 2003 auf einen Reformkurs gegangen, der vielen einiges abverlangt hat, der sich aber jetzt auszahlt. Das war eine Notoperation. Ein weiterer Aufschub war damals nicht möglich. Es ging darum, die Systeme zu stabilisieren, damit sie für die Zukunft funktionsfähig bleiben. Bundeskanzler Gerhard Schröder hat das am 14. März 2003 ganz richtig begründet:
Entweder wir modernisieren, und zwar als soziale Marktwirtschaft, oder wir werden modernisiert, und zwar von den ungebremsten Kräften des Marktes, die das Soziale beiseite drängen würden.
Meine Damen und Herren, das bleibt nach wie vor richtig.
Es gab in unserem Land viel aufzuarbeiten - bis in die Zeit der Großen Koalition. Aber daraus ist Gutes erwachsen, obwohl ich die schmerzlichen Einschnitte, die damit verbunden waren, keineswegs kleinreden will. Das war nicht leicht. Am leichtesten war es für die Politik. Aber es war natürlich für viele Menschen schwierig, die mit diesen Reformen unmittelbar konfrontiert waren. Heute aber sind sie wirksam geworden, und wir können sagen: Wir waren erfolgreich.
Natürlich sind Reformen eine konstante Aufgabe für die Politik, wie Willy Brandt das gesagt hat:
Wer morgen sicher leben will, muß heute für Reformen kämpfen.
- Man darf nicht bei einer Meinung, die man 1970 schon einmal hatte, stehen bleiben, Herr Niebel. - Die Welt dreht sich weiter. Die Dinge verändern sich. Globalisierung, demografischer Wandel und die technologische Entwicklung stellen uns vor große Herausforderungen.
Aber Reformen - das gilt genauso - dürfen nicht zum Selbstzweck werden. Reformen sind Schritte hin zu einem Ziel. Es geht darum, etwas zu erreichen. Wer das außer Acht lässt und die schmerzhafte Reform zur Attitüde des Regierens werden lässt, wer glaubt, dass Forderungen nach immer härteren und tieferen Einschnitten nötig sind, der leistet der Modernisierung unserer Gesellschaft einen Bärendienst, weil er das nötige Vertrauen in den Sinn von Veränderungen zerstört, statt Vertrauen aufzubauen.
Beispiel sind die jüngsten Forderungen nach einer Rente mit 70 oder 77. Alle Experten - von Rürup bis Raffelhüschen - sagen uns, dass wir mit der Rente mit 67 unsere Hausaufgaben gemacht haben. Wir halten damit bis 2030 die gesetzlichen Beitragssatz- und Niveausicherungsziele ein. Wir sorgen für eine generationengerechte Verteilung.
Das macht ein Vergleich der Beitragsjahre mit der Rentenbezugszeit deutlich. Der Vorsitzende des Sozialbeirats für die Rentenversicherung, Bert Rürup, hat es jetzt vorgerechnet: Wer 1970 aus dem Arbeitsleben ausgeschieden ist, bezog danach im Schnitt noch mehr als elf Jahre Rente. Das entsprach rechnerisch 25 Prozent der Zeit, in der er zuvor eingezahlt hatte. Heute beträgt die Rentenbezugsdauer annähernd 40 Prozent der Lebensarbeits- und Beitragszeit. Durch die allmähliche Anhebung des Renteneintrittsalters drücken wir diese Relation wieder auf 35 Prozent im Jahre 2030. Wir liegen auch in 2050 noch unter den 40 Prozent von heute. Das heißt, die Kosten der steigenden Lebenserwartung werden nachhaltig generationengerecht verteilt. Wir stabilisieren die Statik des Rentensystems nicht nur, wir verbessern sie sogar.
Statt also Ängste mit neuen Forderungen zu schüren, sollte man besser sagen: Auftrag ausgeführt! Wir haben unser Ziel erreicht. Das Rentensystem steht wieder auf stabileren Füßen.
Natürlich gibt es noch Felder und Aufgaben, die wir beackern müssen. Da geht es vor allem um die alters- und alternsgerechte Arbeit. Das ist die große Aufgabe der Zukunft. Da werden viele Vorschläge zu erörtern sein, zum Beispiel, wie man Altersteilzeit und Teilrente gut miteinander verzahnen kann. Dazu gehört auch, dass wir - darüber haben sich die Koalitionsfraktionen jetzt verständigt - eine vernünftige Anschlussregelung für die sogenannte 58er-Regelung finden. Auch das ist ein guter, leise und vernünftig diskutierter Fortschritt.
Aber die wichtigste Aufgabe jetzt ist es, das Vertrauen in die Rentenversicherung zu stärken. Die Beitragszahler müssen wissen, dass ihre Beiträge zu der erwarteten Rente führen. Diese Ankündigung muss wieder an Plausibilität gewinnen. Das wird Zeit brauchen; denn die Bürgerinnen und Bürger haben in Sachen Rente zu viele hohle Versprechungen gehört. Deshalb sollte niemand erwarten, dass das in einem oder zwei Jahren alles wieder anders sein wird. Wenn man viele Jahre enttäuscht war, dann braucht man auch viele Jahre, um das Vertrauen zurückzugewinnen.
Aber eins ist auch völlig klar: Wir werden nie neues Vertrauen gewinnen, wenn wir nach der Reform schon wieder das Werkzeug auspacken und die nächste Renovierung angehen wollen, bloß um damit Geschäftigkeit beweisen zu können.
Meine Damen und Herren, wir wollen, dass Teilhabe am Aufschwung und am Wohlstand für alle möglich ist. Die Reformen zahlen sich aus, und ich finde, davon sollen alle etwas haben. Ich will ein paar Beispiele nennen, wie das in nächster Zeit geschieht:
Erstens. Wir senken zum 1. Januar des nächsten Jahres den Beitrag zur Arbeitslosenversicherung auf 3,3 Prozent. Das ist, verglichen mit den 6,5 Prozent im Jahr 2005, fast eine Halbierung.
Wer 2 000 Euro brutto im Monat verdient, hat künftig 384 Euro im Jahr mehr in der Tasche als 2005. Das ist ein Fortschritt für alle Menschen.
Zweitens. Wir haben mit den Arbeitsmarktreformen viel erreicht: mehr Menschen in Arbeit, mehr Chancen auf Arbeit durch ein gerechteres System des Förderns und Forderns, weniger Frühverrentung. Weil das so ist, können wir den Gerechtigkeitsvorstellungen unserer Bürgerinnen und Bürger entsprechen und einen längeren Bezug des Arbeitslosengeldes ermöglichen: 15 Monate für über 50-Jährige, 18 Monate für über 55-Jährige, 24 Monate für über 58-Jährige. Das ist ein guter Fortschritt.
Drittens. Wir setzen uns für Mindestlöhne ein,
immer noch im Bereich der Briefdienste, wo wir dringend eine soziale Flankierung für den Fall des Briefmonopols brauchen. Ich sage voller Optimismus allen Skeptikern hier im Haus: Das werden die Koalitionsparteien noch miteinander hinbekommen.
Aber wir werden Mindestlöhne nicht nur in diesem Bereich einführen müssen. Wir haben vereinbart, dass es branchenspezifische Mindestlöhne über die Ausweitung des Arbeitnehmer-Entsendegesetzes und über die Aktualisierung des Mindestarbeitsbedingungengesetzes geben soll. Das werden die Gesetzesvorhaben der nächsten Zeit sein; daran arbeiten wir. Der Grund dafür liegt übrigens, liebe Freunde und Freundinnen von der FDP, auf der Hand:
Wettbewerb darf nicht über Dumpinglöhne stattfinden.
Noch eine Ergänzung, liebe Kolleginnen und Kollegen von der FDP: Unsere Unternehmerinnen und Unternehmer können mehr. Sie können auch Wettbewerb über besseres Management, intelligente Erfindungen und bessere Dienstleistung für ihre Kunden.
Wer hart arbeitet, der muss dafür auch einen anständigen Lohn bekommen. 3,18 Euro pro Stunde sind keine Basis für Teilhabe am Wohlstand.
Die Ordnung der sozialen Marktwirtschaft verlangt es: Der Mindestlohn kommt!
Viertens. Wir haben den Auftrag, die staatlichen Unterstützungen für Geringverdiener neu zu durchdenken. Wohngeld, Kindergeld, Kinderzuschlag und der geplante Erwerbstätigenzuschuss stehen nebeneinander. Zwischen diesen Instrumenten gibt es viele Zusammenhänge. Deshalb macht es Sinn, dass wir über ein Gesamtkonzept diskutieren. Das ist kompliziert. Wer für Schnellschüsse ist, berät alle falsch.
Deshalb brauchen wir - und nehmen sie uns auch - Zeit bis in das Frühjahr, um ein vernünftiges Gesamtkonzept zu entwickeln, in dem all diese einzelnen Instrumente zusammenpassen. Aber eines ist dabei ganz klar, nämlich das Ziel, um das es geht: Wir wollen Arbeit attraktiver machen und sicherstellen, dass kein Mensch, der arbeitet, auf Arbeitslosengeld II angewiesen ist; jeder soll mithilfe dieser zusätzlichen Instrumente gut zurechtkommen. Das hat auch etwas mit dem Stolz unserer Bürgerinnen und Bürger zu tun.
Fünftens. Wir wollen die Beteiligung der Mitarbeiter am Betrieb verbessern. Erwin Huber und ich bereiten in einer Koalitionsarbeitsgruppe ein entsprechendes Konzept vor. Wir haben von SPD-Seite aus einen Deutschlandsfonds vorgeschlagen. Auch im Konzept der Union gibt es eine Fondslösung. Deshalb bin ich ziemlich sicher, dass wir Anfang des nächsten Jahres eine gemeinsame Lösung finden werden. Es wäre ein guter Fortschritt, wenn in Deutschland in Zukunft nicht mehr so wenige Menschen an ihren Betrieben beteiligt wären, wie das heute der Fall ist. Da gibt es internationale Vorbilder, denen wir nachstreben können.
Sechstens. Wir fördern die betriebliche und private Altersvorsorge. Bis zum Jahresende werden wir weit mehr als 10 Millionen Riester-Verträge haben. Auch die Betriebsrenten boomen. Das ist ein ganz toller Erfolg. Wir sollten jetzt alles dafür tun, um diese Dynamik aufrechtzuerhalten. Deshalb ist es gut, dass die Entgeltumwandlung von Sozialabgaben befreit bleibt.
Deshalb ist es gut, dass jedem ab Januar 2008 geborenen Kind 300 Euro Riester-Zuschlag zustehen.
Deshalb ist es gut, dass die Eckpunkte für ein Wohn-Riester-Modell stehen.
Und ich finde den Vorschlag immer noch gut, dafür zu sorgen, dass es einen Riester-Bonus für Berufseinsteiger gibt, damit sie sich am Anfang ihres Berufslebens daran gewöhnen, dass eine Zusatzvorsorge notwendig ist.
Präsident Dr. Norbert Lammert:
Herr Minister, möchten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Seifert beantworten?
Olaf Scholz, Bundesminister für Arbeit und Soziales:
Ja.
Dr. Ilja Seifert (DIE LINKE):
Herr Minister, Sie haben die ganze Zeit eine programmatische Rede gehalten. Sagen Sie doch bitte einmal ganz konkret: Was wollen Sie am Ende des europäischen Jahres der Chancengleichheit, in dem wir die Chancengleichheit nicht hergestellt haben, tun, damit im nächsten Jahr wenigstens diejenigen, die es schwerer haben, also Menschen mit Behinderungen, mit Migrationshintergrund und andere, tatsächlich in Arbeit kommen? Bisher sehe ich die Programme nicht.
Olaf Scholz, Bundesminister für Arbeit und Soziales:
Dass Sie die Programme nicht sehen, finde ich etwas verwunderlich; denn es gibt eine große Menge einzelner Programme, die die Bundesagentur für Arbeit und die Arbeitsgemeinschaften umsetzen, um insbesondere denen, die es besonders schwer haben, einen besseren Zugang zum Arbeitsmarkt zu ermöglichen. Ich glaube, dass wir gute Ausgangsbedingungen geschaffen haben. Sie wissen, dass ich mit dafür gesorgt habe, dass Deutschland ein Antidiskriminierungsgesetz auf gutem Niveau hat, auf das sich die Menschen berufen können. Sie wissen, dass es schon jetzt ein paar Fortschritte gibt.
Damit komme ich zum siebten und abschließenden Punkt; er passt zu der Beantwortung Ihrer Frage. Ab dem nächsten Jahr wird das persönliche Budget für Menschen mit Behinderungen flächendeckend eingeführt. Das ist aus meiner Sicht ein ganz großer Fortschritt, weil die Leistungsempfänger dann selbst entscheiden können, wen sie einstellen wollen. Sie können als Arbeitgeber ihrer Unterstützer auftreten. Das ist etwas, was mit Selbstachtung und Würde zu tun hat. Es ist gut, dass wir hier eine Veränderung hingekriegt haben: weg vom Fürsorgestaat und hin zu einem Staat, der auf die Selbstaktivierung der Bürgerinnen und Bürger setzt.
Ich komme zum Schluss. Wir haben einen großen Fortschritt gemacht auf dem Weg, das zu realisieren, was die Parteien dieser Koalition sich im Koalitionsvertrag vorgenommen haben, nämlich das Vertrauen der Menschen in die Zukunftsfähigkeit des Landes zu stärken. Ich sehe meine Aufgabe darin, mich darum zu kümmern, dass dieses Vertrauen ständig weiter wächst. Voraussetzung dafür ist, dass die Koalition eine Politik macht, die gerecht und solidarisch ist, eine Politik, in der wirtschaftliche Dynamik und soziale Vernunft gleichrangig nebeneinander stehen. In der Arbeitsmarkt- und Sozialpolitik geht es nicht um Luftschlösser, sondern um Verbesserungen auf dem harten Boden der Realität. Für diese Verbesserungen möchte ich gerne mit Ihnen zusammen arbeiten.
Ich bedanke mich für Ihre Aufmerksamkeit.
Präsident Dr. Norbert Lammert:
Kornelia Möller ist die nächste Rednerin für die Fraktion Die Linke.
Kornelia Möller (DIE LINKE):
Sehr geehrter Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Herr Scholz, ich gratuliere Ihnen herzlich zur Berufung in dieses schöne Amt und hoffe, dass den wundervollen Worten, die wir gerade gehört haben, wirklich gute Taten folgen werden; denn die haben wir alle nötig.
Erinnern Sie sich eigentlich noch daran, was Sie, meine Damen und Herren von der Koalition, den Menschen versprochen haben?
Der von Ihnen im November 2005 geschlossene Koalitionsvertrag hat den schönen Titel ?Mit Mut und Menschlichkeit“. Mut und Menschlichkeit - das klingt heute für viele wie Hohn.
Ja, es ist wahr, meine Damen und Herren Koalitionäre, Sie brauchen viel Mut, wenn Sie den Bürgerinnen und Bürgern Ihre Mär von einem Aufschwung erzählen. Denn dieser Aufschwung kommt bei den meisten Menschen in diesem Land nicht an. Von Menschlichkeit kann bei Ihrer Politik für Millionen von Menschen gar keine Rede sein: Sei es bei der ungenügenden Höhe des Regelsatzes, sei es bei der Weigerung, einen flächendeckenden gesetzlichen Mindestlohn einzuführen - ich habe jetzt wieder schöne Worte von der SPD gehört; schauen wir, was dabei herauskommt - oder beim Festhalten an und Verschärfen von Hartz IV.
Die Folgen Ihrer Politik haben für die Menschen verheerende Auswirkungen. So ist in Neumarkt-Sankt Veit eine Frau verbrannt. Am 20. November dieses Jahres hieß es in der Münchner AZ: Hartz-IV-Empfängerin stirbt bei Großbrand, Kein Geld für Strom, Sie beleuchtete ihr Haus mit Kerzen. - Warum das Ganze? Wegen Stromschulden in Höhe von 600 Euro. Ein Mensch musste sterben, weil Hartz IV nicht zum Leben reicht. Das ist nicht nur ein Skandal, das ist einfach grauenhaft.
Haben Sie schon einmal über die vielfach würdelosen Verhältnisse für die Betroffenen von Erwerbslosigkeit, Niedriglöhnen und prekärer Beschäftigung nachgedacht? Im Alltag bedeutet das: Mehrere Jobs zu Dumpingpreisen, die trotz alledem nicht zum Überleben reichen, oder als Leiharbeiterin oder Leiharbeiter ausgebeutet zu werden und rechtlos zu sein und dann zur Arge gehen und alle persönlichen Verhältnisse offenlegen zu müssen. Hartz IV, prekäre Beschäftigung und Niedriglöhne zerstören gesellschaftliche und familiäre Beziehungen. Sie machen Menschen krank.
Die Linke sagt: Das ist eine Schande für ein reiches Land wie die Bundesrepublik.
Wir könnten uns wirklich gute Arbeit leisten, wenn Sie, meine Damen und Herren, das auch wollten. Ich empfehle Ihnen in diesem Zusammenhang: Lesen Sie unser Manifest für gute Arbeit. Darin können Sie wichtige Anregungen finden.
Statt endlich aktive Arbeitsmarktpolitik zu betreiben, veranstalten Sie hier Rechenspiele auf dem Rücken erwerbsloser Menschen. Sie wollen die Bezugsdauer des ALG I für ältere Erwerbslose verlängern, was an sich ein guter Ansatz wäre, wenn Sie sich an unsere Vorgaben gehalten hätten. Aber bei Ihnen verkommt dieser gute Ansatz zur Sozialkosmetik. Sie gestalten die Kriterien für ältere Erwerbslose so, dass vermutlich nur sehr wenige Menschen im Westen und kaum Menschen im Osten in den Genuss dieser Verlängerung kommen.
Vor dem, was Sie noch in dieses Paket geschnürt haben, warnen nicht nur der Sachverständigenrat und der DGB, vor Ihrem Paket graust es auch jeden halbwegs vernünftigen Menschen. Sie senken den Beitragssatz zur Arbeitslosenversicherung auf 3,3 Prozent, obgleich Fachleute Ihnen versichern, dass Sie die BA damit in die roten Zahlen führen. Dann schließen Sie auch noch einen Zuschuss des Bundes bis 2011 aus. Das bedeutet im Klartext: Steuergeschenke in Höhe von 3,8 Milliarden Euro an die Unternehmen - denn so viel bringt die Beitragssatzsenkung den Unternehmen - stehen nun einer Arbeitsmarktpolitik nach Kassenlage gegenüber. Die Erwerbslosen müssen die Zeche zahlen, wenn das Geld für sie und ihre arbeitsmarktpolitischen Bedürfnisse nicht mehr reicht.
Haben Sie eigentlich schon einmal etwas vom Fachkräftemangel in diesem Land gehört? Das scheint nicht der Fall zu sein. Denn sonst müssten auch Sie begreifen, dass das Geld für Aus- und Weiterbildung sowie für die Schaffung von öffentlich finanzierter Beschäftigung verwendet werden muss. Meine Fraktion, Die Linke, spricht sich nicht nur gegen die Beitragssatzsenkung aus, sondern sie hat Ihnen auch immer wieder aufzeigt, wo Geld für diese Gesellschaft und für die Bürgerinnen und Bürger in dieser Gesellschaft nutzbringend eingesetzt werden muss.
Ich verweise auf unseren Änderungsantrag zum Haushalt 2008. Die Linke fordert die Erhöhung der Regelsätze auf 435 Euro, die Beibehaltung der Bundesbeteiligung an den Kosten der Unterkunft mindestens in der Höhe von 2007, die Deckungsfähigkeit von passiven zu aktiven Leistungen, damit Arbeit statt Arbeitslosigkeit finanziert werden kann, und die Streichung des Eingliederungsbeitrags der BA, damit das Geld für die aktive Arbeitsmarktpolitik zur Verfügung steht.
Wenn es Ihnen wirklich ernst ist mit Mut und Menschlichkeit und Sie den Haushalt 2008 entlasten wollen, dann schlage ich Ihnen vor, endlich in den von uns geforderten flächendeckenden gesetzlichen Mindestlohn von 8,44 Euro einzuwilligen. Vielen Menschen bliebe erspart, zu Hungerlöhnen zu arbeiten und daneben auch noch ergänzend ALG II beantragen zu müssen. Der Bund könnte rund 8,5 Milliarden Euro sparen; denn so viel kostet die Lohndrückerei der Unternehmen die Steuerzahler.
Meine Kollegin Gesine Lötzsch hat Sie am Dienstag zu Recht als Lohndrückerkoalition bezeichnet. Denn Sie unterstützen mit Ihrer Weigerung, angemessene Lohnuntergrenzen festzulegen, die Gier vieler Unternehmer. Mut und Menschlichkeit - meine Damen und Herren der Koalition, handeln Sie endlich entsprechend!
Ich danke Ihnen.
Präsident Dr. Norbert Lammert:
Nächster Redner ist der Kollege Hans-Joachim Fuchtel, CDU/CSU-Fraktion.
Hans-Joachim Fuchtel (CDU/CSU):
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Es ist mir zunächst eine angenehme Aufgabe, namens der Unionsfraktion dem neuen Bundesarbeitsminister zu seiner Ernennung zu gratulieren. Ich darf Ihnen, Herr Bundesminister, sagen: Sie werden in der größten Fraktion dieses Hauses umso mehr Rückhalt haben, je mehr Sie die Prinzipien der sozialen Marktwirtschaft zur Richtschnur Ihrer Politik machen.
Ich möchte es nicht versäumen, auch dem bisherigen Bundesarbeitsminister von dieser Stelle aus im Namen der Unionsfraktion zu danken. Da jetzt auch der langgediente Staatssekretär Gerd Andres a. D. ist,
möchte ich ihn in diesen Dank einbeziehen. Er ist ein sehr erfahrener Politiker. Er hat es ohne Probleme geschafft, von der rot-grünen Koalition in unsere Koalition zu wechseln,
und er hat dabei eine gute Figur gemacht. Herzlichen Dank für das kollegiale Miteinander! Das muss an dieser Stelle einmal gesagt werden.
In den letzten zwei Jahren, also seitdem die Union an der Regierung ist, hat sich sehr vieles zum Positiven gewandelt; das ist schon gesagt worden. Ich möchte an die Situation der Rentenkasse erinnern. Als wir die Regierung übernommen haben, war dort Ebbe. Die Rücklage betrug nur noch 0,02 Monatsausgaben, und das Tafelsilber war verkauft. Jetzt beträgt die Rücklage immerhin schon wieder 0,7 Monatsausgaben, und wir streben 1,5 an. Wenn wir das erreicht haben, werden wir den Beitragssatz zur Rentenversicherung senken.
Die Große Koalition hat mit ihrer Reformbereitschaft eine verlässliche Linie eingeschlagen. Wir haben verstanden, dass strukturelle Probleme durch strukturelle Veränderungen beseitigt werden müssen und nicht hinter einer Verbesserung der konjunkturellen Situation versteckt werden dürfen. Das haben wir erreicht. Das ist wichtig für unsere Verlässlichkeit.
Die gesetzliche Krankenversicherung erzielt in diesem Jahr Überschüsse. Die Arbeitslosenversicherung braucht mittlerweile keinen Zuschuss mehr. In den letzten Jahren war es üblich, dass wir in diese Versicherung jedes Jahr einen Zuschuss von 10 bis 20 Milliarden Euro hineinbuttern mussten. Auch hier haben wir nun einen Nullstand erreicht. Das ist sehr wichtig. Denn das hat zur Folge, dass es keine Zukunftsbelastungen durch neue Schulden und Zinsen mehr gibt. Damit sorgen wir für mehr Flexibilität.
Insgesamt kann man also sagen: Die Lohnzusatzkosten sinken. Dies ist für unsere soziale Marktwirtschaft sehr wichtig. Es ist auch sehr wichtig, dass dadurch mehr Verlässlichkeit in die Politik einkehrt. Die Koalition schafft mehr Vertrauen in die Politik. Das gilt für die Bürgerinnen und Bürger, und das gilt insbesondere für die Unternehmen. Ein wichtiges Indiz ist die Entwicklung der Arbeitslosenzahlen. Wie wir heute gehört haben, wird die Zahl der Arbeitslosen im Monat November nochmals leicht sinken. Das ist ein sehr gutes Zeichen, mit dem wir ins neue Jahr starten können.
Wir haben immer gesagt: Es ist eine große Leistung, dass die Zahl der Arbeitslosen in zwei Jahren um 1,1 Millionen gesunken ist. Ich habe allerdings manchmal das Gefühl, als würde ein Rückgang der Arbeitslosenzahlen zu mehr Diskussionen über Armut führen. Das kann doch nicht wahr sein! Wenn 1 Million mehr Menschen in Arbeit gekommen sind,
dann ist die Arbeitslosigkeit gesunken, und, ob Sie das hören wollen oder nicht, dann ist die Relevanz des Themas Armut geringer. Diesen Zusammenhang können Sie nicht wegdiskutieren.
- Ich lebe wie Sie in Deutschland. Ich schreie bloß nicht so laut, und ich mache vor allem eines nicht: Ich verspreche den Menschen nicht irgendetwas Großartiges, das wir in diesem Land und mit diesem Haushalt im Augenblick nicht leisten können.
Wir müssen jetzt einmal an diejenigen denken, die das Ganze erwirtschaften: die 27 Millionen Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer und die Unternehmen.
Gerichtet an die Adresse dieser linken Partei, der Nachfolgepartei der PDS, deren Vorgängerin die SED war, sage ich:
Eine Politik auf Pump führt in die Armut; das wäre das volkswirtschaftliche Ergebnis! Deswegen sind Ihre Vorschläge für die aktuelle Politik überhaupt nicht brauchbar.
Die Senkung der Beiträge zur Arbeitslosenversicherung, und zwar nicht in Mikroschritten, sondern in einem Makroschritt, von immerhin 6,5 Prozent auf 3,3 Prozent, also eine Senkung um die Hälfte, hätte man der Großen Koalition nicht zugetraut. Aber nur so kommt auch etwas im Geldbeutel des Einzelnen an.
- Sie hätten ihr das schon gar nicht zugetraut. Aber es ist gelungen, und ich darf in aller Bescheidenheit sagen: Dies trägt die Handschrift der Union in diesem Haushalt.
Meine Damen und Herren, immerhin sind es rund 400 Euro, die, wie wir vorhin gehört haben, beim Einzelnen in der Tasche bleiben. Es ist richtig - statt immer nur zu verwalten -, den Menschen selber entscheiden zu lassen. Das muss weitergeführt werden.
Wenn es neue Spielräume gibt, werden wir die Beiträge auch weiter senken, um den Menschen noch mehr Geld in den Taschen zu lassen. Darauf ist die Politik ausgerichtet.
