133. Sitzung
Berlin, Donnerstag, den 13. Dezember 2007
Beginn: 9.01 Uhr
* * * * * * * * V O R A B - V E R Ö F F E N T L I C H U N G * * * * * * * *
* * * * * DER NACH § 117 GOBT AUTORISIERTEN FASSUNG * * * * *
* * * * * * * * VOR DER ENDGÜLTIGEN DRUCKLEGUNG * * * * * * * *
Präsident Dr. Norbert Lammert:
Die Sitzung ist eröffnet.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich begrüße Sie alle herzlich und wünsche uns einen guten Morgen und eine - wie meistens - ebenso ernsthafte wie fröhliche Beratung.
Bevor wir in die Tagesordnung eintreten, darf ich zwei Geburtstagsglückwünsche aussprechen.
Der Kollege Heinz Riesenhuber hat am 1. Dezember seinen 72. Geburtstag gefeiert.
Man hält es kaum für möglich, aber die Recherchen bestätigen die Ernsthaftigkeit des vorgetragenen Befundes.
Die Kollegin Ute Kumpf hat am 4. Dezember ihren 60. Geburtstag gefeiert. Auch ihr möchte ich herzlich im Namen des ganzen Hauses gratulieren und alles Gute wünschen.
Interfraktionell ist vereinbart worden, die verbundene Tagesordnung um die in der Zusatzpunktliste aufgeführten Punkte zu erweitern:
ZP 1 Aktuelle Stunde auf Verlangen der Fraktion DIE LINKE:
Haltung der Bundesregierung zur Angemessenheit von Managereinkommen in Deutschland
(siehe 132. Sitzung)
ZP 2 Beratung des Zwischenberichts der Enquete-Kommission ?Kultur in Deutschland“
Kultur als Staatsziel
- Drucksache 15/5560 -
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Kultur und Medien
ZP 3 Weitere Überweisungen im vereinfachten Verfahren
(Ergänzung zu TOP 39)
Beratung des Antrags der Abgeordneten Hans-Joachim Fuchtel, Eckart von Klaeden, Norbert Barthle, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der CDU/CSU sowie der Abgeordneten Monika Griefahn, Lothar Mark, Dirk Becker, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD
Erneuerbare Energien, wie Solarenergie, Geothermie, Wind- und Wasserkraft, für die Energieversorgung deutscher Einrichtungen im Ausland einsetzen - Für Klimaschutz und Nachhaltigkeit
- Drucksache 16/7489 -
Überweisungsvorschlag:
Auswärtiger Ausschuss (f)
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und
Entwicklung
ZP 4 Weitere abschließende Beratungen ohne Aussprache
(Ergänzung zu TOP 40)
a) Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses (2. Ausschuss)
Sammelübersicht 326 zu Petitionen
- Drucksache 16/7492 -
b) Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses (2. Ausschuss)
Sammelübersicht 327 zu Petitionen
- Drucksache 16/7493 -
c) Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses (2. Ausschuss)
Sammelübersicht 328 zu Petitionen
- Drucksache 16/7494 -
d) Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses (2. Ausschuss)
Sammelübersicht 329 zu Petitionen
- Drucksache 16/7495 -
e) Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses (2. Ausschuss)
Sammelübersicht 330 zu Petitionen
- Drucksache 16/7496 -
f) Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses (2. Ausschuss)
Sammelübersicht 331 zu Petitionen
- Drucksache 16/7497 -
g) Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses (2. Ausschuss)
Sammelübersicht 332 zu Petitionen
- Drucksache 16/7498 -
h) Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses (2. Ausschuss)
Sammelübersicht 333 zu Petitionen
- Drucksache 16/7499 -
i) Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses (2. Ausschuss)
Sammelübersicht 334 zu Petitionen
- Drucksache 16/7500 -
j) Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses (2. Ausschuss)
Sammelübersicht 335 zu Petitionen
- Drucksache 16/7501 -
k) Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses (2. Ausschuss)
Sammelübersicht 336 zu Petitionen
- Drucksache 16/7502 -
ZP 5 Wahlen zu Gremien
a) Wahlvorschlag der Fraktion der CDU/CSU
Wahl von Mitgliedern des Beirats bei der Bundesbeauftragten für die Unterlagen des Staatssicherheitsdienstes gemäß § 39 Abs. 1 des Stasi-Unterlagen-Gesetzes
- Drucksache 16/7474 -
b) Wahlvorschläge der Fraktionen CDU/CSU, SPD und BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Wahl von Mitgliedern des Verwaltungsrates der Kreditanstalt für Wiederaufbau gemäß § 7 Abs. 1 Nr. 4 des Gesetzes über die Kreditanstalt für Wiederaufbau
- Drucksache 16/7475 -
c) Wahlvorschlag der Fraktion der SPD
Wahl von Mitgliedern des Gemeinsamen Ausschusses gemäß Artikel 53 a des Grundgesetzes
- Drucksache 16/7476 -
d) Wahlvorschlag der Fraktion der SPD
Wahl vom Deutschen Bundestag zu entsendender Mitglieder des Ausschusses nach Artikel 77 Abs. 2 des Grundgesetzes (Vermittlungsausschuss)
- Drucksache 16/7477 -
e) Wahlvorschlag der Fraktion der CDU/CSU
Wahl eines vom Deutschen Bundestag zu entsendenden Mitglieds des Beirats für Fragen des Zugangs zur Eisenbahninfrastruktur (Eisenbahninfrastrukturbeirat)
- Drucksache 16/7478 -
f) Wahlvorschlag der Fraktion der CDU/CSU
Wahl eines Mitglieds des Stiftungsrates der ?Stiftung CAESAR“ (Centre of Advanced European Studies and Research)
- Drucksache 16/7479 -
g) Wahlvorschlag der Fraktion der CDU/CSU
Wahl eines Mitglieds des Verwaltungsrates bei der Bundesanstalt für Finanzdienstleistungsaufsicht
- Drucksache 16/7480 -
h) Wahlvorschlag der Fraktion der CDU/CSU
Wahl einer Schriftführerin gemäß § 3 der Geschäftsordnung
- Drucksache 16/7481 -
ZP 6 Aktuelle Stunde auf Verlangen der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN:
Konsequenzen der Bundesregierung aus der Studie über erhöhte Krebsrisiken in der Umgebung von Atomanlagen
ZP 7 Beratung des Antrags der Abgeordneten Thilo Hoppe, Ute Koczy, Marieluise Beck (Bremen), weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Wirtschaftspartnerschaftsabkommen und Interimsabkommen zwischen EU und AKP-Staaten entwicklungsfreundlich gestalten
- Drucksache 16/7469 -
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung
(f)
Auswärtiger Ausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen
Union
ZP 8 Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Wirtschaft und Technologie (9. Ausschuss)
- zu dem Antrag der Abgeordneten Gudrun Kopp, Rainer Brüderle, Martin Zeil, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP
Eine Chance für den Wettbewerb - Kein Monopolschutz für die Deutsche Post AG
- zu dem Antrag der Abgeordneten Kerstin Andreae, Brigitte Pothmer, Christine Scheel, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Post braucht Wettbewerb - Wettbewerb braucht faire Bedingungen
- Drucksachen 16/6432, 16/6631, 16/7510 -
Berichterstattung:
Abgeordneter Klaus Barthel
ZP 9 Erste Beratung des von den Abgeordneten Volker Schneider (Saarbrücken), Klaus Ernst, Dr. Martina Bunge, weiteren Abgeordneten und der Fraktion DIE LINKE eingebrachten Entwurfs eines Vierten Gesetzes zur Änderung des Zweiten Buches Sozialgesetzbuch (Rentenabschlagsverhinderungsgesetz)
- Drucksache 16/7459 -
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Arbeit und Soziales (f)
Innenausschuss
Rechtsausschuss
Finanzausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für Gesundheit
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung
Haushaltsausschuss gemäß § 96 GO
ZP 10 Beratung des Antrags der Abgeordneten Dr. Heinrich L. Kolb, Jens Ackermann, Dr. Karl Addicks, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP
Arbeit statt Frühverrentung fördern
- Drucksache 16/7003 -
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Arbeit und Soziales (f)
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und
Entwicklung
ZP 11 Beratung des Antrags der Abgeordneten Heinz Lanfermann, Daniel Bahr (Münster), Dr. Konrad Schily, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP
Für eine zukunftsfest und generationengerecht finanzierte, die Selbstbestimmung stärkende, transparente und unbürokratische Pflege
- Drucksache 16/7491 -
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Gesundheit (f)
Rechtsausschuss
Ausschuss für Arbeit und Soziales
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Haushaltsausschuss
ZP 12 Beratung des Antrags der Abgeordneten Dr. Martina Bunge, Klaus Ernst, Diana Golze, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE
Gesundheitsförderung und Prävention als gesamtgesellschaftliche Aufgaben stärken - Gesellschaftliche Teilhabe für alle ermöglichen
- Drucksache 16/7471 -
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Gesundheit (f)
Sportausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und
Verbraucherschutz
Ausschuss für Arbeit und Soziales
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung
Von der Frist für den Beginn der Beratungen soll, soweit erforderlich, abgewichen werden.
Der Tagesordnungspunkt 11 wird abgesetzt. In der Folge rücken die ungeraden Tagesordnungspunkte 13 bis 29 jeweils vor.
Schließlich mache ich auf zwei nachträgliche Ausschussüberweisungen im Anhang zur Zusatzpunktliste aufmerksam.
Der in der 126. Sitzung des Deutschen Bundestages überwiesene nachfolgende Gesetzentwurf soll zusätzlich dem Ausschuss für Wirtschaft und Technologie (9. Ausschuss) zur Mitberatung überwiesen werden.
Achter Gesetzentwurf der Bundesregierung zur Änderung des Steuerberatungsgesetzes
- Drucksache 16/7077 -
Überwiesen:
Finanzausschuss (f)
Rechtsausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und
Technologie
Der in der 106. Sitzung des Deutschen Bundestages überwiesene nachfolgende Antrag soll zusätzlich dem Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (19. Ausschuss) zur Mitberatung überwiesen werden.
Antrag der Abgeordneten Sylvia Kotting-Uhl, Cornelia Behm, Hans-Josef Fell, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Mit Bioraffinerien in Deutschland die Biomasse effizienter nutzen und zusätzliche Ressourcen erschließen
- Drucksache 16/5529 -
Überwiesen:
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
(f)
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und
Verbraucherschutz
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung
Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und
Entwicklung
Sind Sie damit einverstanden? - Das scheint der Fall zu sein. Dann ist das so beschlossen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 3 sowie den Zusatzpunkt 2 auf:
3. Beratung des Berichts der Enquete-Kommission ?Kultur in Deutschland“
Schlussbericht der Enquete-Kommission ?Kultur in Deutschland“
- Drucksache 16/7000 -
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Kultur und Medien
ZP 2 Beratung des Zwischenberichts der Enquete-Kommission ?Kultur in Deutschland“
Kultur als Staatsziel
- Drucksache 15/5560 -
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Kultur und Medien
Liebe Kolleginnen und Kollegen, heute steht an prominenter Stelle im Zentrum der parlamentarischen Beratung des Bundestages ein Thema, das es nur selten auf diese prominenten Tagesordnungsplätze schafft, was sicher auch damit zusammenhängt, dass die Bedeutung dieses Themas nach wie vor in der Öffentlichkeit eher unterschätzt wird.
Tatsächlich sind für die Lebensverhältnisse einer Gesellschaft die kulturellen Bedingungen, die in einer solchen Gesellschaft gelten, nicht weniger wichtig als die wirtschaftlichen und sozialen Strukturen.
Dies deutlich zu machen, ist sicher eine der ganz wesentlichen Aufgaben der Enquete-Kommission gewesen, deren Arbeit aus der letzten und dieser Legislaturperiode heute im Mittelpunkt unserer Beratungen steht. Deswegen nutze ich die Gelegenheit auch gerne, neben den an der Arbeit dieser Kommission in besonderer Weise beteiligten Kolleginnen und Kollegen die Sachverständigen zu begrüßen, die auf der Besuchertribüne Platz genommen haben.
Ich danke Ihnen im Namen des ganzen Hauses herzlich für Ihre verdienstvolle Mitarbeit in dieser Kommission.
Ich eröffne die Aussprache und erteile das Wort zunächst der Vorsitzenden dieser Kommission, der Kollegin Gitta Connemann.
Gitta Connemann (CDU/CSU):
Verehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Geschätzte Sachverständigenmitglieder! Es ist vollbracht! Im Namen aller Mitglieder der Enquete-Kommission ?Kultur in Deutschland“ melde ich: Das Werk ist getan. Vor vier Jahren erhielten wir von Ihnen den Auftrag, erstens die Situation von Kunst und Kultur in Deutschland zu beschreiben und zweitens Vorschläge für gesetzgeberisches Handeln zu unterbreiten. Dieser Bericht ist das Ergebnis unserer Arbeit. Wir legen Ihnen damit die wohl umfassendste Untersuchung der Kulturlandschaft Deutschlands seit mehr als 30 Jahren vor.
Im Bericht finden sich 465 Handlungsempfehlungen an Bund, Länder, Kommunen und andere Kulturadressaten, von den Hochschulen bis zum Rundfunk. Sie erhalten einen Kulturkompass, der richtungsweisend sein kann. Er widerlegt anfängliche Zweifel; denn auch wir fragten uns, ob es wirklich gelingen kann, die einzigartige Kulturlandschaft in Deutschland zu beschreiben.
Unser Land bietet eine beispiellose kulturelle Vielfalt, um die wir in der Welt beneidet werden. Die Zahlen sprechen für sich: mehr als 150 Opernhäuser und Theater, mehr als 6 000 Museen, unzählige Bibliotheken, Musikschulen, ein Netz von Kunsthochschulen, viele Millionen Bürgerinnen und Bürger, die sich in Chören, Kulturvereinen und Musikkapellen vor Ort und in den Ländern engagieren.
Ich sage bewusst: in den Ländern. Nicht nur deshalb wurde mehr als einmal die kritische Frage gestellt, warum sich eine Kommission des Deutschen Bundestages mit diesem Thema befasst. Denn immerhin wurde im Zuge der Föderalismusreform die ausschließliche Zuständigkeit der Länder auf diesem Gebiet bestätigt. Wir erkennen diese überwiegende Verantwortung für die staatliche Kulturförderung an. Aber wir erkennen auch eine Gesamtverantwortung. Nicht nur, weil der Bund als Gesetzgeber für viele Rechtsgebiete zuständig ist, die unmittelbar Kunst- und Kulturschaffende betreffen, vom Urheberrecht über das Vereinsrecht bis zum Sozialversicherungsrecht.
Wir, die Mitglieder der Enquete-Kommission ?Kultur in Deutschland“, skizzieren in diesem Bericht die Grundzüge einer nationalen Kulturpolitik, im Wissen und in der Verantwortung um die Bedeutung von Kultur für unsere Gesellschaft; denn Kultur ist mehr als lebenswert. Kultur gibt mehr als Identität. Kultur ist das, was von einer Gesellschaft bleibt.
Die Steuerdebatten dieser Tage werden in 50 Jahren vergessen sein, nicht aber die künstlerischen Leistungen dieser Zeit. Kultur ist deshalb nicht nur Ornament, sondern das Fundament, auf dem unsere Gesellschaft steht und auf dem sie aufbaut.
Die Pfeiler dieses Fundaments bedürfen jedoch der Stärkung, denn sie werden nicht nur durch kleinere Beben erschüttert wie die regelmäßig aufflackernde Debatte über die Erhöhung des Umsatzsteuersatzes für Kulturgüter, die wir ablehnen. Sondern sie werden auch durch Unterspülungen bedroht, die durch die Not der öffentlichen Haushalte in den letzten Jahren ausgelöst wurden. Die Ausgaben für Kultur gingen deutlich zurück: 2001 beliefen sie sich noch auf 8,4 Milliarden Euro, 2005 nur noch auf 7,8 Milliarden Euro.
Eine Ausnahme bildet übrigens nur der Bund. Auch dank des Einsatzes unseres Staatsministers Bernd Neumann ist es seit 2005 gelungen, in diesem Bereich die Haushaltsansätze zu erhöhen. Dafür gebührt ihm Dank.
Zwar verfügt Deutschland immer noch über eine beispielhafte Kulturförderung - dank des Bürgers. Denn dieser ist der größte Kulturfinanzierer in Deutschland, zunächst als Marktteilnehmer, dann als Spender und in dritter Linie als Steuerzahler. Diese Steuermittel fließen zwar jetzt wieder stärker, aber in den vergangenen Jahren sind viele Theater, Orchester, Bibliotheken und Musikschulen den Sparzwängen geopfert worden. Wir sagen: zu viele. Denn leider zählen die Ausgaben für Kultur zu den sogenannten freiwilligen Leistungen. Nur der Freistaat Sachsen bildet hier die rühmliche Ausnahme. In allen anderen Ländern sind diese Ausgaben auch zum Leidwesen vieler Kommunalpolitiker keine Pflichtaufgaben. Kann eine Kommune ihren Haushalt nicht ausgleichen, muss sie die Gemeindestraße weiter teeren, aber die Gemeindebibliothek schließen. Das ist aus unserer Sicht die vollkommen falsche Priorität.
Zu einer funktionsfähigen Infrastruktur gehören nämlich nicht nur Verkehrswege, sondern zwingend Kultur- und Bildungseinrichtungen. Die Ausgaben für Kultur sind keine Subventionen, sondern Investitionen.
Erst die Investition in kulturelle Infrastruktur eröffnet die Chance auf gleiche Teilhabe.
Es wäre allerdings ein Fehler, Kulturpolitik immer nur auf finanzielle Aspekte zu reduzieren; denn damit würden die Möglichkeiten verkannt, die der Gesetzgeber zum Schutz und zur Förderung von Kunst und Kultur hat, von der Änderung des Gemeinnützigkeitsrechts bis zur Fortschreibung im Stiftungsrecht. Wir raten Bund und Ländern, insoweit die Weichenstellungen auf europäischer und internationaler Ebene nicht nur wachsam zu beobachten, sondern auf Rechtsakte wie etwa das GATS-Abkommen oder das europäische Vergaberecht sehr frühzeitig Einfluss zu nehmen.
Denn nur dort können und müssen Angriffe auf eine autonome nationale Kulturpolitik abgewendet werden. Deutschland darf sich hier nicht mit einer Zuschauerrolle begnügen.
Die Aufgabe der Kulturpolitik ist die Schaffung von Rahmenbedingungen zum Schutz von Kunst und Kultur. Ihre Aufgabe ist es nicht, selbst Kultur zu schaffen, sondern für die erforderlichen Rahmenbedingungen zu sorgen. Die Gestaltung von Kunst und Kultur überlässt sie besser den Künstlern.
Unseren Handlungsempfehlungen gingen intensive Recherchen und sorgfältige Prüfungen voraus. Von den Kommissionsmitgliedern war ein beträchtliches Arbeitspensum zu leisten. Pro deo, pro bono. Deshalb gilt mein besonderer Dank den Sachverständigenmitgliedern der Kommission. Mit ihrem Einsatz, ihrem Wissen, ihrer praktischen Erfahrung haben sie erst deutlich gemacht, welche Themen wir behandeln müssen. Häufig haben sie die Themen aus einem anderen Blickwinkel betrachtet. Deshalb danke ich namentlich Susanne Binas-Preisendörfer, Helga Boldt, Gerd Harms, Dieter Kramer, Heinz-Rudolf Kunze, Bernhard Freiherr von Loeffelholz, Oliver Scheytt, Wolfgang Schneider, Thomas Sternberg, Dieter Swatek, Nike Wagner, Hans Zehetmair, Olaf Zimmermann.
Meine Damen und Herren Sachverständigen, Sie haben sich in bester Weise bürgerschaftlich für die Kultur engagiert. Gemeinsam haben wir außerhalb der Tagespolitik mehr als 50 Themenfelder behandelt. Es ging um Infrastruktur, Kompetenzen, rechtliche Rahmenbedingungen in Staat und Zivilgesellschaft, öffentliche und private Förderung, die wirtschaftliche und soziale Lage der Künstlerinnen und Künstler, Kulturwirtschaft, den Kulturstandort Deutschland, kulturelle Bildung, Kultur in der Informations- und Mediengesellschaft, Kultur in Europa, Kultur im Kontext der Globalisierung, Kulturstatistik in Deutschland und der Europäischen Union. Jedes dieser Themen verdient eine öffentliche Debatte.
Mit der Empfehlung, Kultur als Staatsziel im Grundgesetz zu verankern, erregten wir sicherlich die meiste Aufmerksamkeit. Die Kommission ist der Ansicht, dass es eines solchen Bekenntnisses zur Verantwortung des Staates für Schutz und Förderung von Kunst und Kultur in Deutschland bedarf. Dieses Staatsziel ist sozusagen der Überbau für alle staatlichen Ebenen. Die Verantwortung der Politik geht aber weiter. Deshalb dürfen die anderen Handlungsempfehlungen nicht übersehen werden. Sie betreffen die Rahmenbedingungen von Theatern, Kulturorchestern, Opern, Museen und Ausstellungshäusern sowie von Bibliotheken und soziokulturellen Zentren. Es werden Vorschläge für eine Stärkung der Kultur in ländlichen Regionen, betreffend die kulturelle Tätigkeit der Kirchen und die Förderung des bürgerschaftlichen Engagements in der Kultur gemacht.