Ein Zweites ist wichtig, dabei unterscheiden wir uns etwas von der FDP. Zwar können wir bei der Bundesagentur für Arbeit und beim Bundeshaushalt noch mehr sparen.
Das ist keine Frage. Aber es stellt sich die Frage, wie wir die Sockelarbeitslosigkeit aufknacken können und wie es uns gelingen kann, noch mehr Leute in Arbeit zu bringen. Es ist keine Lösung, die Zahl von 3,4 Millionen Arbeitslosen zu kultivieren, sodass jeder von diesen Menschen sehen muss, wo er bleibt, und auf der anderen Seite Leute aus dem Ausland zum Arbeiten ins Land zu holen.
Nein, meine Damen und Herren, die Potenziale in Deutschland müssen ausgeschöpft werden, und es muss auch Geld dafür eingesetzt werden, dass dies gelingt.
- Der Unterschied liegt darin, dass Sie vorhin gesagt haben, man müsse überall noch mehr sparen und die Programme einfach abschaffen.
- Dann ist das ja umso schöner. Dann stimmen Sie unserm Haushalt doch zu, und lehnen Sie ihn nicht ab! Das wäre doch die Konsequenz.
- Ich kann mich nicht auf einen Dialog mit Ihnen einlassen, sonst verschwende ich meine ganze Redezeit auf solche Diskussionen.
Meine Damen und Herren, ich möchte noch deutlich machen - es ist sehr wichtig, das einmal zu sagen -, dass keine Regierung bisher so viele treffsichere Instrumente zur Bekämpfung der Sockelarbeitslosigkeit entwickelt hat, wie die große Koalition es in diesem Haushaltsplan getan hat.
- Ich kann Ihnen da eine ganze Reihe nennen, zum Beispiel die Initiative ?50 plus“.
- Ja, das ist Ihre Meinung, aber nur, weil das bei Ihnen im Kopf vielleicht nicht funktioniert hat.
Die Initiative ?50 plus“ hat immerhin dazu geführt, dass wir in zwei Jahren über 20 000 ältere Langzeitarbeitslose in den allgemeinen Arbeitsmarkt vermitteln konnten. Davon wurden rund 81 Prozent in sozialversicherungspflichtige Beschäftigungsverhältnisse und mehr als 57 Prozent in unbefristete Beschäftigungsverhältnisse integriert. Noch Fragen dazu, lieber Herr Niebel?
- Wenn Sie noch mehr hören wollen, dann stehen Sie auf und stellen Sie mir Fragen. Dann beantworte ich sie gerne. Sonst geht mir zu viel Zeit dafür verloren.
- Bitte schön, Herr Niebel.
Präsident Dr. Norbert Lammert:
Ganz so einfach geht das nicht. Bilaterale Vereinbarungen vor, während und nach den Plenardebatten sind in unserer Geschäftsordnung nicht vorgesehen. Ich lasse das jetzt ausnahmsweise einmal zu, weise aber darauf hin, dass wir daraus keine ständige Übung machen werden.
Bitte schön, Herr Kollege Niebel.
Dirk Niebel (FDP):
Vielen Dank, Herr Präsident. - Herr Fuchtel, ich komme Ihrer Anregung gerne nach und stelle Ihnen die nächste Frage: Nennen Sie mir bitte ein weiteres von dieser Regierung entwickeltes arbeitsmarktpolitisches Instrument, das positiv gewirkt hat.
Hans-Joachim Fuchtel (CDU/CSU):
Ich nenne Ihnen den Qualifizierungs-Kombi für Jüngere, womit wir auch gute Ergebnisse erzielt haben.
Ich nenne Ihnen den Beschäftigungszuschuss für Langzeitarbeitslose. Ich nenne Ihnen die Maßnahmen der Eingliederungshilfe, die dazu führen, dass vermehrt Leute von ALG II direkt in den ersten Arbeitsmarkt kommen.
Das hat immerhin eine Verschiebung von 51 000 Fällen ergeben; das ist ein sehr positives Beispiel. Damit beende ich die Aufzählung, weil ich weiß, dass auch die Redner nach mir ihre Redezeit benötigen.
Ich möchte noch etwas zu einem Thema sagen, das in der Vergangenheit zu vielen Briefen an uns Abgeordnete geführt hat. Das ist die Deckelung der Eingliederungszuschüsse und Eingliederungshilfen, die im letzten Jahr galt. Dieses Jahr haben wir uns dafür entschieden, das in die Verantwortung der Beteiligten zu geben. Wir haben den gesamten Betrag - immerhin 6,4 Milliarden Euro - freigegeben, damit die Leute planen können. Ich sage den Beteiligten aber auch, dass sie mit diesem Geld auskommen müssen; auch das ist das erklärte Ziel dieser Koalition. Es ist ein großer Betrag, der hier zur Verfügung steht, um den Leuten zu helfen, aus Arbeitslosigkeit in Arbeit zu kommen. Es kann nämlich nicht darum gehen, die Leute in der Arbeitslosigkeit zu kultivieren, Subkulturen zu schaffen, Leute, die mit dem Geld irgendwie zurechtkommen. Die Aufgabe, die wir haben, ist vielmehr, zu erreichen, dass die Menschen eine Zukunft haben, dass sie eine Arbeit haben, in der sie Erfüllung finden und mit der sie am gesellschaftlichen Leben beteiligt sind. Darauf ist unsere Politik ausgerichtet.
Auf zwei Themen möchte ich abschließend hinweisen. Erstens. Für die Unionsfraktion ist noch ganz wichtig, Herr Bundesarbeitsminister, dass wir bei der Mitarbeiterbeteiligung weiterkommen. Dieses Ei muss die Große Koalition noch legen. Es wird von immenser Bedeutung dafür sein, dass es gelingt, mehr Menschen an der Vermögensentwicklung und an unternehmerischen Entwicklungen in Deutschland verstärkt zu beteiligen. Das muss der Sinn einer freiheitlichen Gesellschaft sein: den Einzelnen an diesen Entwicklungen teilhaben zu lassen.
Zweitens, der Privathaushalt als Arbeitgeber. Das haben Sie erfreulicherweise auch angesprochen. Insoweit hoffen wir, dass wir gemeinsam eine Lösung finden, die ein großer Wurf wird. Hier sind nämlich Potenziale vorhanden, die wir im Interesse aller Beteiligten schöpfen können und schöpfen müssen. Dieses Ziel müssen wir erreichen. So werden viele Leute, die anders nicht in den ersten Arbeitsmarkt kommen, eine sinnvolle Arbeit aufnehmen können. Auf diese Weise können wir unsere familienpolitischen Konzeptionen ergänzen. In diesem Zusammenhang muss man das Ganze sehen; deshalb lohnt sich das mit Sicherheit.
Damit sind die wesentlichen Punkte umschrieben. Ich kann Ihnen zusichern, dass sich der Haushaltsausschuss mit diesen Fragen des Sozialen intensiv befasst hat, und will allen danken, die uns zugearbeitet haben. Es war manchmal nicht ganz stressfrei; aber wir haben ein gutes Ergebnis erzielt, mit dem wir in die Zukunft schauen können.
Danke für die Aufmerksamkeit.
Präsident Dr. Norbert Lammert:
Für eine Kurzintervention erhält die Kollegin Dagmar Enkelmann das Wort.
Dr. Dagmar Enkelmann (DIE LINKE):
Herr Kollege Fuchtel, in der Bundesrepublik sind inzwischen über 1 Billion Euro an Schulden angehäuft worden. 15 Prozent der Gesamtausgaben dieses Haushaltes, den wir gerade beraten, gehen allein für Zinsen drauf, mit steigender Tendenz. Wer lebt hier eigentlich auf Pump, wer lebt hier eigentlich auf Kosten der künftigen Generationen?
Ein Zweites. Altersarmut ist eine Tatsache. Eine Tatsache ist auch, dass in diesem reichen Land 2,6 Millionen Kinder in Armut leben. Es ist eine Schande, dass diese Regierung nichts dagegen tut, und es ist eine Schande, dass Sie in Ihrer Rede diese Tatsachen ignorieren.
Präsident Dr. Norbert Lammert:
Zur Erwiderung Herr Fuchtel.
Hans-Joachim Fuchtel (CDU/CSU):
Ich bekomme von meinen Kollegen gerade viele Vorschläge, was ich antworten sollte.
Präsident Dr. Norbert Lammert:
Die meisten können Sie wegen der begrenzten Zeit nicht aufgreifen.
Hans-Joachim Fuchtel (CDU/CSU):
Allein dass ganze 2 Prozent der Rentner in Deutschland von der Grundsicherung Gebrauch machen müssen, sollte doch zeigen, dass man die Probleme - die sicherlich vorhanden sind - nicht dramatisieren sollte. Man muss das Gesamte sehen.
Präsident Dr. Norbert Lammert:
Nun erhält die Kollegin Anja Hajduk, Fraktion Bündnis 90/Die Grünen, das Wort.
Anja Hajduk (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Lieber Arbeitsminister Olaf Scholz, es freut mich, dass Sie gesagt haben, Sie könnten nahtlos - ich unterstelle einmal, dass Sie das auch wollen - an die Arbeit Ihres Vorgängers Franz Müntefering anknüpfen.
Ich kann Ihnen sagen: Wir von den Grünen wünschen uns, dass Sie auch ebenso kraftvoll dagegenstehen, wenn die Große Koalition anfängt, Unsinn zu machen oder die Reformen wieder zurückzudrehen. Uns hat an Franz Müntefering imponiert, wie er gegen die Verlängerung der Bezugsdauer des Arbeitslosengeldes I eingetreten ist.
Wenn Sie diese Widerständigkeit und Kraft aufbringen, dann werden Sie auch von uns ab und zu einmal gelobt werden.
Außerdem möchte ich bemerken, dass in dieser Haushaltswoche auffällt, dass der Großen Koalition die analytische Kraft fehlt, einzuschätzen, warum es dem Haushalt und dem Arbeitsmarkt besser geht. Man lobt sich immer für die guten Zahlen; die Politik sei zwar vielleicht nicht allein, aber auch dafür verantwortlich. Es ist offenkundig, dass aufgrund der guten Konjunktur unglaublich hohe Steuermittel fließen und der Arbeitsmarkt belebt wird und dass es deswegen, lieber Hans-Joachim Fuchtel, den Rentenkassen besser geht.
Strukturell haben Sie den Haushalt und auch die Sozialversicherungen eher belastet. Das will ich Ihnen jetzt einmal erklären. Deswegen: Bringen Sie einmal mehr Selbstkritik auf und sonnen Sie sich nicht immer nur in der Konjunktur. Weder mit Blick auf den Haushalt noch mit Blick auf den Arbeitsmarkt haben Sie eine vorbeugende Politik zustande gebracht. Das will ich Ihnen jetzt auch einmal begründen.
Sie machen Folgendes: Sie verschieben wiederholt - das gilt gerade auch hinsichtlich der Bundesagentur für Arbeit - Milliarden an Kosten in die Sozialversicherungen, um den Haushalt zu entlasten.
Das haben Sie bei der Rente getan - da waren es 2 Milliarden Euro -, und das machen Sie jetzt beim Arbeitsmarkt - vom Haushalt des Bundesarbeitsministers in die Bundesagentur für Arbeit - in einer noch größeren Dimension.
Zum Beispiel die jüngste Änderung beim Arbeitslosengeld I. In der jetzigen guten konjunkturellen Lage kalkulieren Sie hier mit Kosten von 1 Milliarde Euro. Jeder weiß: Wenn die Konjunktur wieder etwas schwächer wird, betragen die Kosten bis zu 3 Milliarden Euro.
- Diese Zahlen wurden von der BA und nicht von uns allein gerechnet. - Das wissen Sie auch. Wenn Sie behaupten, dass Sie das sauber gegenfinanziert haben, weil Sie für diese passive Leistung die Integrationsmittel in ähnlicher Höhe kürzen, dann kann ich die Sozialdemokraten nur fragen: Wo sind Sie eigentlich gelandet? Wollen Sie wieder passive Mittel ausgeben, statt in die aktive Förderung und Aktivierung zu investieren? Das, was Sie da entschieden haben, ist doch arbeitsmarktpolitischer Unsinn. Herr Minister, ich bedauere es sehr, dass Sie darauf so positiv Bezug genommen haben.
Wir können aber noch weitergehen: Als Sie diesen Kompromiss hinsichtlich des Arbeitslosengeldes I geschmiedet haben, haben Sie entschieden, den Beitragssatz zur Arbeitslosenversicherung auf 3,3 Prozent zu senken. Ich finde es peinlich, dass die SPD, die das nicht wollte, das hier heute feiert. Das ist nicht glaubwürdig. Sie wissen, dass die Senkung der Beiträge zur Arbeitslosenversicherung auf vielleicht 3,5 bis 3,7 Prozent solide finanziert wäre. Die 3,3 Prozent waren sozusagen ein Geschenk an die CDU/CSU.
Der Sachverständigenrat hat Ihnen erklärt, dass das nicht nachhaltig ist. Das bringt die Bundesagentur für Arbeit bei der nächsten konjunkturellen Delle in den Zugzwang, im Abschwung die Beiträge erhöhen zu müssen. Das ist wirtschaftlich eine falsche Politik. Wie gesagt: Der Sachverständigenrat hat Ihnen das auch klipp und klar gesagt.
Präsident Dr. Norbert Lammert:
Frau Kollegin Hajduk, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Weiß?
Anja Hajduk (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Ja.
Peter Weiß (Emmendingen) (CDU/CSU):
Frau Kollegin Hajduk, Sie haben soeben in Ihrer Rede versucht, den Eindruck zu vermitteln, dass die von der Großen Koalition beschlossene Verlängerung der Bezugsdauer des Arbeitslosengeldes I für ältere und langjährig versicherte Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer zulasten der Eingliederungstitel, also der Mittel ginge, die für die Aktivierung von Arbeitslosen zur Verfügung stehen.
- Nein.
Laut dem Haushalt der Bundesagentur für Arbeit sind für Eingliederungsmaßnahmen in diesem Jahr rund 2,7 Milliarden Euro verausgabt worden und stehen im nächsten Jahr 3,4 Milliarden Euro zur Verfügung.
Also trifft doch eher das Gegenteil dessen zu, was Sie vorgetragen haben. Wir verlängern das Arbeitslosengeld I und stellen gleichzeitig mehr Mittel zur Verfügung, um Arbeitslose durch aktivierende Maßnahmen der Arbeitsmarktpolitik wieder in Arbeit zu bringen.
Anja Hajduk (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Sehr geehrter Herr Kollege, dass Sie im letzten Jahr und vielleicht auch in diesem Jahr zu wenig Mittel für die Integration in Arbeit verausgabt haben, ist leider wahr.
Das macht die Zahlen aber nicht besser.
Allerdings müssen Sie in Verbindung mit dem Ziel, das Sie sich setzen, die Bundesagentur für Arbeit im nächsten Jahr in den Stand zu versetzen, das Arbeitslosengeld I zu bezahlen, diese Finanzierungssumme von den Integrationsmitteln abziehen. - Das entspricht der Antwort des ehemaligen Bundesarbeitsministers Müntefering im Haushaltsausschuss. Es tut mir leid; so ist aber die Faktenlage.
Ich setze jetzt meine Ausführungen zum Punkt ?Bundesagentur für Arbeit“ fort. Insgesamt belasten Sie die Bundesagentur für Arbeit im nächsten Jahr netto mit 10,8 Milliarden Euro. Das ist ungefähr ein Viertel des Haushalts der BA. Deswegen sage ich Ihnen: Das ist eine riskante Wette auf die Konjunktur. Wie ich schon deutlich gemacht habe, steht die Befürchtung an, dass Sie ihre Beitragssätze im Abschwung wieder erhöhen müssen.
Für die Grünen erkläre ich ganz eindeutig: Das Senken von Lohnnebenkosten fanden und finden wir richtig. Jetzt ist es aber an der Zeit, den Schwerpunkt insbesondere dort zu setzen, wo die Probleme am größten sind, nämlich im Niedriglohnsektor, um die Langzeitarbeitslosigkeit in den Griff zu bekommen.
Deswegen schlagen wir vor, dann, wenn man schon milliardenschwere Mittel in die Hand nimmt, diese in einem sogenannten Progressivmodell für den Niedriglohnbereich einzusetzen, sodass die Sozialversicherungsbeiträge bei Einkünften bis zu 2 000 Euro erst langsam und stufenlos steigen. Das macht Sinn. So etwas wäre eine intelligente Politik. Dazu haben Sie aber leider nicht die Kraft.
Nun komme ich zu der von Herrn Weise im Ausschuss vorgestellten Kalkulation zu der Frage: Gehen diese widersprüchlichen Entscheidungen der Großen Koalition eigentlich für die Bundesagentur für Arbeit gut aus? - Es ist deutlich geworden, dass es ein Problem ist, weil er im nächsten Jahr natürlich ein Defizit hinnehmen muss. Aber er hat ja hohe Rücklagen. Herr Weise und auch der ehemalige Bundesarbeitsminister haben deutlich gemacht, dass die Beschlüsse der Großen Koalition dazu führen, dass die finanzielle Ausstattung der Bundesagentur für Arbeit für die gesamte Finanzplanperiode auf Kante genäht ist; sie habe zwar Rücklagen gebildet, aber bei großen Ausschlägen werde es riskant.
Dabei ist eines aber noch gar nicht berücksichtigt. Sie planen ja, im nächsten Jahr einen Erwerbstätigenzuschuss für Empfänger von geringen Löhnen einzuführen, der aus Sozialversicherungsbeiträgen finanziert werden soll. Das soll auch ein milliardenschweres Paket werden. Insgesamt geht das doch gar nicht mehr auf. Deswegen sage ich Ihnen: Sie haben Ihre Hausaufgaben nicht gemacht. Sie überstrapazieren die Bundesagentur für Arbeit. Vor allen Dingen aber hängen Sie einer falschen Idee nach.
Wir haben mit Blick auf die vielen Menschen, die ihr zu geringes Einkommen mit Arbeitslosengeld II aufstocken müssen, schon quasi einen Kombilohn mit Steuermitteln. Wenn Sie jetzt den Erwerbstätigenzuschuss einführen - so wünschenswert es ist, dass die Menschen nicht Transferleistungen beziehen müssen -, macht es doch keinen Sinn, diesen zweiten Kombilohn mit Sozialversicherungsbeiträgen einzurichten.
Dass Sie zu diesen Kombilöhnen mit Steuern und Sozialversicherungsbeiträgen greifen müssen, liegt nur daran, dass Sie eine entscheidende Blockade in der Großen Koalition nicht aufbrechen können und nicht eine wirklich neue Reform schaffen, die da heißen soll: statt milliardenschwerer Lohnsubventionen endlich einmal ein Mindestlohn. Dieser Aufgabe wollen Sie sich ja stellen, Herr Scholz. Aber dass Sie dieses Ziel nicht erreichen, kostet die Steuerzahler - das sind auch Zahlen aus Ihrem Hause - mindestens 1,5 Milliarden Euro.
Deswegen möchte ich aus einem ordnungspolitischen Verständnis heraus zum Thema Mindestlohn auch in Richtung von FDP und CDU/CSU, die da ja mehr als skeptisch sind, fragen: Was ist denn daran richtig, dass der Staat jemandem, der voll arbeiten geht, den Lohn so aufstockt, damit er das Existenzminimum erreicht?
Da müssen Sie sich doch einmal bewegen! Das kann doch keine Frage der Ideologie sein. Ich verweise in diesem Zusammenhang auf viele Nachbarländer, insbesondere auf die angelsächsischen, die sicherlich nicht berühmt dafür sind, einen ausufernden Sozialstaat zu haben oder zu starke staatliche Regulierungen vorzunehmen.
Herr Westerwelle hat in seiner gestrigen Rede hier gesagt, er wolle keinen Wettlauf der politischen Parteien um die richtige Höhe des Mindestlohns. Damit hat er sicherlich recht. Aber das will auch niemand. Vorgeschlagen ist, eine unabhängige Kommission mit Arbeitnehmervertretern, Arbeitgebervertretern und anderen Experten einzurichten. Diese sollen sich auf einen Mindestlohn einigen, der dann gesetzlich verankert wird. Ich kann Sie von der Union nur auffordern: Zeigen Sie sich an dieser Stelle beweglicher! Dann erzielt die Große Koalition vielleicht einen Erfolg. Das muss die Grünen nicht unbedingt scheren. Wenn es aber der Gesellschaft nutzt, dann ist das ein richtiges und wichtiges Ziel. Dafür würden wir Ihnen sogar Beifall zollen.
Ein gesetzlicher Mindestlohn sorgt nicht nur für mehr Gerechtigkeit, sondern auch für eine deutliche Entlastung im Bundeshaushalt; denn es gibt schon 1 Million Menschen, die Arbeitslosengeld II als aufstockende Hilfe benötigen, obwohl sie arbeiten. Die Hälfte davon sind Menschen, die Vollzeit arbeiten. Daran sieht man schon, wie notwendig es ist, dass wir hier vorankommen. Das würde, wie gesagt, auch den Bundeshaushalt um einen Milliardenbetrag entlasten.
In diesem Zusammenhang möchte ich auf einen anderen wichtigen Punkt hinweisen. Ich bin überzeugt: Es ist richtig, dass wir uns der Aufgabe stellen, die Hartz-IV-Regelsätze zu erhöhen.
Wir sind zu Beginn dieser Woche für unseren Parteitagsbeschluss sehr gescholten worden. Es ist in der Tat manchmal schwierig, Parteitagsbeschlüsse zu verstehen.
- Dass gerade die Sozialdemokraten am lautesten lachen, zeigt die Irritation. - Lesen Sie doch einmal den Artikel ?Weniger Armut ist möglich“ von Franz Müntefering in der Frankfurter Rundschau vom 20. September! Ich kann fast sagen: Das ist die Grundlage, auf der man die Beschlüsse der Grünen am besten verstehen kann. In diesem Artikel macht Herr Müntefering ganz deutlich, dass fehlende Bildungschancen und fehlende Infrastruktur Kinder am meisten gefährden. Von den 60 Milliarden Euro für das auf mehrere Jahre angelegte Programm für Bund, Länder und Gemeinden müssten mindestens 35 Milliarden Euro in die Verbesserung der von Herrn Müntefering angesprochenen Bereiche fließen. Ich erwarte, dass die Sozialdemokraten hier mitmachen. Sie wissen, dass das Ihre Aufgabe wäre.
Zweitens. Herr Poß, der hier - wahrscheinlich aus Ahnungslosigkeit - so geschimpft hat, sollte sich einmal klarmachen, dass die Erhöhung der Regelsätze nicht nur eine Angelegenheit der Linken - sie haben sich schon lange klar positioniert - und der Grünen ist, sondern dass darüber mindestens seit August in der Großen Koalition diskutiert wird. Herr Seehofer hat bereits im Sommer darauf hingewiesen, dass die Regelsätze angepasst werden müssen, wenn es die Inflation notwendig macht. Herr Althaus fordert ebenfalls einen regelmäßigen Inflationsausgleich, genauso wie Herr Stoiber. Auch Herr Pofalla hat sich noch am 11. August offen gezeigt und gesagt, dass man bereit sei, die Regelsätze zu erhöhen, wenn entsprechende Erkenntnisse vorlägen.
Für uns war es daher eine Enttäuschung, dass Sie quasi nur auf der Verfahrensebene gesagt haben: Wir sind dabei, das zu überprüfen, und wollen die Einkommens- und Verbraucherstichprobe im nächsten Jahr abwarten. Erst dann können wir aufgrund neuer Erkenntnisse über eine Anpassung der Regelsätze entscheiden, die wahrscheinlich ab 2010 greift. - Wenn Sie dies bis 2010 auf die lange Bank schieben, ist das unsozial.
Das sage ich nicht nur mit Blick darauf, dass wir Grüne mit einer Erhöhung auf 420 Euro wahrscheinlich, was die Zahl angeht, völlig richtig liegen. Wir haben uns an den Erkenntnissen des Paritätischen Wohlfahrtsverbandes orientiert. Ich sage Ihnen: Ein reiner Inflationsausgleich auf der Basis des Jahres 2003 macht schon heute einen Regelsatz von 380 Euro erforderlich. Dass Sie hier gar nichts tun, ist ein Armutszeugnis. Dass Sie leugnen, dass das wichtig ist, ist unehrlich.
Wir Grüne schlagen einen Dreiklang für eine erfolgreiche Arbeitsmarktpolitik vor. Staatliche Leistungen sollen nachrangig sein. Dafür ist ein Mindestlohn notwendig. Ein Progressivmodell für die Sozialversicherung und eine Erhöhung der Regelsätze sind ebenfalls sinnvoll. Ich hoffe, dass Sie diesen Ideen irgendwann und mit einer Sache nächste Woche Schluss machen.
Präsident Dr. Norbert Lammert:
Frau Kollegin.
Anja Hajduk (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Herr Präsident, ich komme wirklich zum Schluss. Ich danke Ihnen für Ihre Rücksichtnahme.
Die Zwangsverrentung von Langzeitarbeitslosen muss nächste Woche vom Tisch, sonst machen Sie nicht nur den nächsten arbeitsmarktpolitischen Unsinn, sondern Sie begehen auch die nächste sozialpolitische Ungerechtigkeit.
Ich danke Ihnen für die Aufmerksamkeit.
Präsident Dr. Norbert Lammert:
Ich erlaube mir für die nachfolgenden Redner die kleine Anregung, dass das, was man auf jeden Fall sagen wollte, besser nicht für den Schluss, sondern gleich für den Anfang vorgesehen wird. Dann kann es nämlich sicher vorgetragen werden.
Nun hat die Kollegin Nahles für die SPD-Fraktion das Wort.
Andrea Nahles (SPD):
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Dann fange ich direkt einmal damit an: Ich erlaube mir, auch im Namen meiner Fraktion, dem neuen Arbeitsminister eine gute Zusammenarbeit anzubieten. Im Gegensatz zu den Vorrednern sind wir uns sicher, dass Olaf Scholz auf der Basis der sozialen Marktwirtschaft für mehr sozialdemokratische Politik und vor allem soziale Gerechtigkeit kämpft.
Wir loben auch aktive SPD-Minister, nicht nur nicht aktive SPD-Minister. Das sage ich an die Adresse der Grünenfraktion.
Auf gute Zusammenarbeit und viel Erfolg! Das wünsche ich gerade deswegen, weil das Thema, das wir hier behandeln, ein Kernthema für viele Menschen in diesem Land ist. Wenn wir bei diesem Thema erfolgreich sind, dann ist das positiv für eine ganze Reihe von Menschen im Land.
Die gute Finanzsituation ist für die Opposition natürlich ein hartes Brot. Die BA hatte im letzten Jahr Überschüsse in Höhe von 11,2 Milliarden Euro, dieses Jahr werden es 6,5 Milliarden Euro sein.