Auf die wirtschaftliche und soziale Lage der Künstlerinnen und Künstler haben wir zu Recht ein besonderes Augenmerk gelegt; denn ohne sie gäbe es keine Kultur in Deutschland.
Deshalb unterbreiten wir allein 50 Vorschläge für eine verbesserte Aus- und Fortbildung, Änderungen im Tarif- und Arbeitsrecht bis hin zu Fragen der Besteuerung und der Altersvorsorge. Hinzu kommen Aussagen zur Kreativ- und Kulturwirtschaft, ein Bereich, der sich inzwischen von einem Aschenbrödel zu einer durchaus ansehnlichen Braut entwickelt hat.
Angesichts des Wertes jeder Handlungsempfehlung - es sind 465 - kann und will ich als Vorsitzende der Enquete-Kommission keine einzelne hervorheben. Nur eine Ausnahme gestatte ich mir. Andere Einzelbewertungen überlasse ich in diesem Rahmen den nachfolgenden Kommissionsmitgliedern. Ich gestatte mir das Augenmerk auf die kulturelle Bildung zu richten; denn diese ist eine der besten Investitionen in die Zukunft des Landes. Der Wert der kulturellen Bildung scheint inzwischen glücklicherweise in der Öffentlichkeit erkannt zu sein. Unser Land darf sich nicht der Kreativität als unseres einzigen Rohstoffs für die Zukunftsfähigkeit begeben. Bildung darf nicht auf ein trostloses Lernen reduziert werden.
Bei der kulturellen Bildung geht es um den ganzen Menschen, um die Bildung seiner Persönlichkeit, um Emotionen und Kreativität. Ohne kulturelle Bildung - das ist meine feste Überzeugung - fehlt ein Schlüssel zu wahrer Teilhabe. Deshalb ist auf keinem Feld die Verantwortung des Staates auf all seinen Ebenen größer als in diesem Bereich. Dies hat auch etwas mit Teilhabe zu tun; denn Kunst und Kultur dürfen kein Luxusgut einiger weniger Privilegierter sein. Die Teilhabe aller an Kultur muss gewährleistet sein; denn sie bedeutet auch Teilhabe an unserer Gesellschaft.
Diese Teilhabe wird von einer Vielfalt von Trägern gewährleistet. Kulturpolitik und öffentliche Kulturförderung finden in Deutschland im Wechselspiel von Staat, Wirtschaft und Zivilgesellschaft statt. Sie gemeinsam stellen die kulturelle Infrastruktur zur Verfügung, von Vereinen über Kulturunternehmen, Kirchen, Glaubensgemeinschaften bis hin zu Rundfunkanstalten, Stiftungen, Sponsoren und den Künstlern selbst. Dieser Dreiklang aus Politik, Wirtschaft und Zivilgesellschaft ermöglicht ein kulturelles Leben, das keiner allein gewährleisten könnte, zuletzt der Staat. Es darf deshalb kein Unterschied zwischen staatlich geförderter, guter Kultur auf der einen Seite und der Kultur, die auf bürgerschaftliches Engagement gegründet wird, sowie privat veranstalteter Kultur auf der anderen Seite gemacht werden.
Eine solche Trennung sollte nach unserem Bericht der Vergangenheit angehören.
Was bleibt? Es bleibt unser Bericht, ein leidenschaftliches Plädoyer für die Förderung von Kunst und Kultur in Deutschland als eine ebenso notwendige wie lohnenswerte Investition in die Zukunft. Die zurückliegende Arbeit war von einem Miteinander aller Beteiligten geprägt, und zwar immer über Partei- und Fraktionsgrenzen hinweg. Das ist die Stärke der Kultur.
Es einte uns das Ziel, die einzigartige Kulturlandschaft und eine beispiellose kulturelle Vielfalt zu schützen und zu fördern, und das mit großem Gewinn für die Sache.
Als Vorsitzende der Enquete-Kommission ?Kultur in Deutschland“ danke ich deshalb allen Mitgliedern dieser Kommission für ihre Kompetenz, für ihren Arbeitswillen, für ihre Begeisterungsfähigkeit und für ihre Kreativität. Insbesondere danke ich den Kolleginnen und Kollegen aus allen Fraktionen, die neben ihrem normalen Abgeordnetenpensum die Kärrnerarbeit einer Enquete-Kommission auf sich genommen haben. Stellvertretend möchte ich diesen Dank an die Obleute der Fraktionen richten: an Wolfgang Börnsen, an Siegmund Ehrmann, der gleichzeitig stellvertretender Vorsitzender dieser Kommission war, an Hans-Joachim Otto, an Undine Kurth und an Lukrezia Jochimsen. Vielen Dank!
Nicht zuletzt gilt mein Dank den Mitstreitern und Mitstreiterinnen des Sekretariats, den Fraktionsreferenten, den Mitarbeitern der Kommissionsmitglieder. Ohne ihr Engagement hätte die Kommission ihr Arbeitspensum nicht leisten können. Die Bestandsaufnahme ist erfolgt. Die Handlungsempfehlungen liegen vor.
Und nun? Jedem Ende wohnt auch ein Anfang inne. Mit der Vorlage unseres Berichtes beginnt eine neue Etappe. Dieser Bericht kann ein Kulturkompass sein, der richtungsweisend ist - wenn denn die Empfehlungen auch umgesetzt werden. Jetzt sind die Kulturpolitiker in allen Fraktionen, die Kulturschaffenden auf allen Ebenen gefragt, unsere Vorlage zum Wohle der Kultur zu nutzen. Ich sage noch einmal: Es ist vollbracht, das Werk ist getan, und nun beginnt die Arbeit.
Vielen Dank.
Präsident Dr. Norbert Lammert:
Liebe Frau Connemann, ich will Ihnen noch einmal in aller Form ganz herzlich für Ihre Arbeit als Vorsitzende der Kommission danken. Dies war sicher nicht immer eine nur einfache Aufgabe; aber es war, denke ich, eine gleichzeitig nicht nur besonders wichtige, sondern auch durchaus dankbare Aufgabe. Jedenfalls schlägt sich das Ergebnis dieser Arbeit in einer auffälligeren Weise nieder, als das für manch andere Aktivitäten im Deutschen Bundestag gelegentlich zu beobachten ist.
Ich habe vorhin in der friedlichen, adventlichen Stimmung zu Beginn der Sitzung darauf verzichtet, Ihr förmliches Einvernehmen darüber herbeizuführen, dass diese Debatte insgesamt zwei Stunden dauern soll. Das möchte ich gerne nachholen. -
Ich stelle hiermit fest, dass außer einem - nicht weiter konkretisierten - Zögern beim Vorsitzenden der FDP-Fraktion auch zu diesem Verfahrensvorschlag Einvernehmen besteht.
Ich mache der guten Ordnung halber darauf aufmerksam, dass die gerade gehaltene Rede selbstverständlich in die Berechnung der Gesamtredezeit einzubeziehen ist. Ich sage das, um voreilige Spekulationen einzudämmen.
Ich erteile nun das Wort dem Kollegen Hans-Joachim Otto für die FDP-Fraktion.
Hans-Joachim Otto (Frankfurt) (FDP):
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Insbesondere heute: Liebe Gäste auf der Tribüne! Nach vier Jahren Arbeit sehe ich mich in der Lage, es zu beurteilen: Das Amt der Vorsitzenden einer Enquete-Kommission ist wohl eines der komplexesten und der anstrengendsten Ämter, die ein Bundestag überhaupt vergeben kann. Deswegen liegt mir sehr daran - ich spreche sicherlich im Namen aller Kolleginnen und Kollegen -, dir, Gitta Connemann, für diese Arbeit ausdrücklich allerhöchsten Respekt und Dank auszusprechen.
Deine Konsequenz, gelegentlich deine Härte, deine bösen Blicke, die sind schon sprichwörtlich. Auch dein Charme und deine Zielstrebigkeit waren notwendig, um innerhalb der gesetzten Zeit dieses Werk vorzulegen. Du hast dir wirklich ganz hervorragende Verdienste darum erworben. Das soll auch an dieser Stelle gleich eingangs gesagt sein.
Nach vier Jahren Arbeit ist dieser Tag ein Tag des Dankes. Ich möchte allen Kolleginnen und Kollegen und vor allen Dingen den Sachverständigen meinen Dank, meinen Respekt, meine Hochachtung für dieses gemeinschaftliche Werk aussprechen.
Sie nehmen es mir sicherlich nicht übel, wenn ich jemanden besonders hervorhebe, mit dem ich vier Jahre lang jeden Sitzungstag der Enquete-Kommission - ich hätte fast gesagt: mich herumgeschlagen habe; aber das ist nicht das richtige Wort - hart zusammengearbeitet habe. Olaf Zimmermann, dem Geschäftsführer des Deutschen Kulturrats, möchte ich ganz herzlich Dank sagen, auch für die Zuarbeit, die wir vom Deutschen Kulturrat bekommen haben. Das war wirklich eine sehr große Hilfe.
Ein solches Werk ist schön, ein solches Werk macht stolz, aber jetzt geht es weiter. Von der Enquete-Kommission wird sozusagen das Staffelholz zur weiteren federführenden Behandlung an den Ausschuss für Kultur und Medien übergeben. Wir im Kulturausschuss wissen, welche Verantwortung wir haben. Wir wissen, dass es jetzt um die Umsetzung geht; sie muss noch in dieser Legislaturperiode in entscheidenden Teilen vorangebracht werden. Genau das ist für uns der Schwerpunkt der Arbeit in dieser Legislaturperiode. Wir müssen so viel wie möglich von den sinnvollen Forderungen und Handlungsempfehlungen der Enquete-Kommission durch Gesetzentwürfe in das parlamentarische Leben und in die politische Praxis umsetzen.
Es sind aber nicht nur die Handlungsempfehlungen zu nennen, die sich im Übrigen nicht nur an den Bundestag, sondern in sehr großer Zahl auch an die Länder und die Kommunen richten; allein die Tatsache, dass der Bundestag zweimal, in der vergangenen Legislaturperiode und in dieser Legislaturperiode, eine solche Enquete-Kommission eingesetzt hat, ist ein nicht zu unterschätzendes, ein wichtiges Signal des deutschen Parlaments zugunsten von Kultur, zugunsten von Künsten.
Die Notwendigkeit ist wirklich gegeben. Wir müssen in aller Deutlichkeit sagen: So löblich es ist, dass die Bundesregierung, namentlich der Staatsminister, bei den Haushaltsberatungen auf der Bundesebene einen großen Schritt nach vorn hat machen können, so klar müssen wir sehen, dass auf der kommunalen Ebene und auf der Länderebene noch einiges zu tun ist. Dort gibt es seit Jahren finanzielle Kürzungen, zum Teil sogar wirklich schmerzliche Verluste; Institutionen können nicht mehr fortbestehen usw.
Meine Damen und Herren, insbesondere vor diesem Hintergrund auf der Landes- und auf der kommunalen Ebene brauchen wir in der Tat ein Staatsziel Kultur.
Das Staatsziel Kultur ist nicht alles - wir haben 460 Forderungen formuliert -, aber ohne ein Staatsziel Kultur ist alles entschieden schwieriger.
Warum brauchen wir dieses Staatsziel? Wir brauchen ein verfassungsrechtlich eindeutiges Signal, das sagt, dass nicht nur, wie bisher, die natürlichen Lebensgrundlagen als Staatsziel geschützt sind, sondern auch die andere Seite der Medaille, die geistigen Lebensgrundlagen. Wenn wir sie nicht gleichermaßen schützen, dann gibt es eine Unwucht, und diese Unwucht wirkt sich in konkreten Entscheidungen aus: in Gerichtsentscheidungen, aber natürlich auch in vielen Haushaltsentscheidungen.
Kultur ist eine freiwillige Aufgabe. Wenn wir diese freiwillige Aufgabe, die so wichtig ist, nicht im Grundgesetz verankern, dann gibt es ständig Entscheidungen gegen die Kultur, und das müssen wir verhindern.
Deswegen müssen wir die Entscheidung über das Signal eines Staatsziels Kultur noch in dieser Legislaturperiode treffen.
Ich appelliere an alle Kolleginnen und Kollegen, hier mitzuwirken.
Ich muss allerdings auch ein kritisches Wort sagen. Die Tatsache, dass jetzt nicht nur das Staatsziel Kultur in der Diskussion ist, auf das wir uns seit Jahren vorbereitet haben - wir haben dazu Anhörungen durchgeführt; wir haben dazu Verfassungsexperten gehört -, sondern dass es eine Vielzahl weiterer Wünsche für Staatsziele gibt, ist nicht gerade hilfreich, wenn es darum geht, das Staatsziel Kultur durchzusetzen.
Mit Blick auch auf die Kollegen von der sozialdemokratischen Fraktion sage ich: Sicherlich, wir alle wollen Kinder schützen; aber ob wir Kinder dadurch schützen können, dass wir höchst wohlfeile Erklärungen ins Grundgesetz hineinschreiben,
werden wir noch an anderer Stelle klären müssen. Wir Kulturpolitiker jedenfalls sagen: Im Hinblick auf den Ausgleich ?natürliche Lebensgrundlagen - geistige Lebensgrundlagen“ muss zuerst das Staatsziel Kultur verankert werden; dann reden wir über alle weiteren Staatsziele. Es darf da keine Inflation geben; da bin ich mir mit allen anderen einig.
Lassen Sie mich in der Kürze der Zeit noch ein Thema aufgreifen, das uns sehr wichtig ist: die Rolle der Zivilgesellschaft. Manche haben mich gefragt, warum ausgerechnet die Liberalen vorne sind, wenn es darum geht, das Staatsziel Kultur voranzubringen. Die Antwort ist einfach: Wir können die Zivilgesellschaft - Mäzene und Spender - nur dann aktivieren, wenn sich der Staat nicht gleichzeitig zurückzieht. Es kann nicht angehen, dass beispielsweise beim Deutschen Historischen Museum, aber auch bei vielen anderen Institutionen, jede Spende, die eingeworben wird, gleich vom Haushalt abgezogen wird und sozusagen zu einer Kürzung führt. Menschen, die sich für Kultur engagieren, die Geld und Zeit in Kultur investieren, möchten das Geld nicht bei Herrn Steinbrück abgeben; sie möchten, dass das Geld ungeschmälert der Kultur zugutekommt.
Deswegen müssen wir das Verhältnis von Staat, Zivilgesellschaft und Wirtschaft stabilisieren. Dafür ist es notwendig, von staatlicher Seite durch ein Staatsziel Kultur, aber auch durch eine solide Grundfinanzierung ein Signal an die Zivilgesellschaft auszusenden, welches sie ermutigt, sich hier zu engagieren. Sie tut schon jetzt sehr viel; aber wir müssen das verstetigen und dafür sorgen, dass sich dort auch in Zukunft Menschen verantwortlich fühlen.
Frau Connemann hat es schon gesagt: Der größte Kulturfinanzierer in Deutschland ist immer noch der Bürger. Er tut das meiste, als Marktteilnehmer, als Besucher von Kulturinstitutionen, als Spender nicht nur von Geld, sondern auch von Zeit, und - in dritter Linie - als Steuerzahler. Deswegen ist es so wichtig, dass wir hier ein solides Fundament schaffen.
Ich möchte einen wichtigen Punkt hervorheben, bei dem wir uns ein bisschen von den anderen Fraktionen unterscheiden: Unser Verständnis von Kulturförderung entspricht nicht dem Leitbild eines - so heißt es im Schlussbericht -?aktivierenden Kulturstaates“. Vielmehr treten wir für einen ermöglichenden Staat ein. Plakativ ausgedrückt: Wir stehen nicht so sehr für den Slogan ?Kultur für alle“, sondern wir wollen ?Kultur von allen“. Wir wollen Menschen ermutigen, also Rahmenbedingungen dafür schaffen, dass sich mehr Menschen aktiv beteiligen und aktiv kulturell betätigen. Wir wollen - es ist angesprochen worden - mehr kulturelle Bildung in den Schulen. Es ist sehr wichtig, dass sich hier Entscheidendes tut. Deswegen treten wir für den ermöglichenden Kulturstaat ein; der Begriff des aktivierenden Kulturstaates könnte eine Schlagseite haben und suggerieren, es gehe um passives Aufnehmen von Kultur, nicht um aktives Handeln.
Es ist schwierig, vier Jahre Arbeit in zehn Minuten darzustellen. Deswegen möchte ich an dieser Stelle nur noch eines hervorheben: Wir haben - ich schaue jetzt wirklich das gesamte Spektrum dieses Parlaments an - 460 Handlungsempfehlungen verabschiedet. Weit über 95 Prozent aller Handlungsempfehlungen - ich habe es nicht ausgerechnet; vielleicht waren es 99 Prozent - sind im Einvernehmen aller Fraktionen dieses Hauses beschlossen worden. Davon geht ein ermutigendes Signal für die Kultur in Deutschland aus. Wenn dieses Haus es schafft, dass alle Fraktionen - von der Linksfraktion bis zur CDU/CSU, von der FDP bis zur SPD - hinter den Forderungen stehen - hinter zirka 99 Prozent von 460 Forderungen -, dann geht davon ein Signal aus, das überhaupt nicht unterschätzt werden kann. Dieses klare Signal des Deutschen Bundestages, das von der Arbeit der Enquete-Kommission ausgeht und zum Ausdruck bringt, dass wir Anwälte für Kunst und Kultur sind, dass wir uns für einen höheren Stellenwert von Kunst und Kultur in der Gesellschaft und im Staat einsetzen, gilt es jetzt in aller Konsequenz nach außen zu tragen. Wir müssen so allen Kulturschaffenden in Deutschland, allen Kulturinstitutionen und Kulturorganisierenden, klarmachen: Der Deutsche Bundestag ist ein Parlament, das sich für Kunst und Kultur ausspricht, heute und in Zukunft.
Herzlichen Dank.
Präsident Dr. Norbert Lammert:
Der Kollege Siegmund Ehrmann ist der nächste Redner,für die SPD-Fraktion.
Siegmund Ehrmann (SPD):
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Liebe Gäste! Mit dem heute vorgestellten Bericht der Enquete-Kommission legen wir das Ergebnis einer vierjährigen intensiven Arbeit - das wurde ja hier schon mehrfach angesprochen - vor.
Was war der Hintergrund des Auftrages dieser Enquete-Kommission? Ich erlaube mir, in Erinnerung zu rufen, dass die Bundeskulturpolitik nach 1998 in der damaligen rot-grünen Koalition besonders akzentuiert wurde und es insbesondere dem Engagement von Antje Vollmer und Eckhardt Barthel zu verdanken ist, dass die Kernfragen, die uns damals bewegt haben, so zugespitzt wurden, dass letztendlich in der Koalitionsvereinbarung von 2002 die Verabredung getroffen wurde, diese Enquete-Kommission einzurichten. Deshalb noch einmal herzlichen Dank an die Kolleginnen und Kollegen, die das seinerzeit auf den Weg gebracht haben.
Ich bin aber ebenso dankbar dafür, dass sich dann im Herbst 2003 alle Fraktionen dieses Hauses dem Einsetzungsbeschluss angeschlossen haben. Das war sicherlich auch prägend für den Geist, in dem diese Enquete-Kommission ihre Arbeit geleistet hat.
Welche Fragen bewegten die Kulturpolitik damals, aber auch noch heute? Zum Beispiel die Fragen: Wie steht es um die öffentliche und private Kulturfinanzierung? Kann der Staat in dem Geflecht der Verantwortung der Künstlerinnen und Künstler, der Zivilgesellschaft, des Ehrenamtes und des Potenzials, das in den Märkten liegt, seiner eigentlichen Verantwortung, Kultur als öffentliches Gut zu fördern, tatsächlich gerecht werden? Wie lassen sich die Bedingungen für das Engagement der Zivilgesellschaft verbessern? Sind die rechtlichen und organisatorischen Rahmenbedingungen, in denen die Arbeit der Kulturinstitutionen erfolgt, zeitgemäß? Welche Wirkungen haben Impulse, die aus der internationalen Politik, der GATS- oder WTO-Regime, aber auch der Prozesse im europäischen Sektor, auf unser Handeln einströmen? Wie - auch das ist eine wichtige Frage - ist es um die wirtschaftliche und soziale Situation der Künstlerinnen und Künstler bestellt, nachdem wir - das wurde schon erwähnt - 1975 mit der Kreierung des Künstlersozialrechtes einen wichtigen Impuls gesetzt haben? Das geschah ja damals aufgrund einer Analyse der wirtschaftlichen Situation der Künstlerinnen und Künstler. Wie ist der Status 30 Jahre danach?