Wir haben den Beitrag zur Arbeitslosenversicherung von 6,5 Prozent auf 3,3 Prozent senken können. Die Aufwendungen für das Arbeitslosengeld II vermindern sich um 3,7 Milliarden Euro. Frau Hajduk, ich kann Ihnen nur sagen: Es ist einfach falsch, zu behaupten, dass die Handlungsspielräume beim Eingliederungstitel geringer geworden sind. Denn wir haben 6,5 Milliarden Euro ohne Sperrvermerk im Eingliederungstitel, und zwar für weniger Betroffene, um das einmal sehr deutlich zu sagen. Somit können wir im Rahmen der aktiven Arbeitsmarkt- und Qualifizierungspolitik sehr viel mehr auf den Weg bringen.
Das haben Sie unterschlagen.
Es ist schlicht und ergreifend so, dass zur guten Finanzlage hinzukommt - deswegen versucht die Opposition den ganzen Vormittag, ein Haar in der Suppe zu finden -,
dass wir bei der Vermittlung erfolgreich waren. Wir haben tatsächlich 600 000 sozialversicherungspflichtige Beschäftigungsverhältnisse mehr. Wir haben 268 000 Langzeitarbeitslose weniger.
Das sind klare Erfolge unserer Arbeitsmarkt- und Wirtschaftspolitik.
Ja, das hat auch mit der guten Konjunktur zu tun. Wer ist für die gute Konjunktur denn verantwortlich? Daran haben wir unseren Anteil. Den beanspruche ich ganz selbstbewusst.
Darüber hinaus nehmen wir uns vor, weiter daran zu arbeiten. Wir werden in diesem Haushalt Programme wie die Initiative ?50 plus“ um drei Jahre verlängern. Wir werden die ?Job-Perspektive“ weiter finanzieren, die ab 1. Oktober dieses Jahres für 100 000 schwer vermittelbare Langzeitarbeitslose eine echte Perspektive darstellt. Wir werden mit einem Kommunal-Kombi in Regionen mit einem hohen Prozentsatz von Langzeitarbeitslosen - das betrifft weiß Gott nicht nur Regionen in Ostdeutschland - kommunale Arbeitsplätze für Langzeitarbeitslose zur Verfügung stellen.
Wir haben aus meiner Sicht noch eine Anstrengung bei der Ausbildung und bei der Beschäftigung von jugendlichen Arbeitslosen zu unternehmen. Wir haben eine Verdoppelung der außerbetrieblichen Ausbildungsplätze auf 93 000 Plätze erreicht. Dafür tragen wir die Verantwortung. Die Lage wird aber nur dann gut, wenn die Unternehmer in diesem Land beim Übernehmen von Verantwortung Schritt halten.
Wir müssen leider feststellen, dass wir bei den betrieblichen Ausbildungsplätzen einen Tiefststand haben. Mittlerweile bilden nur noch 21 Prozent der Betriebe in Deutschland überhaupt aus. Das kann und darf nicht so bleiben.
Wir werden uns deshalb im nächsten Jahr auf einen Bonus für Ausbildung verständigen, um Betrieben, die über ihren eigenen Bedarf hinaus ausbilden, eine starke Unterstützung zu geben, weil die Jugendlichen mit einem betrieblichen Ausbildungsplatz mehr anfangen können als mit allem, was der Staat leisten kann.
In diesem Sinne lautet mein Appell an die Unternehmen: Der Ausbildungspakt ist schön und gut, aber man kann sich nicht darauf ausruhen.
Darüber hinaus ist es aus unserer Sicht wichtig, im nächsten Jahr auch die Weiterbildungsanstrengungen zu erhöhen. Die Tendenz zur Weiterbildung ist leider sinkend. Insgesamt nur 6 Prozent der Geringqualifizierten bekommen überhaupt ein Weiterbildungsangebot. Auch hier ist eine gemeinsame Anstrengung nötig.
Wir wollen gute Arbeit unterstützen. Sie haben es gehört: Bei dem Mindestlohn für Postbedienstete gibt es Bewegung, die vor allem aufseiten der Tarifpartner zu beobachten ist. Es braucht aber auch eine klare politische Unterstützung dieser tariflichen Vereinbarungen. Die 200 000 Postbotinnen und Postboten in Deutschland machen jeden Tag bei Wind und Wetter einen guten Job. Für diesen guten Job verdienen sie auch einen guten Lohn. Deswegen setzen wir uns ganz klar für einen Mindestlohn in der Postdienstleistungsbranche ein.
Ich will hinzufügen, dass aus meiner Sicht auch bei der Zwangsverrentung die Empörungswellen wieder langsam abebben können. Wir werden Ihnen dazu eine Regelung vorlegen.
Ich bin ganz sicher, dass Sie mit uns an dieser Stelle ein bisschen zufrieden sein werden.
Eine letzte Bemerkung von meiner Seite. Darüber hinaus wünsche ich mir, dass wir uns hier ganz eindeutig dazu äußern und den Leuten - auch was diese Frage angeht - signalisieren: Jeder, der arbeiten will, muss, auch wenn er älter ist, von unserer Seite aus alle Möglichkeiten der Aktivierung und Integration in den Arbeitsmarkt erhalten. Die Rente kann wirklich nur die zweitbeste Lösung sein; das ist uns wohl bewusst. Deshalb wird es hier eine Lösung geben.
Vielen Dank.
Präsident Dr. Norbert Lammert:
Das Wort erhält nun der Kollege Dr. Heinrich Kolb von der FDP-Fraktion.
Dr. Heinrich L. Kolb (FDP):
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Nachdem wir mit Andrea und Olaf heute Morgen hier sozusagen das A und O des demokratischen Sozialismus erleben durften,
haben wir eine Idee von der Richtung bekommen, in die die SPD die Koalition ziehen möchte, nämlich hin zu mehr Staat, mehr Intervention, weniger Wettbewerb, mehr sozialen Wohltaten. Herr Minister Scholz, das stimmt mich sehr besorgt.
Das Wichtige soll man am Anfang bringen. Deshalb möchte ich es nicht versäumen, Ihnen viel Erfolg für Ihr neues Amt zu wünschen. Es ist ein wichtiges Amt. Sie tragen die Verantwortung für den mit 124 Milliarden Euro größten Einzelplan des Bundeshaushalts. Daher kommt es schon darauf an, dass die Dinge in die richtige Richtung bewegt werden. Zunächst einmal möchte ich jedoch etwas feststellen - dafür können Sie noch nichts -: Der Einzelplan 11 ist trotz der immer wieder betonten Erfolge am Arbeitsmarkt - auch die Vertreter der Großen Koalition haben dies regelmäßig gesagt -, was die Finanzierung der Langzeitarbeitslosigkeit anbelangt, praktisch unverändert. Es werden weiterhin 42,6 Milliarden Euro bereitgestellt, obwohl die Langzeitarbeitslosigkeit um 10 Prozent - um 268 000 Betroffene - zurückgegangen ist. Eine Erklärung dafür ist sicher, dass ein sehr ineffizientes arbeitsmarktpolitisches Instrumentarium auch für die Eingliederung Langzeitarbeitsloser genutzt wird.
Sie sehen: Ein Handeln der Koalition ist hier mehr als überfällig. Seit zwei Jahren warten wir auf Ihre Vorschläge. Herr Minister Scholz, Sie haben zu unserem großen Erstaunen gesagt, dass jetzt alles sehr schnell gehen werde; das sei in wenigen Wochen auf dem Tisch. Ich frage mich: Warum so plötzlich? Wer hat eigentlich die ganze Zeit die Weiterentwicklung der arbeitsmarktpolitischen Maßnahmen blockiert? Wie auch immer: Es ist höchste Zeit, dass hier etwas passiert. Beitragsgelder dürfen nicht weiter verschleudert werden.
Herr Minister Scholz, Sie haben in einem Interview mit der Süddeutschen Zeitung vom gestrigen Tage auf die Frage, was Ihre ersten Vorhaben im neuen Amt seien, geantwortet:
Wir müssen zu einer Lösung beim Post-Mindestlohn kommen.
Das war einer der sechs Punkte, die Sie heute hier vorgestellt haben. Einige Sätze später haben Sie hinzugefügt:
... was man politisch fordert, sollte man in dem Glauben fordern, dass es zu einer Verbesserung führt.
Der Minister hat gerade leider nicht die Zeit, zuzuhören; man möge es ihm berichten.
Herr Minister Scholz, unabhängig von der Frage, ob der Postmindestlohn wirklich das drängendste sozialpolitische Problem dieses Landes ist, möchte ich Sie bösgläubig machen und auf Folgendes hinweisen: Die Einführung von Mindestlöhnen ist, volkswirtschaftlich gesehen, ein ähnlich kapitaler Fehler wie die Einführung der 35-Stunden-Woche bei vollem Lohnausgleich vor etwas mehr als 20 Jahren.
Wir erinnern uns: Die damaligen Rationalisierungen in den Betrieben haben dazu geführt, dass viele Arbeitsplätze für einfache Beschäftigungen dauerhaft weggefallen sind und die Sockelarbeitslosigkeit angestiegen ist.
Herr Minister, ich sage Ihnen voraus: Auch die Einführung von Mindestlöhnen wird den betroffenen Menschen nicht helfen, sondern dazu führen, dass ganze Arbeitnehmergruppen - nämlich die Arbeitnehmer mit geringerer Qualifikation oder Leistungsfähigkeit - auf Dauer aus dem ersten Arbeitsmarkt herausgedrängt werden.
Speziell für den Bereich der Postdienstleistungen gilt, dass der Mindestlohn zu weniger Wettbewerb und - die Anhörung im federführenden Ausschuss hat das gezeigt - zu einem Wegfall von mindestens 20 000 Arbeitsplätzen führt. Herr Minister Scholz, wenn Sie es mir nicht glauben, dann hören Sie, was der Sachverständigenrat in seinem aktuellen Gutachten in unmissverständlicher Deutlichkeit dazu gesagt hat - Zitat -:
Besonders eklatant sticht die Absicht ins Auge, mit einem Mindestlohn die Deutsche Post AG und ihre Töchter von lästigem Konkurrenzdruck zu befreien. ... Letztlich soll damit das Anfang 2008 entfallende Briefmonopol der Deutschen Post AG durch die Hintertür wieder eingeführt werden ... Daher rät der Sachverständigenrat dringend davon ab, die Pläne zur Einführung dieses Mindestlohns weiter zu verfolgen.
Angesichts dessen habe ich - das muss ich auch an die Adresse der Kollegen von der Union sagen - kein Verständnis dafür, dass die Bundeskanzlerin gestern an diesem Pult erklärt hat:
Bei der Post sehe ich nach wie vor Möglichkeiten, zu einer Einigung zu kommen.
Wir hatten wirklich gehofft, dass dieser Spuk nach der Koalitionsrunde am letzten Montag ein Ende findet. Bundeskanzlerin Merkel hat aber gestern auch gesagt:
Dafür gibt es für uns in dieser Bundesregierung einen zentralen Maßstab: Wir beschließen Maßnahmen, mit denen weitere Arbeitsplätze geschaffen werden, und unterlassen alles, was Arbeitsplätze gefährdet.
Wenn das ernst gemeint war - das will ich hier klipp und klar sagen -, dann darf der Mindestlohn bei den Postdienstleistungen nicht kommen.
Der Mindestlohn führt ohnehin nur im Ministerium selbst zu mehr Arbeitsplätzen: Insgesamt zehn Planstellen werden für den Bereich Arbeitnehmer-Entsendegesetz/Mindestarbeitsbedingungengesetz neu ausgewiesen. So weit zu Theorie und Praxis.
Zur Rente. Ich beurteile die Entwicklung der Rentenfinanzen zurückhaltender, als es der Rentenversicherungsbericht tut. Trotz sprudelnder Beitragsquellen beträgt der Überschuss in diesem Jahr gerade einmal 1,2 Milliarden Euro. Wir lesen und staunen, dass sich die Überschüsse in der Zukunft prächtig entwickeln werden; je weiter der Zeitpunkt in der Zukunft liegt, desto günstiger - das kennen wir schon - sind die Prognosen. Das soll jetzt aber nicht mein Punkt sein.
Ich will für meine Fraktion sehr deutlich sagen: Wir tragen den Aufbau einer Nachhaltigkeitsrücklage mit, die der Rentenversicherung wieder eine größere Unabhängigkeit verschafft. Da allerdings in der Koalition schon wieder Vorschläge laut werden, welche Wohltaten man mit dem vielen Geld in der Kasse finanzieren könnte - Stichwörter: Erleichterung des Zugangs zu EM-Renten, Aufwertung der Beitragszahlungen von über 60-Jährigen -, sage ich deutlich: Beitragssenkung geht vor Leistungsausweitung. Wenn es Spielräume in der Rentenkasse gibt, dann sollten wir die gesetzlichen Voraussetzungen dafür schaffen, auch schon vor 2011 eine Beitragssenkung zu ermöglichen und die Beitragszahler in der Rentenversicherung von der wirtschaftlichen Entwicklung profitieren zu lassen.
Ich beurteile es sehr skeptisch, dass der Sozialbeirat jetzt fordert, man möge Selbstständige in die Rentenversicherung einbeziehen. Das würde nämlich kurzfristig die Überschüsse weiter steigern und zu noch mehr Begehrlichkeiten führen. Das kann nicht die Leitlinie sein. Nein, Herr Minister Scholz, Sie sollten wirklich das tun - das muss erste Priorität haben -, was den konjunkturellen Aufschwung verstetigt und Rückenwind für die Schaffung neuer Arbeitsplätze bringt. Wir brauchen keine zusätzlichen sozialen Wohltaten, sondern eine Absenkung von Beschäftigungsschwellen am Arbeitsmarkt. Nur so werden wir weiter vorankommen. Hierfür - aber auch wirklich nur hierfür - wünsche ich Ihnen eine glückliche Hand.
Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
Präsident Dr. Norbert Lammert:
Für die CDU/CSU-Fraktion spricht jetzt die Kollegin Ilse Falk.
Ilse Falk (CDU/CSU):
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Sehr geehrter Herr Minister, ich sage auch meinerseits von dieser Stelle aus einen herzlichen Glückwunsch zu Ihrem neuen Amt. Herzlich willkommen an Bord! Die Rede, die Sie eben gehalten haben, ist eine gute Basis für eine erfolgreiche Zusammenarbeit in der zweiten Hälfte der Legislaturperiode.
Mit dem Einzelplan 11, Bundesarbeitsministerium, steht der Haushalt in zweiter Lesung zur Debatte, der mit 129,5 Milliarden Euro nicht nur der größte ist, sondern auch derjenige, der besonders viele Menschen betrifft. Zugleich handelt es sich um den Haushalt, an dem besonders deutlich wird, dass sich Reformen auszahlen. Wenn dann auch noch Wachstum und Aufschwung die Konjunktur beflügeln, können wir mit Recht eine gute Zwischenbilanz ziehen.
Sie können sich vorstellen, dass dabei immer wieder die guten Arbeitsmarktzahlen im Vordergrund stehen. Ich will sie hier gar nicht in allen Einzelheiten wiederholen - sie sind in den letzten beiden Tagen schon oft genug genannt worden -; trotzdem muss immer wieder deutlich gemacht werden, wie wichtig und erfreulich es ist, dass zum Beispiel Jugendliche unter 25 Jahren, ältere Arbeitslose über 55 Jahre und viele Langzeitarbeitslose wieder den Weg in Arbeit gefunden haben. Dies macht besonders Hoffnung.
Diese Zahlen sind natürlich auch das Ergebnis erfolgreicher Vermittlungstätigkeit der Jobcenter.
Die Zahl der Erwerbstätigen ist ebenfalls deutlich gestiegen. Auch dies bedeutet Hoffnung für die Zukunft. Die vielen offenen Stellen geben denen Aussicht auf Arbeit, die bis jetzt noch keinen Arbeitsplatz gefunden haben.
Jetzt gilt es, Kurs zu halten, damit noch viel mehr Menschen in unserem Land eine Chance auf Beschäftigung haben. Denn auch 3,36 Millionen Arbeitslose - das ist die Zahl, die gerade eben veröffentlicht worden ist - sind immer noch 3,36 Millionen Arbeitslose zu viel.
Eines darf man nicht vergessen: Hohe Arbeitslosigkeit gefährdet das System der solidarischen Versicherung, wie wir in den vergangenen Jahren leidvoll erfahren mussten. Beiträge und damit die Lohnzusatzkosten steigen, Leistungen sinken, Menschen weichen in Schwarzarbeit und unsichere Beschäftigungsverhältnisse aus, was natürlich auch auf deren Versicherungsansprüche Auswirkungen hat. Sinkende Arbeitslosigkeit und steigende sozialversicherungspflichtige Beschäftigung bedeuten mehr Geld in den Sozialkassen und damit mehr Sicherheit, mehr Leistungen und mehr Solidarität mit denjenigen, die unserer Hilfe bedürfen, weil sie sich nicht selber helfen können. Also profitieren auch sie von mehr Beschäftigung.
Ein ganz wichtiger Punkt ist deshalb für uns die Verbesserung der Einstellungsbedingungen durch Senkung der Lohnzusatzkosten; das hat weiterhin oberste Priorität. Deswegen ist es so gut, dass es gelungen ist, bei der Senkung des Beitragssatzes zur Arbeitslosenversicherung von ursprünglich 6,5 Prozent auf nunmehr 3,3 Prozent eine Einigung zu erzielen.
Dies gibt den Arbeitgebern Handlungsoptionen, und die Arbeitnehmer haben dadurch eine größere Verfügungsmasse.
Das Volumen des Einzelplans Arbeit und Soziales ist nicht nur von der Entwicklung des Arbeitsmarktes, sondern in besonderer Weise auch von den gesellschaftlichen Entwicklungen abhängig. Deshalb kann man ihn nicht isoliert betrachten. Ich denke da vor allem an die Schnittstelle zwischen Familien- und Sozialpolitik und an die Kosten, die von denjenigen ausgelöst werden, die in zweiter oder gar dritter Generation in Abhängigkeit von Sozialleistungen leben und sich irgendwie darin eingerichtet haben. Zahlreiche Faktoren wie fehlende oder mangelhafte Bildung, versagende Familien, denen es an jeglicher Lebens- und Alltagskompetenz fehlt, Suchtverhalten und vieles mehr führen zu Ausgrenzung und Passivität. Hier ist der Ruf nach Erhöhung der Transferleistungen schlicht realitätsfern.
Aufsuchende Hilfen und umfassende Präventionen sind gefragt, um den Teufelskreis, in dem sich manche befinden, zu durchbrechen.
Diese Menschen sind glücklicherweise eine Minderheit in unserer Gesellschaft. Wir sollten alles tun, um ihnen zu helfen; aber wir sollten nicht zulassen, dass sie die mediale und politische Diskussion in einer Weise dominieren, als gäbe es nicht auch die große Mehrheit der Leistungserbringer, die das Geld erarbeiten, das solidarisches Handeln erst möglich macht.
Ihnen gegenüber stehen wir in der Verantwortung. Sie erwarten von uns zu Recht, dass wir alles tun, um das zur Verfügung stehende Geld klug zu verwenden.
Darüber sollten vielleicht auch die Linken nachdenken, die immer meinen, sie seien die Einzigen, die den Schlüssel für eine soziale und gerechte Politik hätten. Wollen Sie wirklich, dass die Menschen noch mehr Steuern zahlen? Dann sagen Sie ihnen auch deutlich, dass die von Ihnen bisher geforderten Leistungen, die sich auf 150 Milliarden Euro summieren, eine Erhöhung der Mehrwertsteuer um 20 Prozentpunkte auf 39 Prozent nach sich ziehen würden.
Käme noch der von Ihnen geforderte Rentenbeitrag von 28 Prozent hinzu, dann könnten wir in der Tat gleich zum Sozialismus zurückkehren.
- Das muss aber ab und zu auch deutlich gesagt werden.
In diesen Tagen war viel von der sogenannten Zwangsverrentung die Rede. Es werden Horrorszenarien von Arbeitslosen entwickelt, die in Zukunft mit 60 einen Rentenantrag stellen und lebenslänglich auf 0,3 Prozent Rente pro Monat - auf fünf Jahre bezogen sind das 18 Prozent - verzichten müssten.
An einer Stelle gibt es tatsächlich eine Schieflage, und zwar bei den Frauen - noch für einige wenige Jahre - und bei den Schwerbehinderten.
Über diese Schieflage wird es in diesen Tagen eine Verständigung zwischen den Koalitionspartnern dahin gehend geben, dass keiner und keine vor dem 63. Lebensjahr auf die Rente verwiesen werden darf. Das bedeutet, dass kein Arbeitsloser mit Abschlägen von mehr als 7,2 Prozent rechnen muss, sofern nach Unbilligkeitsgesichtspunkten ein solcher Schritt überhaupt vollzogen wird.
Die Vereinbarung erhält noch einige weitere Punkte zum Verfahren und wird im Einzelnen zu diskutieren sein. Ich denke aber, dass wir insgesamt zu einer guten Entscheidung kommen werden, durch die erneute Frühverrentungsanreize vermieden werden.
Unsere Sozialpolitik muss darauf ausgerichtet bleiben, dass möglichst viele Menschen Teil der arbeitenden Mehrheit in unserer Bevölkerung sein können. Wir brauchen daher für die Gruppe der Arbeitsuchenden Wege in die Arbeit. Dazu gehören in erster Linie Bildungs- und Qualifizierungsangebote, wo fehlende oder unvollständige Ausbildung Einstellungschancen mindern. Notwendig ist aber auch die individuelle Begleitung, insbesondere von Langzeitarbeitslosen, die über rein verwaltungstechnische Vermittlungsarbeit hinausgeht. Diese Begleitung sollte fördern, aber auch fordern.
Bei knapp 1 Million offener Stellen muss auch die Mobilität Arbeitsuchender stärker in den Blick genommen werden. Was von der arbeitenden Mehrheit erwartet wird, muss grundsätzlich auch für Arbeitsuchende gelten. Wenn es um die Verbesserung von Beschäftigungschancen geht, darf es keine Tabuthemen geben. Wir brauchen in Deutschland soziale Sicherheit, aber auch Flexibilität. Die Erfahrungen der letzten Jahre zeigen, dass viele Arbeitnehmer erst über die Zeitarbeit wieder in die Arbeitswelt und in eine Festanstellung zurückfinden. Auch für die Wirtschaft ist die sogenannte atmende Beschäftigung sehr hilfreich. Deshalb darf Zeitarbeit nicht wieder abgewürgt werden.
Für uns gilt auch: Wer Vollzeit arbeitet, muss mehr haben als jemand, der nicht arbeitet. Er soll selbstverständlich davon leben können. Wo dies nicht erarbeitet werden kann, greift die Mindesteinkommensicherung des Staates. Das ist gut so. Wer aber Unternehmen zwingen will, einen Lohn zu zahlen, der nicht zu erwirtschaften ist, der sorgt im Ergebnis dafür, dass viele Menschen gar keinen Lohn mehr bekommen und sich die Chancen gerade der Schwächeren verschlechtern. Für staatlich verordnete Mindestlöhne, die Arbeitsplätze vernichten und Wettbewerb aushebeln, können wir im Interesse der Menschen daher nicht die Hand reichen.
Wenn die angelsächsischen Länder immer wieder als Beispiel herangezogen werden, muss die Frage erlaubt sein, zum Beispiel an Frau Hajduk, ob das auch für andere arbeitsrechtliche Regelungen wie den Kündigungsschutz gilt.
Auch wenn das Ziel, Menschen in Beschäftigung zu bringen bzw. zu halten, oberste Priorität hat, so dürfen wir die Arbeitsbedingungen für die Mehrheit der 40 Millionen Erwerbstätigen nicht außer Acht lassen. Hier geht es neben der erwähnten Senkung der Lohnzusatzkosten um die weitere Teilhabe am wirtschaftlichen Aufschwung. Deswegen ist ein zentrales Thema der politischen Agenda der Großen Koalition die Mitarbeiterbeteiligung. Die Politik kann die Rahmenbedingungen dafür schaffen, dass Unternehmer mehr als bisher die Möglichkeit erhalten, ihre Mitarbeiter an den Ergebnissen ihrer Arbeit teilhaben zu lassen.
Neben finanziellen Aspekten geht es auch um eine humane Arbeitswelt. Der Erhalt von physischer und psychischer Gesundheit sowie Fitness der arbeitenden Menschen sind von fundamentaler Bedeutung. Hier geht es nicht um ein paar Yogakurse, sondern es geht um frühzeitige und kontinuierliche Gesundheitsprogramme.
Die demografische Entwicklung und die längere Lebensarbeitszeit führen zwangsläufig dazu, dass wir uns intensiver mit der Frage nach altersgerechten Arbeitsplätzen beschäftigen müssen und werden. Ein Land wie Deutschland, das von seinem Wissen lebt, kann es sich gar nicht leisten, auf die Erfahrung älterer Arbeitnehmer und Arbeitnehmerinnen zu verzichten.
Genauso wichtig ist auch, dass wir die familiengerechte Ausgestaltung von Arbeitsplätzen als zentrale Herausforderung für Wirtschaft und Politik begreifen, damit Väter und Mütter, wenn sie es wünschen, erwerbstätig sein und trotzdem Familie leben können. ?Haushalt als Arbeitgeber“ ist da ein Stichwort. Weil das schon angesprochen worden ist, will ich mit meinen Ausführungen nun zum Ende gekommen; der Präsident mahnt schon.
Zum Abschluss will ich einen hoffnungsvollen Ausblick geben. Ziel der Arbeits- und Sozialpolitik kann eigentlich nur sein - das muss unser wichtigstes Anliegen sein -, diesen großen Haushalt herunterzufahren, zu versuchen, von den hohen Kosten herunterzukommen; denn das wäre der beste Ausdruck einer guten Arbeits- und Sozialpolitik.
Vielen Dank.
Präsident Dr. Norbert Lammert:
Nächste Rednerin ist die Kollegin Elke Reinke, Fraktion Die Linke.
Elke Reinke (DIE LINKE):
Herr Präsident! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Werte Gäste! Seit fast drei Jahren ist das menschenunwürdige Hartz-IV-Gesetz in Kraft und wird an lebenden Personen ausprobiert. Es wurde von SPD und Grünen euphorisch eingeführt, durch CDU/CSU und SPD massiv verschärft; wenn die FDP könnte, würde sie die Daumenschrauben für die Erwerbslosen noch fester anziehen.
Was hat es den Menschen gebracht, dieses tolle Gesetz? Genau das, wovor Linke, Sozialverbände, Gewerkschaften, Erwerbslose und die Montagsdemos Sie eindringlich gewarnt haben: Lohndrückerei, Arbeit zum Hungerlohn, Ausgrenzung und Armut.
Schon in der vergangenen Sitzungswoche hat es meine Fraktion, Die Linke, gewagt, unter anderem wegen der enormen Preissteigerungen wenigstens eine Anhebung der sogenannten Grundsicherung von 347 Euro auf 435 Euro zu fordern. Fast durchgängig reagierten Sie mit Beleidigungen, mit unerträglicher Überheblichkeit oder Ignoranz. Liebe Kolleginnen und Kollegen, die Anhebung der Regelsätze fordert nicht nur die Linke. Auch Sozialverbände, Gewerkschaften und soziale Bewegungen verlangen umgehend eine Erhöhung.
Selbst die Grünen als Mitverursacher dieser Verarmungswelle haben wohl begriffen, dass menschenwürdige Existenz viel mehr ist als rein körperliches Überleben.
Ja, die Anhebung der Regelsätze kostet Geld, aber das Geld ist sogar da. Verzichten Sie einfach auf Ihre üppigen Steuergeschenke ab 2008! Sorgen Sie dafür, dass Art. 14 Abs. 2 Grundgesetz mit Leben erfüllt wird! Darin heißt es nämlich: ?Eigentum verpflichtet“.
Wir haben über 2,5 Millionen arme Kinder in Deutschland. Aber Sie tun nichts. Sie sind nicht bereit, die Regelsätze anzuheben, um Armut zu lindern. Ja, Sie wollen einmal prüfen, ob da vielleicht etwas geht, so ab Frühjahr 2008 oder 2009. Aber die Erhöhung der Diäten von uns Abgeordneten halten Sie in dieser Situation für angemessen. Ohne Bedarfsprüfung haben Sie diese von einer Woche auf die andere durchgedrückt. Mit 350 Euro haben wir ab 2008 circa so viel zusätzlich, wie Sie einer Einpersonenbedarfsgemeinschaft im Monat zum Überleben zugeteilt haben. Ich finde, das ist unverschämt und an Zynismus nicht zu überbieten.
Nicht mal zu einer Weihnachtspauschale von 40 Euro für Hartz-IV-Betroffene konnten Sie sich durchringen.
Herr Straubinger, Sie erzählten uns in Ihrer Rede am 15. November, dass mit der momentanen Regelsatzhöhe ein menschenwürdiges Leben möglich sei und dass die Koalition die Chancen der Menschen großartig verbessert habe. Wenn es so wäre, wie kommt es dann, dass sich die Zahl der armen Kinder seit Einführung von Hartz IV verdoppelt hat, dass Suppenküchen und Wärmestuben aus den Nähten platzen, dass Tafeln und Kleiderkammern Hochkonjunktur haben und die Wohnungslosigkeit zunimmt?
Und Sie, Herr Haustein, Sie plappern hier wiederholt von Sonderbedarfen wie Kühlschrank oder Waschmaschine, die einfach so auf Antrag verteilt werden. Das ist absoluter Blödsinn! Seit Hartz IV sind die einmaligen Beihilfen Geschichte. 1,39 Euro pro Monat sieht der Regelsatz für einen Kühlschrank vor. Das heißt, man muss acht Jahre sparen, um sich einen Kühlschrank für 135 Euro leisten zu können. Sie sollten Ihr Supergesetz endlich einmal lesen.
Diese Empfehlung richte ich auch an einige Angestellte der Bundesagentur für Arbeit. Es wird immer wieder deutlich, wie wichtig es ist, unabhängige Sozialberatungsstellen zu unterstützen.
Noch ein Vorschlag: Besuchen Sie statt des x-ten parlamentarischen Abends von Wirtschaftslobbyisten doch einfach einmal Selbsthilfevereine der Erwerbslosen. Letzte Woche haben mich die Erwerbslosen in Merseburg, Sachsen-Anhalt, gebeten, Sie dazu einzuladen. Liebe Hartz-IV-Gutfinder im Saal, versuchen Sie, sich das einmal vorzustellen: Ihr Kind hat nach über 100 Versuchen einen Ausbildungsplatz ergattert, und Sie müssen von der Ausbildungsvergütung, die Ihr Kind erhält, mit durchgefüttert werden. - Ich glaube, das übersteigt Ihre Vorstellungskraft.
Viele Betroffene meinen auch, Abgeordnete sollten einmal ein Jahr von Hartz IV leben müssen, um zu begreifen, was es heißt, überflüssig zu sein: Offenbarungseid, Sanktionen, Existenzangst, Sozialschnüffler in der Wohnung, Verzweiflung, Resignation, traurige Kinderaugen, Armut, Hunger und Krankheit.
Nein, meine Damen und Herren, auch Ihnen wünsche ich ein solches Leben nicht.
Ich fordere Sie auf: Tun Sie endlich etwas! Ihre Politik geht auf Dauer nicht gut. Sie gefährden mehr und mehr den sozialen Frieden im Land. Dass Sie Ähnliches befürchten, zeigte unter anderem die Reaktion von Frau Connemann auf unseren Antrag, das Recht auf politischen Streik in das Grundgesetz aufzunehmen. Ich zitiere aus der Rede von Frau Connemann:
Ein Druck - durch wen auch immer - darf nicht auf uns ausgeübt werden.
Wovor fürchten Sie sich? Haben Sie Angst vor dem eigenen Volk?
Vielen Dank.
Präsident Dr. Norbert Lammert:
Ich bitte diejenigen Kollegen, die jetzt für die nach dem übernächsten Redner stattfindende namentliche Abstimmung in den Plenarsaal kommen, Platz zu nehmen und einen ruhigen Abschluss dieser Debatte zu ermöglichen.
Wolfgang Grotthaus ist der nächste Redner für die SPD-Fraktion.
Wolfgang Grotthaus (SPD):
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! 5,2 Millionen Arbeitslose, die Beschäftigungsquote Älterer über 50 Jahre knapp über 40 Prozent, die Ausbildung junger Menschen mehr als miserabel - das war Anfang 2005.
Das war vor dem Inkrafttreten des ach so miserablen Hartz-IV-Gesetzes.
Wie sieht es nach dem Inkrafttreten, knapp drei Jahre später, aus? Die Arbeitslosenzahlen haben sich auf circa 3,4 Millionen reduziert. Die Beschäftigungsquote der über 50-Jährigen ist auf 52 Prozent angewachsen. Der Ausbildungspakt greift; mehr junge Menschen kommen in Arbeit. Die Erwerbstätigenzahl bewegt sich auf einem Rekordniveau von über 40 Millionen Menschen.
Stolze Zahlen, finde ich. Trotzdem gilt es, die Hände nicht in den Schoß zu legen und sich auszuruhen. Vielmehr müssen für die jungen Menschen, die noch keinen Ausbildungsplatz haben, für jeden Menschen ohne Arbeit, für alle, die mit körperlichen Handicaps ins Berufsleben einsteigen wollen, die Rahmenbedingungen so geschaffen werden, dass ihre Situation erleichtert wird und dass sie ihrem Wunsch folgen können, einen Beruf zu erlernen oder in einen Job zu kommen. Sie wollen Teilhabe: Teilhabe am Arbeitsleben, Teilhabe an der Möglichkeit, das Geld für die eigene Familie selber zu verdienen. Teilhabe an finanziellen Leistungen des Staates wollen sie nur - das sage ich insbesondere an die Adresse der Linken -, wenn sie tatsächlich nicht die Chance haben, ins Berufsleben einzutreten. Entscheidend ist also Teilhabe an der Gesellschaft und am Arbeitsmarkt und nicht so sehr an finanzieller Unterstützung und Alimentierung durch den Staat.
Ins Berufsleben zurückzufinden, trägt auch zur Selbstverwirklichung bei. Selbstverwirklichung findet nicht statt, wenn man auf Almosen seitens des Staates angewiesen ist.
Mit dem Haushalt senden wir hierzu wichtige Signale. Dies gilt vor allem für den Bereich ?Arbeit und Soziales“. Insgesamt 124 Milliarden Euro stellen wir im nächsten Jahr für diesen Bereich zur Verfügung. Die gute Nachricht für den Arbeitsmarkt ist: Die Arbeitsmarktpolitik wird trotz Entlastung auf dem Niveau der letzten Jahre weitergeführt und in Schwerpunktbereichen sogar verstärkt. Senken können wir die Ausgaben für das Arbeitslosengeld II. Bei den ins Berufsleben Eintretenden kommt inzwischen die Hälfte aus dem Arbeitslosengeld-II-Bezug; noch vor einem Jahr war es ungefähr ein Drittel.
Auch bei der Rentenversicherung gibt es gute Nachrichten. Deshalb können die staatlichen Zuschüsse für die Rentenversicherung um 400 Millionen Euro abgesenkt werden.
Ausgabensenkung ist jedoch nur die eine Seite der Medaille. Die andere Seite der Medaille ist, dass wir die Ausgaben in Schwerpunktbereichen verstärken, um den Abbau der Arbeitslosigkeit weiter zu unterstützen. Dadurch wird der Bundeshaushalt mittelfristig entlastet.
Wir haben das Bundesprogramm ?Kommunal-Kombi“ neu in den Haushalt eingestellt. So können ungefähr 50 000 Menschen mit entsprechenden Komplementärmitteln aus den Kommunen im nächsten Jahr in Arbeit gebracht werden. Wird dieses Programm von den Kommunen angenommen, wird diese Maßnahme auch in 2009 weitergeführt. Dann werden wir mit den entsprechenden Mitteln dafür sorgen können, dass 100 000 Menschen eine bessere Zukunft bekommen.
Ähnliches gilt für die Förderung der Beschäftigung Älterer. Die Entscheidung von Franz Müntefering, einen Schwerpunkt auf die Integration von Menschen über 50 Jahren zu setzen, ist richtig und war bisher außerordentlich erfolgreich. Die Arbeitslosenquote bei den über 50-Jährigen ist gegenüber dem Vorjahr um 20 Prozent gesenkt worden. Ein erfolgreiches Programm, so meinen wir, das auch in den nächsten drei Jahren fortgesetzt wird. Außerdem werden wir für ältere Empfänger von Arbeitslosengeld I Eingliederungsgutscheine einführen, wodurch noch mehr Menschen über 50 Jahre in Beschäftigung kommen sollen.
Auf eine weitere Entscheidung möchte ich hier deutlich hinweisen: Wir haben den Eingliederungstitel nicht gekürzt. Damit steht bei weniger Arbeitslosen, aber gleichen finanziellen Aufwendungen für den einzelnen Arbeitslosen mehr Geld zur Eingliederung zur Verfügung.
Wer hier also behauptet, es werde gekürzt und weniger Geld zur Verfügung gestellt, der beherrscht die vier Grundrechenarten nicht. Dem würde ich auch nicht empfehlen, beim PISA-Test mitzumachen; denn das würde das negative Ergebnis noch verstärken. Von daher würde ich all die Abgeordneten, die hier solche Rechnungen aufmachen, bitten, sich zumindest Grundschulkenntnisse im Rechnen anzueignen.
Eines muss hier auch deutlich gesagt werden: Wir erwarten, dass die Mittel, die für den Eingliederungstitel zur Verfügung gestellt werden, im nächsten Jahr auch vollständig ausgeschöpft werden, dass vor Ort die Vermittlung, die Eingliederung noch stärker forciert wird. Hier müssen sich die Träger der Grundsicherung im nächsten Jahr noch mehr einsetzen. Kein Arbeitsloser darf das Gefühl haben, dass vor Ort auf seine Kosten gespart wird. Die Bundesregierung hat an dieser Stelle ihre Hausaufgaben gemacht.
Lassen Sie mich abschließend noch einen Satz zu der Kollegin Hajduk sagen. Die Kollegin Hajduk hat behauptet, dass wir nicht richtig analysiert haben. Sie hat gefragt, wodurch die Reduzierung der Arbeitslosenzahlen tatsächlich zustande gekommen ist. Ich habe das zwar schon einmal gesagt, ich will es aber wiederholen: Ja, durch die Konjunkturverbesserung. - Von der Kollegin Hajduk hätte ich aber erwartet, dass sie zumindest die zurückhaltende Lohnpolitik der Gewerkschaften, der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer in dieser Republik, erwähnt. Ich füge hinzu: Auch die Agenda 2010, zu der Sie damals Ihre Zustimmung gegeben haben, hat zu einem großen Teil dazu beigetragen. Seien Sie nicht so zurückhaltend! Bekennen Sie sich zu den Erfolgen, auch wenn sie erst jetzt oder später zum Tragen kommen!
Wir sind auf einem guten Weg. Wir werden diesen Weg unbeirrt weitergehen. Wir werden uns nicht treiben lassen. Von daher werden Sie, ähnlich wie bei der Zwangsverrentung, die eine oder andere Überraschung mit uns erleben. Sie werden sagen können: Aha, in der Großen Koalition bewegt sich doch etwas. - Wir hoffen, dass Sie uns dann auch zustimmen werden.
Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
Präsident Dr. Norbert Lammert:
Ich bitte die inzwischen eingetroffenen Kollegen, Platz zu nehmen. Die namentliche Abstimmung findet nicht anstelle der Debatte statt, sondern nach der Debatte, sicher nicht vorher.
Letzter Redner zu diesem Tagesordnungspunkt ist der Kollege Stefan Müller, CDU/CSU-Fraktion.
Stefan Müller (Erlangen) (CDU/CSU):
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich glaube, nachdem wir heute die aktuellen Arbeitsmarktdaten haben zur Kenntnis nehmen dürfen, können wir sagen: Das ist ein guter Tag für Deutschland. Das ist vor allem ein guter Tag für diejenigen, die bisher arbeitslos waren. Die Zahl der Arbeitslosen ist gegenüber dem November des vergangenen Jahres um über 600 000 zurückgegangen. An dieser Stelle darf ich sagen: Wir freuen uns mit all denjenigen, die letztes Jahr noch auf staatliche Fürsorge angewiesen waren und in diesem Jahr wieder von ihrer eigenen Arbeit leben können.
Wir entscheiden heute über nicht weniger als über die Verteilung von 124 Milliarden Euro, über den Haushalt des Bundesarbeitsministeriums. Ich nenne diese Zahl ganz bewusst, weil man angesichts der Debatten in diesem Hause und angesichts von Parteitagsbeschlüssen in den letzten Wochen den Eindruck gewinnen konnte, dass es neben diesen 124 Milliarden Euro noch weitere Mittel zu verteilen gäbe.
Liebe Kolleginnen und Kollegen von den Grünen, auf Ihrem Parteitag in Nürnberg haben Sie es nicht nur geschafft, Ihren kompetentesten Finanzfachmann aus dem Weg zu räumen, sondern Sie haben es auch geschafft, sich mit Ihren Beschlüssen von seriöser Sozialpolitik, von seriöser Politik insgesamt zu verabschieden.
Die Tatsache, dass Sie den Bürgern 60 Milliarden Euro für soziale Wohltaten versprechen, zeigt, dass Sie in höchstem Maße an Realitätsverlust leiden.
Vor diesem Hintergrund erscheint es außerordentlich skurril, wenn Sie uns in Ihrem Entschließungsantrag zu diesem Einzelplan vorwerfen, wir wären der Meinung, wir hätten ein haushaltspolitisches Schlaraffenland. Das Gegenteil ist richtig: Das Schlaraffenland versprechen Sie den Menschen und nicht wir.
In Ihrem Entschließungsantrag kritisieren Sie außerdem die Lastenverschiebung zwischen Bundeshaushalt und Bundesagentur. Dieser Meinung kann man durchaus sein; das ist Ihr gutes Recht. In Ihrem Antrag rechnen Sie uns vor, wodurch die Bundesagentur zusätzlich belastet wird. Sie kommen auf 10,8 Milliarden Euro. Sie fordern, dass diese zusätzlichen Belastungen nicht mehr durch die BA gegenfinanziert werden. Im Gegenzug soll die BA die Einnahmen aus einem Mehrwertsteuerpunkt nicht mehr erhalten. Da gibt es aber einen kleinen Rechenfehler, der mir aufgefallen ist: Nach Ihrer Meinung wird die Bundesagentur mit 10,8 Milliarden Euro zusätzlich belastet. Die Einnahmen aus dem Mehrwertsteuerpunkt betragen aber nur 7,5 Milliarden Euro. Sie beantworten nicht die Frage, woher die weiteren über 2 Milliarden Euro kommen sollen. Mir jedenfalls ist nicht bekannt, dass Sie einen entsprechenden Antrag im Haushaltsausschuss gestellt haben.
Zu einem weiteren Thema in Ihrem Entschließungsantrag. Sie schreiben, die BA müsse von ihren Reserven zehren. Da muss ich Ihnen leider widersprechen. Die BA muss nicht von ihren Reserven zehren, sie muss auch keine Rücklagen aufbrauchen. Richtig ist, dass von dem, was in den letzten Jahren an Überschüssen durch zusätzliche Beitragseinnahmen eingenommen wurde, in den nächsten Jahren etwas weggenommen wird. Es gibt keine zusätzlichen Belastungen, weil wir erstens die Beiträge gesenkt haben
und weil wir zweitens Rücklagen gebildet haben. Ich sage ausdrücklich: Dieser Weg ist richtig. Die BA bildet zum ersten Mal eine Rücklage für ihre Pensionäre, damit künftige Beitragszahler davon nicht mehr belastet werden.
Es ist auch richtig, dass überhaupt eine Liquiditätsrücklage gebildet werden soll. Das ist ein Beitrag dazu, um die Lohnzusatzkosten in der Zukunft nicht weiter zu erhöhen. Wir stehen für niedrige Lohnnebenkosten, für niedrige Sozialabgaben, damit den Menschen mehr übrig bleibt.
Wir, die Regierungsfraktionen, wollen den Sozialstaat erhalten und sichern. Wir wollen aber nicht mehr versprechen als das, was gehalten werden kann. Wir sind dafür, dass Leistungsträger nicht überfordert werden und dass Schwache, die sich selbst nicht helfen können, unterstützt werden. Das heißt: Oberstes Ziel in der Innenpolitik der nächsten Jahre muss weiterhin sein, dass Arbeitslose in den Arbeitsmarkt integriert werden, dass die Arbeitslosigkeit abgebaut und zusätzliche Beschäftigung geschaffen wird. Wir wollen gerade diejenigen unterstützen, die von diesem Aufschwung noch nicht profitiert haben, nämlich Langzeitarbeitslose, jüngere und auch ältere. Mit diesem Haushalt setzen wir - mit Ihnen, Herr Bundesarbeitsminister - die entsprechenden Akzente dafür.
Wir wollen eine solide Sozialpolitik, die über Jahre Bestand hat. Dazu müssen wir die Interessen der Generationen verbinden. Das gilt insbesondere für die Rentenversicherung, die auch in diesem Jahr einen hohen Zuschuss in Höhe von fast 80 Milliarden Euro bekommt. Der Generationenvertrag war über Jahrzehnte Garant für Stabilität und Solidarität der Generationen. Das soll auch in Zukunft so sein. Aber wir müssen den Veränderungen in unserer Gesellschaft Rechnung tragen und die Frage beantworten: Wie schaffen wir es, dass sich die Generationen nicht gegenseitig überfordern? Wir haben auf der einen Seite die Älteren, die um erworbene Ansprüche fürchten, und auf der anderen Seite die Jüngeren, die sich als Verlierer des Systems fühlen. All denen müssen wir sagen: Eure Befürchtungen sind unberechtigt. Wir tun alles, um das Rentensystem zu stabilisieren. - Deswegen ist der Bundeszuschuss zur Rentenversicherung gerechtfertigt, und deswegen war auch die Rente ab 67 ein wichtiger Schritt.
In diesem Zusammenhang ein Wort zu dem von klugen Wissenschaftlern immer wieder vorgebrachten Vorschlag ?Rente ab 70“. Ich halte von dieser Diskussion - da bin ich mir mit meinen Kollegen und Kolleginnen aus der Union einig - überhaupt nichts. Es macht keinen Sinn, das Renteneintrittsalter zu erhöhen und sofort eine Diskussion über eine weitere Erhöhung anzuzetteln. Der Schritt ?Rente ab 67“ war richtig. Wir haben ihn getan; das stabilisiert das System.
Wir führen gelegentlich Debatten über unseren Sozialstaat. Er steht angesichts seiner konkreten Ausgestaltung und seines Leistungsvolumens oftmals in der Kritik. Dennoch stellen wir fest, dass er sich einer hohen und stabilen Wertschätzung in der Bevölkerung erfreut. Erfolgreiche Sozialpolitik ist die Voraussetzung für innenpolitische Stabilität. Sie ist die Voraussetzung für sozialen Frieden. Wir leisten mit diesem Bundeshaushalt einen entscheidenden Beitrag, um den sozialen Frieden in Deutschland zu gewährleisten.
Präsident Dr. Norbert Lammert:
Ich schließe die Aussprache.
Wir kommen zur Abstimmung über den Einzelplan 11 - Bundesministerium für Arbeit und Soziales - in der Ausschussfassung. Hierzu liegt ein Änderungsantrag der Fraktion Die Linke auf Drucksache 16/7317 vor, über den wir zuerst abstimmen. Die Fraktion Die Linke hat hierzu namentliche Abstimmung verlangt. Ich bitte die Schriftführerinnen und Schriftführer, mir zu signalisieren, ob alle Plätze besetzt sind. - Das ist offenkundig der Fall. Ich eröffne die Abstimmung.
Gibt es ein Mitglied des Hauses, das seine Stimmkarte noch nicht abgegeben hat? - Das ist offenkundig nicht der Fall. Dann schließe ich die Abstimmung. Ich bitte die Schriftführerinnen und Schriftführer, mit der Auszählung zu beginnen.
Nach Neubesetzung der Matadore werden wir die Aussprache fortsetzen und uns die Ergebnisse der Abstimmung nach dem bewährten Verfahren während der Debatte mitteilen lassen. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist offensichtlich der Fall.
Ich bin gerade darauf aufmerksam gemacht worden, dass wir die Debatte nicht sofort fortsetzen können, weil wir die Abstimmung über diesen Einzeletat formal korrekt erst dann durchführen können, wenn über den Änderungsantrag abgestimmt worden ist. Die Abstimmung hat zwar gerade stattgefunden, und wir ahnen das Ergebnis, aber wir kennen es noch nicht. Deswegen unterbreche ich die Sitzung, bis das Ergebnis vorliegt. Sobald das der Fall ist, fahren wir mit den Beratungen fort.
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms:
Die unterbrochene Sitzung ist wieder eröffnet.
Ich gebe Ihnen das Ergebnis der namentlichen Abstimmung über den Änderungsantrag der Abgeordneten Katja Kipping, anderer und der Fraktion Die Linke zu dem Entwurf eines Gesetzes über die Feststellung des Bundeshaushaltsplans für das Haushaltsjahr 2008, hier: Einzelplan 11, Geschäftsbereich des Bundesministeriums für Arbeit und Soziales, Drucksachen 16/6000, 16/6002, 16/6411, 16/6423 und 16/7317, bekannt: Abgegebene Stimmen 571. Mit Ja haben gestimmt 50, mit Nein haben gestimmt 521, keine Enthaltungen. Der Änderungsantrag ist damit abgelehnt.
Wir kommen jetzt zur Abstimmung über den Einzelplan 11 in der Ausschussfassung. Wer stimmt dafür? - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Der Einzelplan 11 ist dann mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen gegen die Stimmen der Oppositionsfraktionen angenommen.
Jetzt rufe ich den Tagesordnungspunkt II.14 auf:
Einzelplan 06
Bundesministerium des Innern
- Drucksachen 16/6406, 16/6423 -
Berichterstattung:
Abgeordnete Bettina Hagedorn
Dr. Michael Luther
Norbert Barthle
Jürgen Koppelin
Roland Claus
Alexander Bonde
Anja Hajduk
Es liegen zwei Änderungsanträge der Fraktion Die Linke vor. Außerdem liegen je ein Entschließungsantrag der Fraktion der FDP und der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen vor, über die wir am Freitag nach der Schlussabstimmung abstimmen werden.
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für die Aussprache anderthalb Stunden vorgesehen. Gibt es Widerspruch? - Das ist nicht der Fall. Dann ist so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache und erteile als erstem Redner das Wort dem Kollegen Dr. Max Stadler von der FPD-Fraktion.
Dr. Max Stadler (FDP):
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Schon nach zwei Jahres ihres Bestehens ist die Große Koalition in der Innenpolitik praktisch handlungsunfähig.
- Doch. Der Tagesspiegel hat am Samstag unter der Überschrift ?Koalition des Misstrauens“ zu Recht geschrieben:
Die Innenpolitiker von SPD und Union misstrauen sich von Herzen … Es ist hier gut zu beobachten, wie aus Partnern Opponenten geworden sind …
Das ist eigentlich ein verheerender Befund über den Zustand dieser Regierung.
Aber Politik ist manchmal paradox: Man muss geradezu froh sein, dass sich Union und SPD nicht mehr auf neue Gesetze einigen können.
Denn was die Koalition in den bisherigen zwei Jahren in der Gesetzgebung gemacht hat, war ja nichts anderes als eine Kaskade von Einschnitten in die Grundrechte. Mit ihrer bürgerrechtsunfreundlichen Politik hat diese Koalition nahtlos die Politik der rot-grünen Vorgängerregierung fortgesetzt.
Die innere Zerrissenheit der Koalition zeigt sich im Großen wie im Kleinen. Sie streiten ja nicht nur über zentrale Themen wie die heimliche Onlinedurchsuchung, sondern wir haben hier im Plenum auch oft die Spannungen in dieser Koalition live miterlebt, wenn sich die Kontrahenten aus Union und SPD beispielsweise über das Ausländerrecht coram publico gestritten haben. Sie sind nicht in der Lage, eine wirkliche Modernisierung des öffentlichen Dienstes auf den Weg zu bringen, und greifen die Vorschläge und Eckpunkte, die Otto Schily zusammen mit dem Deutschen Beamtenbund und mit Verdi vereinbart hat, eben gerade nicht auf. Sie versuchen, die Organisation der Bundespolizei neu zu regeln. Das hat bisher hauptsächlich zu Unruhe bei den Polizeibeamten geführt, aber nicht mehr Sicherheit produziert. Jetzt zeigt sich, wie der Spiegel am Montag geschrieben hat, Herr Körper:
Nach monatelangem Stillhalten torpediert die SPD
- der eigene Koalitionspartner! -
nun die Reform der Bundespolizei.