Natürlich richten sich die Handlungsempfehlungen, die wir hier erarbeiten, vorrangig an den Bundesgesetzgeber. Ich persönlich bin allerdings sehr froh darüber, dass wir uns in der Enquete-Kommission einig waren, über Bande zu spielen, das heißt, Sachzusammenhänge zu denken, alle staatlichen Handlungsebenen in unsere Analysen einzubeziehen, aber und vor allem auch Impulse für die Debatte der Zivilgesellschaft zu geben. Deshalb geht von diesem Tag ein Angebot zu einer breiten Diskussion an alle Akteure aus, sich in der Öffentlichkeit mit unseren Handlungsempfehlungen auseinanderzusetzen.
Bevor ich auf einige Details eingehe, möchte auch ich Dank erstatten, nämlich Dank den Kolleginnen und Kollegen, die als Abgeordnete und als Sachverständige mitgewirkt haben, Dank allen Obleuten, aber auch Ihnen, Frau Connemann, meinen persönlichen Dank für die souveräne, hartnäckige und nachhaltige Verhandlungsführung. Herzlichen Dank.
Ich möchte aber auch die Arbeit derjenigen würdigen, die in der letzten Wahlperiode mitgewirkt haben und dann, aus welchen Gründen auch immer, nicht mehr an den Beratungen der Enquete-Kommission teilgenommen haben, weil vielleicht die Weisheit der Wähler oder eine persönliche Lebensentscheidung dazu geführt hat, dass sie kein Mandat mehr für diese verantwortliche Aufgabe hatten. Herzlichen Dank also auch an alle, die früher diese Arbeit geleistet haben.
Lassen Sie mich jetzt auf einige Inhalte zu sprechen kommen. Zunächst möchte ich einige grundsätzliche Anmerkungen zu den Rahmenbedingungen der Kulturpolitik machen. Dann möchte ich das Thema ?Rechtliche und strukturelle Rahmenbedingungen der Kulturarbeit“ am Beispiel der öffentlichen Bibliotheken erläutern und einen Hinweis darauf geben, welche Weisheit in unseren Empfehlungen - da gibt es wahre Perlen - enthalten ist. Schließlich geht es um Fragen im Zusammenhang mit dem Urhebervertragsrecht. Auch dazu erlaube ich mir ein paar Anmerkungen.
Zur Struktur der Kulturpolitik und zu den Entscheidungsprozessen in der Kulturpolitik. Folgende Fragen sind vorrangig an uns selbst gerichtet, weil dies unser Kompetenzfeld ist: Wie soll und kann eine zeitgemäße Kulturpolitik definiert werden? Was kann sie leisten? Wie effektiv sind ihre Strukturen? Wie werden kulturpolitische Ziele erarbeitet und wirksam umgesetzt? Im weitesten Sinne geht es um das Themenfeld der Kulturverwaltungsreform oder -modernisierung. Dazu haben wir wichtige Hinweise auf unseren Delegationsreisen insbesondere in die Niederlande oder nach Großbritannien bekommen.
Auch in der Kulturpolitik, so empfehlen wir, sollten wir uns moderneren, wirksameren Entscheidungsprozessen zuwenden. Ich will jetzt nicht zu technisch werden, aber wir plädieren dafür - das ist eine Handlungsempfehlung der Enquete-Kommission -, auch in der Kulturpolitik in gewissen Zeitabständen Schwerpunkte zu überprüfen und gegebenenfalls neue Ziele zu formulieren. Schließlich entwickelt sich in Kunst und Kultur permanent Neues.
Wenn es gelänge, in eine solche konzeptionelle Arbeit der Zielfindung einzutreten, könnten auf Basis solcher grundlegenden Entscheidungen auch Etatisierungen über mehrere Jahre planungsstabil gestaltet werden.
Ich möchte dies am Beispiel der Musikförderung erläutern. Im Haushalt des BKM werden in jedem Jahr etwa 18,9 Millionen Euro für den Bereich der Musikförderung zur Verfügung gestellt. Die Segmente der klassischen Musik binden etwa 15,2 Millionen Euro; Segmente der moderneren, improvisierten und populären Musik etwa 1,5 Millionen Euro. Das ist also deutlich weniger als für die klassische Musik. Ich möchte das eine nicht gegen das andere stellen. Aber manchmal habe ich den Verdacht: einmal etatisiert, immer etatisiert. So gewinnen wir keine Spielräume bei gegebener Etatlage, neue Akzente zu setzen. Deshalb ist die Reflexion über Förderentscheidungen und vor allen Dingen über Inhalte und Wirkungen, die wir damit anstreben, sehr wichtig. Es ist nicht nur ein technischer Begriff. Denn darin liegt die Chance gestaltender - Herr Otto, aktivierender - Kulturpolitik, die wir machen könnten.
Deshalb empfehlen wir dem Deutschen Bundestag - das ist ein Appell an uns -, dieses Vorgehen in bestimmten Handlungsfeldern der Kulturpolitik zu praktizieren. Wir Parlamentarier sind da vorrangig gefordert. Ich bin überzeugt, dass noch eine Menge Diskussionsstoff vor uns liegt. Aber wir müssen diesen Weg gehen.
Lassen Sie mich noch ein weiteres Beispiel skizzieren. Da sehe ich die Handlungsfähigkeit des kooperativen Föderalismus gefordert. Die öffentlichen Bibliotheken sind eine ganz wichtige Institution an der Schnittstelle von Kultur- und Bildungsarbeit.
Gleichwohl ist ihre Etatsituation sehr fragil. Der Rechtscharakter dieser Institutionen und die Verpflichtung des Staates gegenüber ihnen sind schon angesprochen worden. Es sind freiwillige Aufgaben; deshalb ist die Lage sehr schwierig. Deshalb fallen gerade Bibliotheken in Finanzkrisen häufig dem Rotstift zum Opfer. Institutionen werden geschlossen, oder Etats für eine zeitgemäße Ausstattung mit Medien werden nicht entsprechend aufgestellt. Auch da empfehlen wir den Ländern, Bibliotheksgesetze zu erlassen, Standards zu definieren und über eine etwas staatsfernere Bibliotheksentwicklungsagentur Prozesse zu moderieren. Hier sollte man nicht nur auf andere zeigen. Denn wir selbst sind gefordert, gemeinsam mit den Ländern Diskussionsprozesse in Gang zu setzen und hoffentlich zu Ergebnissen zu kommen, damit wir in der Fläche besser werden. Andere Länder zeigen uns, was wir mithilfe aktiver Bibliotheksarbeit gestalten können.
Ein drittes Beispiel betrifft den Komplex der wirtschaftlichen und sozialen Situation der Künstlerinnen und Künstler. Wir haben uns mit der Novelle zum Urheberrechtsgesetz 2002 auseinandergesetzt und mussten feststellen, dass unser Anspruch, den Urhebern eine angemessene Vergütung zukommen zu lassen, in weiten Feldern nicht Wirklichkeit ist. Das anzugehen, empfehlen wir dringend. Wir haben an die Bundesregierung, aber auch an uns die Forderung gerichtet, diese Situation noch einmal sorgfältig zu analysieren und Abhilfe zu schaffen. Wenn fünf Jahre nach Inkraftsetzen einer Rechtsnovelle keine Wirkungen in der Fläche zu erzielen sind, ist das kein gutes Zeichen. Dort sind wir gefordert.
Abschließend noch eine Bemerkung zum Thema Staatsziel Kultur. In der Enquete-Kommission haben wir eine sehr wichtige, grundlegende Analyse vorgenommen; die diesbezüglich einstimmig verabschiedete Empfehlung ist angesprochen worden. Wir haben dazu bereits im Rahmen der Vorlage des Zwischenberichtes eine intensive Plenardebatte geführt. Jetzt ist der Zeitpunkt gekommen, nicht nur die Lippen zu spitzen, sondern auch zu pfeifen.
Wir, die SPD-Fraktion, haben dazu einen Entscheidungsprozess hinter uns gebracht. Ich möchte jetzt nicht in die Debatte der Staatszielhierarchien einsteigen.
Unsere Entscheidung ist aber eindeutig: Wir fordern die Fixierung eines Staatsziels Kultur aus vielerlei Gründen; sie wurden hier schon genannt. Ich vermute, dass es nicht hilfreich ist, die Diskussion zuzuspitzen. Ich glaube, dass es jetzt wichtig ist, sich in dem Geist, in dem die Arbeit der Enquete-Kommission geleistet wurde, aufeinander zuzubewegen und zu sehen, was tatsächlich umsetzbar ist. Ich vermute, dass es Chancen gibt. An uns selbst, aber auch an den Koalitionspartner richte ich den Appell, gemeinsam zu Ergebnissen zu kommen.
Mit diesem Thema will ich die anderen Aspekte nicht relativieren; sie sind ungeheuer wichtig. Andere Kolleginnen und Kollegen werden gleich weitere Inhaltsschwerpunkte darstellen.
Lassen Sie mich zum Schluss einen ganz besonderen Dank aussprechen. Er mag etwas ungewöhnlich erscheinen; aber dies ist mir ein großes Bedürfnis. Ich möchte mich neben dem Sekretariat der Enquete-Kommission bei allen Fraktionsreferentinnen und Fraktionsreferenten bedanken,
insbesondere bei Dr. Ingrun Drechsler und Astrid Boewen-Nitz.
Dies tue ich an dieser Stelle auch deshalb, weil ich mir persönlich ernsthaft gar nicht vorstellen kann, dass Ingrun Drechsler Ende Januar in den wohlverdienten Ruhestand geht.
Bei dem Elan, den sie hier an den Tag gelegt hat, und dem großen vermittelnden Geschick kann ich nur sagen: Chapeau! Jetzt liegt der Ball in unserem Spielfeld. Wir sind in den Ausschüssen gefordert, uns mit den Handlungsempfehlungen auseinanderzusetzen.
Herzlichen Dank.
Präsident Dr. Norbert Lammert:
Was das Ausscheiden von Frau Drechsler betrifft, schließt sich der Präsident Ihrem begrenzten Vorstellungsvermögen ausdrücklich an.
Nun hat das Wort Frau Dr. Jochimsen für die Fraktion Die Linke.
Dr. Lukrezia Jochimsen (DIE LINKE):
Herr Präsident! Liebe Gäste! Liebe Kollegen Sachverständige!
Insbesondere lieber Professor Kramer als Mitstreiter! Ich kann mich dem Dank, den Herr Ehrmann gerade allen an der Arbeit der Enquete-Kommission beteiligten Bereichen ausgesprochen hat, nur anschließen, und möchte ihn auf unsere Fraktionsreferentin Frau Dr. Annette Mühlberg ausdehnen. Auch ich hätte nicht gewusst, wie ich als Späteinsteiger in diese Kommission die Arbeit überhaupt hätte bewältigen können, wenn es nicht die Möglichkeit eines fundierten Wissens und einer Zuarbeit gegeben hätte.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, was wir Ihnen heute vorlegen, sind keine Botschaften aus dem Elfenbeinturm, sondern ist die Zustandsbeschreibung unseres reichen und vielfältigen Fundamentes Kultur, auf dem unsere Gesellschaft und gerade auch die Qualität unserer Demokratie beruhen. Ich finde, das dürfen wir nie aus den Augen verlieren. Diese Zustandsbeschreibung handelt von Glanz, aber gleichermaßen auch von Elend.
Glanzvoll ist die Liste der Theater, Denkmäler, Bibliotheken, Museen, Orchester, Chöre, Tanzgruppen und der Tausenden Einrichtungen und Gruppierungen freien bürgerlichen Engagements in Sachen Kultur. Glanzvoll ist auch das Aufkommen des Wirtschaftszweiges Kultur, eines Beschäftigungssektors mit hohen Wachstumsraten und großer Zukunft. Lieber Herr Kollege Ehrmann, dass wir hier in Zukunft genauer hinschauen müssen, ist unbestritten.
Elend sind hingegen die Einkommen der meisten Künstler und Kulturschaffenden in Deutschland. Im Durchschnitt verdienen sie gerade einmal 11 000 Euro pro Jahr, die Mehrheit verfügt über kein regelmäßiges Einkommen, und es ist ihnen kaum möglich, eine Alterssicherung aus ihren Einnahmen zu finanzieren. Das gilt nach wie vor, obwohl die Umsätze und Gewinne der Branche gestiegen sind und weiter steigen. Die Kreativen haben aber keinen Anteil daran. Von Leistungsgerechtigkeit keine Spur!
Aus unserer Sicht muss der Staat an dieser Stelle gegensteuern, und zwar mit einer Stärkung des Urheberrechts - das wurde bereits angesprochen -, damit die Einnahmen tatsächlich den Urhebern zugute kommen und die Zeit für künstlerische Arbeit in der Rentenversicherung flexibel angerechnet werden kann.
Zur elenden, ja jämmerlichen Seite der Zustandsbeschreibung der Kultur in Deutschland gehört zweitens, dass ihr Reichtum und ihre Vielfalt an etlichen Stellen bereits Spuren von Abbau und Rückbau aufzeigen. Ein trauriges Beispiel dafür sind die Theater in Thüringen. Das gilt aber nicht nur für sie. Deshalb ist es wichtig, dass die Förderung von Kunst und Kultur im Bericht als Pflichtaufgabe des Staates herausgestellt wird. Kultur muss als Staatsziel im Grundgesetz verankert werden.
Ich stehe auf der Seite all derer, die gesagt haben, dass es Zeit ist, nicht länger nur die Lippen zu spitzen, sondern auch zu pfeifen. Das rot-rote Berlin und das vormals rot-rote Mecklenburg-Vorpommern sind übrigens die einzigen Bundesländer, die das bereits beschlossen haben.
Aus unserer Sicht muss die Kompetenz des Bundes für die Kultur weiter gestärkt werden, zum Beispiel um unsere Bibliotheken zu retten. Der Kollege Ehrmann hat das gerade vorgetragen. Der Bundespräsident hat dieses Elend in einer bewegenden Rede zur Wiedereröffnung der Anna-Amalia-Bibliothek in Weimar genau benannt:
Noch kann man sagen: Bibliotheken bilden in Deutschland ein flächendeckendes Netz.
Er sagte aber auch:
Auf dem Land ist das Netz öffentlicher Bibliotheken zum Teil ziemlich dünn - und in manchen Gegenden kann man von einem regelrechten Bibliothekssterben sprechen. Nur etwa 15 Prozent der Schulen
- ich bitte Sie: 15 Prozent der Schulen in Deutschland -
verfügen über eine eigene Bibliothek …
Sein Fazit lautet: In Deutschland fehlt ?- im Gegensatz zu den erfolgreichen PISA-Ländern - die strategische Verankerung der Bibliotheken als Teil unserer Bildungsinfrastruktur.“ Er sagt, dass diese ?heute weder auf Länderebene noch in der Politik des Bundes in ausreichendem Maße anzutreffen“ sind. ?Bibliotheken gehören deshalb in Deutschland auf die politische Tagesordnung.“
Die Enquete-Kommission sieht das genauso. Allerdings unternimmt sie nicht den aus unserer Sicht entscheidenden Schritt. Sie fordert kein Bundesbibliotheksgesetz, um den Bestand unserer Bibliotheken, die es noch gibt, zu retten. Zu einer Reform der Kompetenzverteilung gehört nach unserer Vorstellung auch - es wird Sie vielleicht wundern, dass die Linke das fordert - die Ernennung eines Bundeskulturministers mit eigenständigem Ministerium, damit Kultur im Kabinett und auf europäischer Ebene gleichberechtigt vertreten ist.
Die Kommission hat umfangreich, ausführlich, präzise und konkret gearbeitet und sich dabei auf vielerlei Sachverstand gestützt. Mir erscheint es aber als ein Elend, dass die Kommission nicht bereit war, sich angemessen mit den kulturellen Folgen der deutschen Teilung zu befassen. Die Auseinandersetzung mit der Tatsache, dass Kultur in Deutschland 40 Jahre lang in zwei Gesellschaften geschaffen, gefördert, gefeiert, kritisiert, ja, auch unterdrückt wurde, dass es zwei Kulturen gab, und zwar nicht parallel nebeneinander, sondern ganz bewusst gegeneinander positioniert, und diese Tatsache Folgen hat, bis auf den heutigen Tag, und zwar ebenso im Bewusstsein der Menschen wie für unsere kulturelle Infrastruktur, wäre des Schweißes der Edlen wirklich wert gewesen.
Wir meinen, dass die bis heute festzustellenden mentalen Unterschiede zwischen Ost und West eine Herausforderung für die Kulturpolitik sind. Dabei geht es nicht darum, sie zu überwinden, sondern darum, sie als Chance zu nutzen.
Die Chance, die beiden Schulsysteme von DDR und Bundesrepublik in ihrer Unterschiedlichkeit zu nutzen, haben wir sträflich versäumt. Mit dem Erbe der beiden Kulturen sollten wir anders umgehen, auch und gerade nach der Veröffentlichung dieses Berichts.
Insgesamt halten wir den Bericht für eine notwendige Grundlage unserer weiteren Arbeit für die Kultur. Er entstand nicht im Elfenbeinturm, und er handelt nicht von Luxus, Dekoration oder Überfluss, sondern von den Überlebensnotwendigkeiten unserer Gesellschaft.
Ich danke Ihnen.
Präsident Dr. Norbert Lammert:
Das Wort erhält nun die Kollegin Undine Kurth, Bündnis 90/Die Grünen.
Undine Kurth (Quedlinburg) (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Liebe, verehrte Gäste! Es ist schon eine Weile her, da haben die Grünen die Schaffung eines Kultusministeriums gefordert; dass daraus nichts geworden ist, wissen wir alle. Dann haben wir die Einsetzung einer Enquete-Kommission gefordert, die sich mit der Situation bzw. dem Zustand der Kultur in Deutschland befassen sollte; dass das erfolgreich vonstatten gegangen ist, sehen wir heute. Bei dieser Einsetzung herrschte in diesem Haus große Übereinstimmung, und sie wurde von allen Fraktionen getragen.
Ich bin der festen Überzeugung, dass die Einsetzung der Enquete-Kommission ?Kultur in Deutschland“ ein echter Glücksfall für Kunst und Kultur in unserem Land war,
auch deshalb, weil sie von dem gemeinsamen Willen getragen war, zu Ergebnissen zu kommen und Ressort- und Fraktionsgrenzen zu überwinden. Diese ernsthafte und sehr engagierte Arbeit hat letztendlich dazu geführt, dass uns eine beeindruckende Bestandsaufnahme und eine ebenso beeindruckende Zahl von Handlungsempfehlungen vorliegen; davon ist hier schon mehrfach gesprochen worden.
Deshalb glaube ich, dass dies die richtige Gelegenheit ist, all denen zu danken, die so engagiert an der Erstellung des Berichts der Enquete-Kommission mitgewirkt haben. Ich möchte für meine Fraktion vor allem diejenigen nennen, die in der letzten Legislaturperiode daran mitgearbeitet haben: Ursula Sowa und Antje Vollmer. Ihnen gilt unser herzlicher Dank. Denn ohne ihre Vorarbeit hätten wir nicht so gut weiterarbeiten können.
An vielen Stellen dieses Berichts wird immer wieder übereinstimmend betont - diese Übereinstimmung ist übrigens nicht das Ergebnis nichtkontroverser Debatten, sondern eher das Ergebnis einer sehr gründlichen Auseinandersetzung -, dass Kultur einen hohen Eigenwert hat, dass sie Orientierung gibt, dass sie identitätsbildend ist und dass sie das System von Werten und Normen, das unsere Gesellschaft trägt, bestimmt. Kultur lebt davon, dass sie von Generation zu Generation in Ausdrucksformen weitergegeben, aber auch immer wieder infrage gestellt und neu definiert wird. Kultur vermittelt Heimat, Identität und vor allem Respekt vor der eigenen kulturellen Leistung und damit die Souveränität, mit anderen Kulturen umgehen zu können.
Es wird immer wieder betont und übereinstimmend festgestellt: Ohne Kultur ist unsere Gesellschaft nicht denkbar. Ebenso klar ist aber auch, dass die Politik nicht Kultur machen kann. Der Staat allein kann weder kulturelle Vielfalt noch kulturelles Leben organisieren.
Er kann aber Rahmenbedingungen setzen, damit Kultur gemacht werden kann, Rahmenbedingungen, die ermöglichen, dass es eine kulturelle Teilhabe für alle gibt. Es ist eine Frage der Gerechtigkeit, Rahmenbedingungen zu schaffen, die das wirtschaftliche Potenzial von Kunst und Kultur fördern und die soziale Lage derer, die diese Vielfalt in unserem Land erarbeiten, besser im Auge hat.
Denn wer weiß, wie viel Schauspieler, Sänger, Maler und Grafiker verdienen, und wer bedenkt, dass die Gage oder das Honorar der Gegenwert bzw. die Anerkennung der Leistung ist, der muss sich schon fragen, welches Bild vom Wert der Arbeit von Schauspielern, Sängern, Malern und Grafikern wir in diesem Lande eigentlich haben.
Vor dem Hintergrund der Auseinandersetzung mit dem Rechtsextremismus ist auch wichtig, immer wieder daran zu erinnern, dass uns Kultur befähigt, Demokratie zu leben,
Urteile zu fällen und abzuwägen. Deshalb sind Kultur und kulturelle Bildung - beides gehört zusammen; wir müssen Kultur und Bildung zusammen denken - eben nicht Arabeske bzw. schönes, schmückendes Beiwerk nach dem Motto: Es ist ganz nett, wenn man es hat, es ist aber auch nicht sehr dramatisch, wenn man es nicht hat. Kultur ist vielmehr das Trainingszentrum für unsere Sozialisation. Wenn wir Trainingszentren leer stehen lassen, dürfen wir uns nicht wundern, wenn andere sie besetzen.