Ein letztes Beispiel würde man vielleicht eher als eine Begebenheit am Rande einstufen; es wirft aber ein bezeichnendes Schlaglicht auf den Zustand dieser Koalition. Sie wissen, dass in der Vorgängerregierung durch eine Verfügung des damaligen Staatssekretärs Lutz Diwell heimliche Onlinedurchsuchungen erlaubt worden sind. Wir haben im Innenausschuss den Wunsch, dass Herr Diwell uns dies persönlich erklärt; denn er hat nachher öffentlich gesagt, ihm sei gar nicht bewusst gewesen, was er da unterschrieben hat. Das scheint mir bei einem solchen Grundrechtseingriff doch ein sehr beachtlicher Vorgang. Daher haben wir Auskunft von Herrn Diwell im Innenausschuss erbeten.
Die CDU/CSU hat unserem Ansinnen vernünftigerweise zugestimmt - sehr zum Missfallen der SPD.
Das ist nur eine Begebenheit am Rande, die aber, wie ich glaube, doch zeigt, wie es um den Zustand dieser Koalition bestellt ist.
Meine Damen und Herren, kommen wir jetzt aber zur zentralen Kritik der FDP an der Innenpolitik dieser Koalition, kommen wir zum alles entscheidenden Thema in der Innenpolitik, nämlich dem Verhältnis von Sicherheit und Freiheit.
Ich möchte durchaus feststellen, dass es um die innere Sicherheit in Deutschland alles in allem befriedigend steht -
dank der guten Arbeit der Sicherheitsbehörden.
Beispielsweise hat die Verhaftung von drei Verdächtigen, die offenbar einen Bombenanschlag geplant hatten, gezeigt, dass unsere Polizeibehörden eine gute Arbeit leisten,
und zwar auf der Basis der bestehenden Gesetze und ohne heimliche Onlinedurchsuchungen.
Um die innere Sicherheit mache ich mir daher keine so großen Sorgen, um die innere Liberalität in diesem Land aber schon.
Ich kann es Ihnen nicht ersparen, dies zum wiederholten Male festzustellen: Der Schutz der Grundrechte ist bei Ihnen nicht in den besten Händen. Ich nenne Ihnen beispielhaft ein Zitat, das Ihnen doch zu denken geben müsste. Der renommierte Staatsrechtler und Verfassungsrichter Professor Udo di Fabio hat Ihnen ins Stammbuch geschrieben - ich zitiere wörtlich aus der Süddeutschen Zeitung, was er gesagt hat -:
Ich halte es für eine Krankheit, dass ständig unser System in Frage gestellt wird.
Das war an die Adresse dieser Großen Koalition gerichtet, und das müsste Ihnen doch endlich zu denken geben; denn Professor di Fabio hat recht.
Das erkennen wir an dem jüngsten Beispiel, nämlich der Vorratsdatenspeicherung. In der Debatte hier vor knapp zwei Wochen - am 16. November 2007 - war eines wirklich nicht nachvollziehbar: Die Redner der Großen Koalition haben entweder nicht verstanden oder nicht verstehen wollen, dass mit der Vorratsdatenspeicherung jetzt eine neue Qualität der Überwachung gesetzlich eingeführt worden ist; denn Sie sind damit von einem wichtigen Grundsatz abgewichen. Dieser Grundsatz lautet: Eingriffe in Bürgerrechte sind dann gerechtfertigt, wenn es konkrete Verdachtsmomente gegen konkrete Beschuldigte oder Verdächtige gibt. Das ist die notwendige Begrenzung, damit nicht uferlos und schrankenlos in die Grundrechte eingegriffen wird.
Wenn jemand konkret in Verdacht steht, eine schlimme Straftat zu planen, dann mag es richtig sein, sein Telefon zu überwachen oder die Telefonverbindungsdaten zu speichern. Es ist aber etwas fundamental Neues und anderes, die Daten von Millionen unverdächtigen Bürgerinnen und Bürgern zu speichern.
Das ist der Systemwechsel, den Udo di Fabio Ihnen vorwirft.
Herr Minister Schäuble, deswegen sind wir auch bei Ihren zahlreichen Interviewäußerungen misstrauisch. Ich nehme eine heraus, die öffentlich vielleicht wenig bemerkt worden ist, mir aber sehr verdächtig erscheint. Nur Sie selber wissen, was Sie gemeint haben - mir ist das nicht ganz klar -, als Sie am 9. Juli 2007 im Spiegel erklärt haben:
Wir sollten versuchen, ... Rechtsgrundlagen zu schaffen, die uns die nötigen Freiheiten im Kampf gegen den Terrorismus bieten.
Was soll das eigentlich heißen? Haben wir denn die nötigen Rechtsgrundlagen nicht?
Der Rechtsstaat ist wehrhaft. Er kann sich auf der Basis der geltenden Gesetze zur Wehr setzen.
Wenn ich mir noch einmal das Stakkato, wie der Bundespräsident es bezeichnet hat, Ihrer Interviewäußerungen vor Augen führe, in denen Sie über Inhaftierung auf Verdacht, gezielte Tötungen - targeted killing - und anderes gesprochen und die Unschuldsvermutung relativiert haben, muss ich Ihnen sagen: Ein solcher Satz, mit dem Sie Freiheiten bei der Terrorismusbekämpfung beanspruchen, weckt in uns Liberalen den Verdacht, dort solle einem neuen Feindstrafrecht das Wort geredet werden, wie es manche in der strafrechtlichen Literatur verlangen.
Auch dagegen hat sich Udo di Fabio in seinem Beitrag in der Welt massiv verwahrt.
Meine Damen und Herren, wir wollen keinen Systemwechsel. Wir wollen, dass der Rechtsstaat sich so bewährt, wie er von den Müttern und Vätern des Grundgesetzes gestaltet worden ist.
In dem eingangs zitierten Artikel des Tagesspiegel hieß es am Schluss, mit der FDP in einer Regierung wäre es in der Innenpolitik auch schwierig. Meine Damen und Herren, das nehmen wir erstens als Kompliment; denn wenn es darum geht, die Grundrechte zu bewahren, muss man sperrig sein. Zweitens sage ich Ihnen Folgendes: Mit uns ist einfach zusammenzuarbeiten, mit der FDP ist einfach zu regieren, wenn eine Politik betrieben wird, die sich strikt an den Grundrechten orientiert.
Ihre Politik tut dies leider nicht.
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms:
Jetzt hat der Kollege Dr. Michael Luther von der CDU/CSU-Fraktion das Wort.
Dr. Michael Luther (CDU/CSU):
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Herr Stadler, in einem Punkt irren Sie. Die Große Koalition ist im Bereich der Innenpolitik handlungsfähig. Das zeigt dieser Haushalt.
Zum ersten Mal übersteigt der Innenhaushalt die 5-Milliarden-Euro-Grenze. Das ist eine ganz gewaltige Steigerung um 13 Prozent. Dies zeigt, dass die innere Sicherheit von der Großen Koalition ernst genommen wird.
An dieser Stelle will ich allerdings darauf aufmerksam machen, dass ein Teil der Steigerung technischer Natur ist. 2010 sollen alle bundeseigenen Immobilien von der sogenannten BImA übernommen werden. Die Nutzer von Immobilien werden dann zu Mietern. Langfristig bietet das für uns fiskalische Vorteile, weil dann jedes Bundesministerium im Interesse der eigenen Sparsamkeit darauf achten wird, dass es seinen Raumbedarf optimiert.
2008 beginnt das Innenministerium mit der Bundespolizei, diese Strukturveränderung durchzuführen.
Technisch notwendig ist dann allerdings - und zwar für den Bundeshaushalt insgesamt ausgabenneutral -, dass eine Anfangsmiete etatisiert wird. Das macht immerhin eine Steigerung von 108 Millionen Euro aus, die jetzt für Mietzahlungen etatisiert sind.
Eine weitere deutliche Ausgabensteigerung erfahren wir wegen der bedarfsgerechten Etatisierung des BOS-Digitalfunks. Die in der bisherigen mittelfristigen Finanzplanung vorgesehenen Mittel beruhten auf einer Schätzung, die eine andere Datengrundlage hatte. Wir wussten seit längerem, dass dies nicht mehr stimmig ist. Natürlich konnten wir aber erst dann Zahlen einstellen, als das Konzept etatreif war.
Uns als Haushaltsberichterstattern war es auch wichtig, dass dieses wichtige Investitionsprojekt gemeinsam mit dem Bundesrechnungshof durchgeführt wird.
Er muss und soll das Konzept akzeptieren. Deshalb konnten wir erst jetzt am Ende der Haushaltsberatungen die entsprechenden Barmittel und Verpflichtungsermächtigungen für die nächsten 15 Jahre - insgesamt macht dieses Projekt immerhin 2,5 Milliarden Euro aus - einstellen.
Wir werden dieses wichtige Investitionsprojekt des Bundes auch weiterhin aktiv begleiten. Ich will, dass dieser wichtige Modernisierungsschritt schnell kommt, weil sich damit die Kommunikation unserer Sicherheitskräfte bei ihrer Arbeit wesentlich verbessert.
Ein weiteres Thema ist der ergänzende Katastrophenschutz. Es hat in den Haushaltsberatungen eine wichtige Rolle gespielt.
Jahrzehntelang geübte Staatspraxis ist es, dass sich der Bund im Rahmen des ergänzenden Katastrophenschutzes an der Finanzierung der entsprechend benötigten Feuerwehrfahrzeuge beteiligt. Diese Feuerwehrfahrzeuge stehen dann ja vor Ort, zum Beispiel bei den freiwilligen Feuerwehren.
Der Bundesrechnungshof hat kritisiert, dass diese Finanzierung aufgrund der föderalen Struktur eigentlich den Bundesländern obliegt, es also an einer gesetzlichen Grundlage fehle. Gleichwohl sage ich für die CDU/CSU-Fraktion ganz klar: Wir wissen, dass sich der Bund nicht heraushalten kann, wenn der Katastrophenschutz leistungsfähig und einheitlich sein soll. Ich will an dieser Stelle zwei Beispiele nennen: das Hochwasser 2002 und den tagelangen Stromausfall im Winter 2005, von dem insbesondere Nordrhein-Westfalen betroffen war.
Der Bürger fragt in solchen Situationen nicht, wer zuständig ist. Er will, dass der Katastrophenschutz gut organisiert wird, und zwar im Zusammenwirken von Kommune, Land und Bund. Deshalb haben sich Bund, Länder und Kommunen auf ein neues Katastrophenschutzkonzept verständigt,
für dessen Umsetzung der Bund in den nächsten zehn Jahren 260 Millionen Euro zusätzlich bereitstellt.
Mit diesem Konzept wird ein wesentlicher und nachhaltiger Schritt in Richtung der notwendigen Verbesserung des Katastrophenschutzes in Deutschland gegangen. Nächstes Jahr stehen 26 Millionen Euro mehr zur Verfügung. Das ist das Signal seitens des Bundes, dass wir an einem Erfolg des Konzepts interessiert sind. Allerdings ist klar - ich verweise noch einmal auf den Bundesrechnungshof -: Ein Konzept allein reicht nicht aus. Wir brauchen eine verlässliche gesetzliche Grundlage. Ich hoffe, dass diese im nächsten Jahr geschaffen wird. Der Haushaltsausschuss fordert dies ein.
Eine für den Katastrophenschutz wichtige Organisation ist das Technische Hilfswerk. Wenn es das Technische Hilfswerk nicht gäbe, müsste man es erfinden. Die Arbeit des THW wird nicht nur in Deutschland, sondern auch im Ausland hoch geschätzt.
Das THW lebt vom Ehrenamt. 80 000 Freiwillige sind eine beeindruckende Zahl.
- Stimmt. - Allerdings ist klar: Man braucht eine funktionierende hauptamtliche Struktur, um diese 80 000 ehrenamtlichen Helfer zu führen.
Zurzeit kommen etwa 100 Ehrenamtliche auf einen Hauptamtlichen, es gibt also ein Verhältnis von 100 : 1. Nun das Problem: Seit Jahren reduzieren wir pauschal die Zahl der Beschäftigten des Bundes; das ist richtig. Aber das betrifft auch das THW. Gingen wir diesen Weg des Stellenabbaus weiter, müssten wir im Rahmen einer kegelgerechten Personalstruktur auch die Zahl der ehrenamtlichen Helfer reduzieren. Das darf nicht sein; denn wir brauchen die 80 000 Ehrenamtlichen. Das Verhältnis von 100 : 1 muss in etwa erhalten bleiben.
Wir haben es geschafft, mit diesem Haushalt entsprechende Schritte zu gehen.
Zum einen gibt es einen Beschluss des Haushaltsausschusses, der keine weiteren Stelleneinsparungen beim THW vorsieht. Zum anderen haben wir 30,5 bestehende kw-Vermerke aufgehoben. Damit kann in etwa die Personalstruktur erhalten werden.
Des Weiteren stärken wir die Mittel für die THW-Jugend. Das THW weckt mit seiner Jugendarbeit Interesse für gesellschaftliche Verantwortung, ermöglicht eine sinnvolle Freizeitgestaltung und wirbt für das Ehrenamt. Eine Vielzahl von Maßnahmen, zum Beispiel Jugendcamps, wird durchgeführt. Ich finde, damit wird auch ein wichtiger, nachhaltiger Beitrag zur Bekämpfung des politischen Extremismus geleistet.
Der Haushaltsausschuss hat in personeller Hinsicht auch den Weg für eine Bundespolizeireform frei gemacht. Noch ist der entsprechende Gesetzentwurf in der Fachberatung. Wenn das Gesetz aber im Laufe des nächsten Jahres in Kraft tritt, wird sich die neue Struktur auch im Personaltableau widerspiegeln müssen. Das hat uns im Haushaltsausschuss vor eine besondere Schwierigkeit gestellt: Obwohl es noch keine gesetzliche Grundlage gab, mussten wir uns vorbereiten, um entsprechend reagieren zu können, wenn das Gesetz in Kraft tritt. Das ist nun möglich. Wir können die benötigten Stellen freischalten, wenn es so weit ist, und im Gegenzug die nicht benötigten Stellen wegfallen lassen.
Zur Bundespolizei will ich noch einen anderen Gedanken äußern. Er betrifft die bevorstehende Erweiterung des Schengen-Raums. Gerade die Menschen in den Grenzregionen zu Polen und Tschechien machen sich Sorgen, dass sich die Sicherheitslage verschlechtern würde.
Ich will Folgendes feststellen: Wer grenzüberschreitend kriminell sein will, nutzt wenn möglich nicht den kontrollierten Grenzübergang,
sondern er organisiert seine Aktivität über die grüne Grenze. Aus diesem Grunde ist es viel wichtiger, im Hinterland zu kontrollieren und dazu das entsprechende Personal zur Verfügung zu stellen.
Damit gibt es nach dem Wegfall der Grenzkontrollen für die Bundespolizei eigentlich mehr Möglichkeiten, diese Aufgabe im Rückraum zu erfüllen.
Das ist Teil der Bundespolizeireform. Ich habe mich in Sachsen und Brandenburg informiert. Es wird genau diese Absicht verfolgt. Ich glaube, Sie, Herr Schäuble, sind hier auf einem richtigen Weg. Ich darf Sie an dieser Stelle bitten, besonders die Sicherheitsinteressen der Bürger im grenznahen Raum ernst zu nehmen und durch Öffentlichkeitsarbeit darauf hinzuwirken, dass die Menschen das Gespür bekommen, dass von unserer Seite tatsächlich alles für die Sicherheit getan wird.
Ich will dazu folgendes Bild anführen: Die Lage an den Grenzen der neuen Schengen-Staaten ist nicht mit der Situation an den Grenzen zu anderen Staaten vergleichbar. Denn westlich von Frankreich ist der Atlantik. Zwischen Polen und dem Pazifik liegt aber noch ein ?kleines“ Stück.
Lassen Sie mich einige Gedanken zum Sport ausführen. Der Sportförderetat steigt um gut 15 Prozent oder um 19 Millionen Euro. Allein die Gelder für den Spitzensport werden um über 14 Millionen Euro erhöht. Dieses Geld kommt der Traineroffensive des DOSB und der Förderung der Sportverbände zur Vorbereitung auf die Olympischen Spiele 2010 in Vancouver und 2012 in London zugute. Der Behindertensport wird im Hinblick auf die Paralympics mit 1,4 Millionen Euro gefördert. Wir sichern die Arbeit der NADA, also der Nationalen Anti-Doping-Agentur,
mit einer Erhöhung des Stiftungskapitals um 4 Millionen Euro.
Auch die Stiftung Deutsche Sporthilfe stärken wir erstmalig mit 1 Million Euro, weil die Einnahmen aus der Glücksspirale und dem Verkauf von Sonderbriefmarken zurückgehen. Ich denke, gerade im Bereich des Sports lässt sich das Paket, das ich Ihnen eben vorgestellt habe, sehen.
Auf die anderen Themen kann ich leider aus Zeitgründen nicht weiter eingehen. Deswegen möchte ich zum Schluss kommen. Ich möchte mich beim Ministerium und bei dem Haushaltsreferat, das mit uns diese Haushaltsberatungen - die waren nicht einfach - durchgeführt hat, bedanken. Das Ministerium muss wissen: Uns Haushälter sollte man ernst nehmen. Das Parlament bestimmt, wofür die Bundesregierung Geld ausgeben darf. Das Budget für 2008 steht fest. Herr Bundesminister, gehen Sie mit dem Geld des Steuerzahlers verantwortlich um!
Recht herzlichen Dank.
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms:
Das Wort hat jetzt der Kollege Jan Korte von der Fraktion Die Linke.
Jan Korte (DIE LINKE):
Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Wir beraten heute den Haushalt des Bundesministeriums des Innern. Er steigt um fast 400 Millionen Euro.
Das erfreut Sie. Uns macht das große Sorge, weil es in die völlig falsche Richtung geht, wie Innenpolitik in der Großen Koalition gemacht wird.
Sie wird vor allem mit Angst - die ist das Schmiermittel - betrieben, um bestimmte Maßnahmen durchzusetzen. Dafür bereiten Sie sich heute die finanzielle Grundlage.
Ich will das an einigen Beispielen illustrieren. Die geplante Onlinedurchsuchung - ein altes Thema mittlerweile -, die Sie mit Vehemenz möglichst schnell durchzudrücken versuchen, ohne sich die Zeit zu nehmen, anstehende Gerichtsurteile abzuwarten, und ohne darüber zu diskutieren, inwieweit die Verhältnismäßigkeit gewahrt wird, ist schon angesprochen worden. Die Vorratsdatenspeicherung wurde in der letzten Sitzungswoche durchgepeitscht.
Man kann es nicht oft genug sagen: Bei der Onlinedurchsuchung geht es um einen wirklich enormen Eingriff in die bürgerlichen Grund- und Freiheitsrechte, weil es hier um intimste Lebensbereiche geht, auf die Sie Zugriff haben wollen und in denen Sie herumschnüffeln wollen.
Deswegen fordern wir auch an dieser Stelle der Haushaltsberatungen: Stoppen Sie endlich Ihre Planungen für die Onlinedurchsuchung, stoppen Sie die Entwicklung des Bundestrojaners, denn all dies bringt weniger Freiheit und nicht mehr Sicherheit!
Ich möchte einen zweiten Punkt ansprechen: Wir bekommen hier im Wochenrhythmus neue Maßnahmen vorgestellt, was wir alles tun müssten, um größtmögliche Sicherheit zu erhalten. Hinzu kommt, dass hier ein Sicherheitsversprechen gegeben wird, das nicht einhaltbar ist. Sie gehen sogar noch darüber hinaus, indem Sie Maßnahmen vorschlagen, die mehr Sicherheit bringen sollen, in der Realität aber zu weniger Sicherheit führen. Ich will das am Beispiel des biometrischen Passes deutlich machen. BKA-Präsident Ziercke - das Bundeskriminalamt steht nicht im Verdacht, eine Vorfeldorganisation der Linken zu sein - sagt auf unsere mehrfache Nachfrage hin - wir haben ungefähr 28-mal nachgefragt, warum wir die biometrischen Merkmale in den Pässen brauchen -, das sei notwendig, weil damit Schindluder getrieben werde und es enorm viele Fälschungen gebe. Die Bundesregierung sagt in der Antwort auf eine Kleine Anfrage der Linksfraktion, die deutschen Pässe - übrigens sowohl Personalausweis als auch Reisepass - seien die sichersten Pässe, die es auf der ganzen Welt gibt. Sie sind sozusagen ein Spitzenprodukt. Deshalb bringen biometrische Merkmale gar nichts. Das Gegenteil ist richtig. Sie bringen weniger Sicherheit, weil die Experten - übrigens auch vom BKA - gesagt haben, die Gefahr von Verfälschungen bei biometrischen Merkmalen sei eklatant größer als bei dem derzeitigen Reisepass. Auch deshalb fordern wir Sie auf: Stoppen Sie die Mittelbereitstellung für weitere biometrische Experimente, die weniger und nicht mehr Sicherheit bringen und ein Eingriff in die Bürgerrechte sind.
Mit einem Anteil von 11 Prozent machen die Mittel für die Umstrukturierung des Bundeskriminalamts den größten Posten in diesem Einzelplan aus. Was soll politisch erreicht werden? Sie haben sowohl in Interviews als auch bei der Vorlage für das BKA-Gesetz erkennen lassen, dass es Ihr Traum ist, das BKA in ein deutsches FBI umzuwandeln, also eine Vergeheimdienstlichung der Polizei, eine Zentralisierung der Polizeiarbeit und insgesamt der Sicherheitsbehörden vorzunehmen. Man muss einmal deutlich sagen, warum das politisch so verheerend ist. Es ist so verheerend, weil wir aus der Geschichte heraus die Erfahrung haben, dass die Verquickung von Polizei und Geheimdiensten zu katastrophalen Folgen führt und nicht mehr kontrollierbar ist. Deshalb muss es eine strikte Trennung von Polizeiarbeit und Geheimdienstarbeit geben. Diese muss dezentral sein. Sie machen genau das Gegenteil. Übrigens sind auch Föderalismusreformen völlig überflüssig, wenn Sie in der aktuellen Politik das Gegenteil machen.
Was aber tun? Das ist eine altbekannte Frage. Wir fordern statt Aktionismus und unhaltbaren Sicherheitsversprechen sowie immer weiteren Eingriffen in die Grundrechte eine wirkliche Überprüfung der Maßnahmen dahin gehend, ob sie wirklich mehr Sicherheit bringen und ob sie im Verhältnis zu der Einschränkung von Bürger- und Freiheitsrechten stehen. Weiterhin müssen wir darüber nachdenken, dass die Menschen in diesem Land keine tägliche Angst vor irgendeinem abstrakten Terrorismus haben, sondern ganz konkret Angst haben, wenn sie nachts auf der Straße unterwegs sind. Sie haben Angst vor Überfällen usw. Da muss man sich doch fragen, ob die Steuerpolitik der Bundesregierung richtig ist, wenn in der Folge bis 2009 in den Ländern über 10 000 Polizeibeamte abgebaut werden, die vor Ort ganz konkret ansprechbar sind. Die Kontaktbereichsbeamten, die für die Menschen draußen ansprechbar sind, sind die ersten, die gestrichen werden. Diese Beamten kürzen Sie mit Ihrer verfehlten Politik weg. Hier sollte man auf Menschen statt auf Technik setzen. Das ist unsere Position.
Ich komme zu einem letzten Vorschlag, über den wir einmal nachdenken müssten, weil er wirklich mehr Sicherheit bringt. Es wurden durch die Bundespolizei diverse Kontrollen der Fluggastkontrollen an deutschen Flughäfen durchgeführt. Dort kam eine Fehlerquote von 30 bis 50 Prozent zutage. Man konnte durch die Fluggastkontrollen offensichtlich halbe Waffensysteme schleusen. Warum ist das so? Das liegt daran, dass die Fluggastkontrollen privatisiert worden sind und dort Dumpinglöhne gezahlt werden. Deshalb gibt es hier ein wirkliches Sicherheitsproblem. Wir fordern Sie daher auf, die Fluggastkontrollen wieder zu verstaatlichen. Das wäre sinnvoll. Im Übrigen hat dies auch die Gewerkschaft der Polizei richtigerweise gefordert. Das würde mehr Sicherheit bringen.
Zum Schluss. Es ist wichtig, heute über das, was in den letzten zwei Jahren passiert ist, Bilanz zu ziehen. Ich denke an die Vorratsdatenspeicherung, die Antiterrordatei und vieles anderes. Nun wäre es wirklich einmal an der Zeit - übrigens auch für die SPD, die auf ihrem Hamburger Parteitag beschlossen hat, wieder Bürgerrechtspartei zu sein -, eine Umkehr der völlig verfehlten Innenpolitik vorzunehmen. Lassen Sie den Worten Taten folgen und wagen Sie mehr Freiheit - das haben Sie angekündigt - und nicht weniger. Da würden wir Linken glatt mitmachen.
Vielen Dank.
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms:
Das Wort hat die Kollegin Bettina Hagedorn von der SPD-Fraktion.
Bettina Hagedorn (SPD):
Verehrtes Präsidium! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich bin sehr erleichtert - das nehmen mir sicherlich alle Mitglieder des Haushaltsausschusses sofort ab -, dass wir heute den Haushalt des Innenministeriums abschließend beraten; denn die letzten zwei Monate waren - wir wollen das gar nicht unter den Teppich kehren - von schwierigen Debatten zu etlichen Konfliktfeldern gekennzeichnet. Das Entscheidende ist aber, dass wir sie heute zu einem erfolgreichen Ende bringen.
Wir haben den Etat mit einem Gesamtvolumen von über 5 Milliarden Euro - mein Kollege Michael Luther hat schon darauf hingewiesen - gegenüber dem Regierungsentwurf um 215 Millionen Euro aufwachsen lassen. In fünf zusätzlichen Berichterstattergesprächen haben wir bis ins Detail geklärt, ob die Höhe der vorgesehenen Ausgaben des Innenministeriums gerechtfertigt ist und wo es wirklich Engpässe gibt. Wir haben es uns also wirklich nicht leicht gemacht.
Wir haben die Prüfbemerkungen des Bundesrechnungshofs, die hier bei der Debatte im September, bei der Einbringung des Haushalts, von vielen Rednern angesprochen worden sind, solide abgearbeitet, haben Ansätze gekürzt und Mittel auf neue Schwerpunkte verlagert. Wir haben wohl fast 100 Berichte angefordert. Dabei wurden wir von den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern des Innenministeriums, des Finanzministeriums und des Bundesrechnungshofs hervorragend informiert und unterstützt. Dafür möchte ich mich im Namen aller fünf Berichterstatter ganz herzlich und aufrichtig bedanken.
Der Hauptgrund für den notwendigen Aufwuchs beim Innenministerium liegt in der nun endlich unmittelbar bevorstehenden bundesweiten Einführung des Digitalfunks. Der Bund stellt zusätzlich knapp 190 Millionen Euro bereit und verdoppelt damit in etwa seine Ansätze für 2008. Das ist eine gute Botschaft für alle, die in Bund, Ländern und Kommunen im Sicherheitsbereich, im Katastrophen- und Brandschutz haupt- und ehrenamtlich tätig sind. Viele, die sich bisher Tag und Nacht bei Feuerwehr, Sanitäts- und Rettungsdiensten, bei THW und Polizei mit den Tücken der veralteten Analogtechnik quälen müssen, sehen jetzt endlich Licht am Ende des Tunnels.
Jetzt liegt ein sehr ehrgeiziger Roll-out-Plan vor, der für jeden Zipfel der Republik detailliert festlegt, in welchen Etappen der Digitalfunk von 2008 bis 2010 aufgebaut wird. Um diesen ehrgeizigen Zeitplan einzuhalten, stellt der Bund für 2008 insgesamt knapp 390 Millionen Euro bereit. Außerdem haben wir für die Folgejahre die Verpflichtungsermächtigungen um circa 400 Millionen Euro auf 819 Millionen Euro erhöht. Davon sind allerdings 560 Millionen Euro gesperrt, sodass auch künftig eine enge parlamentarische Begleitung dieses Mammutprojekts gerade im Haushaltsausschuss sichergestellt ist.
Ich hoffe sehr, dass auch alle Bundesländer und Kommunen solide Haushaltsvorsorge für die von ihnen zugesicherten Leistungen getroffen haben, damit der Digitalfunk schon bald die Arbeit der Sicherheits- und Rettungskräfte bis hin zur Feuerwehr optimal unterstützen kann.
Der größte Brocken im Haushalt des Innenministeriums ist aber zweifelsohne die Bundespolizei mit einem Etat von 2,2 Milliarden Euro; das ist immerhin knapp die Hälfte des kompletten Haushalts des Innenministeriums.
Für die circa 40 000 Polizeivollzugs- und Verwaltungsbeamten sowie die Angestellten sind Personalausgaben von 1,4 Milliarden Euro veranschlagt. Darin sind die Mittel für die Fortsetzung des Attraktivitätsprogramms zur Hebung von 635 Stellen enthalten.
Bei den Beratungen der letzten Wochen stand dieser Bereich vor allem deshalb im Zentrum vieler Debatten, weil der Innenminister Ende April eine große Bundespolizeireform angekündigt hat, die zwar im Parlament noch nicht abschließend beraten ist, aber dennoch bereits ihre Schatten auf den Haushalt wirft.
Herr Minister, Sie reagieren mit dieser Reform zu Recht auf die Herausforderungen, die nach dem Wegfall der Grenze zu Polen innerhalb eines zusammenwachsenden Europas einerseits und angesichts der Zunahme der Brennpunkte gerade auf den großen Flughäfen und Bahnhöfen andererseits auf die Bundespolizei zukommen.
Diese veränderte Situation bedeutet eine notwendige Schwerpunktverlagerung der Bundespolizei von Ost nach West, die für viele Beamte und Angestellte sowie ihre Familien mit einem Verlust ihres bisherigen Arbeits- und Lebensumfeldes verbunden sein wird. Dass dies verständlicherweise für Unruhe sorgt, dürfte allen klar sein. Deshalb ist es der SPD sehr wichtig, dass die geplanten Umstrukturierungen transparent verlaufen und auf das dienstlich und fachlich notwendige Maß begrenzt werden.
Dies sage ich, Herr Minister, nicht nur mit Rücksicht auf die Mitarbeiter und ihre Familien, sondern auch mit Blick auf den Haushalt. Sie kündigten an, diese Reform weitestgehend haushaltsneutral umsetzen zu wollen. Da stockte mir als Haushälterin ein bisschen der Atem, als ich in einem Bericht Ihres Hauses vor kurzem lesen musste, dass bis 2010 mit zusätzlichen Kosten in Höhe von 97,3 Millionen Euro allein für Reise- und Umzugskosten sowie Trennungsgeld gerechnet werden müsse. Im Hinterkopf habe ich des Weiteren den dezenten Hinweis des Ministeriums, dass ?künftige Forderungen nach bedarfsgerechter Unterbringung der Dienststellen … in den nächsten Jahren umfangreiche finanzielle Mittel erfordern werden“. Ich denke hier zum Beispiel an das Polizeipräsidium in Potsdam, von dem immer die Rede ist, obwohl es keinen Standort, keine Beschlüsse und auch keine Haushaltsvorsorge gibt. Mit Verlaub, Herr Minister, das sind keine Peanuts. Für eine Reform, die eigentlich zum Ziel hat, die Behörde effektiver zu machen, und die weitestgehend haushaltsneutral umgesetzt werden sollte, ist dies doch sehr viel zusätzliches Geld.
Herr Minister, Sie haben für Ihre Reform das Ziel formuliert, dass die Verwaltung verschlankt
und die Organisation gestrafft werden sollen, um mehr Mitarbeiter ?in die Fläche“ zu bringen, im Einsatz ?nah bei den Menschen“ im operativen Dienst. Diesem Ziel kann nicht nur ich, sondern können sicherlich wir alle hier im Parlament zustimmen.
Dies vorangestellt, werden wir Abgeordneten uns allerdings sehr genau anschauen müssen, ob dieses Ziel auch auf dem von Ihnen vorgeschlagenen Weg erreicht werden kann.
Die von Ihnen vorgesehene Aufstockung in der B-Besoldung bei der Bundespolizei um mehr als das Doppelte passt jedenfalls auf den ersten Blick nicht zu diesem Ziel, zumal Sie diese Stellenaufstockung mit wegfallenden Stellen bei der Bundespolizei gegenfinanzieren wollen. Man könnte auch sagen: weniger Indianer für mehr Häuptlinge.
Der Haushaltsausschuss hat diesen Stellenaufwuchs vorläufig qualifiziert gesperrt. Wir werden darüber zu beraten haben, wie wir das bewerten. Ich bin gespannt, mit welchem Ergebnis sich die die Fachpolitiker damit befassen werden und wie ihr mit dem Bundesrechnungshof abgestimmter Bericht an den Haushaltsausschuss zu diesem Thema aussehen wird.
Bei der Bundespolizei haben wir in den parlamentarischen Beratungen aber auch einen sehr erfreulichen Schwerpunkt setzen können, und zwar beim 2004 etablierten Maritimen Schulungs- und Trainingszentrum an der Ostseeküste, das 2005 mit ersten Lehrgangsteilnehmern gestartet ist. Dort wird nicht nur die gesamte maritime Aus- und Fortbildung der Bundespolizei gebündelt, sondern dort werden auch Schiffsbesatzungen anderer Bundes- und Länderbehörden trainiert, zum Beispiel die Mitarbeiter von Zoll und Wasserschutzpolizei. Dieses Zentrum haben wir jetzt mit zusätzlichen Sachmitteln und Personalmitteln ausgestattet, was einen Qualitätssprung für die Ausbildung und eine Kapazitätserweiterung ermöglicht. Angesichts der stark wachsenden Schiffsverkehre auf Nord- und Ostsee mit ihrem hohen Gefährdungspotential ist die verbesserte Ausbildung und Qualifizierung in diesem Zentrum eine wichtige und zukunftsweisende Aufgabe.
Der Gewinner im Haushalt 2008 ist zweifelsohne der Spitzensport mit einem dicken Plus von 19 Millionen Euro. Da meine Kollegin Dagmar Freitag darauf nachher noch detailliert eingehen wird, will ich nur darauf hinweisen, dass ich ganz besonders froh darüber bin, dass die Mittel für die Dopingbekämpfung um 1,8 Millionen Euro erhöht werden konnten und dass zusätzlich 1 Million Euro in den Topf der Nationalen Antidoping-Agentur eingezahlt werden, nachdem wir Haushälter bereits vor einem Jahr dafür gesorgt haben, dass 2 Millionen Euro außerplanmäßig in diesen Topf hineinkamen. Allerdings halte ich es schon ein Stück weit für einen Skandal, dass die im Stiftungsvermögen der NADA vorhandenen Mittel zu 82 Prozent vom Bund aufgebracht worden sind, obwohl sich alle Beteiligten bei Einrichtung der NADA einig waren, dass die Mittel vom Bund, von den Ländern und von der Wirtschaft zu gleichen Teilen aufgebracht werden sollen. Ich denke, daran sieht man ganz deutlich, dass diejenigen, die sich in Schaufensterreden gegen Doping aussprechen, mehr reden als handeln. Viel glaubwürdiger wäre das Engagement gerade vonseiten der Wirtschaft und auch der Länder, wenn sie sich finanziell am Stiftungsvermögen beteiligen würden. Das ist mein Appell.
Mein Kollege Michael Luther hat schon darauf hingewiesen, dass der ergänzende Katastrophenschutz in den Etatberatungen eine wichtige Rolle gespielt hat, Herr Minister.
Das ist vor allem vor dem Hintergrund von Bedeutung, dass der aktuelle Bundesrechnungshofbericht nicht von Pappe ist, der sich mit der Bund-Länder-Finanzierung beschäftigt, die auch in der Föderalismuskommission eine entscheidende Rolle spielt. Der Bundesrechnungshof hat zu der vorgesehenen Etataufstockung um 30 Millionen Euro pro Jahr auf zehn Jahre festgestellt:
Die bisherigen, derzeitigen und vorgesehenen Ausgaben für den ?Bevölkerungsschutz“ sind sachlich nicht begründet und ohne rechtliche Legitimation.
Dieses Zitat kann man als Haushälter unabhängig von der Parteizugehörigkeit nicht auf die leichte Schulter nehmen.
Ich weise daher darauf hin, dass wir in den Haushaltsberatungen einen Entschluss gefasst haben, der Ihnen auf der einen Seite die Mittel, die Sie, Herr Minister, in der Innenministerkonferenz ausgehandelt haben, für 2008 zur Verfügung stellt; auf der anderen Seite legt er eine hohe Messlatte an Ihr für 2008 vorgesehenes Bevölkerungsschutzgesetz an. Denn es gibt die klare Erwartungshaltung, dass mit diesem Gesetz die rechtliche Grundlage dafür geschaffen wird, um diese Mittel in den nächsten Jahren verfassungskonform im Haushalt zur Verfügung zu stellen.
Der entscheidende Punkt dabei ist, dass es zu einer zentralen Steuerung des Bundes kommen muss, um diese Mittel zu rechtfertigen. Denn nicht nur die Oderflut hat gezeigt, dass auch bei uns klimabedingte Umweltkatastrophen zunehmen und man sich in solchen Situationen im Interesse der Menschen in Deutschland kein Kompetenzgerangel unter 16 Bundesländern leisten kann. In ähnlichen Fällen muss einer sozusagen den Hut aufhaben und im nationalen Interesse entscheiden können. Diese zentrale Steuerungskompetenz haben die Länder dem Bund bisher verweigert. Das ist nicht im Interesse der Menschen, und es liegt uns Sozialdemokraten sehr am Herzen.
Wenn diese Länderblockade bliebe - was ich im Sinne der Menschen nicht hoffe -, dann dürfte der Bund nach Gesetzeslage und Haushaltsrecht diese Finanzspritze eigentlich nicht gewähren. Darum haben wir im Haushaltsausschuss einen Beschluss gefasst, der Ihnen in den Verhandlungen den Rücken stärken soll. Denn wir wünschen uns, dass Bund und Länder den Bevölkerungsschutz künftig als gemeinsame Aufgabe begreifen.
Gemeinsam heißt allerdings auch, dass sich die Länder daran messen lassen müssen, welche Anstrengungen sie selbst beim Bevölkerungsschutz unternehmen. Sie müssen auch Transparenz in die Bereitstellung der zur Verfügung gestellten Mittel bringen und sich etwas aktiver beteiligen als bisher. Denn es darf nicht passieren, dass die Länder die Finanzspritze des Bundes vor allem als willkommene Gelegenheit auffassen, eigene Finanzmittel zu sparen. Dann wäre für den Bevölkerungsschutz nichts gewonnen.
Die herausragende Rolle, die das THW in unseren Beratungen gespielt hat, hat mein Kollege Luther schon dargestellt. Dem kann ich mich nur anschließen. Ich bin froh, dass wir bei den 800 hauptamtlichen Mitarbeitern bleiben, um die 80 000 Ehrenamtlichen auch in Zukunft gut zu organisieren.
Ich bin auch froh, dass es parteiübergreifend gelungen ist, die Mittel für das Bündnis für Demokratie und Toleranz wie schon im Vorjahr zu erhöhen, und zwar um 43 Prozent auf 1 Million Euro. Ich erwarte jetzt allerdings, Herr Minister,
dass Sie diesem Votum des Parlaments Rechnung tragen und im nächsten Regierungsentwurf 2009 das Geld nicht wieder kürzen.
Das gilt im Übrigen auch für die Bundeszentrale für politische Bildung, deren Titel wir in diesen Haushaltsberatungen um 1 Million Euro stärken konnten. Je 500 000 Euro sind für die 340 Träger, die bildungspolitische Aufgaben in der gesamten Bundesrepublik wahrnehmen, und für die Zielgruppe der Kinder und Jugendlichen und darin speziell für diejenigen in bildungsfernen Schichten vorgesehen. Ich freue mich besonders, dass es gelingen wird, 2008 die bewährte Ecopolicyade bundesweit einzuführen, weil sie sich gerade in der Arbeit von Hauptschulen und anderen Schularten sehr bewährt hat.
Ich bin auch glücklich, dass es uns gelungen ist, den Zuschuss für das Abraham-Geiger-Kolleg auf 200 000 Euro aufzustocken, und vor allen Dingen, dass uns endlich der Kraftakt gelungen ist, diese wunderbare Einrichtung institutionell zu fördern. Das gibt dem Abraham-Geiger-Kolleg Planungssicherheit, und das ist ein wunderbares Zeichen in der heutigen Zeit.
Als Schleswig-Holsteinerin freue ich natürlich darüber, dass es gelungen ist - auch das in parteiübergreifendem Konsens -, die Mittel für den Bund der Nordschleswiger um 100 000 Euro zu verstärken und damit eine Kürzung rückgängig zu machen. Das war ein einstimmiges Votum des Haushaltsausschusses. Herr Minister, nehmen Sie diese Aufstockung im Haushaltsentwurf 2009 bitte nicht wieder zurück!
Abschließend möchte ich mich bei meinen vier Mitberichterstattern für die insgesamt sehr sachlichen Haushaltsberatungen bedanken.
In den Beratungen haben wir eine Fülle an Informationen gemeinsam verantwortungsvoll abgearbeitet. Naturgemäß konnten wir nicht immer einer Auffassung sein, aber das Ergebnis kann sich sehen lassen. Herr Minister, machen Sie das Beste daraus!
Alles Gute für den Haushalt!
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms:
Das Wort hat der Kollege Wolfgang Wieland von Bündnis 90/Die Grünen.
Wolfgang Wieland (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Lieber Kollege Bürsch, ich nehme das auf. ?Die Koalition ist am Ende“, sagen Sie. Die ist so am Ende, dass es Leichenschändung wäre, im Bereich der inneren Sicherheit noch auf sie einzuprügeln.
Das kann man in jeder Zeitung lesen. Kollege Gunkel macht zur Reform der Bundespolizei nur Trickserei und Täuscherei beim Innenminister aus.
Also, das Beschimpfen überlassen wir euch untereinander.
Ich halte mich an Kurt Tucholsky: ?Wo bleibt das Positive?“ und knüpfe zunächst einmal an das Positive an, das uns die Kollegin Hagedorn hier geschildert hat.
- ?Sehr gut“, sagen Sie. Eben. Es wird auch richtig gut.
Noch vor einem Jahr haben wir hier eine Debatte über Antiterrordatei und Terrorismusbekämpfungsergänzungsgesetz geführt. Das war eine Debatte sozusagen unter Fachleuten. Heute haben wir die Situation, dass Zehntausende auf die Straßen gehen, hier in Berlin, in Frankfurt am Main, in anderen Orten,
mit Transparenten ?Meine Daten gehören mir“ und insbesondere auch gegen Sie demonstrieren, Herr Kollege Wiefelspütz.
- Auch gegen Sie, Herr Kollege Wiefelspütz.
Die Parolen der 80er-Jahre von Orwell und vom Überwachungsstaat gehen um. Wir hatten sie beinahe vergessen. Der Stern titelt wieder: ?SOS - Freiheit in Deutschland“. Eine ganze Generation erklärt ihren Laptop per Aufkleber zur schäublefreien Zone. Deswegen, Kompliment, Herr Bundesinnenminister! Das haben Sie beinahe als Solist geschafft.
- Sie haben sich auch Mühe gegeben, aber Schäuble war noch besser, Herr Wiefelspütz. Glauben Sie es doch endlich!
Wir begrüßen diese Bürgerrechtsbewegung ganz außerordentlich. Sie hat so recht: Es ist die Gier nach Daten im Handy oder im Internet, auf biometrische Daten, die die Angst vor dem Überwachungsstaat virulent macht.
Es geht aber weiter. Der Bundesinnenminister will nicht nur überwachen. Er hat eine völlig andere Sicherheitsphilosophie und will eine völlig andere Sicherheitsarchitektur, als wir sie haben.
?Meister der asymmetrischen Wortkriegsführung“, so hat ihn nicht etwa die taz genannt; so hat ihn die Frankfurter Allgemeine Zeitung genannt. Was meint sie denn damit? Sie meint damit, dass dieser Innenminister mobilmacht gegen jede Trennung von äußerer Sicherheit und innerer Sicherheit, gegen die Trennung von Polizei und Militär, gegen den Unterschied zwischen Krieg und Frieden und gegen den Unterschied zwischen ziviler Rechtsordnung und Kriegsrecht
und folgerichtig bei der Frage der Liquidierung von Terrorverdächtigen landet.
Ich wiederhole hier, gerade weil es die CDU/CSU so aufgeregt hat: Einen solchen Müll: ?In den Metropolen herrscht Krieg“, ?Wir sind Kriegsgefangene“ habe ich in diesem Land das letzte Mal von Andreas Baader gehört. Das war aber ein Terrorist, der das aus seiner Gefängniszelle heraus sagte.
Hier redet der Verfassungsminister,
und der hat die Menschenwürde auch des terroristischen Straftäters zu garantieren, er hat ihn nicht zu liquidieren.
Wo kommen wir denn hin, wenn so etwas gesellschaftsfähig wird? Er hat doch keine Narrenfreiheit.
- Ich denke nicht daran. Ich habe ihn nicht gleichgesetzt, sondern gesagt: Solche Äußerungen und solche Töne haben wir in der Zwischenzeit nicht gehört.
Nicht umsonst empfiehlt er das Buch Selbstbehauptung des Rechtsstaates von Otto Depenheuer als seine Lieblingslektüre. Ich bin dieser Lektüreempfehlung gefolgt. Unentwegt wird Carl Schmitt, der Theoretiker des Ausnahmezustandes, zitiert, den viele aus guten Gründen für einen geistigen Wegbereiter des Nationalsozialismus gehalten haben.
- Das ist völlig unbestritten bei Carl Schmitt.
- Ich rede über eine Buchempfehlung, die er gegeben hat. Dies ist ein Buch, das ich mit Schaudern gelesen habe und das ich deswegen jedem empfehle, damit er weiß, welcher Geist dort inzwischen umgeht.
Es wird nicht nur Carl Schmitt, sondern auch Ernst Jünger zitiert:
Das tiefste Glück des Menschen besteht darin, dass er geopfert wird, und die höchste Befehlskunst darin, Ziele zu zeigen, die des Opfers würdig sind.
Das muss man sich einmal auf der Zunge zergehen lassen.
Nun sagt Depenheuer nicht, das sei ein für alle Mal richtig.
Er sagt vielmehr: Das war falsch und wurde zu verbrecherischen Zwecken eingesetzt. Aber heute gibt es ja das Bürgeropfer zu guten Zwecken, zur Terrorabwehr.
- Sie regen sich auf, weil ich darlege, welches Denken hier verbreitet wird.
Es ist das Denken nach dem Motto: Not kennt kein Gebot. Es ist das Denken, dass der Zweck jedes Mittel rechtfertigt.
Das hat mit unserer Verfassung nichts zu tun.
Dieser Autor hat eine richtige Kampfschrift gegen das Bundesverfassungsgericht geschrieben, dem er - man höre und staune - Verfassungsautismus vorwirft. Dies ist eine Kampfschrift des Konservatismus, die grauenhaft ist.
Entsprechend geht man inzwischen gegen unsere obersten Richter vor. Man lässt sie nicht nur in Büchern beschimpfen. Ein Beispiel ist der Vorsitzende Richter des 3. Strafsenats des BGH. Er hat gerade gestern die Entscheidung gefällt, wonach die nächtlichen Brandstifter der ?militanten gruppe“ als Mitglieder einer kriminellen Vereinigung und nicht als Mitglieder einer terroristischen Vereinigung verfolgt werden müssen. Er hat die Unterscheidung, die der Gesetzgeber gemacht hat, nachvollzogen, verstanden und in einen Beschluss gefasst. Dieser Richter hat sich bei Ihnen offenbar sehr unbeliebt gemacht. Der Spiegel schreibt, dass dieser Richter nach Ansicht der Union zu wenig konziliant sei und deswegen nicht als Präsident des BGH infrage komme. Dazu sage ich: Wenn Sie hier in Richtung amerikanische Verhältnisse gehen,
wenn Sie Richter für Entscheidungen, die sie gefällt haben, karrieremäßig bestrafen wollen, dann versündigen Sie sich an der Unabhängigkeit unserer Justiz. Darüber sollten Sie einmal nachdenken.
Gleichzeitig geht diese Bundesregierung, insbesondere dieser Innenminister - die SPD hält teilweise dagegen -, den Weg der Zentralisierung. Es gibt das BKA-Gesetz. Das BKA soll tatsächlich zu einem deutschen FBI mit vollen geheimdienstlichen Kompetenzen ausgebaut werden. Darin ist alles enthalten, was schön teuer und schrecklich ist: IMSI-Catcher, Rasterfahndung, Schleierfahndung, verdeckte Ermittler, V-Leute. Es fehlt wirklich nichts aus dem Warenhauskatalog.
Man streitet sich offenbar - zu Recht - nur noch um die Onlinedurchsuchung. Aber auch was sonst noch darin steht, muss beachtet werden. Vor allem muss doch gesehen werden, dass die Länder völlig außen vor bleiben.
Sie dürfen nur noch Hilfsdienste und Amtshilfe leisten.
Durch die Vorverlegung in den präventiven Bereich bleibt die Generalbundesanwaltschaft außen vor; sie muss noch nicht einmal mehr informiert werden, wenn ermittelt wird.
Das alles steht in diesem Gesetz. Es führt unsere Architektur, in der Polizei im Grundsatz Ländersache ist, ad absurdum, gerade in diesem Bereich, und das vor dem Hintergrund, dass die Erfolge, zum Beispiel die Festnahme im Sauerland, auf ein konzertiertes Nebeneinander
von Bund und Ländern zurückzuführen waren. Das sehen Sie nicht. Sie tun so, als ob alles vom grünen Tisch in Wiesbaden aus zu regeln und zu lösen wäre. Das ist ein Irrweg.
- Jetzt regt ihr euch auf.
Das gilt natürlich auch für die Bundespolizei. Die Polizisten, die in Frankfurt (Oder) demonstriert haben, haben doch nicht nur demonstriert, weil sie gerne dort wohnen bleiben möchten, aus eigensüchtigen Interessen, wie Sie hier unterstellt haben. Sie haben auch demonstriert, weil sie zum Ausdruck bringen wollten, dass das Doppelsignal - die Grenze fällt, was natürlich begrüßt wird und gewollt ist, und die Polizei geht - sinnlos ist. Das ist ein kriminalgeografischer Raum. Da muss man erst einmal sehen, ob und wie sich Kriminalität dort entwickelt. Das gehört doch zum kleinen Einmaleins.
Ich verstehe nicht, dass ausgerechnet ein Grüner das sagen muss. Aber er muss es offenbar sagen.
Erfolgreiche Kriminalitätsbekämpfung erfolgt vor Ort, in dezentralen Einheiten und nicht in gigantischen Apparaten, die diesem Innenminister vorschweben und die er Schritt für Schritt umsetzt. Auch dazu hätte ich gerne etwas von Ihnen gehört, Herr Dr. Luther; aber da kam wenig.
- Das ist alles zum Haushalt. Dafür werden die Gelder bereitgestellt. Genau dafür haben wir diesen Aufwuchs im Haushalt.
An anderer Stelle ist der Aufwuchs zu gering. Auch dazu will ich Ihnen etwas sagen. Ein Plus von 14 Millionen Euro ist bei dem Lieblingsthema Ihres Nachbarn zu verzeichnen, nämlich bei den Integrationskursen. Man könnte natürlich sagen: Tolle Sache, 14 Millionen mehr! - Die Mittel wurden aber zunächst zwei Jahre lang um 67 Millionen Euro gekürzt.
Das ist nicht ausgeglichen worden. Bei diesen Kursen besteht nach wie vor ein Mangel. Noch nicht einmal die Hälfte der Teilnehmer durchläuft die Kurse erfolgreich. Nur 45 Prozent bekommen am Ende das Zertifikat. Das wollten wir verbessern.
Dazu braucht man mehr Geld; das ist völlig klar. Es langt nicht, Integrationsgipfel zu veranstalten und Showveranstaltungen für die Kameras zu machen, sondern man muss wirklich etwas für die Integration tun.
Das hat die Umsetzung der Novelle des Zuwanderungsgesetzes nicht erreicht. Das haben wir hier gehört. Es ist beeindruckend, dass der Kollege Edathy gesagt hat, er stimme einem Gesetz zu in der Hoffnung, dass Karlsruhe eine wesentliche Entscheidung kippt, nämlich dass die Ehepartner im Heimatland Deutsch lernen müssen. Das ist eine besondere Dialektik.
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms:
Herr Kollege Wieland - -
Wolfgang Wieland (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Ja, ich komme zum Ende, Herr Präsident.
- Ja, das tut Ihnen weh, wenn jemand Ihre Politik einmal richtig charakterisiert.
Dieser Haushalt gießt die falsche Politik der Zentralisierung und des Überwachungsstaats in Zahlen. Wir lehnen ihn vollständig ab.
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms:
Das Wort hat jetzt der Bundesminister Wolfgang Schäuble.
Dr. Wolfgang Schäuble, Bundesminister des Innern:
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Herr Kollege Wieland, da Sie meine Literaturempfehlungen so aufmerksam aufgreifen, gebe ich Ihnen gleich wieder eine.
Der Schriftsteller Daniel Kehlmann hat das wunderbare Buch Die Vermessung der Welt geschrieben. Dafür hat er den Welt-Literaturpreis bekommen. Bei der Preisverleihung hat er, wie es sich gehört, eine Dankesrede gehalten. In dieser hat er über das Verhältnis von Fakt und Fiktion gesprochen. Ihre Rede hat mich gerade sehr daran erinnert.