Deshalb glaube ich, dass wir sehr ernsthaft darangehen müssen, die Handlungsempfehlungen, die jetzt auf dem Tisch liegen, umzusetzen. Jede dieser Handlungsempfehlungen hat ihre Berechtigung und ist Ergebnis langer Debatten, fundierter Überlegungen und übrigens auch des Streits, der der Verständigung auf einen Kompromiss vorausgegangen ist. Es ist sicher auch richtig, eine Priorisierung vorzunehmen und festzulegen, welche dieser Handlungsempfehlungen wir zuerst umgesetzt sehen wollen und welche uns die wichtigsten sind.
Ich möchte mich auf zwei konzentrieren, weil ich glaube, dass sie schlicht die Voraussetzung sind, alle anderen umsetzen zu können. Das ist zum einen die Aufforderung, dass die Förderung von Kunst und Kultur eine verpflichtende Aufgabe des Staates sein muss. Nur so können Vielfalt und Dichte des kulturellen Angebotes erhalten bleiben. Die zweite Aufforderung hebt darauf ab, dass Kunst- und Kulturpolitik anderen Politikfeldern gleichgestellt werden muss. Wir müssen anerkennen, dass es eine einzigartige Vielfalt von kulturellen Einrichtungen in unserem Land gibt. Die Theater, die Bibliotheken, die Konzerthäuser, die Museen, die Sammlungen und die soziokulturellen Zentren sind erwähnt worden. All das trägt zum kulturellen Leben, das so wichtig für uns ist, bei. Wie aber werden diese Einrichtungen erhalten? Wir müssen akzeptieren, dass die Gesellschaft, dass die Politik die verpflichtende Aufgabe hat, sich um sie zu kümmern.
Nur so kommen wir aus der Selbstrechtfertigung und den Debatten darüber, ob denn Kunst und Kultur überhaupt Geld kosten dürfen, heraus.
Deshalb glaube ich auch, dass das Staatsziel Kultur ein so wichtiges Ziel ist. Wir wissen sehr wohl, dass das allein das Problem nicht lösen wird; aber es wird bei der Lösung des Problems sehr hilfreich sein. So sehr wir darin übereinstimmen, Herr Otto, dass wir ein solches Staatsziel brauchen, so wenig ist uns geholfen, wenn wir Staatsziele gegeneinander ausspielen.
Wenn das Staatsziel den Kindern nicht nützt, dann wird das Staatsziel auch der Kultur nicht nützen.
Deshalb, so glaube ich, sollten wir nicht sagen, dass das eine besser als das andere ist.
Es liegen eine Menge Handlungsempfehlungen vor. Jetzt kann wieder das Argument kommen, dass das eine Beschreibung all der Dinge ist, die wir längst kennen. Erstens bin ich der festen Überzeugung, dass da viel beschrieben ist, was bisher nicht bekannt war. Die Bestandsaufnahmen haben durchaus vieles zutage gefördert, was bisher nicht in der öffentlichen Debatte war. Zweitens glaube ich, dass es sehr wichtig ist, darauf hinzuweisen, dass Politik nicht automatisch immer nur dort stattfindet, wo man Geld vergeben kann und wo man die haushaltstechnische Zuständigkeit hat. Politik hat auch die Aufgabe, wichtige gesellschaftliche Probleme in den öffentlichen Diskurs zu bringen, sich mit dem Rang und der Wertigkeit von Problemstellungen auseinanderzusetzen. Wenn man sich dann darauf einigt, dass Kultur existenziell für uns ist und unsere Demokratie sichert, dann ist man sich sicher auch darüber einig, dass man dafür ebenso wie für andere politische Bereiche Geld ausgeben darf.
Wir erleben keine Debatte darüber, ob Infrastruktur finanziert werden muss, und wir erleben keine Debatte darüber, ob Wirtschaftsförderung wichtig ist. Warum soll Kulturförderung nicht ebenso wichtig sein? Deshalb glaube ich, dass es natürlich auch um das Argument Geld geht. Hier, Herr Staatsminister, unseren Respekt und unsere Anerkennung für die 400 Millionen Euro, die zusätzlich in den Haushalt für Kultur gekommen sind.
Wir werden erst dann ganz glücklich sein, wenn wir wissen, wofür dieses Geld ausgegeben wird. Trotz allem: Es ist ein ausgesprochen gutes Zeichen.
- Mit dem Parlament zusammen, jawohl. -
Wenn man sich die Angaben des Statistischen Bundesamtes genau ansieht - übrigens ist auch Rechnen eine Kulturtechnik -, dann kann man sehen, dass in den Ländern genau das Gegenteil passiert. Prozentual steigen zwar die Ausgaben - zumindest in den meisten Ländern; nur Mecklenburg-Vorpommern hat das nicht geschafft -, aber sie bewegen sich im marginalen Bereich. Die Hürde von 2 Prozent des Gesamtvolumens zu überschreiten, schaffen gerade einmal vier Länder in dieser Republik. Nominell aber sinken die Ausgaben für Kultur drastisch. Zwischen den Jahren 2001 und 2007 sind in der Bundesrepublik Deutschland 600 Millionen Euro weniger für Kultur ausgegeben worden, weniger für die Vielfalt, weniger für die Leistung von Kultur, die wir alle brauchen - und das vor dem Hintergrund steigender Preise. Man kann das wesentlich besser volkswirtschaftlich ausdrücken: Im Jahr 2001 haben wir noch 0,4 Prozent des Bruttoinlandsprodukts für Kultur ausgegeben, jetzt geben wir 0,35 Prozent des Bruttoinlandsprodukts dafür aus.
Deshalb lautet meine dringende Bitte an Sie, Herr Staatsminister: Sagen Sie Ihren Landeskollegen bei nächster Gelegenheit bitte, dass man auch mehr Geld für Kultur ausgeben kann!
Man darf sich nicht allein dafür feiern lassen, dass man die Etats nicht senkt. Genau das erleben wir aber gerade in den Ländern. Dort ist man schon darüber glücklich, dass die Etats der Theater, Orchester, Museen und soziokulturellen Zentren auf niedrigstem Level nicht noch weiter gekürzt werden. Eigentlich wäre das Gegenteil notwendig. Wenn wir uns hier einig sind, dass Kultur wichtig ist und unsere Gesellschaft trägt, dann sollten wir auch übereinstimmend der Meinung sein, dass wir dafür Geld in die Hand nehmen müssen. Sonst funktioniert das nämlich nicht.
Wir sind - das ist schon mehrfach gesagt worden - am Ende der Arbeit der Enquete angelangt. Das heißt aber auch, dass wir am Beginn der politischen Umsetzung stehen. Denn die beste Analyse, der beste Bericht einer Enquete-Kommission als eine Art Politikberatung wird in der Gesellschaft nicht viel verändern - gerade dafür wurde die Enquete-Kommission ?Kultur in Deutschland“ aber eingesetzt -, wenn wir nicht die richtigen Schlüsse daraus ziehen. Es sollte uns daran gelegen sein, die Handlungsempfehlungen der Kommission in reale politische Veränderungen umzusetzen.
Wenn wir es mit der Verantwortung von Bund, Ländern und Gemeinden für die Kultur ernst meinen, dann müssen wir beginnen, an all diesen Punkten Veränderungen in Gang zu setzen. Zum einen können wir das hier im eigenen Hause tun. Zum anderen sind aber natürlich auch die Länder gefragt. Diesbezüglich geht mein Appell vor allem an die Kollegen der Großen Koalition; denn Sie haben ja im Moment noch - ich denke, das wird sich ändern - die beste Ausgangsposition, um politische Veränderungen in den Ländern zu erreichen. Deshalb mein dringender Appell an Sie: Fangen Sie damit an; unsere Unterstützung haben Sie!
Danke schön.
Präsident Dr. Norbert Lammert:
Ich erteile das Wort der Kollegin Dorothee Bär für die CDU/CSU-Fraktion.
Dorothee Bär (CDU/CSU):
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Liebe Sachverständige! Zunächst geht mein ganz herzlicher Dank an Sie, Herr Präsident, zum einen für Ihre Vorbemerkungen heute Morgen zu Beginn der Debatte, zum anderen für die Ermöglichung dieser Debatte in der Kernzeit.
Es ist sehr schön, eine Kulturdebatte erleben zu können, während es draußen noch hell ist. Das würden wir uns wesentlich öfter wünschen. Dafür noch einmal ganz herzlichen Dank!
Ich möchte mich auch ganz herzlich bei allen Sachverständigen bedanken. Sie gestehen es mir sicherlich zu, wenn ich unserem CSU-Sachverständigen, Hans Zehetmair, besonders herzlich danke, der sich durch seine Kompetenz und seinen Sachverstand in den letzten vier Jahren über alle Fraktionsgrenzen hinweg in unser aller Herzen ?hineinsachverständigt“ hat.
Ich möchte an dieser Stelle aber auch noch einmal der Kommissionsvorsitzenden ganz herzlich danken. Liebe Gitta Connemann, Sie haben in den letzten Jahren eine Mammutaufgabe erfüllt. Es ist keine Selbstverständlichkeit, dass eine Enquete-Kommission über zwei Legislaturperioden besteht. Es war auch keine Selbstverständlichkeit, dass diese Enquete-Kommission in dieser Legislaturperiode so ohne Weiteres fortgeführt werden konnte. Sie haben nicht nur mit sehr vielen verschiedenen Persönlichkeiten aus den Fraktionen sowie mit den Sachverständigen zu kämpfen gehabt, sondern - das möchte ich an dieser Stelle noch einmal betonen - hatten auch ganz neue Herausforderungen dadurch zu bewältigen, dass die Regierung gewechselt hat und es in dieser Legislaturperiode eine Fraktion mehr im Bundestag gibt als in der letzten. Diese Herausforderungen haben Sie ganz herausragend gemeistert. Dafür noch einmal ganz herzlichen Dank, und zwar nicht nur von unserer Gesamtfraktion, sondern insbesondere von der CSU.
Das positive Signal, das davon für uns alle ausgeht, ist, dass man Kultur nicht an Wahlterminen und Farbkonstellationen ausrichten kann. Vielmehr wurde in den letzten vier Jahren eine sehr kontinuierliche Arbeit geleistet. Ich denke, darauf können wir alle stolz sein.
Ich möchte mich auch bei den Mitarbeitern des Sekretariats bedanken, ganz besonders bei allen, die an der Endredaktion beteiligt waren. Ich glaube, dass die Endredaktion mit die schwierigste Arbeit war, weil es galt, alles unter einen Hut zu bekommen. Die Bestandsaufnahme war wirklich ein Mammutprojekt. Der Bericht der Enquete-Kommission umfasst mehr als 500 Seiten. Ich denke, es ist nicht übertrieben, zu sagen, dass man ihn mit Stolz unter den Weihnachtsbaum legen kann. Oder man kann ihn sich im Anschluss an diese Debatte von der Vorsitzenden signieren lassen und ihn verschenken.
Der Schlussbericht beschränkt sich nicht auf Feststellungen, sondern gibt auch Empfehlungen. Da wir in einem föderalen Staat leben, richten sich diese Empfehlungen an viele Adressaten, auch an uns. Natürlich müssen auch wir Bundestagsabgeordnete uns an die Empfehlungen, die wir geben, halten. Aber ebenso sind die Länder und die Kommunen angesprochen. Alle gesellschaftlichen Bereiche in diesem Land leisten unglaubliche Arbeit, um die Kultur in Deutschland lebendig zu halten, um sie für alle erlebbar und erfahrbar, aber natürlich auch erschwinglich zu machen. Ich möchte fünf Punkte aus dem Bericht der Enquete-Kommission herausgreifen: das Ehrenamt, die ländlichen Regionen, die Kinder - sie wurden heute leider Gottes schon in einem nicht so schönen Zusammenhang angesprochen, Herr Kollege Otto -,
die Bibliotheken und den Spracherwerb.
Zunächst zum Ehrenamt. Ich glaube, das Ehrenamt ist für die Kultur in Deutschland die zentrale Stütze. Wenn wir uns umschauen - die meisten von uns arbeiten ja auch in ländlich geprägten Regionen -, müssen wir doch feststellen: Wenn wir das Ehrenamt, den unentgeltlichen, uneigennützigen Einsatz nicht hätten, wäre es nicht möglich, die kulturellen Angebote, die unsere Kulturlandschaft ausmachen, so am Leben zu erhalten.
Die ländlichen Regionen werden oft übergangen, wenn es um Kultur geht. Oft wird etwas spöttisch auf diese Regionen geschaut, wird gedacht, die Hochkultur gebe es nur in Großstädten. Doch das ist mitnichten der Fall. Die meisten Menschen leben in ländlichen Regionen. Ich komme selber aus einem sehr ländlich geprägten Bereich. Auch in meinem Heimatwahlkreis leben Künstler, die man dort nicht vermuten würde;
man denkt ja oft, die Künstler leben nur in Großstädten. In meinem Landkreis wohnt ein weltweit bekannter Künstler: Herman de Vries. Er schätzt besonders die ländliche Ruhe, die Idylle. Wenn Ausstellungen von ihm in Paris stattfinden, denkt man nicht, dass er aus einem Ort kommt, der nur ein paar Hundert Einwohner hat. An diesem Beispiel kann man sehen, was für Schätze bei uns in den Regionen versteckt sind.
Ein weiteres Ziel, das uns sehr wichtig ist, besteht darin, die Kinder für die Kultur zu gewinnen.
Wir haben dazu sehr viele Veranstaltungen durchgeführt. Wir haben nämlich festgestellt, dass Kinder gerade im kulturellen Bereich begeisterungsfähig und wissbegierig sind. Ich möchte noch ein Projekt aus meiner Heimat herausgreifen. Dort werden Kinder-Kultur-Abos verkauft zu einem Preis, der unter dem von vier Kinobesuchen liegt. Unsere Bundesministerin Ursula von der Leyen hat dieses inzwischen bayernweite Projekt bereits ausgezeichnet. Dass der Bericht der Enquete-Kommission der Bedeutung der Kinder Rechnung trägt, ist auch daran zu sehen, dass die Kinder 388-mal erwähnt werden. Auch dafür noch einmal ganz herzlichen Dank!
Wir haben ein besonderes Kapitel zum Thema Bibliotheken eingerichtet. Denn das Lesen gehört ja sehr stark zu unserer Kultur. Bücher vermitteln unsere Sprache, unsere Kultur. Bibliotheken sind der zentrale Ort, um möglichst viele Kinder und Jugendliche zu erreichen. Sie bieten Lesungen und Veranstaltungen an, die insbesondere die Kinder ansprechen sollen.
Jetzt komme ich zu einem weiteren Schwerpunkt, der eines meiner Herzensanliegen in dieser Enquete-Kommission war: Auch für Migrantenkinder sind Bibliotheken eine gute Anlaufstelle, um unsere Sprache zu erlernen. Wie wichtig der Spracherwerb ist, wurde insbesondere in meiner Berichterstattung zu Interkultur und Migrantenkultur deutlich. Sie können sich sicherlich vorstellen, dass es nicht selbstverständlich war, dass wir bei dem Thema ?Interkultur und Migrantenkultur“ zu einem einstimmigen Votum kamen. Dafür, dass es dennoch gelungen ist, möchte ich mich an dieser Stelle bei allen Mitgliedern meiner Berichterstattergruppe bedanken. Denn der Spracherwerb ist nun einmal zentral für eine gelungene Integration.
Daraus ergibt sich auch unsere Handlungsempfehlung, aus der ich kurz zitieren möchte:
Die Enquete-Kommission empfiehlt … die Rahmenbedingungen für das Erlernen der deutschen Sprache, die zentral für eine Integration von Migranten ist, zu verbessern. Sprachförderung ab dem frühen Kindesalter muss deshalb auch in Zukunft verstärkt unterstützt werden. Dabei muss sichergestellt werden, dass die ganze Familie die deutsche Sprache erlernen kann. Sie empfiehlt die Förderung situationsangemessener Formen des Sprachenerwerbs. Neben der Sprachförderung sollten auch die deutsche Verfassung mit ihren Grundrechten und die Grundregeln der Rechtsordnung vermittelt werden.
Ich denke, wir konnten hier einen wirklichen Meilenstein erreichen. Deswegen bin ich sehr dankbar und froh, dass wir diese Handlungsempfehlungen und diesen Bericht zum Thema Sprachenerwerb interfraktionell, mit allen Fraktionen gemeinsam, so vorlegen konnten.
Zum Schluss bleibt zu sagen: Vielen herzlichen Dank für die vergangenen vier Jahre. Ich habe dem Vorsitzenden der Blasmusik versprochen, das Wort ?Blasmusik“ hier zu erwähnen, damit es heute auch einmal genannt wurde.
Da freut sich auch der direkt gewählte Abgeordnete des Berchtesgadener Landes.
Ich denke, in diesem Sinne haben wir noch sehr viel zu tun. Ich freue mich, dass wir unsere Kultur im Anschluss an diese Debatte noch gemeinsam feiern können. Nehmen Sie das Angebot an: Nehmen Sie den Schlussbericht mit, und lassen Sie ihn von der Vorsitzenden signieren! Dann haben Sie ein wunderbares Weihnachtsgeschenk für zu Hause.
Vielen Dank.
Präsident Dr. Norbert Lammert:
Bei aller Begeisterung für die Blasmusik weise ich vorsichtshalber darauf hin, dass es auf Kosten der Redezeit geht, wenn jetzt Kompensationsbedarf besteht und sämtliche Orchestergruppe einzeln erwähnt werden müssen.
Der nächste Redner ist der Kollege Christoph Waitz für die FDP-Fraktion.
Christoph Waitz (FDP):
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich gehöre zu denjenigen, die erst seit dieser Legislaturperiode und somit die zweite Hälfte der Kommissionsarbeit begleiten durften. Für mich war es ein spannender und sehr bereichernder Schnellkurs in Sachen Kulturpolitik.
Aus dieser Erfahrung heraus kann ich jedem, der einen Einstieg in die Kulturpolitik und in die aktuellen Handlungsfelder finden möchte, diesen Schlussbericht zur Lektüre empfehlen; denn - dies gerät in unserer Debatte ein wenig in den Hintergrund - dieser Bericht enthält zu einem großen Teil die Bestandsaufnahme der Kultur in Deutschland sowie eine Problembeschreibung, auf deren Basis wir die Handlungsempfehlungen, die schon jetzt im Mittelpunkt unseres Interesses stehen, entwickelt haben.
Für mich als sächsischen Bundestagsabgeordneten war es bei meinen Schwerpunktsetzungen für die Arbeit innerhalb der Enquete-Kommission ganz wichtig, herauszubekommen, welche kulturpolitischen Themen für den Freistaat Sachsen von besonderer Bedeutung sind. Sie wissen, dass Sachsen mit dem Sächsischen Kulturraumgesetz eine Art Kulturverfassung hat, die in vielerlei Hinsicht vorbildhaft für den Rest Deutschlands sein könnte.
Für Sachsen gilt aber, was letztlich auch für die gesamte Bundesrepublik gilt: Die Kultur- und die Kreativwirtschaft sowie der Kulturtourismus haben noch viel zu viel ungenutztes Potenzial. Nicht nur in Leipzig, das weit über die Grenzen Deutschlands hinaus als Bach-Stadt und Stadt der alten und neuen Leipziger Malerschule bekannt ist, ist die Kultur ein wichtiger Identitätsfaktor und ein zentrales Element der Stadt- und Wirtschaftsentwicklung.
Welche tatsächlichen wirtschaftlichen Effekte die Kultur hat, wurde in diesem Jahr am Beispiel der Kulturförderung für die Wirtschaft der Stadt Dresden untersucht. Das Ergebnis dieser Studie hinsichtlich der wirtschaftlichen Effekte ist beeindruckend: Die Ausgaben der Besucher in Dresden für Hotels, Restaurants, Verkehr usw., was auch zu zusätzlichen Steuereinnahmen führt, betragen circa 144 Millionen Euro. Bei einer staatlichen Förderung von circa 40 Millionen Euro ist das eine Rendite, die ansonsten nur mit gewagten Finanzspekulationen erreichbar wäre, mit dem kleinen Unterschied, dass sich die Bedeutung der Semperoper zum Beispiel für die Identifikation der Stadt und des Landes als zusätzlicher wirtschaftlicher Effekt auswirkt.
Dieses Beispiel, Herr Tauss, lässt sich nicht auf jedes kleine Theater übertragen. Dadurch wird aber mit dem verbreiteten Vorurteil aufgeräumt, dass Kultur vor allem Geld kostet. Einmal abgesehen davon, dass wir es uns gar nicht leisten könnten, auf die Kultur zu verzichten, wäre eine Vernachlässigung auch unter dem wirtschaftlichen Gesichtspunkt kontraproduktiv.
Dies unter Beweis zu stellen und für jeden politischen Entscheidungsträger nachlesbar aufzuschreiben, war sicher auch ein Anspruch der Kulturenquete. Neben diesen grundsätzlichen Maßnahmen zur Förderung der Kulturwirtschaft, die sich in einem fraktionsübergreifenden Antrag, den wir hier neulich verabschiedet haben, wiederfinden, halte ich es für zentral, dass insbesondere Länder und Kommunen Kultur in einem verstärkten Maße als Alleinstellungsmerkmal für ihr Tourismusmarketing einsetzen. Wir brauchen in diesem Punkt eine viel stärkere Vernetzung zwischen der Tourismus- und der Kulturbranche und den politischen Entscheidungsträgern.
Eine Maßnahme, die die Kultur-Enquete vorschlägt, um den Wettbewerb zwischen den Kulturstädten Deutschlands zu befördern, ist die Ausschreibung eines Wettbewerbs unter dem Titel ?Kulturstadt Deutschland“. Nach den überaus positiven Erfahrungen, die wir mit dem Wettbewerb um die europäische Kulturhauptstadt - und zwar ausdrücklich nicht nur für die Gewinner, sondern für alle Beteiligten - gemacht haben, kann ein solcher nationaler Wettbewerb nur förderlich und für andere Kommunen im besten Sinne des Wortes beispielgebend sein.
Einen weiteren Themenkomplex möchte ich noch ganz kurz anreißen, weil er einen wichtigen Bereich behandelt und weil es in ihm einige Empfehlungen der Enquete-Kommission gibt, die sicherlich gut gemeint, aber nicht wirklich förderlich sind. Es geht um das Kapitel ?Kultur in Europa - Kultur im Kontext der Globalisierung“. Die europäische Perspektive unseres nationalen Handelns steht hier außer Frage und ist ohne Alternative. Das Zusammenwachsen Europas wird in zunehmendem Maße zu einer europäischen Identität führen, die die nationale Identität jedoch nicht ersetzt, sondern ergänzt und erweitert.
Allerdings sind die Empfehlungen des Europakapitels nicht ausnahmslos geeignet, einen hilfreichen Beitrag dazu zu leisten. Ein Beispiel dafür ist die Methode der offenen Koordinierung, über die in der Enquete-Kommission mehrfach diskutiert wurde. Ich glaube nicht, dass das Instrument der offenen Koordinierung in der Kulturpolitik tatsächlich praktikabel ist. Die Methode der offenen Koordinierung ermöglicht keine ausreichend demokratisch legitimierte Diskussion über die von der Europäischen Kommission vorgeschlagenen Maßnahmen. Dies ist gerade im Hinblick auf das Subsidiaritätsprinzip, welches mit der Methode der offenen Koordinierung unterlaufen wird, von großer Bedeutung.
Ein weiteres Problem sehen wir bei dem UNESCO-Abkommen zum Schutz des immateriellen Kulturerbes. Wir teilen im Grundsatz die Ziele des Abkommens und erkennen die Bedeutung des immateriellen Kulturerbes und dessen Bewahrung ausdrücklich an. Die vorgeschlagenen Institutionen und Maßnahmen stellen aber eine unnötige Bürokratisierung und Konservierung des kulturellen Lebens dar, der wir eine lebendige Weiterentwicklung des immateriellen Kulturerbes vorziehen.
Wir als FDP-Fraktion werden mit großem Engagement die Umsetzung der Handlungsempfehlungen forcieren. Aber die Mehrheitsverhältnisse in diesem Hause sind - noch - relativ klar verteilt.
- Na, wir werden schauen. Die nächsten Wahlen kommen bestimmt. - Wir konnten gestern im Kulturausschuss deutlich erleben, dass die Koalition einem Antrag auch dann nicht zustimmen kann, wenn er der Regierungsposition eins zu eins entspricht. Das bedeutet für Sie, liebe Kollegen und Kolleginnen von der Union und der SPD, dass es unter diesen Bedingungen Ihre Aufgabe ist, die Themenfelder vorzubereiten und auch die Mehrheiten für die Umsetzung der Ergebnisse der Enquete-Kommission durchzusetzen.
Ein Thema der Enquete-Kommission steht schon jetzt auf der Tagesordnung des Bundestages: das Staatsziel Kultur. Die FDP-Bundestagsfraktion hat dazu Anfang 2006 einen Gesetzentwurf eingebracht. Nach wie vor harren wir der Entscheidung. Die SPD hat dem Staatsziel Kultur kürzlich zugestimmt. Jetzt fehlen noch Ihre Stimmen von der CDU/CSU.
Präsident Dr. Norbert Lammert:
Herr Kollege.
Christoph Waitz (FDP):
Liebe Kolleginnen und Kollegen von der CDU/CSU-Fraktion, zeigen Sie, dass Sie es ernst meinen mit der Kulturförderung,
und stimmen Sie dem Staatsziel Kultur zu!
Vielen Dank.
Präsident Dr. Norbert Lammert:
Ich erteile das Wort der Kollegin Lydia Westrich für die SPD-Fraktion.
Lydia Westrich (SPD):
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Als Finanzpolitikerin in eine Enquete-Kommission zu kommen, ist erst einmal ein Kulturschock, besonders wenn diese Kommission ?Kultur in Deutschland“ heißt. Ich bin gewöhnt, an Paragrafen und Details zu feilen. Bei den Finanzpolitikern entscheidet im Endeffekt meistens nur ein kleines Wort in einem Halbsatz eines Absatzes irgendeines Paragrafen in einem einzigen Gesetz über das Wohlergehen der Bürger unseres Staates. Dann kam die Enquete-Kommission
mit Sachverständigen, die reden und reden, die nicht nur ein Mitspracherecht, sondern auch ein Stimmrecht haben. Sie haben Ideen, die in der Paragrafenwelt nicht fassbar sind. Wo aber bleiben bei den vielen Reden die Fakten?
Kunst heißt, wie mir ein Künstlerfreund gesagt hat, loszulassen und sich hinzugeben, sich auf Unbekanntes einzulassen. Da ich keine Künstlerin bin, habe ich zumindest versucht, mich auf das Thema ?Kultur in Deutschland“ einzulassen, das mich als Bundes- und Kommunalpolitikerin brennend interessiert. Kaum war die innere Bereitschaft da, zeigten sich die Fakten.
Aus den Reden ergaben sich Streitgespräche, Anhörungen der Betroffenen und Gutachten über viele Teilbereiche der immensen Schatzkiste, die wir in Deutschland haben. Was fangen wir bei immer knapper werdenden Kassen mit diesem Schatz an? Das herauszufinden, war unsere Aufgabe. Der großen Herausforderung, den Schatz zu mehren und ihn für künftige Generationen weiterzuentwickeln, statt ihn auszugeben, haben wir uns - jeder in seinem Bereich - gestellt. Das hat Spaß gemacht.
Mein Bereich war die wirtschaftliche und soziale Lage von Künstlerinnen und Künstlern. Für Eingeweihte wird es weniger erstaunlich sein als für mich, dass ich jenseits des roten Teppichs, des Glitzerns und des Glamours der Feste schnell in sehr ernüchternde Lebensbiografien vorgestoßen bin. So ist die Hauptdarstellerin einer Soap, die täglich durch die Wohnzimmer flimmert, als alleinerziehende Mutter arbeitslos geworden, und sie muss immer wieder um ihr Arbeitslosengeld II kämpfen, weil ein Sachbearbeiter die Wiederholung eines ihrer Auftritte im Fernsehen gesehen hat, für die sie jedoch kein Geld bekommt. Bis das Arbeitslosengeld II dann wieder fließt, vergeht einige Zeit, in der sie kein Einkommen hat.
Vor allem darstellende Künstler - die im Filmbereich tätigen Kulturschaffenden, Kameraleute usw. - haben zunehmend mit der Existenzsicherung zu kämpfen. Aus Kostengründen beschränken die Unternehmen der Filmwirtschaft, aber auch die Theater die Produktionszeiten auf das unumgängliche Maß. Die Beschäftigungszeiten werden auf wenige Drehtage mit immensen Überstunden begrenzt. Die Arbeitgeber sparen dadurch Beiträge zur Sozialversicherung.
Zunächst hat auch der Künstler kurzfristig Vorteile wegen seines Spitzenverdienstes in diesen wenigen Tagen, und er bemerkt zu spät, dass ihm Sozialversicherungstage fehlen. Durch die Verkürzung der Rahmenfrist in der Arbeitslosenversicherung von drei auf zwei Jahre, innerhalb derer zwölf Monate versicherungspflichtige Zeiten als Voraussetzung für einen Anspruch auf Arbeitslosengeld erbracht werden müssen, können immer weniger Schauspieler, Kameraleute, Toningenieure und Produzenten diesem Anspruch gerecht werden.
Deshalb verlangt die Enquete-Kommission, eine Lösung für die Betroffenen zu finden.
Wir sind sehr zuversichtlich, bald zu einer Lösung zu kommen, seit auch unser Finanzminister Peer Steinbrück und unser SPD-Bundesvorsitzender Kurt Beck dieses Problem aufgegriffen haben.
Der Druck der Enquete-Kommission hat schon mehrfach gegriffen, zum Beispiel beim Erhalt der ZBF, der zentralen Vermittlungsstelle für Bühnen- und Filmschaffende, die der Bundesagentur für Arbeit angegliedert ist. Der Bundesrechnungshof, der diese Stelle kritisiert hat, hat genauso wenig wie viele andere begriffen, dass sich die Situation von Künstlerinnen und Künstlern durch ihren Tätigkeitswechsel von selbstständiger zu nichtselbstständiger Tätigkeit und von unständiger zu kurzfristiger Beschäftigung von anderen in hohem Maße unterscheidet.
Versuchen Sie zum Beispiel einmal, einen Tänzer zu vermitteln: Er hat keinen anerkannten Ausbildungsberuf und ist mit 30 Jahren gesundheitlich ruiniert. Seine Ausbildung war lang und teuer. Nun bleibt an der Jobbörse nur das Repertoire der Hilfsarbeiten für ihn übrig. Die Mitglieder der Enquete-Kommission werden auch darauf drängen, den Tanz als Ausbildungsberuf einzustufen und die Gründung einer Tanzstiftung zu forcieren.
Die zentrale Vermittlungsstelle für die Künstlerinnen und Künstler bleibt aber trotz der Rüge des Rechnungshofs erhalten, da ihr Spezialwissen und ihre Verbindungen natürlich nicht in jeder Agentur für Arbeit vorgehalten werden können.
Arbeitslosengeld II, Arbeitsgelegenheiten, keine Ausbildung - das sind Worte, auf die wir im Zusammenhang mit Künstlerinnen und Künstlern normalerweise nicht kommen. Aber ich habe gelernt, dass gerade im Kulturbereich die Einkommensentwicklung besorgniserregend ist. Da die wirtschaftliche und soziale Lage der Künstler und Kulturschaffenden häufig von der wirtschaftlichen Situation des öffentlichen Kulturbetriebs abhängt, unterliegen sie in schwierigen Zeiten immer als erste dem öffentlichen Sparzwang. Das gilt für Theater, Opern, Orchester, Museen, Bibliotheken, Musikschulen, sozio-kulturelle Zentren, den Film- und Medienbereich und viele andere. Die oft projektbefristete Anstellung ist leider die Regel. Schlecht bezahlte Volontäre ersetzen Museumspädagogen oder Bibliotheksmitarbeiter. Musiklehrer in die Selbständigkeit zu entlassen, ist bei vielen Kommunen leider gang und gäbe. Die Künstlersozialversicherung errechnet für ihre selbständigen Mitglieder Durchschnittsjahreseinkommen von 11 000 Euro. Da könnten wir glatt in eine Mindestlohndebatte einsteigen.
Das Problem ist, dass Kunst und Finanzen häufig nicht zusammenhängend betrachtet werden, weder von den Schöpfern der Kunstwerke noch von uns. Umso wichtiger ist die Empfehlung der Enquete-Kommission, schon bei der Ausbildung die Vermittlung von betriebswirtschaftlichen Fähigkeiten einzubinden. Existenzgründung und erfolgreiche Betriebsführung müssen selbstverständlicher Teil des Studiums sein wie alle anderen Fertigkeiten. Das ist der richtige Weg bei der Ausbildung.
Aber auch die Wirtschaftsförderung muss sich auf die Bedürfnisse der Kulturschaffenden besser einstellen. Mit den Mikrokrediten haben wir einen Anfang gemacht. Dennoch sind die Bedürfnisse der Künstler für die meisten Wirtschaftsförderungsgesellschaften Fremdland, obwohl die künstlerische Arbeit, wie es Frau Bär beschrieben hat, als weicher Standortfaktor gerne mit Prestigegewinnen vermarktet wird. Es ist von uns, von der Enquete-Kommission, nicht zu viel verlangt, dass sich diese Wirtschaftsförderungsgesellschaften für diese Klientel passgenau einsetzen.
Als Steuerpolitikerin war ich natürlich auch für die steuerrechtliche Behandlung der Künstler- und Kulturberufe zuständig. Hierüber könnte ich eine Menge erzählen. Unser allgemeines Steuerrecht enthält bereits Regelungen, die die besondere Situation von Künstlern berücksichtigt und die der Förderung von Kunst und Kultur dienen. Doch gibt es immer wieder Fortentwicklungen, die noch längst nicht Eingang in die Gesetzgebungsmaschinerie gefunden haben.
Unser verstorbener Bundespräsident Johannes Rau hat die Kunst als Lebensmittel bezeichnet. Dementsprechend werden Kunstwerke wie Lebensmittel bei der Umsatzsteuer nur mit dem ermäßigen Steuersatz versehen. Das muss nach dem Willen der Enquete-Kommission trotz immer wieder aufkommender Debatten auch weiter so bleiben.
Zusätzlich wollen wir den Zweig der längst etablierten Kunstfotografie in den Katalog der ermäßigten Steuersätze mit aufnehmen. Frau Bundeskanzlerin Merkel und Herrn Finanzminister Steinbrück sei gesagt: Was den Bergbahnen billig ist, das ist der Kunstfotografie schon lange recht. Darauf werden wir drängen.
Zur Künstlersozialversicherung muss ich noch ein paar Worte sagen, Herr Präsident. Dieses von Sozialdemokraten initiierte Sozialversicherungssystem, das im künstlerischen Bereich die Lebensrisiken wie Krankheit, Alter und Pflege auffangen soll, ist weiterhin Gott sei Dank in voller Blüte. Der Drang in diese Versicherung ist ungebrochen. Wir Mitglieder der Enquete-Kommission werden uns dafür einsetzen, dass der Bundeszuschuss zur Künstlersozialversicherung weiterhin stabil gehalten wird -
Präsident Dr. Norbert Lammert:
Frau Kollegin!
Lydia Westrich (SPD):
- und dass wir mehr Vertragsgesellschaften zu Einzahlungen heranziehen.
Dieses Thema, Herr Präsident, ist unerschöpflich, meine Redezeit leider nicht. Eines ist klar: Ohne Künstlerinnen und Künstler, ohne Kulturschaffende bräuchten wir das Thema Kultur gar nicht anzugehen. Deshalb darf der Spar- und Optimierungszwang, den ich auf allen Ebenen gar nicht abstreite, nicht alleine auf dem Rücken der Kulturschaffenden ausgetragen werden.
Alleine für diese Erkenntnis hat sich für mich die Einsetzung der Enquete-Kommission gelohnt.
Vielen Dank.
Präsident Dr. Norbert Lammert:
Das Wort erhält nun der Kollege Roland Claus, Fraktion Die Linke.
Roland Claus (DIE LINKE):
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Auch ich schätze die Weisheit des Berichtes als einen Kulturkompass, wie Sie es genannt haben, Frau Vorsitzende. Ich finde, das ist ein schönes Wort. Leider versagt das große Werk aber völlig, wo es um die Bewertung von 40 Jahren deutscher Teilung geht.
Der Ansatz, Kulturgeschichte in die Kategorien Diktatur einerseits und Widerstand andererseits einzuteilen, geht fehl. Sprache ist verräterisch. Sie nennen diesen Abschnitt Nachwirkungen der deutschen Teilung. Nachwirkungen! Warum tun Sie das, obwohl Sie wissen, dass Sie damit vor allem im Osten der Republik an Zustimmung verlieren? Auch Sie haben erkannt, dass die Ostdeutschen nach über zehn Jahren ihr Selbstbewusstsein wiedergewonnen haben und deutlich artikulieren. Sie erzählen ganz entspannt über ihre Biografien, über ihr Leben in der DDR. Ihre Antwort, die Antwort der hier dominierenden Politik, ist eine politisch-kulturelle Diskriminierung und Delegitimierung der DDR. Das muss hier so deutlich festgestellt werden.
Die deutsche Kulturgeschichte von 1949 bis 1989 ist aber ein Abschnitt gemeinsamer deutscher Geschichte, trotz oder gerade wegen der Gegensätze. Beide deutsche Staaten haben sich bekanntlich politisch-kulturell in erheblichem Maße über ihre jeweilige Gegensätzlichkeit definiert. Beide waren mit Blick auf den anderen der Geist, der stets verneint. Damit waren die Wechselwirkungen aufeinander immer riesengroß, und das selbst in den eisigsten Zeiten des Kalten Krieges.
Präsident Dr. Norbert Lammert:
Herr Kollege Claus, gestatten Sie eine Zwischenfrage der Kollegin Bär?
Roland Claus (DIE LINKE):
Ja, gerne.
Präsident Dr. Norbert Lammert:
Bitte, Frau Bär.
Dorothee Bär (CDU/CSU):
Herr Kollege, finden Sie es gerechtfertigt, hier zu sprechen, obwohl Sie kein einziges Mal in der Enquete-Kommission anwesend waren, geschweige denn sich jemals mit diesem Thema befasst haben? Finden Sie es gerechtfertigt, Ihre heutige Redezeit als kommunistische Plattform zu missbrauchen?
Roland Claus (DIE LINKE):
Ich beantworte Ihre beiden Fragen jeweils mit Ja. Selbstverständlich finde ich es gerechtfertigt, dass ich mich mit Ihrem Bericht befasse. Sie sollten sich das auch wünschen.
Wenn sich Ihre Logik darin erschöpfte, dass nur diejenigen über den Schlussbericht der Enquete-Kommission reden dürften, die ihr auch angehörten, stellten Sie sich kulturell ein Armutszeugnis aus.
Was ich in der Sache darlegen und ausführen will, hat mit der Würdigung dessen zu tun, was an kulturellen Gemeinsamkeiten und Unterschieden in 40 Jahren deutscher Teilung zu besprechen ist. Ich will Ihnen ein Beispiel nennen. Die kleine, so subversive DDR hat es sogar geschafft, mehr Heinrich-Böll- und Siegfried-Lenz-Bücher zu verkaufen als die Bundesrepublik Bücher von Stefan Heym und Christa Wolf. Ich glaube, das hatte auch etwas mit den Preisen zu tun.
Sie müssen keine Sorge haben. Ich habe zu viele persönliche Freunde aus Kultur und Kunst an den Westen verloren, um mir die DDR schönzureden. Aber ich behaupte: Der kulturelle Lebensalltag in der DDR war dem kulturellen Lebensalltag Österreichs ähnlicher als dem kulturellen Lebensalltag Rumäniens. Die DDR hat 1990 kulturell vieles in die Einheit eingebracht - die Zahlen in Ihrem Bericht belegen das -, vor allem das Selbstverständnis, Kultur und Bildung sozial nicht zu teilen; sie sollen allen zugänglich sein. Ich finde, dass diese Osterfahrungen, insbesondere Erfahrungen aus der DDR, aber auch Erfahrungen mit gesellschaftlicher Transformation gegenwärtig brachliegen und nicht von dieser Gesellschaft genutzt werden.
Deutschsprachige Rockmusik war eher und mehr ost- als westdeutsch. Ich sage das trotz oder wegen großer Zuneigung zu Heinz Rudolf Kunze, Nena, Klaus Lage und anderen. Dass viele Ostrocker in den Westen gingen, lag nicht daran, dass sie den Westen so toll fanden, sondern daran, dass sie nicht aushalten konnten, wie wir in der DDR den Sozialismus vergeigt haben.
Anna Seghers, Erwin Strittmatter, Willi Sitte, Konrad Wolf, Hermann Kant haben Millionen fasziniert. Ihre Verbundenheit mit der DDR genügt heute aber, sie kulturhistorisch zu verbannen.
In Deutschland ist der Zugang zu Bildung und Kultur heute in zunehmendem Maße von sozialen Unterschieden beeinflusst. Das nenne ich kulturfeindlich.
Wo gesellschaftlicher Reichtum und - noch schneller - die Kinderarmut größer werden, ist kultureller Notstand nicht weit.
Noch immer sind Zeit und Chance zur Umkehr. Mit historischem Abstand wächst zuweilen die Souveränität, mit Geschichte umzugehen. Deshalb fordere ich noch einmal dazu auf, kulturelle, mentale Unterschiede zwischen Ost und West als Herausforderung für die Kulturpolitik zu begreifen und sie nicht schlechthin zu überwinden. Diese Unterschiede sollten wir als Chance begreifen.
Präsident Dr. Norbert Lammert:
Jo Krummacher ist der nächste Redner für die CDU/CSU-Fraktion.