Erlauben Sie mir, ein kurzes Zitat aus seiner Rede. Daniel Kehlmann sagte:
Und dann druckt in einer renommierten Monatsschrift für Kultur jemand einen gediegenen Artikel über deutsches Bildungsgut ab und beschreibt ganz nebenher, wie Daniel Kehlmann in Wiesbaden einen Vortrag gehalten habe, angetan mit Anzug, Weste und wohlgebundener Fliege und brüsk alle berechtigten Fragen des Publikums nach dem Verhältnis von Fakten und Fiktionen in seinem Werk von sich gewiesen habe. Was für ein unangenehmer Mensch, denkt man, und dann erst fällt einem auf, dass man es ja selbst ist, und erinnert sich: Ja, man war allerdings in Wiesbaden, aber man hielt einen Vortrag über eben dies Verhältnis von Fakt und Fiktion, zu dem man laut Bericht die Auskunft verweigert habe, man hatte Jeans an, man besitzt keine Weste und hat schon deshalb noch nie eine Fliege getragen, weil man sie gar nicht zu binden wüsste; und es wird einem klar, dass jener Schreiber vielleicht gar nicht lügen wollte,
- sehen Sie, so milde bin ich zu Ihnen -
sondern statt den Dingen, wie sie nun mal sind in der Welt …, das Zerrbild einer Reputation gesehen hat.
Daran haben Sie mich eben erinnert.
Anknüpfend an das, was der Kollege Stadler zu Beginn ausgeführt hat, will ich sagen: Es ist wahr, die Sicherheit in unserem Lande ist gut. Mit diesem Haushalt wird haushalterisch dafür Vorgesorge geleistet, dass das auch im kommenden Jahr so sein wird. Ich bedanke mich beim Haushaltsausschuss, insbesondere bei den Berichterstattern, für eine intensive Arbeit. Da das Ganze vielfältig, zum Teil auch unterschiedlich, debattiert worden ist, will ich die folgende Bemerkung machen: Dass die Sicherheit in unserem Lande so gut ist, hat vor allen Dingen mit der bewährten Sicherheitsarchitektur unseres Grundgesetzes zu tun,
wonach die Länder die vorrangige Zuständigkeit haben und der Bund eine ergänzende. Wir machen das miteinander.
Es ist merkwürdig: Auf der einen Seite wird kritisiert und gesagt, wir würden überhaupt nichts hinbekommen, und auf der anderen Seite wird gesagt, wir würden viel zu viel machen. Die Wahrheit liegt wahrscheinlich wie immer in der Mitte.
Wir haben in den vergangenen zwei Jahren gerade im Zusammenwirken von Bund und Ländern eine Menge schwierigster Punkte, die jahrelang nicht lösbar erschienen, vorangebracht. Das spiegelt sich im Haushalt wider. Dass wir bei der Einführung des Digitalfunks für die Behörden bezüglich der öffentlichen Sicherheit endlich vorankommen, ist ein Erfolg im Zusammenwirken von Bund und Ländern. Das Ganze war zwar schwierig, aber es ist gelungen.
Dass wir die Antiterrordatei haben, ist ein Erfolg. Dass wir das Gemeinsame Antiterrorzentrum haben, ist ein Erfolg der gemeinsamen Arbeit der Sicherheitsbehörden von Bund und Ländern. Wir werden auf diesem Weg weiter voranschreiten.
Die meisten Menschen in unserem Land und in der Welt haben uns nicht zugetraut, mit den unglaublichen Herausforderungen, die sich uns im vergangenen Jahr im Zusammenhang mit der Ausrichtung der Fußballweltmeisterschaft gestellt haben - denken Sie an das Public Viewing -, fertig zu werden.
Wir haben das hervorragend gemacht. Dass das ein Sommermärchen geworden ist, hat nicht zuletzt damit zu tun. Ohne das Zusammenwirken von Bund und Ländern im Rahmen der föderalen Struktur wäre das nicht möglich gewesen.
- Wenn Sie den großen Beitrag, den die Soldatinnen und Soldaten der Bundeswehr in diesem Verbund geleistet haben, richtig würdigen, gehen Sie mit ihnen fair um.
- Darum geht es doch gar nicht. Ich rede von dem Sicherheitsverbund.
Ich möchte gerne dafür werben, dass wir im Zusammenwirken von Ländern und Bund beim Bevölkerungs- und Katastrophenschutz genau diese guten Erfahrungen beherzigen. Der Bund ist nicht der Befehlsgeber der Länder. Das würde schiefgehen; das entspricht nicht der Architektur des Grundgesetzes. Der Bund hat eine ergänzende Funktion. Diese Aufgabe nehmen wir mit den Mitteln wahr, die wir für den Bevölkerungsschutz zur Verfügung stellen. Wir haben mit den Ländern darüber gesprochen, dass der Bund im Rahmen des Katastrophenschutzes neue Schwerpunkte wahrnehmen muss. Es gibt eine gemeinsame Verantwortung von Bund und Ländern. Ich bedanke mich sehr, dass Sie auch unter den schwierigen Voraussetzungen - der Rechnungshofbericht wurde erwähnt - in diesem Haushalt die Voraussetzungen dafür geschaffen haben.
Nächste Woche tagt die Innenministerkonferenz. Wir werden in der gemeinsamen Verhandlung alles daransetzen, zu einem Zusammenwirken zu kommen, aber in dem Verständnis - dafür werbe ich in diesem Hohen Haus -, dass gemäß der richtigen Grundentscheidung unseres Grundgesetzes die prioritäre Zuständigkeit bei den Ländern ist und verbleibt und dass es so auch richtig ist. Von diesem Verständnis aus erreichen wir die großen Erfolge für die Sicherheit in unserem Lande.
Zweite Bemerkung, die ich in diesem Zusammenhang dann auch machen möchte: Natürlich müssen wir versuchen, mit den vorhandenen, immer begrenzten Mitteln - natürlich sind sie begrenzt - möglichst viel zu erreichen und durch entsprechende Anpassungen, die den Menschen Veränderungen zumuten, auf neue Aufgaben die richtigen Antworten zu finden.
Ich finde es großartig - das sollte man mit positivem Unterton sagen -, dass wir am Ende des Jahres 2007 in einem Deutschland mitten in Europa leben, in dem wir mit all unseren Nachbarn solch gute Verhältnisse haben, dass wir an den Grenzen unseres Landes keine stationären Grenzkontrollen mehr durchführen müssen. Das ist ein großartiger Erfolg.
Ich bin in einer Grenzregion - sie liegt an der deutsch-französischen Grenze - zu Hause. Wir waren lange Zeit benachteiligt. Das wissen die Jüngeren heute gar nicht mehr; Kollege Göbel, wir wissen, wovon wir reden. Ich weiß noch, dass Grenzregionen wegen ihrer Randlage generell benachteiligt waren.
Wenn Grenzen nicht mehr trennen, dann bekommen die Grenzregionen ganz neue Chancen. Das wird jetzt für die Bundesländer Mecklenburg-Vorpommern, Brandenburg, Sachsen und auch Bayern der Fall sein.
Im Übrigen ist es so: Die Art von Kriminalität, die uns heute bedroht und die weitgehend grenzüberschreitend ist, wird durch die Grenzkontrollen, die wir heute haben - Kollege Michael Luther hat es sehr richtig gesagt -, überhaupt nicht behindert. Deswegen brauchen wir neue Formen polizeilicher Zusammenarbeit in Europa über die Grenzen hinweg. Da haben wir große Fortschritte erzielt. Wir sind auf dem richtigen Weg. Die Menschen in der Nachbarschaft zu Polen und Tschechien können darauf vertrauen, dass die Erweiterung des Schengen-Raums nicht weniger Sicherheit, sondern mehr Freiheit und mehr Sicherheit zugleich bedeuten wird. Deswegen freuen wir uns darauf, dass wir diesen Schritt am Ende des Jahres in Europa gehen.
Wir haben eine hervorragende Zusammenarbeit mit den Polizeien der neuen Schengen-Vertragsstaaten, insbesondere mit Polen und Tschechien. Dafür will ich mich hier bedanken. Wir werden ab dem 17. Dezember dieses Jahres, also schon vor dem Wegfall der Grenzkontrollen, die gemeinsamen Zentren der polnischen, tschechischen und deutschen Polizei mit den jeweiligen Landespolizeien aus den vier Grenzländern in Betrieb nehmen, und zwar im 24-Stunden-Betrieb, sieben Tage in der Woche. Wir werden den Grenzraum gemeinsam intensiver bestreifen: polnische, tschechische, bayerische, sächsische, brandenburgische, mecklenburgische und Bundespolizei gemeinsam. Wir werden weniger Präsenz der Polizei an den Kontrollhäuschen, aber mehr Präsenz in der Region haben. Deswegen ist es ein Mehr an Sicherheit.
Dazu ist es notwendig - Frau Hagedorn hat es richtig gesagt -, dass wir die Bundespolizei umorganisieren. Das ist keine reine Freude für die Bundespolizei und für die Mitarbeiter. Deswegen haben wir gesagt: Wir machen es so, dass wir uns auf die neuen Aufgabenschwerpunkte konzentrieren. Wir machen es für das Personal so schonend wie möglich. Das Konzept wird in drei Jahren umgesetzt. Es ist , wie im Bundespolizeigesetz vorgesehen, mit allen Landesregierungen abgestimmt. Es macht die Ost-West-Verlagerung so erträglich wie möglich. Es führt übrigens dazu, dass wir bei der gegebenen Stärke der Bundespolizei rund 1 000 Polizeibeamte mehr aus den Städten heraus in den Vollzug bringen. Das ist ein Effizienzgewinn. Es stärkt die Leistungsfähigkeit der Bundespolizei und dient der inneren Sicherheit unseres Landes.
Ich will trotz der gebotenen Kürze dieser Aussprache eine weitere Bemerkung machen. Es ist interessant: Vor einem Jahr war das große Thema, dass die Mittel für die Integrationskurse angeblich nicht ausreichen. Wir haben sie aufgestockt. Sie haben aber auch im vergangenen Jahr ausgereicht. Wir sind in dieser Regierung insgesamt auf einem guten Weg. Wir haben es am Beginn der Legislaturperiode gemeinsam zu einem Schwerpunkt unserer Politik gemacht, vorhandene Defizite in der Integration von Menschen mit Migrationshintergrund abzuarbeiten und zu bekämpfen. Wir kommen auf diesem Weg voran und stellen für den Haushalt 2008 die entsprechenden Mittel zur Verfügung.
Es ist bereits gesagt worden - darauf werden die Kollegin Freitag und andere noch zu sprechen kommen -, dass wir im Haushalt die Mittel für die Sportförderung und für die Dopingbekämpfung erhöht haben; auch dafür bedanke ich mich. Ich füge hinzu: Wir haben die große Sorge, dass das ungeheuer Attraktive, das der Sport in all seinen Erscheinungsformen für unser Land, für die Bevölkerung und für die Gesellschaft bedeutet, durch Übermaß bzw. Übertreibung zerstört wird. Auch die Auswirkungen der überzogenen Professionalisierung bis hin zum Missbrauch bei den Sportwetten, den es zu bekämpfen gilt - vom Doping ganz zu schweigen -, bereiten uns große Sorgen.
Wir müssen deshalb am richtigen Verständnis von Subsidiarität festhalten. Wir müssen die Eigenverantwortung der Sportorganisationen einfordern und stärken und vonseiten des Staates, der Politik und des Gesetzgebers, subsidiäre Unterstützung leisten. Wir dürfen aber nicht glauben, dass dann, wenn wir die Freiheit der Sportorganisationen durch staatliche Reglementierung ersetzen würden, irgendetwas besser würde. Dadurch würde die Situation nur schlechter.
Meine letzte Bemerkung. Auch wenn Deutschland ein sicheres Land ist, haben sich die Bedrohungen unserer Sicherheit verändert. Die Welt verändert sich fort und fort, und die technologischen Entwicklungen schreiten immer weiter voran. Das ist in jeder fachlich einigermaßen ernsthaft geführten Diskussion Konsens.
Herr Kollege Stadler hat richtig beschrieben, was im Zusammenhang mit der Entwicklung neuer Kommunikationstechnologien in der vergangenen Legislaturperiode geschehen ist. Nun nachdem der Bundesgerichtshof entschieden hat, müssen wir regeln, wie die Sicherheitsbehörden auf technologische Entwicklungen reagieren.
Als das Auto noch nicht erfunden war, brauchte die Polizei keine Kraftfahrzeuge; das ist wahr. Als das Auto aber erfunden war, brauchte die Polizei Kraftfahrzeuge. Wenn Kommunikation nicht mehr nur über das Telefon erfolgt, sondern in anderer Weise, dann müssen die Sicherheitsbehörden die Möglichkeit haben, unter Beachtung der gleichen engen Voraussetzungen - eine klare rechtliche Grundlage, die Entscheidung einer unabhängigen Stelle bzw. eines Richters im Einzelfall und dergleichen mehr - mit der technischen Ausstattung derjenigen, die unsere Sicherheit bedrohen, Schritt zu halten. Der Staat ist ein Rechtsstaat nur so lange, wie er in der Lage ist, das Recht durchzusetzen. Die Gesetzlosigkeit sichert nicht Freiheit und Grundrechte.
Das ist kein Widerspruch, sondern ein notwendiger Schritt. Hier haben wir eine Verantwortung.
Wir haben gesagt: Dafür schaffen wir eine rechtliche Grundlage. - Deswegen: Kritisieren Sie nicht zu schnell diejenigen, die versuchen, für das, was als Folge der technischen Entwicklungen notwendig ist, eine rechtliche Grundlage zu schaffen. Mein Verständnis vom Verfassungsstaat ist - hier lasse ich mich von niemandem beirren -, dass wir nur im Rahmen der Verfassung, auf der Grundlage klarer rechtlicher Regelungen, begrenzt auf Ausnahmefälle, mit Transparenz und unter Berücksichtigung datenschutzrechtlicher Vorschriften, den Sicherheitsbehörden die rechtlichen Instrumente an die Hand geben dürfen, die sie brauchen, um nicht in Grauzonen handeln zu müssen.
Bei allem Respekt: Ich halte nichts, aber auch gar nichts davon, dass uns Mitglieder des Bundesverfassungsgerichts raten, wir sollten uns im Zweifel nicht an die Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts halten. Das entspricht nicht meinem Verständnis. Ich möchte, dass wir im Rahmen von Verfassung und Gesetz, und zwar nur im Rahmen von Verfassung und Gesetz, handeln. Hier müssen der Gesetzgeber und die politisch Verantwortlichen ihre Verantwortung übernehmen. Wir dürfen nicht einfach nur hoffen, dass sich im Zweifel irgendjemand bei der Polizei oder bei der Bundeswehr nicht an Verfassung und Gesetz hält. Das ist nicht unser Verständnis.
Wir dienen dem Rechtsstaat mehr, wenn wir offen, transparent und sachlich über die Frage diskutieren: Unter welchen Voraussetzungen muss wer in welcher Lage eine Entscheidung treffen, um Schaden von unserem Land zu wenden? Darum geht es - um nicht mehr und nicht weniger.
Herzlichen Dank.
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms:
Das Wort hat der Kollege Hartfrid Wolff von der FDP-Fraktion.
Hartfrid Wolff (Rems-Murr) (FDP):
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Kritik an der Bundesregierung ist nötig. Ich glaube aber, dass Sie, Herr Kollege Wieland, sich eben vergaloppiert haben.
Die Stichpunkte, die Sie genannt haben, und die Vergleiche, die Sie gezogen haben, waren nicht erforderlich,
um die existierenden Widersprüche in der Regierungspolitik deutlich zu machen.
Herr Innenminister Schäuble, Sie sagten gerade, dass Sie sich an das Gesetz - vor allem an das Grundgesetz - halten möchten. Interessant ist dabei, dass einige Personen - nicht nur Verfassungsrechtler - erhebliche Schwierigkeiten bei den Initiativen sehen, die Sie bisher vorgelegt haben. Die Vorratsdatenspeicherung harrt noch der Überprüfung. Ich habe aber große Zweifel, ob Sie an dieser Stelle Ihrem eigenen Ziel gerecht werden können.
Die Widersprüche sind deutlich. Einerseits haben Sie neue Forderungen wie die Onlinedurchsuchung - übrigens gibt es auch da verfassungsrechtliche Bedenken -, die Videoüberwachung und Abhörmaßnahmen. Andererseits wird die Einsatzfähigkeit und Motivation der Polizei durch Umstrukturierungen, Personalabbau sowie schlechte Bezahlung und Versorgung auf breiter Ebene konsequent reduziert.
Die Furcht vor Terroranschlägen wird von Bundesminister Schäuble mit seiner Panikmache verstärkt. Das Ziel ist, die Öffentlichkeit für Verschärfungen der Sicherheitsgesetze geneigt zu machen, die eigentlich nicht notwendig sind. Das fördert eine Angststimmung und schadet einer freiheitlichen Gesellschaft.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, organisatorischer Aktionismus hilft nicht. Ein besonders unerfreuliches Kapitel ist dabei tatsächlich die Bundespolizeireform. Ohne Beteiligung der Betroffenen wurden vollendete Tatsachen geschaffen. Leider wird das vorgegebene Ziel, den operativen Bereich der Bundespolizei zu stärken, nicht erreicht werden, indem die Zahl der Inspektionen und Verantwortlichen vor Ort nahezu halbiert wurde. - Herr Körper nickt zu Recht. - Stattdessen wird in Potsdam ein gigantischer Wasserkopf geschaffen. Die Kosten der Reform in Höhe von mehr als 100 Millionen Euro, die die Bundesregierung auf Anfrage der FDP schon zugegeben hat, sind kein Pappenstiel. Insofern danke ich Ihnen, Frau Hagedorn, für Ihren Hinweis.
Ich frage Sie, Herr Schäuble: Warum legen Sie schon seit Jahren keinen Bericht zur Bundespolizei mehr vor? Wo ist zum Beispiel Ihre Definition der Leitlinien über die Ziele der Bundespolizei nach der Schengen-Erweiterung? Brauchen wir wirklich mehr hochdotierte Posten in der neuen Zentrale? Sie schaffen mit dem neuen Bundespolizeipräsidium in Potsdam Parallelstrukturen. Das BKA und die Bundespolizei müssen zusammenarbeiten, statt sich gegenseitig Konkurrenz zu machen.
Bei der Bekämpfung der organisierten Kriminalität fehlt die Abstimmung. Der Zoll hat leider - ich sage ganz bewusst ?leider“ - keine Erkenntnisse darüber, ob sich die organisierte Kriminalität zum Beispiel über den Zigarettenschmuggel ausweitet. Andererseits fordert das Innenministerium immer neue Gesetze zur Bekämpfung derselben. Das ist unabgestimmt, chaotisch, und, Herr Minister, Ihre Sicherheitsarchitektur gleicht einer Bruchbude.
Auch an vielen anderen Baustellen im Innenressort fehlt der Architekt. Beim Waffenrecht wusste das Ministerium nicht, was es tut. 2006 forderten Sie die Entwicklung des Instruments der Onlinedurchsuchung und haben im Haushaltsausschuss extra Mittel dafür beantragt, obwohl Ihre Geheimdienste dieses bereits seit 2005 rechtswidrig angewandt haben.
Meine Damen und Herren, die innere Sicherheit Deutschlands benötigt keine panischen Gesetzgebungsattacken, sondern eine ruhige, entschlossene und überlegte politische Führung.
Für die FDP gilt: Sicherheit ist nicht gegen, sondern nur in Zusammenarbeit mit den Bürgern zu erreichen.
Vielen Dank.
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms:
Das Wort hat jetzt der Kollege Michael Hartmann von der SPD-Fraktion.
Michael Hartmann (Wackernheim) (SPD):
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Sehr geehrter Herr Minister, ich bin Ihnen sehr dankbar für die maßvolle und abgewogene Rede, die Sie gehalten haben.
Sie zeugt davon, dass manches Gespräch, das wir in den letzten Wochen in vielleicht etwas härterem Ton führen mussten, doch etwas genutzt hat. Vielen Dank, so können wir gut weitermachen, Herr Minister Schäuble.
Wir haben in dieser Wahlperiode allen Unkenrufen zum Trotz allein im Bereich der inneren Sicherheit bereits 13 Gesetze verabschiedet. Es handelte sich um Gesetze, die nicht skandalträchtig waren, die uns aber in der Tat weitergebracht haben.
Lieber Herr Wolff, ich kann Ihnen das nicht ersparen: Es ist schon eine pikante und unangenehme Situation für einen Abgeordneten der FDP, wenn er hier zur inneren Sicherheit spricht. Denn es gibt ja ein Landesgesetz aus Nordrhein-Westfalen, das sich auf den Verfassungsschutz bezieht, mit dem Tür und Tor geöffnet werden, ohne dass bürgerliche Freiheitsrechte respektiert werden. Dieses Gesetz ist unter der Federführung eines FDP-Ministers entstanden. Gehen Sie da in sich! Wir machen gründlichere und gute Gesetze.
Warten Sie es ab: Das NRW-Gesetz wird in Karlsruhe tragisch scheitern.
Die Gesetzgebung im Bereich der inneren Sicherheit ist auch deshalb eine gute, lieber Herr Kollege Wieland, weil wir hier in einer Kontinuität stehen. Ich möchte jetzt gar nicht darauf hinweisen, dass das Luftsicherheitsgesetz, das vor dem Bundesverfassungsgericht gescheitert ist, auch mit den Stimmen der Grünen verabschiedet wurde.
Tun Sie also nicht so, als seien Sie bei all diesen Dingen nicht dabei gewesen, als hätten Sie schon immer Alarm gerufen, wenn vermeintlich Bürgerrechte angegriffen sind!
Vor diesem Hintergrund sage ich Ihnen: Wir sind derzeit dabei - ganz in der Tradition von Rot-Grün und aufbauend auf dem, was an guter und solider Politik von Otto Schily und seinem Staatssekretär Fritz Rudolf Körper und vielen anderen vorbereitet wurde -,
beispielsweise über eine Visawarndatei zu verhandeln. Die wird es geben; wir werden da gut vorankommen. Wir werden die innere Sicherheit dadurch stärken. Wir werden außerdem den elektronischen Personalausweis auf den Weg bringen - auch einst ein rot-grünes Projekt -, und zwar nicht nur unter dem Aspekt der Sicherheit, sondern auch der Bürgerfreundlichkeit und der Serviceorientierung. Auch da sind wir in den Verhandlungen auf einem guten Weg. Das ist gute, solide Politik, und so werden wir weitermachen, lieber Herr Kollege Wieland.
Wenn wir über die große Herausforderung des Terrorismus reden, die begründetermaßen im Vordergrund von innenpolitischen Debatten steht, wird immer wieder zu Recht das Argument wiederholt: Die Bedrohungen sind asymmetrisch geworden, Staaten sind implodiert, die Situation ist nicht mehr wie einst, und wir müssen uns darauf einstellen. - Sehr richtig: Innen und außen haben nicht mehr die gleiche Bedeutung wie einst. Dennoch ist die Bedrohung durch den internationalen Terrorismus eine Bedrohung durch Verbrecher, und Verbrechern legt man das Handwerk mit den Mitteln der Polizei.
Deshalb sagen wir Nein zu einer Militarisierung der Polizei und zu einer Verpolizeilichung des Militärs.
Übrigens macht innere Sicherheit im subjektiven Sicherheitsgefühl der Menschen und in der objektiven Sicherheitslage mehr aus als nur den Kampf gegen den Terror. Denken Sie an die großen, dramatischen und tragischen Herausforderungen durch die organisierte Kriminalität, ob das nun das ekelhafte Feld der Kinderpornografie ist, ob wir über Datenklau in Firmen - eine Bedrohung für die Wirtschaft - oder Datenklau bei Privatpersonen - eine Bedrohung für jeden, der eine Scheckkarte besitzt - reden oder ob wir - Sie erinnern sich - an die schrecklichen Mafiamorde denken. Wir haben hier ein großes Feld, dessen wir uns annehmen müssen. Ich würde mir wünschen, dass wir nicht nach vorne gegen al-Qaida kämpfen, während im Rücken die organisierte Kriminalität tobt. Wir müssen in Zukunft genauso viel Energie auf diesen Bereich verwenden.
Auch bei diesen Tat- und Deliktfeldern ist das Internet - Herr Minister, auch darin stimmen wir weitgehend überein - ein wichtiges Medium zur Vorbereitung und Durchführung der Taten. Doch gleichzeitig geben wir als Privatpersonen leichtfertig oder unvorsichtig eine Menge von Daten im Internet preis: Bei jedem Kauf eröffnen wir der gewerblichen Wirtschaft unsere privatesten Neigungen und Interessen, oder wir legen unsere Finanzströme dar und vieles andere mehr. Ich bin deshalb der Meinung, dass wir auch bei dem, was da geschieht und was wir alle leichtfertig zulassen - eine Entwicklung, die nicht aufhaltbar sein wird und auch ihr Positives hat -, viel mehr aufpassen müssen. Deshalb wollen wir uns als SPD gemeinsam mit unserem Koalitionspartner der Frage annehmen, ob wir einen Raum der Freiheit und der Sicherheit im Internet nicht genauso brauchen wie anderswo. Das scheint mir dringend geboten und ein Projekt zu sein, das wir gemeinsam vielleicht noch in dieser Wahlperiode stemmen können. Wenn der Staat nur ein Achtel so viel Daten erfassen würde, wie wir leichtfertig im Internet preisgeben, gäbe es Demonstrationen durchs Brandenburger Tor. Deshalb müssen wir im Umgang mit der gewerblichen Wirtschaft viel stärker auf den Datenschutz achten.
Bei aller Unterschiedlichkeit und bei allem - übrigens notwendigen - Ringen um den richtigen Standpunkt in der inneren Sicherheit bleibt eines klar: Kernaufgabe des Staates, des neuzeitlichen Verfassungsstaates, ist die Stiftung und Gewährleistung des innergesellschaftlichen Friedens in Freiheit. Diesem Ziel sind wir gemeinsam verpflichtet. Deshalb wird es immer gute Ergebnisse geben, auch wenn dafür manchmal länger diskutiert werden muss.
Vielen Dank.
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms:
Zu einer Kurzintervention erteile ich dem Kollegen Detlef Parr das Wort.
Detlef Parr (FDP):
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Eingangs der Debatte hat der Kollege Luther etwas zur Finanzierung des Sports gesagt und die Unterstützung der Deutschen Sporthilfe mit 1 Million Euro noch einmal herausgestellt. Ein Grund dafür, dass dort 1 Million Euro an Steuermitteln hineinfließen sollen, ist, dass unter anderem die Einnahmen der Glücksspirale weggebrochen sind. Auch der Herr Minister hat über den Wettbereich geredet und die Missbräuche angesprochen.