Johann-Henrich Krummacher (CDU/CSU):
Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Sehr geehrte Gäste! Zweifelsfrei ist Kultur eine jener elementaren Kohäsionskräfte, die gesellschaftliches Leben und ein Dasein im Miteinander überhaupt erst ermöglichen. Insofern ist Kultur wie das täglich Brot oder die Luft, die wir atmen.
Denn was wäre dieses Land ohne die Sprache der Lutherbibel, ohne Beethovens Neunte, ohne Schillers Räuber, ohne die Bilderwelt von Lucas Cranach oder Georg Baselitz? Was wäre es ohne die Berliner Museumsinsel oder ohne einen Film wie Das Leben der Anderen? Was ohne die Gedichte eines Friedrich Hölderlin oder eines Heinrich Heine? Was ohne die vielen Musikvereine und Theatergruppen? Was ohne das Engagement der Kirchen, vom Mittelalter über die Neuzeit bis hin zur Gegenwart?
Nebenbei bemerkt: Die Enquete-Kommission konnte feststellen, dass die beiden großen christlichen Kirchen in unserem Land mehr für die Kulturförderung ausgeben als die öffentliche Hand.
Was also wäre dieses Land ohne seine kulturelle Vielfalt? Folgerichtig hat die Arbeit der Enquete-Kommission dazu beigetragen, den Reichtum unserer Kulturlandschaft zu erfassen. Aus der Mitte des Bundestages, unter Mitwirkung namhafter Sachverständiger und natürlich auch unter Einbeziehung der Länder ist eine umfassende Bestandsaufnahme gelungen, die die Kultur noch stärker in das Zentrum des politischen Bewusstseins rückt.
Neben dieser umfassenden und deutlichen Bestandsaufnahme ist der Bericht der Enquete-Kommission aber auch mit konkreten Empfehlungen verbunden: mit klaren Aufforderungen an alle staatlichen und gesellschaftlichen Akteure, Kultur quasi immer mitzudenken und in das Alltagshandeln zu integrieren.
Dabei fangen wir nicht bei null an. Mit Staatsminister Bernd Neumann haben wir auf Bundesebene einen engagierten Fürsprecher und Motor für kulturelle Belange.
Im Bundesministerium für Bildung und Forschung ist die Kultur ebenfalls präsent, von der Förderung der Geisteswissenschaften bis hin zur Grundlagenforschung. Auch sonst hat die Bundesregierung stets bewiesen, dass die Kultur bei ihr in guten Händen ist. Nein, wir fangen wirklich nicht bei null an. Aber gerade deswegen kommen wir gemeinsam und auf der Grundlage des Berichts der Enquete-Kommission noch viel weiter.
Aus Sicht der Union war von Anfang an wichtig, der Breite des kulturellen Spektrums gerecht zu werden und gleichzeitig auf die entsprechende Schärfentiefe zu achten.
Kulturelle Bildung muss insbesondere für öffentlich geförderte Kultureinrichtungen eine Kernaufgabe sein.
Kultur macht nicht an Grenzpfählen halt, und darum betreffen die empfohlenen Weichenstellungen auch die europäische und die internationale Ebene. Genauso richtet sich der Blick auf die gesellschaftlichen und lokalen Wurzeln der Kultur. Alle kulturschaffenden, alle kulturfördernden und alle kulturtragenden Kräfte sollen sich möglichst frei entfalten können.
Bürgerschaftliches und ehrenamtliches Engagement sind tragende Pfeiler der Kultur in Deutschland, und viele Empfehlungen setzen zu Recht genau hier an. Neue Formen der Zusammenarbeit zwischen der öffentlichen Hand und den Privaten - aber ebenso zwischen Bund, Ländern und Kommunen - sind geeignet, auch in Zukunft eine kulturelle Infrastruktur auf höchstem Niveau zu gewährleisten.
Kurz: Die Faktoren gegenwärtiger Kulturpolitik wurden präzise erfasst und die Perspektiven der zukünftigen Kulturpolitik ebenso plausibel wie vielversprechend skizziert. Jetzt haben wir eine klare Vorstellung, und gut vorbereitet gehen wir an die Umsetzung.
Die Zahlen sind genannt worden, aber die Wiederholung des Bedeutsamen hilft der Wahrnehmung: vier Jahre Arbeit, über 400 Handlungsempfehlungen, eingebettet in 1 200 Seiten Bestandsaufnahme. Das ist der Bericht der Enquete-Kommission, mit dem sich auch der Bund als Akteur der Kulturpolitik zu Wort meldet, nicht als föderaler Besserwisser im bestehenden Gefüge, sondern als echter Partner. Insofern gleicht der Bericht der Enquete-Kommission einer Partitur, durch die das kulturelle Geschehen überschaubar wird. Das zu spielende Werk richtet sich nicht an einen Solisten, sondern zielt auf ein harmonisches Ineinandergreifen der verschiedenen Akteure.
Wir haben die Chance auf ein neues, prosperierendes kulturelles Miteinander. Wenn wir alle die Bewahrung, Weitergabe und Förderung der Kultur weiterhin als etwas Essenzielles begreifen, dann wird sich auch der zukünftige Einsatz wirklich lohnen.
Präsident Dr. Norbert Lammert:
Der Kollege Keskin ist der nächste Redner für die Fraktion Die Linke.
Dr. Hakki Keskin (DIE LINKE):
Sehr geehrter Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Mit sehr viel Sachverstand und Engagement konnte die Enquete-Kommission zur Migrantenkultur/Interkultur eine sehr gelungene Arbeit leisten. Der Bericht wurde von allen Fraktionen gemeinsam beschlossen. Auch ich möchte mich ganz herzlich bei allen Beteiligten bedanken.
Die kulturelle Vielfalt Deutschlands wird von der Kommission als eine Realität, als Fakt anerkannt, und zwar von allen Fraktionen, auch von der Union. Das ist ein Novum. Ich begrüße diesen Fortschritt. Bekanntlich haben wir über die Tatsache, dass Deutschland längst eine multikulturelle Gesellschaft geworden ist, jahrzehntelang kontrovers diskutiert. Nunmehr musste diese Erkenntnis als gemeinsame Position auch von der Union öffentlich mitgetragen werden.
Die Kommission kommt einstimmig zu der Feststellung, dass die Kulturen der Migrantinnen und Migranten als Bestandteil der Kultur in Deutschland und als Bereicherung für Deutschland zu bewerten sind. Ausdrücklich wird diese kulturelle Vielfalt bejaht und begrüßt. Die Enquete-Kommission stellt weiterhin fest, dass es gerade die kulturelle Vielfalt ist, die den Reichtum der Kultur in Deutschland ausmacht. Es wird daher unterstrichen, dass die unterschiedlichen Kulturen in Deutschland gleichberechtigt gefördert werden müssen.
Die Integration funktioniert nicht von selbst. Der Staat und die Mehrheitsgesellschaft sind hier gefordert, aktiv tätig zu werden.
Rechts- und Sozialstaat, Geschichte und Sprache müssen aktiv und wechselseitig vermittelt werden. Auch in der Bildungspolitik muss eine Kehrtwende vollzogen werden, damit die Menschen von den Chancen der kulturellen Vielfalt profitieren können: Interkulturelle Bildung und Erziehung müssen so ausgerichtet werden, dass die Ressourcen der Menschen in vielfältiger Weise zur Geltung kommen können.
Selbstverständlich gehört neben dem Erlernen der deutschen Sprache auch das Erlernen der Muttersprache der Migrantenkinder zu diesen Bildungsansätzen. Wissenschaftlich wurde bewiesen: Wer seine Muttersprache gut beherrscht, kann auch die deutsche Sprache leichter erlernen. Aus dieser Tatsache müssen die notwendigen Konsequenzen gezogen werden.
Der überparteiliche Konsens, der sich im Bereich der Kulturpolitik erfreulicherweise herstellen ließ, sollte Anreiz und Ermutigung auch für andere Politikbereiche sein.
Es ist nicht nur im Hinblick auf die Integration erforderlich, sondern auch ein Gebot der Demokratie, Menschen, die seit Jahrzehnten in Deutschland leben oder sogar hier geboren und aufgewachsen sind, die vollen bürgerlichen Rechte zu gewähren.
Daher fordert die Linke, dass der Erwerb der deutschen Staatsbürgerschaft auch unter Beibehaltung der alten Staatsangehörigkeit erleichtert wird.
Ich bedanke mich für die Aufmerksamkeit.
Präsident Dr. Norbert Lammert:
Die Kollegin Simone Violka ist für die SPD-Fraktion die nächste Rednerin.
Simone Violka (SPD):
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Sehr geehrte Damen und Herren Sachverständige! Wenn wir über Kultur in Deutschland sprechen, dann dürfen wir die Auswirkungen des demografischen Wandels auch auf den kulturellen Bereich nicht außer Acht lassen. Deshalb stand für uns, die Mitglieder der Enquete-Kommission, nie zur Debatte, wie viel Kultur wir uns in Zukunft noch leisten können; vielmehr ging es um die Frage, welche Herausforderungen unsere Gesellschaft bewältigen muss, damit die Kulturlandschaft in Deutschland nicht nur erhalten wird, sondern sich auch weiterhin mannigfaltig entwickeln kann.
Da sich der demografische Wandel in den Regionen unterschiedlich vollzieht, gibt es bisher noch keine flächendeckenden politischen Lösungsansätze für die perspektivische Lösung dieses Problems. Es gibt Regionen, viele davon im Osten Deutschlands, die sich schon seit Jahren in einem solch enormen Strukturwandel befinden, dass dort auf politischer Ebene und auf der Ebene der Kulturschaffenden bereits reagiert wird bzw. reagiert werden musste. Auf den dortigen Erkenntnissen kann man deutschlandweit aufbauen.
Die neuen Länder haben eine alte, vielfältige Kulturlandschaft in das vereinigte Deutschland eingebracht. Ich würde mich freuen, wenn auch Dresden seiner Verantwortung gerecht würde und ein Weltkulturerbe nicht weniger schätzte als eine Brücke.
Die Erhaltung des Kulturguts und die Förderung kultureller Infrastruktur in den neuen Ländern liegen trotz unterschiedlicher gesellschaftlicher Rahmenbedingungen in gesamtdeutscher Verantwortung. Da hierfür Geld benötigt wird, empfiehlt die Enquete-Kommission Bund und Ländern, die Verwendung von 2 Prozent der in Korb II bis 2019 als zweckgebundene Zuweisungen des Bundes zur Verfügung stehenden Mittel für die Kultur in den neuen Ländern verbindlich festzuschreiben.
Das sogenannte Leuchtturmprogramm hat sich als Erfolg erwiesen. Deshalb empfehlen wir, das in den neuen Ländern bewährte Programm auf den gesamten Staat auszudehnen.
Aufgrund der gesellschaftlichen Umstrukturierung sind vor allem ländliche Regionen einer enormen Bevölkerungsausdünnung ausgesetzt, die die Gefahr mit sich bringt, dass es dort kein flächendeckendes kulturelles Angebot mehr gibt. Das bedeutet für die Menschen, die dort leben, nicht nur lange Wege zur Kultur, sondern auch, dass ihre Regionen zunehmend an Attraktivität verlieren, was dann häufig noch mehr Ausdünnung nach sich zieht und damit ein immer geringeres Angebot an Arbeitsplätzen zur Folge hat.
Gleichzeitig müssen aber viele Steuergelder aufgewendet werden, um für die immer geringer werdende Zahl von Menschen lebensnotwendige Infrastrukturen zu erhalten.
Nun könnte man ja auf den Gedanken kommen, dass, wenn es weniger Menschen gibt, auch weniger Kultur benötigt würde. Das ist meiner Meinung nach der falsche Ansatz; denn es ist festzustellen, dass sich nur ein bestimmter Prozentsatz der Bevölkerung als Kulturkonsument sieht. Dieser Anteil ist in den vergangenen Jahren fast gleich geblieben. Hier muss angesetzt werden; denn hier liegt ein enormes Potenzial für die Kultur brach. Das kann aber nur über ein ansprechendes und vor allem nahes kulturelles Angebot und - das darf in diesem Zusammenhang auch nicht vergessen werden - eine bessere kulturelle Bildung genutzt werden. Diese stellt nämlich eine Grundlage für wachsendes Interesse an Kultur dar.
Bei der Kultur im ländlichen Raum spielt das bürgerschaftliche Engagement eine besonders große Rolle. Es gibt bereits Regionen, in denen das kulturelle Angebot ausschließlich auf den Schultern von engagierten Bürgerinnen und Bürgern und dort lebenden Künstlerinnen und Künstlern liegt. Dabei sind auch Laienkultur und Brauchtum ein selbstverständlicher und unverzichtbarer Bestandteil der Kulturlandschaft. Deutschland wäre ein kulturell armes Land ohne die Tausenden Orchester, Chöre, Theater- und Tanzgruppen und Kulturvereine. Deshalb ist es notwendig, die Rahmenbedingungen für diese Gruppe zu garantieren und auch zu verbessern.
Dank eines ausgeprägten Engagements von Künstlerinnen und Künstlern, aber auch von Kunst- und Kulturinteressierten finden wir auch in ländlichen Regionen ein vielseitiges Kulturangebot vor. Dieses Angebot zu erhalten, ist eine Herausforderung in Zeiten, in denen die Gelder für kulturelle Angebote in den Haushalten immer knapper werden. Das größte Problem hierbei ist aber oft nicht zu wenig Geld, sondern eine zu unstete Förderung, die oftmals von Jahr zu Jahr völlig offenlässt, ob überhaupt weiter gefördert wird und, wenn ja, in welcher Höhe. Als Schirmherrin eines solchen Festivals, nämlich des von Wustrau, weiß ich, wovon ich rede. Trotz unglaublichen Engagements und - das ist in Kulturkreisen leider oft der Fall - einer unglaublichen Bereitschaft zur Selbstausbeutung bei den Künstlerinnen und Künstlern stehen wir leider Jahr für Jahr vor der Frage, wie lange wir das durchhalten. Das könnte durch eine langfristige Planung bei den einzelnen Engagements verhindert werden. Wenn dann gleichzeitig noch alle Ressourcen ausgeschöpft würden, könnte auch eine möglichst hohe finanzielle Unabhängigkeit erreicht werden.
Einen Ausgleich über Sponsoring oder Mitgliedsbeiträge zu erreichen, ist vor allem in ländlichen Regionen kaum möglich, weil viele bereits in mehreren Vereinen engagiert und am Ende ihrer finanziellen Möglichkeiten sind. Für überregional agierende Firmen und Konzerne ist der ländliche Raum für Sponsoring meist unattraktiv, weil zu wenige erreicht werden und es kein überregionales mediales Interesse gibt. Um solche Lücken zu schließen, müssen öffentliche Gelder so effektiv wie möglich eingesetzt werden.
Eine Lösung sehen wir in der Enquete-Kommission in der Schaffung einer Kulturentwicklungsplanung; dieser muss aber eine genaue Bedarfsanalyse vorausgehen, in der es an erster Stelle nicht um Mitteleinsparung, sondern um Erhalt durch Anpassung und Veränderung geht. Solch eine Kulturentwicklungsplanung kann aber auch nur dann ein wirklicher Erfolg werden, wenn kulturelle Institutionen stärker kommunen- und gegebenenfalls auch länderübergreifend genutzt werden. Auch der Zusammenschluss und die Mehrfachnutzung von spartenübergreifenden Kulturstätten kann eine Möglichkeit zur Lösung der anstehenden Probleme darstellen.
Doch das setzt voraus, dass zum Beispiel vorhandene Konkurrenzsituationen zwischen Städten und ländlichem Raum ebenso überwunden werden müssen wie die zwischen öffentlich finanzierten Einrichtungen und Programmen.
Deshalb sollte sich eine effektive Kulturentwicklungsplanung nicht nur an den Einrichtungen, sondern auch an den Nutzern ausrichten.
Wichtig ist hierbei auch eine langfristige Sicht. Momentan gibt die ältere Generation, deren Anteil an der Gesamtgesellschaft immer größer wird, überdurchschnittlich viel Geld für Kultur aus. Doch es wäre kurzsichtig, nur darauf zu setzen. Denn wenn das so bleiben soll, muss auch die jüngere Generation sie ansprechende kulturelle Angebote erhalten. Wer als junger Mensch keinen Zugang zur Kultur findet, wird diesen im Alter nicht automatisch von selbst finden.
Dabei ist die Förderung der kulturellen Bildung unerlässlich, wobei allerdings keine Verteilungskonflikte zwischen den Generationen geschaffen werden sollten. Nur so bedeuten sinkende Bevölkerungszahlen nicht gleichzeitig auch eine geringere Nachfrage nach kulturellen Angeboten. Deshalb ist ein demografischer Wandel kein unwiderlegbares Argument für den Rückbau kultureller Infrastruktur, sondern stellt eine lösbare gesamtgesellschaftliche Aufgabe dar, zu deren Bewältigung ich hiermit alle aufrufe.
Vielen Dank.
Präsident Dr. Norbert Lammert:
Nun erhält der Kollege Wolfgang Börnsen für die CDU/CSU-Fraktion das Wort.
Wolfgang Börnsen (Bönstrup) (CDU/CSU):
Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Bei einer Parlamentsdebatte über Kultur ist es beruhigend, einen Parlamentspräsidenten im Nacken zu wissen,
der ein großes Herz für die Kultur hat.
Präsident Dr. Norbert Lammert:
Ich bedanke mich sehr, weise aber darauf hin, dass dies die Redezeit nicht verlängert.
Wolfgang Börnsen (Bönstrup) (CDU/CSU):
Deutschland ist ein Kulturstaat; wir sind ein Kulturstaat. Unsere Kulturlandschaft gehört zu einer der vielfältigsten und einzigartigsten in der Welt. Wir sind reich an Kultur, und wir wollen das auch bleiben.
Diese besondere Kulturqualität beruht auf der Kreativität, dem Einsatz, dem Ideenreichtum, dem Fleiß und der Mitverantwortung von Hunderttausenden von Kulturschaffenden, Künstlern, von Professionellen und Laien, von Vereinen und Verbänden, von den Kirchen und Tausenden von Bürgerinitiativen. Sie sind das Salz in unserem Kulturstaat.
Ich komme, wie auch du, Grietje, aus dem Wahlkreis 1, Flensburg-Schleswig, ganz oben im Norden der Republik, südlich von Kopenhagen. Am zweiten Adventssonntag nahm ich an einem Chorkonzert in meiner Heimatkirche teil. Allein an diesem Tag konnte ich zwischen 80 verschiedenen Angeboten auswählen: Da gab es Orgel- und Orchesterkonzerte, Rock, Pop, Jazz zum Advent und viel Chorgesang. Kulturverantwortliche gehen davon, dass pro Veranstaltung mit etwa 100 Besuchern zu rechnen ist. Das heißt, 8 000 Bürgerinnen und Bürger zwischen Schlei und Förde haben an diesem Sonntag Kultur genossen. So war es an diesem Tag auch in Görlitz, in Greifswald, in Goslar, in Rottweil-Tuttlingen, in Leer und in vielen anderen Teilen unserer Republik.
Hochgerechnet waren an diesem Sonntag bundesweit über 2 Millionen Menschen in unserem Land kulturaktiv.
Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner:
Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Koppelin?
Wolfgang Börnsen (Bönstrup) (CDU/CSU):
Gerne. Er ist auch ein Schleswig-Holsteiner.
Jürgen Koppelin (FDP):
Lieber Wolfgang Börnsen, du hast deinen Wahlkreis Flensburg-Schleswig und die vielen Veranstaltungen dort erwähnt. Das gibt mir Veranlassung, direkt hierzu eine Frage zu stellen: Kannst du mir erklären, warum es notwendig ist, dass dänische Künstler, wenn sie bei der dänischen Minderheit auftreten, in die Künstlersozialversicherung einzahlen müssen?
Wolfgang Börnsen (Bönstrup) (CDU/CSU):
Es gibt ein gemeinsames Abkommen zwischen der Bundesrepublik Deutschland und dem Königreich Dänemark, in dem das so festgelegt ist. Es wird aber zu einer Überarbeitung kommen. Das haben wir auch in den Enquete-Bericht aufgenommen. Denn wir glauben, dass wir in Europa grenzübergreifend zu einheitlichen und verbesserten Maßstäben kommen müssen, was die Künstlerförderung angeht.
Ich möchte mit meiner Rede fortfahren. Auch wenn Sport und Freizeit in unserem Land Spitzenplätze einnehmen, ist doch der aktive Kulturbezug in unserem Land unübersehbar. Keine Bundesliga hat bisher die Besucherrekorde in unseren Museen schlagen können. So soll es auch bleiben. Beides bereitet Vergnügen, wenn die Qualität stimmt.
Ich bleibe beim Beispiel Musik. Um zu verdeutlichen, welche Kulturkraft es in unserem Land gibt, will ich darauf aufmerksam machen, dass über 5 Millionen Menschen in unserem Land aktiv Musik betreiben: in über 50 000 Chören, in 750 Sinfonie- und Staatsorchestern - nirgendwo in Europa gibt es mehr - und in fast 50 000 Rock-, Pop- und Jazzbands. Wir haben eine großartige Kulturszene in Deutschland.
Allein in diesem Bereich befinden wir uns in einem blühenden, lebendigen Kulturgarten, der aber gepflegt, gefördert und beachtet gehört. Dafür tragen alle staatlichen Ebenen eine Mitverantwortung, aber auch wir Bürger selbst. Deutschland ist ein Kulturstaat. Wer sich als solcher versteht, hat daraus Konsequenzen zu ziehen, mahnt die Enquete-Kommission und erinnert daran, 2 Prozent aller Ausgaben, wie im Freistaat Sachsen praktiziert, für die Kultur bereitzustellen. Überall in Deutschland sollte eine solche Selbstverpflichtung Schule machen.
Im Großraum Essen ist vorgesehen, dass jeder Jugendliche, jeder Schüler ein Instrument erhält. Auch das sollte bundesweit praktiziert werden.
Die kulturelle Bildung zur Kernaufgabe in den Schulen zu machen, ist selbstverständlich. Die soziale Lage der Künstler und Kulturschaffenden grundsätzlich zu verbessern, tut weiterhin not.
Der Laienkultur den gleichen Stellenwert einzuräumen wie der Spitzenkultur, ist richtig. Beide sind bedeutsam; beide gehören gefördert.
Die Kreativ- und Kulturwirtschaft - mit 800 000 Arbeitsplätzen ein Jobmotor in unserem Land - weiterhin zu forcieren, auch das ist notwendig. Und: Die Bedeutung und den Wert der deutschen Sprache mehr bewusst zu machen, auch das haben wir in Zukunft zu tun.
Nun wird eingewandt, diese und die weiteren 455 Empfehlungen der Enquete-Kommission könnten nur ernsthaft umgesetzt werden, wenn die Kultur zum Staatsziel erhoben wird - zu einem Ziel ohne rechtliche Konsequenzen. Derzeit konkurriert die Kultur mit weiteren Staatszielforderungen in Bezug auf den Sport, den Schutz der Kinder, die Generationengerechtigkeit, die Anerkennung autochthoner Minderheiten und viele Bereiche mehr. Unser Grundgesetz ist jedoch kein Warenhauskatalog.
Seine Qualität, seine Autorität, seine Zeitlosigkeit beruhen auf der Konzentration auf Kernaussagen. Eine Vervielfachung der Staatsziele lehnen wir ab. Kultur ja! Eine Alibifunktion der Kultur ist jedoch nicht vertretbar.
Mir ist eine Taube in der Hand lieber als ein Kulturspatz auf dem Dach.
Gut 90 Prozent der Kulturverantwortung liegt bei den Ländern, Städten und Gemeinden. In 15 Landesverfassungen ist die Kultur eine fundamentale Aufgabe des Staates und hat den Anspruch, gefördert zu werden. Dies wird auch ganz deutlich umgesetzt.
Wir selber im Deutschen Bundestag haben 1990 die Kultur zur Staatsaufgabe gemacht; daran muss erinnert werden. Das war an dem Tag, als das Parlament dem Einigungsvertrag zugestimmt hat. Dort heißt es in Art. 35 wörtlich:
In den Jahren der Teilung waren Kunst und Kultur - trotz unterschiedlicher Entwicklung der beiden Staaten in Deutschland - eine Grundlage der fortbestehenden Einheit der deutschen Nation. Sie leisten im Prozeß der staatlichen Einheit der Deutschen auf dem Weg zur europäischen Einigung einen eigenständigen und unverzichtbaren Beitrag.
Es heißt weiter:
Stellung und Ansehen eines vereinten Deutschlands in der Welt hängen außer von seinem politischen Gewicht und seiner wirtschaftlichen Leistungskraft ebenso von seiner Bedeutung als Kulturstaat ab.
Dieser Dreiklang ist gemeint: Politik, Wirtschaft und Kultur. Kultur ist auf Augenhöhe zu sehen.
Der Bezugspunkt für den Begriff ?Kulturstaat“ ist in einem Urteil des Bundesverfassungsgerichtes vom 5. März 1974 festgelegt worden. Darin ist, ausgehend von Art. 5 des Grundgesetzes, die Freiheit der Kunst als normative Wertentscheidung ausgelegt worden. Im Hinblick auf den Begriff ?Kulturstaat“ ist damit eine ungeschriebene Staatszielzuordnung vorgenommen worden. Die Mehrzahl der Rechtsexperten in unserem Land bestreitet die verfassungsähnliche Bedeutung des Einigungsvertrages trotz seiner Endlichkeit nicht. Die Kultur in Deutschland hat also eine eindeutige Rechtsgrundlage. Kulturstaat zu sein, schließt den Anspruch auf Förderung ein. Kulturstaat zu sein, bedeutet, dass der rechtliche Rahmen von uns entsprechend gesetzt werden muss. Das tun wir. Dieses Prinzip hat die Enquete-Kommission geleitet, als sie beschlossen hat, den Rechtsanspruch der Kultur herauszustellen.
Für uns als Christdemokraten gelten weiterhin die vier Prinzipien Dezentralität, Subsidiarität, Pluralität und Partizipation. Wir sagen: Kultur und Kunst haben einen Anspruch auf Freiheit, aber auch einen Anspruch auf Förderung. Sie haben einen Anspruch darauf, dass wir als politisch Verantwortliche an ihrer Seite stehen.
Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner:
Herr Kollege, ich muss Sie im Sinne des Herrn Präsidenten nun doch mahnen, Ihre Redezeit einzuhalten.
Wolfgang Börnsen (Bönstrup) (CDU/CSU):
Ich komme zum Schluss. Wir alle haben eine Aufgabe. Wir wissen: Wer die Kultur fördert, fördert starke Persönlichkeiten, fördert Kritik, Courage und Selbstbewusstsein. Wer solche Persönlichkeiten fördert, fördert und stärkt die Demokratie. Das heißt, Kulturförderung ist auch Demokratieförderung.
Herzlichen Dank.
Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner:
Letzter Redner in dieser Debatte ist der Kollege Steffen Reiche, SPD-Fraktion.
Steffen Reiche (Cottbus) (SPD):
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! In genau 20 Minuten unterschreiben die 27 Staats- und Regierungschefs in Lissabon den Reformvertrag. Europa schafft sich mit dem Vertrag von Lissabon eine neue, bessere Grundlage. Europa bewegt sich. Europa bleibt interessant.
Deshalb bin ich dankbar, dass der Bericht der Enquete-Kommission ein eigenes Kapitel zur politischen Behandlung der Kultur in Europa enthält. Das ist eine wesentliche Entscheidung. Es ist mehr gelungen als erwartet. Für den europäischen Traum, für das europäische Projekt brauchen wir etwas, was die Herzen der Menschen bewegt. Kultur bewegt die Menschen. Wir haben eine europäische Kultur. Das Problem ist aber, dass wir sie oft nicht sehen, wenn wir in Deutschland oder Frankreich sind. Wim Wenders hat das neulich in Berlin auf eindrucksvolle Weise formuliert. Er hat gesagt:
Hier, in Berlin, bin ich Deutscher, inzwischen von ganzem Herzen. Aber kaum ist man in Amerika, sagt man nicht mehr, man sei aus Deutschland, Frankreich oder woher auch immer. Man kommt aus ?Europa“ oder kehrt dorthin zurück. Für die Amerikaner ist das der Inbegriff von Kultur ... Das Einzige, was ihnen einen Minderwertigkeitskomplex einjagt. Und zwar einen permanenten.
Und auch aus Asien oder gar anderen Teilen der Welt aus gesehen erscheint Europa wie eine Bastion von Menschheitsgeschichte, Würde und, ja, wieder dieses Wort: der Kultur.
Europa hat eine Seele, oh ja, die muss man unserem Kontinent nicht erst geben. Die hat er schon. Das ist nicht seine Politik und nicht seine Wirtschaft. Das ist in erster Linie seine Kultur.
Wir können und wollen Europa mit der Kultur eine Seele geben. Es gibt ein wunderbares Bonmot von Jean Monnet. Er hat gesagt, wenn er Europa noch einmal begründen könnte, würde er mit der Kultur beginnen. Wir können das zwar nicht, aber wir können der Kultur bei der Weiterentwicklung Europas eine größere Bedeutung beimessen als bisher. Europa lebt von der Vielfalt der Kulturen. Europa lebt von seiner Kultur und durch seine Kultur. Europa ist räumlich winzig, aber kulturell ein Riese. Die europäische Kultur ist ein Quartett: Die lokale Ebene, die regionale Ebene, die nationale Ebene und die kontinentale Ebene haben etwas beizutragen. Die Gewichtung der einzelnen Ebenen ist zwar unterschiedlich, aber sie nehmen sich gegenseitig nichts weg. Bis vor kurzem wurde noch gesagt: Europäische Kulturpolitik kann es nicht geben. Weil es europäische Kultur gibt, kann, darf und muss es aber auch europäische Kulturpolitik geben.
Wir haben in den letzten Jahren das Wachsen einer nationalen Kulturpolitik erlebt. Das war zwar ein schwerer Kampf, aber den Ländern ist nichts genommen worden. Heute erleben wir das Entstehen einer europäischen Kulturpolitik. Sie nimmt den Nationen nichts, will nicht an die Stelle der Nationen treten, sondern will der Welt Europa zeigen und Europa erlebbar machen. Deshalb fordern wir: Deutschland muss aus dem Bremserhaus heraus, muss nach vorn, in die Lokomotive, und mitbestimmen, wie wir europäische Kulturpolitik definieren und was auf die europäische Kulturagenda gehört.
Deshalb, liebe Kollegen von der FDP - das sei aber auch den Ländern gesagt -, brauchen wir eine offene Koordinierung. Im Bildungsbereich haben wir doch gesehen, was dadurch gelungen ist. Es ist ein gemeinsamer europäischer Hochschulraum geschaffen worden. Das ist gut für Europa, und das ist gut für die Nationen.
Insofern denke ich, dass wir die Bedenken des Bundesrates gemeinsam überwinden sollten.
Traurig ist aber, dass die Länder, die die Kulturhoheit für sich beanspruchen, hier und heute nur durch zwei Mitarbeiter vertreten sind und dass die Kultusminister bzw. die Ministerpräsidenten der Länder bei dieser wichtigen Debatte über die Kultur in Deutschland keine Präsenz zeigen und sich nicht daran beteiligen.
Wir brauchen mehr Mittel für die Kultur. Deshalb denke ich, dass in den künftigen europäischen Haushalten umgeschichtet werden muss: von der Agrikultur zur Kultur.
Unsere Geschichte, unsere Werte, unsere Erinnerungsarbeit und die Menschenrechtsbildung, die in Deutschland und in Europa gewachsen sind, sind für internationale Gespräche und für Begegnungen der Kulturen der Welt wichtig. Deshalb haben wir die große Bedeutung dessen, was in der DDR gewachsen ist, in unserem Abschlussbericht, der 1 200 Seiten umfasst, immer wieder betont - nicht nur an einer Stelle, Herr Tauss, sondern querbeet.
Die DDR kommt dort nicht etwa zu kurz, sondern ihr kulturelles Erbe wird erwähnt und soll bewahrt werden.
Wir brauchen eine gemeinsame europäische Kulturpolitik, die die einzelnen Länder gemeinsam mit dem Kulturrat entwickeln wollen. Einen europäischen Filmpreis gibt es schon. Wir müssen aber auch regelmäßig - jährlich oder alle zwei Jahre - gemeinsam beschreiben: Was ist europäische Kunst: in der Literatur, in der Poesie, beim Theater, beim Tanz und an vielen anderen Stellen? Es gibt eine nationale Akademie der Künste. Wir fordern, dass die nationalen Akademien ein Netzwerk bilden, aus dem sich perspektivisch eine europäische Akademie entwickeln kann.
Wir wollen, dass Europa mit einer Stimme spricht; zurzeit herrscht ein Wettbewerb zwischen CNN, al-Dschasira, der Deutschen Welle, der BBC und dem französischen Sender. Die drei europäischen Länder haben zusammen aber einen kleineren Etat für ihren internationalen Rundfunk als CNN oder al-Dschasira allein. Europa braucht eine gemeinsame Stimme, und wir brauchen europäische Medien.
Es gibt eine Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik und eine gemeinsame Präsenz außerhalb Europas. Deshalb brauchen wir auch europäische Kulturinstitute unter einem Dach. In einem ERASMUS-Institut beispielsweise könnten wir künftig außerhalb Europas zeigen: Was ist europäische Kultur, und was sind europäische Werte?
Den Franzosen ist es mit den Lieux de mémoire gelungen, zu zeigen: Was sind die Kultur und die Geschichte Frankreichs? Wir brauchen in und für Europa etwas Vergleichbares, damit man sehen kann, wie die europäische Kultur- und Geschichtslandschaft gewachsen ist. So kann man Europa verstehen. Deshalb brauchen wir im Grunde auch eine europäische Kulturstiftung.
Europa ist unsere Antwort auf die Globalisierung. Deshalb müssen wir uns im Rahmen der Europäischen Union stärker in die Erarbeitung von UNESCO-Konventionen einbringen. Deutschland hat bisher drei Konventionen ratifiziert. Wir müssen aber auch die vier anderen möglichst bald ratifizieren. Aller guten Dinge sind zwar drei, Herr Neumann. Ich denke aber, nachdem wir bisher drei UNESCO-Konventionen ratifiziert haben, wäre es gut - das fordern wir zumindest -, auch die Konvention zur Bewahrung des immateriellen Kulturerbes zu ratifizieren.
Bildung ist die wichtigste Investition in die Zukunft. Die großen Untersuchungen wie PISA, IGLU und andere zeigen, wo wir stehen. In Deutschland wurde darauf reagiert, indem wir Anstrengungen unternommen haben. Aber mit der Kultur verhält es sich nach einem Diktum von Willy Brandt wie mit dem Frieden: Kultur ist nicht alles, aber ohne Kultur ist alles nichts. - Deshalb müssen wir kulturelle Bildung stärker als gesellschaftlichen Auftrag, die Ganztagsschulen als Chance für kulturelle Bildung begreifen.
Eine Bundeszentrale für kulturelle Bildung soll und muss gegründet werden, um dies besser zu koordinieren. Was wir dringend brauchen, sind, nachdem wir für Mathe, für Lesen, für Deutsch, für die erste Fremdsprache und für die Naturwissenschaften nationale Bildungsstandards definiert haben, solche Standards auch für die kulturelle Bildung.
Hier ist die KMK in der Pflicht, hier ist die Bundesbildungsministerin in der Pflicht, aber auch der Deutsche Kulturrat, die sich an einem solchen Gespräch beteiligen müssen.
Wir verstehen Kultur als Lebensmittel, aber Kultur ist und bleibt auch Teil der Schülerspeisung. Deshalb brauchen wir engere Kooperationen von Theater und Schule. Medienkompetenz zu vermitteln, ist Auftrag der Schule. Schulunterricht mit Künstlern und Kultureinrichtungen muss in den Schulen auf die Tagesordnung gesetzt werden. Die Enquete-Kommission bittet deshalb die Länder um Kooperation, aber wir bieten auch Kooperation. Die Enquete-Kommission will nicht über Zuständigkeiten streiten, sondern mit allen Zuständigen die kulturelle Bildung in Deutschland stärken und die europäische Kultur durch die Vielfalt der Kulturen voranbringen.
Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner:
Ich schließe die Aussprache.
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlagen auf den Drucksachen 15/5560 und 16/7000 an den Ausschuss für Kultur und Medien vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall. Dann sind die Überweisungen so beschlossen.
Ich rufe die Tagesordnungspunkte 4 a bis 4 e auf:
a) Beratung des Antrags der Abgeordneten Peter Bleser, Wolfgang Zöller, Klaus Hofbauer, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der CDU/CSU
sowie der Abgeordneten Dr. Gerhard Botz, Waltraud Wolff (Wolmirstedt), Ingrid Arndt-Brauer, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD
Unsere Verantwortung für die ländlichen Räume
- Drucksache 16/5956 -
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und
Verbraucherschutz (f)
Finanzausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung
Ausschuss für Tourismus
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen
Union
b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Dr. Kirsten Tackmann, Kornelia Möller, Werner Dreibus, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE
Arbeitgeberzusammenschlüsse zur Stärkung ländlicher Räume
- Drucksache 16/4806 -
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie (f)
Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und
Verbraucherschutz
Ausschuss für Arbeit und Soziales
Ausschuss für Tourismus
c) Beratung des Antrags der Abgeordneten Hans-Michael Goldmann, Dr. Christel Happach-Kasan, Dr. Edmund Peter Geisen, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP
EU-Arbeitnehmerfreizügigkeit im Agrarbereich einführen - praxisuntaugliche Erntehelferregelung auslaufen lassen
- Drucksache 16/6643 -
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Arbeit und Soziales (f)
Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und
Verbraucherschutz
d) Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Fleischgesetzes
- Drucksache 16/6964 -
Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz (10. Ausschuss)
- Drucksache 16/7503 -
Berichterstattung:
Abgeordnete Franz-Josef Holzenkamp
Dr. Wilhelm Priesmeier
Hans-Michael Goldmann
Dr. Kirsten Tackmann
Cornelia Behm
e) Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz (10. Ausschuss)
- zu der Unterrichtung durch die Bundesregierung
Agrarpolitischer Bericht 2007 der Bundesregierung
- zu dem Entschließungsantrag der Abgeordneten Cornelia Behm, Ulrike Höfken, Bärbel Höhn, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN zu der Unterrichtung durch die Bundesregierung
Agrarpolitischer Bericht 2007 der Bundesregierung
- Drucksachen 16/4289, 16/5599, 16/6864 -
Berichterstattung:
Abgeordnete Peter Bleser
Waltraud Wolff (Wolmirstedt)
Hans-Michael Goldmann
Dr. Kirsten Tackmann
Cornelia Behm
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für die Aussprache eineinhalb Stunden vorgesehen. - Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache.
- Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich würde gerne dem Herrn Minister Horst Seehofer das Wort geben.
Herr Minister, Sie haben das Wort.
Horst Seehofer, Bundesminister für Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz:
Frau Präsidentin! Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Wir diskutieren über einen Antrag der Fraktionen der CDU/CSU und der SPD mit dem Titel ?Unsere Verantwortung für die ländlichen Räume“. Ich bin beiden Fraktionen sehr dankbar, dass dieses Thema noch in diesem Jahr in die öffentliche Debatte eingeführt wird; denn nach wie vor leben in den ländlichen Räumen Deutschlands die meisten Menschen. Die Umbrüche, die infolge der Globalisierung und des demografischen Wandels überall stattfinden, haben besondere Auswirkungen auf den ländlichen Raum, wie wir wissen. Ich denke, diese Debatte macht deutlich, dass die Politik die Menschen im ländlichen Raum nicht alleine lässt, sondern dass wir alles unternehmen, damit aus diesen Umbrüchen im ländlichen Raum ein Aufbruch für die Menschen im ländlichen Raum wird.
Die Bundesregierung hat seit über einem Jahr in ganz Deutschland Diskussionen zu allen Facetten und Problemen des ländlichen Raums durchgeführt. Wir werden das Ergebnis nicht nur in dieser Debatte, sondern auch auf der Grünen Woche im Januar des nächsten Jahres gebündelt vorstellen. Ich möchte für die Bundesregierung drei Schwerpunktbemerkungen machen, die als roter Faden, als Leitplanken für die weitere Diskussion zu diesem Thema geeignet sind.
Der erste Punkt. Es gibt die sogenannte Berliner Studie, die für den Landtag in Brandenburg erstellt wurde. In den neuen Ländern sind die Auswirkungen des demografischen Wandels und der Globalisierung auf den ländlichen Raum schon heute zu registrieren. Diese Berliner Studie, die insgesamt sehr gut ist, hat als Reaktion auf die Veränderung im ländlichen Raum einen Vorschlag gemacht, nämlich ob man zur Vermeidung von Doppelinvestitionen nicht den Menschen, die in peripheren ländlichen Gebieten leben, eine Prämie dafür zahlen sollte, dass sie in städtische Gebiete umsiedeln. Denn damit würde man vermeiden, zweifach Infrastrukturmaßnahmen finanzieren zu müssen, die dann möglicherweise nicht ausgelastet sind.
Deshalb ist es mir wichtig, dass wir als Bundesregierung nicht für eine solche - wie wir sie nennen - ?Fluchtprämie“ sind, sondern am verfassungsrechtlichen Gebot einer gleichgewichtigen Entwicklung in Deutschland festhalten. Das heißt, dass wir für alle Teilräume in Deutschland Chancen eröffnen wollen, sodass die Menschen dort leben und arbeiten können, und Stadt und Land nicht gegeneinander ausspielen.
Es gilt für uns weiterhin das Gebot des Grundgesetzes, gleichgewichtige Chancen für alle Teilräume Deutschlands zu eröffnen. Der alte Satz aus dem Volksmund ?Stadt und Land - Hand in Hand“ ist auch im Zeitalter der Globalisierung richtig. Das Schöne an der Diskussion der letzten Monate ist, dass niemand den Versuch unternommen hat, Stadt und Land gegeneinander auszuspielen, sondern dass es einen allgemeinen Konsens gibt, dass nur im vernünftigen Zusammenwirken von Städten und ländlichen Räumen für beide eine gute Entwicklung gewährleistet werden kann.