Ich möchte bei dieser Gelegenheit noch einmal betonen, dass Deutschland im Moment im Jackpot-Fieber ist und wir vor der Frage stehen, ob sich dieses Fieber noch häufiger wiederholen wird oder ob es das letzte Mal ist, dass es hierzu kommt. Wir als Politiker sind nämlich dabei, den Menschen den Spaß am Spiel zu nehmen.
Das Bundesverfassungsgericht hat in Sachen Sportwetten ein Urteil gesprochen und dabei die Suchtbekämpfung als Voraussetzung für die Beibehaltung des Glücksspielmonopols herausgearbeitet.
Werbeverbote, Verbote entsprechender Angebote im Internet und eine Begrenzung des Wettangebotes werden die Folge sein. Damit wird man bei der Finanzierung des Sports, der Kultur und anderer Gemeinwohlbelange in ganz große Probleme geraten.
- Ich weiß, dass Sie bei diesem Thema, das ich hier anspreche, sehr unruhig werden, weil es ganz unangenehm ist.
Wir wissen, dass der Staatsvertrag europarechtlich nicht haltbar ist.
Wenn Sie gestern das Spiel Werder Bremen gegen Real Madrid gesehen haben, dann konnten Sie feststellen, dass Real Madrid mit Trikots mit der Aufschrift ?bwin“ aufgelaufen ist. Dies ist bei uns verboten.
Ob wir mit dem Glückspielstaatsvertrag gut fahren, ist also die Frage.
Deswegen fordere ich Sie noch einmal auf bzw. bitte Sie, noch einmal darüber nachzudenken, dass der Bund hier in Verantwortung ist. Wir dürfen nicht abwarten, bis die Länder hier vor die Wand fahren, sondern wir müssen selber tätig werden.
Wir müssen den Sportwettenbereich aus dem Staatsvertrag herauslösen und dafür Sorge tragen, dass der Bund Konzessionsmodelle oder eine gewerberechtliche Lösung anbietet. Nur so werden wir die Sportförderung auf Dauer sichern können. Ansonsten werden wir alle die Verantwortung dafür tragen, dass die Sportförderung auf ganz schwache Füße gerät. Das wollte ich bei dieser Gelegenheit noch einmal anmerken.
Ich danke fürs Zuhören.
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms:
Herr Kollege Luther, wollen Sie erwidern? - Herr Bundesminister Schäuble, wollen Sie erwidern? - Nein, das ist nicht der Fall.
- Herr Hartmann, Sie waren nicht angesprochen. Herr Luther und Herr Bundesminister Schäuble waren angesprochen.
Jetzt hat die Kollegin Petra Pau von der Fraktion Die Linke das Wort.
Petra Pau (DIE LINKE):
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Kollege Körper, Ihrem Wunsch kann ich nicht entsprechen. Ich muss über den Inhalt der Kurzintervention noch einen Moment nachdenken. Dann können wir das klären.
Mein erstes Thema ist ein anderes, nämlich der Rechtsextremismus und der Kampf dagegen. Er ist nach wie vor ein gesellschaftliches Problem - in Ost und West. In einigen Regionen verfestigt er sich - und das im Osten und im Westen der Republik. Er ist eine permanente Gefahr, häufig auch für Leib und Leben, und er lässt sich nicht auf die Frage reduzieren, ob die NPD nun verboten werden soll oder nicht.
Die Zahlen bleiben alarmierend: Im bundesdeutschen Schnitt werden jede Stunde zweieinhalb rechtsextrem motivierte Straftaten registriert. Täglich werden im statistischen Schnitt zweieinhalb rechtsextrem motivierte Gewalttaten ausgewiesen. Mit den offiziellen Zahlen wird tiefgestapelt, auch deshalb, weil das Ausmaß rechtsextremer Gewalt noch immer verharmlost wird. Sachsen-Anhalt liefert dafür ein aktuelles Beispiel. Dadurch wird das Problem verschärft; denn wenn die Analyse nicht stimmt, dann kann auch die Lösung dagegen nicht stimmig sein. Deshalb fordert die Linke heute in einem Antrag eine unabhängige Beobachtungsstelle für Rechtsextremismus, Rassismus und Antisemitismus nach EU-Vorbild. Ich bitte alle Fraktionen, denen die Demokratie am Herzen liegt, diesem Antrag zuzustimmen.
Mein zweites Thema ist die Reform der Bundespolizei. Sie ist aus dem Bundesgrenzschutz hervorgegangen. Sie steht mit dem Beitritt weiterer Nachbarländer zur EU vor einer Sinnfrage. Diese wiederum soll mit einer großen Reform beantwortet werden. Das Bundesinnenministerium arbeitet eifrig daran - allerdings im Verborgenen -: Dienststellen werden aufgelöst und umorganisiert; neue Dienststellen werden geschaffen. Polizistinnen und Polizisten werden versetzt, ohne dass sie erfahren, warum und wozu. Die Gewerkschaften werden übergangen -
und nicht nur sie. Auch der Bundestag erhält bestenfalls spärliche Informationen, obwohl er als Gesetzgeber zuständig ist. Zugleich werden Tatsachen geschaffen.
Ich weiß, dass der Kollege Bürsch mir gleich antworten wird: Wir führen dazu am 14. Januar eine Anhörung durch. Eine Anhörung erst im Jahre 2008 - jetzt wird aber die Bundespolizei umstrukturiert; jetzt werden Fakten geschaffen.
Das halte ich für illegal und für eine grobe Missachtung der Beschäftigten der Bundespolizei, aber auch für eine grobe Missachtung des Bundestages.
Ich finde, diese Praxis darf keine Schule machen; denn sie dient mitnichten der Sicherheit. Im Gegenteil: Sie schafft Unsicherheit, und sie beschädigt die Demokratie.
Mein drittes Thema ist der Umgang mit der Verfassung, mit dem Grundgesetz. Der Bundesinnenminister wähnt sich dabei aus dem Schneider. Er hat im Frühsommer sinngemäß verkündet, dass das Grundgesetz mit seinen Bürger- und Grundrechten ein historisches Relikt und im Kampf gegen den Terrorismus oft ein Hemmnis ist. Das war, wie ich fand, ein starkes Stück. Für den Bürger Schäuble fällt eine solche Äußerung in die Kategorie Meinungsfreiheit, für den Verfassungsminister, der seinen Diensteid auf das Grundgesetz geschworen hat, allerdings nicht.
Ob Vorratsdatenspeicherung, ob Onlineuntersuchung, ob Abschuss entführter Passagierflugzeuge - ich halte das alles für verfassungswidrig.
Ich kann nur dringend an die SPD appellieren, den Begehren der Union nicht weiter nachzugeben. Sie sind seinerzeit schon Otto Schily zu weit gefolgt - übrigens gemeinsam mit den Grünen. Ich finde, wir sollten verbriefte Bürgerrechte gemeinsam besser schützen.
Lassen Sie mich zum Schluss noch zu einem anderen Thema kommen, nämlich der Integration. Es ist unstrittig, dass Menschen, die in der Bundesrepublik leben und mitwirken wollen, der deutschen Sprache mächtig sein müssen. Aber allein die Aufstockung der Mittel für Integrationskurse reicht hier nicht aus. Der Kollege Wieland hat den Taschenspielertrick gerade schon aufgedeckt.
Es ist auch unstrittig, dass Menschen, die hier leben, das Grundgesetz achten und sich daran halten sollen. Allerdings ist Integration eben keine Einbahnstraße - und übrigens auch nicht nur eine Frage des Innenressorts. Integration heißt auch Ermöglichung von Teilhabe: von sozialer und demokratischer Teilhabe. Deshalb finde ich es sehr bedauerlich, dass wir noch immer kein kommunales Wahlrecht für Nicht-EU-Bürgerinnen und -Bürger haben und dass Sie unserem Antrag nicht zugestimmt haben.
Danke.
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms:
Das Wort hat Herr Kollege Alois Karl von der CDU/CSU-Fraktion.
Alois Karl (CDU/CSU):
Sehr geehrter Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Sehr geehrter Herr Bundesinnenminister! Der Gesamthaushalt steigt um 4 Prozent, der Haushalt des Innenministers um 13 Prozent. Das ist für uns eine gute Nachricht. Auch wenn andere das anders sehen wollen - Ihr Beitrag hat das bewiesen, Herr Korte -: Diese Steigerung bedeutet auch ein Mehr an Sicherheit in unserem Lande. Das wollen wir. Dafür stehen wir.
Herr Stadler, Sie haben zu Recht angesprochen, dass Sicherheitspolitik mit der Ausübung von Freiheitsrechten kollidiert. Beides gehört aber zusammen. Die Menschen wollen frei in unserem Lande leben, und sie wollen sicher in unserem Lande leben. Der Haushalt bringt beides zum Ausdruck.
2007 war ein gutes Jahr. Wir haben keine großen Terroranschläge zu beklagen gehabt. Wir wissen, dass Sicherheit nicht wie ein Lichtschalter ein- oder auszuknipsen ist. Vielmehr liegt das daran, dass unsere Politik richtig war. So wissen wir, dass es der Einsatzbereitschaft vieler Sicherheitsbehörden zu verdanken ist, dass heuer Terroranschläge vermieden werden konnten. Hierfür bedanken wir uns herzlich.
Meine sehr geehrten Damen und Herren, wir wissen, dass die Bedrohung oft nicht gesehen wird. Wir wissen, dass eine latente, eine labile Sorglosigkeit herrscht, gerade weil Terroranschläge in den letzten Jahren bei uns Gott sei Dank vermieden worden sind. Deshalb müssen wir heute die richtigen Entscheidungen treffen, damit wir auch in Zukunft in unserem Land sicher leben können.
Wenn ich die Ausführungen der Kollegen der Opposition richtig verstanden habe, dann war die Quintessenz, dass die Bilanz nach zwei Jahren Große Koalition ernüchternd ist.
In der Tat ist die Bilanz ernüchternd für jene, die Deutschland als ein schwächelndes Land ausmachen wollten, ernüchternd für jene, die in Deutschland den Terrorismus mit seinen internationalen Verflechtungen festsetzen wollten. Für uns ist die Bilanz glänzend: Deutschland ist heute sicherer als vor zwei Jahren; das ist die gute Nachricht. Darüber freuen wir uns. Dafür danken wir Ihnen, sehr geehrter Herr Bundesinnenminister, sehr herzlich.
Das gemeinsame Terrorismusabwehrzentrum arbeitet perfekt. Die Antiterrordatei ist ins Werk gesetzt. Für den BOS-Digitalfunk werden 190 Millionen Euro zusätzlich vorgesehen. Allerdings gibt es noch kein neues BKA-Gesetz. Hier hat die Koalition noch Arbeit vor sich.
Sehr gut hat mir gefallen, was der Vorsitzende der SPD-Fraktion, Herr Struck,
gestern gesagt hat: Onlinedurchsuchungen dürfe es nur unter engen Voraussetzungen geben. Ebenso sagte er, die Freiheit des Einzelnen sei ein hohes Gut, das vom Staat geschützt werden müsse. Das unterstützen wir. Ich denke, dass wir auf diesem Weg gut vorankommen.
Meine sehr geehrten Damen und Herren, es ist schon eine Schande, wie im Rahmen dieser Diskussion der Bundesinnenminister in den letzten Wochen und Monaten attackiert wurde. Lieber Herr Kollege Wieland, Ihre heutige Rede war schlimm.
Es war völlig unerträglich, zu erleben, wie Sie Bundesinnenminister Schäuble rhetorisch in die Nähe von Andreas Baader gerückt haben.
Es war eine verworrene Argumentation, die Ihrer eigentlich nicht würdig ist, lieber Herr Kollege Wieland.
Sehr geehrter Herr Bundesinnenminister, auch wenn manche meinen, kübelweise Spott und Hohn über Sie ausschütten zu müssen, darf ich Ihnen für die Unionsfraktion versichern: Wir stehen in dieser Sache auf jeden Fall auf Ihrer Seite. Wir haben Sie als starken Innenminister kennengelernt und wissen, dass den neuen Herausforderungen in der Tat mit entsprechenden Mitteln begegnet werden muss.
Die Polizeipräsenz in der Nähe der Grenzen zu Polen und zur Tschechischen Republik wird nicht verringert, sondern verstärkt. Wir wissen, dass schon bislang vieles an den Schlagbäumen vorbei geschmuggelt wurde und viele ungebetene Gäste in unser Land gekommen sind. Die Bundespolizei wird ihre Aufgaben in Bayern und in anderen grenznahen Bundesländern sicherlich erfüllen.
Ein Wort zur Situierung der neuen Polizeidirektion in Bayern, worüber wir schon viel gesprochen haben, lieber Herr Bundesinnenminister: Die Bayern fordern gemeinschaftlich, die geplante Polizeidirektion nicht in München, sondern in der Nähe der tschechischen Grenze zu errichten. Ich bitte Sie, das in Ihre Erwägungen einzubeziehen; denn alle Bayern gemeinschaftlich können nicht irren, Herr Bundesinnenminister. Darüber sollten Sie noch einmal nachdenken.
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms:
Herr Kollege Karl, bitte kommen Sie zum Schluss.
Alois Karl (CDU/CSU):
Meine Redezeit wurde etwas gekürzt.
Ein letztes Wort. Der Bundesinnenminister ist ja auch Sportminister. Wir freuen uns über die Erhöhung der Ansätze für den Sport. Es wurde bislang nur kurz erwähnt, dass wir 2,8 Millionen Euro mehr für die Dopingbekämpfung ausgeben. Wir dürfen nicht vergessen: Das Geld, das wir ausgeben, ist uns anvertraut.
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms:
Herr Kollege Karl, Ihre Redezeit ist gekürzt worden, weil der Herr Bundesminister länger geredet hat. Das ist aber kein Grund, dass Sie sich jetzt die Zeit zurückholen. Das geht nicht.
Alois Karl (CDU/CSU):
Ich komme zum vorletzten Satz, lieber Herr Präsident.
Wir wollen mit jenen Sportlern, Betreuern und Funktionären nichts zu tun haben, deren oberstes Ziel offensichtlich die Befriedigung ihrer Gier ist. Wer dopt, ist ein Betrüger. Mit Betrügern wollen wir nichts zu tun haben.
Betrüger subventionieren wir nicht. Das können wir uns nicht leisten.
Ich danke Ihnen, sehr geehrter Herr Bundesinnenminister, für Ihr Engagement.
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms:
Herr Kollege Karl, es reicht jetzt wirklich. Bitte kommen Sie zum Schluss.
Alois Karl (CDU/CSU):
Herr Bundesinnenminister, ich hätte Sie noch mehr gelobt, wenn ich mehr Zeit gehabt hätte.
Vielen herzlichen Dank.
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms:
Das Wort hat der Kollege Michael Bürsch von der SPD-Fraktion.
Dr. Michael Bürsch (SPD):
Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Ich kehre an den Anfang zurück. Herr Kollege Stadler, diese Koalition ist handlungsfähig. Sie arbeitet nach dem Prinzip: Das Bessere ist der Feind des Guten. - Das ist etwas, worüber man manchmal streiten muss. Wie es der Zufall will, ist die SPD diejenige Partei und Fraktion, die überwiegend das Bessere vorschlägt
und sich am Ende auch in dieser Koalition gerne durchsetzt.
Das Beispiel, an dem ich das belegen will, ist die Integration. Zunächst einmal das Lob: Die Mittel werden um 15 Millionen Euro angehoben. Das kommt der Integration und den Kursen zugute.
Aber das ist noch nicht das Ende der Fahnenstange. Ich werde das beweisen. Es bleiben noch Dinge zu tun. Auch da gilt: Einiges können wir noch besser machen. Gut ist jedenfalls, dass wir an der Stelle die Kurse differenzieren, dass wir zum Beispiel an einigen Stellen statt 600 Stunden 900 Stunden anbieten können,
dass wir Kurse für Analphabeten anbieten und dass wir etwas mehr Gebühren für die Kurse zahlen.
Eines, was die SPD weiter fordern und wobei sie nicht zurückstecken wird, ist noch nicht ganz gelungen. Die Einführung der Migrationserstberatung ist durchaus ein Erfolg gewesen. Die wollen wir fördern. Die Gruppe der etwa 50 000 benachteiligten Jugendlichen ohne Hauptschulabschluss müssen wir auch etwas differenzierter betrachten. Man kann für diese Gruppe keine allgemeine Lösung finden. Da bedarf es der individuellen Betreuung.
Dazu erwähne ich zwei Beispiele aus Deutschland, die mir sehr imponiert haben.
In Köln gibt es mit der Initiative ?Coach e. V.“ des Pädagogen Mustafa Bayram eine Initiative zur Bildung und Integration junger Migranten. Dieser betreut ungefähr 200 Jugendliche, die es sehr schwer haben, ohne eine entsprechende Ausbildung einen Ausbildungsplatz oder einen Beruf zu finden. Diese Initiative braucht Unterstützung und ein Stück weit auch öffentliche Förderung.
Das zweite Beispiel ist eine Initiative, die gestern Abend ausgezeichnet wurde. Sie nennt sich ?Work and box“. Ein Unternehmer aus München, der Schreiner Rupert Voß,
nimmt jedes Jahr 20 Jugendliche mit einer kriminellen Karriere, um die sich sonst kein Mensch kümmerte, auf. Zu diesem Zweck hat er sogar das Boxen gelernt, weil das zunächst die einzige Sprache war, die diese Jugendlichen überhaupt verstanden haben. Von diesen 20 Jugendlichen pro Jahr hat er 18, manchmal auch 19, in eine Ausbildung gebracht. Das kostet Geld, und auch solche Initiativen müssen wir unterstützen. Das ist nämlich eine sehr sinnvolle Initiative. Wenn diese jungen Menschen im Gefängnis wären, dann müsste man mit Kosten von 30 000 Euro pro Jahr rechnen. Das bedeutet im Zeitraum einer dreijährigen Ausbildung Kosten von rund 100 000 Euro. Wenn man sich vor Augen hält, dass diese Initiativen eine nur geringe Unterstützung erfordern, dann müssen wir in die Lage versetzt werden, diese Unterstützung zu geben.
Es gibt also noch einiges zu tun, insbesondere was Individualisierung und Differenzierung betrifft. Das sind die Beispiele dafür, was ich meine, wenn ich sage, dass das Bessere der Feind des Guten ist. Insofern wird uns Integration weiter beschäftigen, und wir von der SPD werden an diesem Thema mit besonderem Interesse weiterarbeiten.
Ich sage noch ein letztes Stichwort. Wir haben hier mehrfach über Zuwanderung und die Möglichkeit, die Zuwanderung zu steuern, geredet. Ich habe mit großer Freude gesehen, dass die Bundesregierung in Meseberg beschlossen hat, ein Konzept für eine Zuwanderung zu entwickeln,
das - so heißt es -:
den Interessen unseres Landes auch in der nächsten Dekade Rechnung trägt. Bei der Erarbeitung des Konzeptes sollen quantitative und qualitative Instrumente geprüft und die Erfahrungen anderer Länder bei der arbeitsmarktbezogenen Steuerung von Zuwanderung einbezogen werden.
Da rufe ich meinen Kolleginnen und Kollegen von der CDU/CSU zu: Bitte lassen Sie einmal weg, dass offenbar das Wort ?Punkteregelung“ inzwischen ein Unwort geworden ist bzw. dass Sie damit etwas verbinden, was Ihnen nicht ins Konzept passt. Wir können das auch anders nennen; wir können das beispielsweise Auswahlverfahren nennen. Es ist aber von allen Experten einhellig gesagt worden, dass wir zwischen 2010 und 2020 einen Bedarf an 3 Millionen qualifizierter Facharbeiter haben werden. Diesen können wir nicht decken,
indem wir diese Menschen allein auf dem Binnenarbeitsmarkt aus- und fortbilden.
Das wird nicht reichen. Es ist entscheidend, dass wir nach dem Prinzip ?Sowohl-als-auch“ vorgehen und nicht ein Entweder-oder postulieren.
Das heißt, wir werden gut daran tun, auch Menschen mit Qualifikationen zu uns zu holen. Daneben sollten wir nicht vernachlässigen, alle, die es verdienen und können, hier in Deutschland weiterzubilden.
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms:
Herr Kollege Bürsch, bitte!
Dr. Michael Bürsch (SPD):
Auch hier richte ich den Appell an die Union: Denken Sie mit uns über die Einrichtung eines Auswahlverfahrens nach.
Das wird Deutschland zugutekommen.
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms:
Als letzte Rednerin zu diesem Einzelplan hat die Kollegin Dagmar Freitag von der SPD-Fraktion das Wort.
Dagmar Freitag (SPD):
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Nachdem eben etwas unerwartet der Werbeblock der FDP zum Sporthaushalt über uns hereingebrochen ist, möchte ich gern wieder zu unserem eigentlichen Thema zurückkommen, nämlich zu einem deutlich aufgestockten Haushalt für den Sport.
Vorab möchte ich sagen: Für die konstruktiven Beratungen gilt mein Dank den Sportpolitikern der Koalition sowie den Herren Ministern Schäuble und Steinbrück. Insbesondere gilt er aber den beiden zuständigen Berichterstattern der Koalition, dem Kollegen Norbert Barthle und meiner Fraktionskollegin Bettina Hagedorn.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, es ist heute bereits erwähnt worden: Erstmalig wird der Bund die Stiftung Deutsche Sporthilfe mit einer Summe von 1 Million Euro unterstützen.
Dies tun wir aus der festen Überzeugung heraus, dass diese Summe gut angelegtes Geld ist, das den Sportlerinnen und Sportlern unmittelbar zugutekommt. Die Stiftung Deutsche Sporthilfe verdient und benötigt unsere Unterstützung; Koalition und Regierung stehen dazu.
Wir stärken einmal mehr die Nationale Anti-Doping-Agentur. Die Betonung liegt an dieser Stelle auf dem Wort ?wir“. Es ist der Bund, der einmal mehr seiner Verantwortung gerecht wird und den berechtigten Forderungen an die Arbeit der NADA Taten folgen lässt. Es sind darüber hinaus die Mitglieder des Sportausschusses, die sich in Gesprächen mit der Wirtschaft um zusätzliche Gelder bemühen.
Der Deutsche Olympische Sportbund, kurz DOSB, hatte die Bundesländer im Laufe des Jahres aufgefordert, sich ebenfalls an der Finanzierung der NADA zu beteiligen. Soweit mir bekannt ist, haben sich die Sportminister der Länder bislang nicht auf eine Zusage verständigen können. Das ist möglicherweise auch kein Wunder, da der Deutsche Olympische Sportbund im selben Atemzug seine eigene Finanzierung für 2008 flugs wieder halbiert hat. Das ist vielleicht ein schlechtes Signal, wenn man von anderen Geld eintreiben will.
Es stellt sich also wirklich die Frage: Sind immer nur die anderen für die Finanzierung des Anti-Doping-Kampfes zuständig?
Unsere Antwort ist eindeutig. Sie heißt Nein. Statt sich dieser Aufgabe endlich in aller Konsequenz zu stellen, lamentieren Spitzensportfunktionäre öffentlich über die Kosten für den Kampf gegen Doping. Nationales Schiedsgericht? Zu teuer. Nationaler Testpool? Zu teuer. Mehr und intelligente statt der bisherigen Zufallskontrollen? Zu teuer.
Da wird von Spitzensportfunktionären allen Ernstes als Gegenargument die Frage in den Raum gestellt: Wie sage ich es meinen Breitensportlern? Das kann doch wohl nicht wahr sein! Haben solche Funktionäre immer noch nicht verstanden, dass jeder neue Dopingfall das Image und damit auch die Basis des Sports insgesamt zerstört
und dass Spitzen- und Breitensport letztlich in einem Boot sitzen? Ein von Dopingskandalen durchsetzter Sport wird in letzter Konsequenz dazu führen, dass sich die Menschen vom Sport abwenden und dass es sich Eltern dreimal überlegen werden, ob sie ihre Kinder noch in die Sportvereine schicken können.
Dass ein halbherziger Kampf gegen Doping den Sport in seinen Grundfesten gefährdet und erschüttert, das kann man den Breitensportlern in den Verbänden sehr wohl erklären. Man muss es nur wollen.
Erste Sponsoren ziehen die Reißleine. Ausbleibende Zahlungen, aber auch harte Strafen für überführte Doper und ihr Umfeld sind eine klare Ansage: Das ist eine Sprache, die die Leute aus der Szene verstehen. Frankreich wird nach meinen Informationen sein Antidopinggesetz überarbeiten. Wir werden die dortige Entwicklung mit größtem Interesse beobachten.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, der von uns entwickelte Sporthaushalt bietet dem Sport beste Voraussetzungen für eine gezielte Vorbereitung der Athletinnen und Athleten auf die Großereignisse der kommenden Jahre. An die Bundeszuweisungen knüpfen wir allerdings eine klare Bedingung: staatliches Geld nur für einen sauberen, glaubwürdigen Sport.
Das Bundesinnenministerium ist gefordert, die Einhaltung dieser Bedingung konsequent zu kontrollieren und die Gelder bei Verstoß ohne Wenn und Aber zurückzufordern. Ansonsten gilt: Sponsoren können sich zurückziehen. Das sollten sich alle vor Augen führen, die die Spitzensportförderung durch den Bund für eine schlichte Selbstverständlichkeit halten.
Ich bedanke mich für Ihre Aufmerksamkeit.
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms:
Ich schließe die Aussprache.
Wir kommen zur Abstimmung über den Einzelplan 06, Bundesministerium des Innern, in der Ausschussfassung. Hierzu liegen zwei Änderungsanträge vor, über die wir zuerst abstimmen.
Wer für den Änderungsantrag der Fraktion Die Linke auf Drucksache 16/7320 stimmt, den bitte ich um das Handzeichen! - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Der Änderungsantrag ist abgelehnt mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen und der FDP-Fraktion bei Zustimmung der Fraktionen Die Linke und Bündnis 90/Die Grünen.
Wer stimmt für den Änderungsantrag der Fraktion Die Linke auf Drucksache 16/7321? - Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Der Änderungsantrag ist bei Zustimmung der Fraktion Die Linke abgelehnt mit den Stimmen aller übrigen Fraktionen.
Wir kommen nun zur Abstimmung über den Einzelplan 06, Bundesministerium des Innern, in der Ausschussfassung. Wer stimmt dafür? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Der Einzelplan 06 ist angenommen mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen gegen die Stimmen der Oppositionsfraktionen.
[Der folgende Berichtsteil - und damit der gesamte Stenografische Bericht der 130. Sitzung - wird morgen,
Freitag, den 30. November 2007,
an dieser Stelle veröffentlicht.]