Der zweite Punkt. Naturgemäß ist die Landwirtschaft - nicht nur, aber vor allem - im ländlichen Raum zu Hause. Die Bedeutung des ländlichen Raums erschöpft sich natürlich nicht in der Landwirtschaft. Aber ich möchte festhalten, dass der ländliche Raum ohne eine positive, dynamische und innovative Entwicklung der deutschen Landwirtschaft keine Zukunftsperspektive hat.
Deshalb ist es die Politik der Bundesregierung, alles dazu beizutragen, dass die deutsche Landwirtschaft eine gute Zukunftsperspektive hat. Ohne dass wir uns zu sehr selbst loben wollen, denke ich, für die Koalition sagen zu können, dass uns das in den letzten 24 Monaten gelungen ist.
Es gibt eine Aufbruch- und Investitionsstimmung in der Landwirtschaft. Wir befinden uns mitten in der zweiten ?grünen Revolution“. Die Landwirte haben heute so viele Funktionen - man kann sogar von Multifunktion sprechen - zu erfüllen wie nie zuvor in der landwirtschaftlichen Geschichte. Diese reichen von der Nahrungsmittelproduktion über Dienstleistungen - ich denke, lieber Tourismusbeauftragter Ernst Hinsken, an Freizeit, Erholung, Tourismus und Urlaub auf dem Bauernhof - bis hin zur Funktion als Energie- und Rohstoffwirt. Diese Multifunktion zusammen mit dem Multitalent Landwirt beschreiben wir als zweite ?grüne Revolution“.
Als eine Maßnahme zur Stärkung des ländlichen Raums werden die Bundesregierung und die Koalition deshalb die Unterstützung der deutschen Landwirtschaft weiter betreiben. Gerade aufgrund der Erfahrungen der aktuellen Energiepolitik - dazu gehören Energiesicherheit, Energiepreise und Klimaschutzziele - sollten wir den Ehrgeiz entwickeln, uns nicht auch noch in der Nahrungsmittelproduktion in größerem Umfange von Importen abhängig zu machen. Wir sollten vielmehr dafür sorgen, dass die Landwirtschaft in Deutschland und Europa die Nahrungsmittelproduktion so gewährleistet, dass wir diesbezüglich nicht im gleichen Maße vom Ausland abhängig werden wie bei der Energieversorgung.
Ich möchte in diesem Zusammenhang auf einen Punkt eingehen, der in der aktuellen Diskussion immer wieder angeführt wird: Ist es auf Dauer möglich, dass die Bauern auf unseren Ackerflächen nicht nur Nahrungsmittel produzieren, sondern auch Energie? Ich habe mir einmal die Zahlen heraussuchen lassen, wie viel Fläche wir in Deutschland außerhalb der Landwirtschaft täglich für Infrastrukturmaßnahmen und als ökologische Ausgleichsflächen für größere Infrastrukturmaßnahmen verbrauchen. Es sind das 110 Hektar täglich. Im Rahmen unserer Nachhaltigkeitsinitiative haben wir als Bundesregierung das Ziel, diese 110 Hektar im Jahre 2020 auf 30 Hektar zu reduzieren.
Ich nenne Ihnen diese Zahl aus folgendem Grund: Wenn wir über Flächenkonkurrenz in Deutschland diskutieren, dann sind wir meiner Meinung nach gut beraten, zuallererst diesen Flächenverbrauch von 110 Hektar zurückzudrängen und den Bauern nicht einzureden, dass unsere Flächen nicht für Nahrungsmittelproduktion und Energieproduktion ausreichen würden.
Die Zurückdrängung des Flächenverbrauchs ist daher eine viel größere Aufgabe für die weitere Politik.
Der dritte Punkt - auch da ist die Studie des Berlin-Instituts, das im Auftrag des Landtags Brandenburg die Folgen des demografischen Wandels untersucht hat, lesenswert -: Wir dürfen die Politik für den ländlichen Raum nicht auf eine sektorale Betrachtung reduzieren. Es wird das wunderschöne Beispiel angeführt, dass manche Kommunen geglaubt haben, eine Schule aus Kostengründen stilllegen zu müssen. Die Stilllegung der Schule hat jedoch dazu geführt, dass die Kinder über weite Strecken in die nächste Schule zu befördern waren, und früher oder später sind auch die Eltern aus dem ländlichen Raum weggezogen. Diese Stilllegung war also im Ergebnis kontraproduktiv für die Zukunft des ländlichen Raumes. Deshalb ist der bemerkenswerte Satz formuliert worden: Wer Bildungseinrichtungen aus dem ländlichen Raum abzieht, leitet den Tod der Fläche ein.
Jenseits aller Zuständigkeiten - die natürlich nicht alle bei unserem Ministerium liegen, oft nicht einmal beim Bund liegen - müssen wir auf ein integriertes Konzept für den ländlichen Raum hinwirken. Dieses Konzept darf nicht nur Landwirtschaft und Förderung des ländlichen Raumes beinhalten, es muss von der medizinischen Versorgung über die Bildungseinrichtungen bis hin zum bürgerschaftlichen Engagement alles umfassen.
Wir fördern - darauf werden meine Kolleginnen und Kollegen noch eingehen - in verstärktem Maße die Wertschöpfung im ländlichen Raum. Wir haben die Mittel für die Gemeinschaftsaufgabe ?Verbesserung der Agrarstruktur“ erhöht. Aber auch die Energieleitungen im ländlichen Raum und der schnelle Internetanschluss sind wichtige Voraussetzungen, um dem ländlichen Raum Perspektiven zu eröffnen.
Ich möchte noch darauf hinweisen, dass wir uns entschlossen haben, ab Januar des nächsten Jahres auf jeder Grünen Woche in Berlin das Thema ?ländlicher Raum“ im Rahmen einer ständigen Konferenz mit allen Beteiligten in Deutschland zu diskutieren und die Ansätze weiterzuentwickeln; diese Konferenz wird eine ständige Einrichtung werden.
Die Reform der Forschungseinrichtungen in meinem Ressort, die ja Gott sei Dank mit Ihrer Unterstützung abgeschlossen ist, wird auch den Schwerpunkt haben, Entwicklungslinien für den ländlichen Raum aufzuzeigen. Ich denke, dass wir uns hier nicht auf Stimmungen und vage Gerüchte verlassen sollten, sondern die Zukunft des ländlichen Raums auf wissenschaftlicher Basis gestalten sollten.
Ich bin sehr dankbar, dass die beiden Koalitionsfraktionen das Thema ?ländlicher Raum“, das zwar nicht jeden Tag für Schlagzeilen gut ist, aber für die betroffenen Menschen von ungeheurer Bedeutung ist, in dieser Form in die öffentliche Debatte eingeführt haben.
Herzlichen Dank.
Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner:
Nächste Rednerin ist die Kollegin Dr. Christel Happach-Kasan, FDP-Fraktion.
Dr. Christel Happach-Kasan (FDP):
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Sehr verehrter Herr Minister, ich bedanke mich zunächst einmal, dass Sie, anders als bei der Haushaltsdebatte, bei diesem Tagesordnungspunkt als Erster gesprochen haben, sodass ich Ihnen antworten kann.
Ich freue mich, dass Sie ein integriertes Konzept für den ländlichen Raum vorlegen wollen; ich warte gespannt darauf. Ich teile Ihre Auffassung, dass Bildung für den ländlichen Raum ein ganz wichtiges Thema ist. Ich darf aber auch sagen: Das ist Ländersache. Insofern würde ich meine Rede gerne auf die Themen fokussieren, die tatsächlich die Themen Ihres Hauses sind.
Die Produktion von Nahrungsmitteln, die Bereitstellung von Energie, die Pflege der Kulturlandschaft, der Klimaschutz, das sind vier Tätigkeitsfelder der Land- und Forstwirtschaft, die für unsere Gesellschaft absolut unverzichtbar sind. Verschiedene Regionen in Deutschland sind besonders durch die ländlichen Räume geprägt; das sind unsere Urlaubsregionen: Schleswig-Holstein, Mecklenburg-Vorpommern und natürlich auch Bayern.
Wir können uns inzwischen - das wird vielfach erwähnt - über gerechtere Preise für landwirtschaftliche Produkte freuen. Aber, liebe Kolleginnen und Kollegen, es darf nicht außer Acht gelassen werden, dass das monatliche Einkommen je Familienarbeitskraft in der Landwirtschaft im Schnitt noch immer unter dem Vergleichslohn in der gewerblichen Wirtschaft liegt. Auch das ist eine Schwäche der ländlichen Räume. Wir müssen daran arbeiten, dass dies besser wird.
Starke landwirtschaftliche Unternehmen erwirtschaften zurzeit höhere Einkommen. Der weltweit gestiegenen Nachfrage sei es gedankt. Ich darf aber auch sagen: Ein insgesamt schwacher Minister fällt da nicht mehr weiter ins Gewicht.
Ein Sprichwort besagt: Wo viel Licht ist, ist auch viel Schatten. - Sie, Herr Minister, schaffen es, mit ganz wenig Licht jede Menge Schatten zu produzieren. Das ist Ihr Geheimrezept.
Durch die günstige Weltkonjunktur wird die schlechte Bilanz verschleiert. 75 Prozent der deutschen Landwirte erzielen ihr Einkommen über die Veredelung. 60 Prozent des Einkommens in der Landwirtschaft stammen aus der Veredelung. Kreise mit starker Veredelungswirtschaft haben Vollbeschäftigung. Das zeigt, dass die Veredelungswirtschaft die besondere Zuwendung einer dem ländlichen Raum verpflichteten Agrarpolitik braucht. Liebe Kolleginnen und Kollegen von der CDU/CSU und von der SPD, in Ihrem Antrag kommt das allerdings relativ wenig zur Geltung.
Die Agrarwirtschaft und insbesondere die Veredelungswirtschaft brauchen verlässliche politische Rahmenbedingungen. Dazu gehört die klare Festlegung, dass die Milchquote im Frühjahr 2015 ausläuft.
- Kollege Bleser, ich freue mich, dass du das weißt. Minister Seehofer scheint das aber nicht zu wissen. - Es ist verantwortungslos,
den Menschen das Wissen, dass die Quote ausläuft, zu verweigern. Es gibt in der EU keine Mehrheit für die Beibehaltung der Milchquote. Der Deutsche Bauernverband und der Milchindustrie-Verband haben sich für die Abschaffung der Quote ausgesprochen. Die Abschaffung ist überfällig, weil durch die Quote unternehmerische Entscheidungen behindert und die deutschen Landwirte vom wachsenden Weltmarkt abgeschnitten werden. Wir wollen, dass die Landwirte ihr Einkommen am Markt mit guten Preisen erwirtschaften.
Herr Minister Seehofer, Sie haben in der FAZ vom 27. September 2006 gesagt:
Ich beobachte in Bayern pausenlos, wie Gelder ohne Sinn und Verstand verteilt werden.
Gleichzeitig wird in Punkt 4 des Antrages gefordert,
... sich auch zukünftig im Rahmen der Weiterentwicklung der bewährten EU-Förderpolitiken für die Stärkung der ländlichen Räume einzusetzen.
Zur Veredelungswirtschaft sagen Sie allerdings kein Wort. Dort nehmen Sie den Landwirten ihre Möglichkeiten, sich ein Einkommen am Markt zu erwirtschaften. Das ist für den ländlichen Raum eine schlechte Politik.
Die Veredelungswirtschaft braucht eine aktive Politik für die Tiergesundheit. Das ist Voraussetzung für die Gewährleistung einer hohen Lebensmittelsicherheit. Die Erkrankungen an Zoonosen bedeuten ein sehr viel höheres Risiko als die in der Öffentlichkeit diskutierten und von bestimmten Verbänden immer wieder thematisierten gefühlten Risiken. Ich nenne Pflanzenschutzmittelrückstände und Grüne Gentechnik.
Das Auftreten der Vogelgrippe Anfang des Monats in Polen - 4 000 Puten wurden getötet - zeigt, dass wir nahezu jederzeit mit dem Auftreten des Virus rechnen müssen. Die Tötungspolitik zur Eindämmung von Tierseuchen ist angesichts regional hoher Bestandsdichten eine Politik des vergangenen Jahrhunderts. Wir brauchen die Abkehr der EU von der Nichtimpfpolitik. Das dient dem Tierschutz.
Die Blauzungenkrankheit hat sich in Deutschland erschreckend schnell ausgebreitet. Die Einschätzung der Bundesregierung, durch den Winter würde das Problem beseitigt werden, war falsch. Es ist dadurch zu spät mit der Entwicklung eines Impfstoffes begonnen worden.
In dem gestern im Ausschuss beratenen Fleischgesetz - das ist nur ein Beispiel - werden die Interessen der Produzenten, sprich: der Landwirte, nicht ausreichend berücksichtigt. Der Wert eines Schlachtkörpers muss mit geeichtem Gerät bestimmt werden. Jede Apothekerwaage ist geeicht. Warum nicht auch die Geräte für die Bestimmung des Schlachtkörpergewichtes? Weiter fehlt die Transparenz.
Weitere Bürokratie und Wettbewerbsnachteile bringt der sogenannte Tierschutz-TÜV. Die Schweinehalter, die Sie durch die Schweinehaltungsverordnung schon über Gebühr mit Kosten belastet haben, sollen gleich zweimal bezahlen: zum einen aufgrund des Fleischgesetzes und zum anderen aufgrund des Tierschutz-TÜV. Das ist inakzeptabel.
Die steigenden Futtermittelpreise - der Sojapreis ist um fast 50 Prozent höher als im vergangenen Jahr - belasten die Veredelung und die Schweinehaltung. Es besteht regional eine Nutzungskonkurrenz. Herr Minister, ich stimme Ihnen zu, dass wir die Versiegelung von Flächen zurückdrängen müssen. Das hilft uns bei der Thematik Nutzungskonkurrenz aber nur wenig. Es ist gut, dass es inzwischen keine Flächenstilllegungen mehr gibt.
Bei der Novellierung des EEG muss berücksichtigt werden, dass ein hoher Nawarobonus verhindert, dass Reststoffe aus der Ernährungsindustrie und der Landwirtschaft energetisch in Biogasanlagen genutzt werden. Dadurch verstärken Sie die Nutzungskonkurrenzen. Deswegen haben Sie mit dem EEG in der jetzt vorliegenden Fassung eine falsche Weichenstellung vorgenommen. Das ist agrar- und energiepolitisch falsch; denn es müssen energiereiche Substrate in der Biogasanlage landen. Das ist aber auch umweltpolitisch falsch; denn wir wollen, dass die Gülle in der Biogasanlage landet.
Die CDU/CSU hat den Kampf um die Aussetzung der nächsten Steuerstufe für den Biodiesel aufgegeben. Sie ist wieder einmal eingeknickt. Auf der Konferenz ?Kraftstoffe der Zukunft 2007“ im November dieses Jahres klang das anders.
Die Aussage von Minister Seehofer vor drei Wochen, er werde für die Aussetzung der Steuererhöhung kämpfen, hat sich als Muster ohne Wert erwiesen. Die Politik der Großen Koalition ist nicht verlässlich.
Das Pflanzenschutzgesetz wäre noch anzusprechen. Auch da ist die CDU/CSU eingeknickt. Die Reform der Erbschaftsteuer wäre noch anzusprechen. Auch da haben sich die CDU/CSU-Minister mit einer Protokollnotiz begnügt; auch das war nichts. Ein weiteres Stichwort wäre das Gentechnikgesetz.
Ich bin mir ganz sicher: Für eine solche Politik der Unzuverlässigkeit, der Willkür und der Missachtung existenzieller Interessen der Landwirtschaft, wie sie die schwarz-rote Koalition hier an den Tag legt, wäre jede andere Koalition, liebe Kolleginnen und Kollegen von der CDU/CSU, in den schrillsten Tönen gegeißelt worden.
Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner:
Herr Kollege Hinsken, ich konnte Ihre Zwischenfrage nicht mehr zulassen, weil die Kollegin ihre Redezeit schon überschritten hatte.
Dr. Christel Happach-Kasan (FDP):
Es tut mir leid, Herr Kollege, ich hätte Ihre Frage gern beantwortet.
Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner:
Nächster Redner ist der Kollege Ulrich Kelber, SPD-Fraktion.
Ulrich Kelber (SPD):
Meine sehr geehrten Damen und Herren! Ich werde versuchen, nach der Schwarz-Weiß-Malerei von eben ein etwas differenzierteres Bild der Agrarpolitik in Deutschland zu zeichnen. Ich glaube auch, dass die Menschen die Rituale, zu sagen, der politische Gegner mache grundsätzlich alles falsch, leid sind, Frau Dr. Happach-Kasan.
Wenn wir über Verantwortung und Politik für die ländlichen Räume sprechen, müssen wir natürlich die Ziele definieren. Der ländliche Raum muss ein attraktiver Standort zum Leben und zum Arbeiten bleiben.
Es geht um die Umgebung und die Wirtschaftskraft vor Ort. Wir müssen bei all den Herausforderungen, die wir dort vorfinden, die örtliche Versorgung und die benötigte Infrastruktur stärken und erhalten. Letzter, aber nicht unwichtiger Punkt: Das, was der ländliche Raum an Heimat und Tradition beiträgt, muss gewährleistet und erhalten bleiben.
Wir stoßen auf eine ganze Menge an Herausforderungen und Chancen für den ländlichen Raum. Ja, er ist durch den demografischen Wandel, durch den Verlust an Bevölkerung besonders betroffen. Das macht es teilweise noch schwieriger als in der Vergangenheit, die Infrastruktur aufrechtzuerhalten. Wir treffen auf Probleme mit Schulen und Hochschulen; ich habe das gehört, Herr Minister. Auch ich glaube, dass der Rückzug der Schulen aus dem ländlichen Raum ein großer Fehler ist. Deshalb muss hier ein klarer Appell an die Landesregierungen erfolgen. Was in Niedersachsen und in Nordrhein-Westfalen im Augenblick passiert, ist ein großer Fehler und bedeutet eine große Gefahr für den ländlichen Raum.
Wie gewährleisten wir in Zukunft die medizinische Versorgung, den öffentlichen Nahverkehr und die Versorgung mit modernen Medien? Genau das sind die Herausforderungen im ländlichen Raum, die besonders schwierig sind. Aber wir haben auch besondere Chancen. Wir haben dort eine attraktive Kulturlandschaft. Kollege Hinsken, die attraktive Kulturlandschaft ist natürlich die Nummer eins für den Tourismus in dieser Region. Ich bitte aber alle, diese Kulturlandschaft nicht immer wieder durch Widerstand in Sachen Naturschutz infrage zu stellen und, wie im Augenblick insbesondere Kollege Koch, mit dem Rücken zur Wand einen Wahlkampf gegen Naturschutz in Deutschland zu machen. Nur mit Naturschutz gibt es auch attraktive Kulturlandschaften in diesem Land.
Der breit aufgestellte Mittelstand ist ein weiteres Pfund, mit dem der ländliche Raum wuchern kann. Der Mittelstand gewährleistet mit den vielen Dienstleistungen der Zukunft verstärkte wirtschaftliche Möglichkeiten. Die Stabilisierung der Landwirtschaft in den letzten Jahren, ausgelöst durch verschiedene Politikinitiativen und durch Veränderungen auf dem Weltmarkt, ist eine weitere Chance. Ein Beispiel dafür ist die Veränderung bei den nachwachsenden Rohstoffen. Der ländliche Raum wird als Ideenschmiede - nicht nur als Lieferant - für die Nutzung von erneuerbaren Energien und von nachwachsenden Rohstoffen in der stofflichen Verwertung gesehen. Damit sind neue Produkte und Dienstleistungen verbunden.
Aus der Debatte entwickeln sich Beispiele dafür, wo Politik initiativ werden kann. Wir sind nicht allmächtig, wir können nicht alle globalen Trends aufhalten oder gestalten. Aber wir können versuchen, Beiträge zu liefern. Ein Beispiel ist das, was wir im Bereich der erneuerbaren Energien in den letzten sieben, acht Jahren erreicht haben. Das war der Auftakt zu einer verbesserten Einnahmesituation für die Bevölkerung im ländlichen Raum, insbesondere in der Landwirtschaft,
aber auch für diejenigen, die außerhalb der Landwirtschaft in der Nutzung erneuerbarer Energien und zunehmend auch erneuerbarer Rohstoffe tätig werden. Hier müssen wir weiter ansetzen und unsere Bemühungen verstärken.
Wir müssen in der Tat dafür sorgen, mit neuen Modellen und Breitbandnutzung Infrastruktur zu ermöglichen. Beides bedingt sich. Deswegen muss die Politik einfordern, dass über die verschiedenen Modelle des Breitbandzugangs auch jede Privatperson wenigstens im Megabitbereich Zugang erhält, und zwar in beide Richtungen: Download und Upload.
Dies fordern wir dort ein, wo die Versorgung nicht über Kabel gewährleistet werden kann, sei es über Funk oder über Satellit. Darauf müssen dann auch bestimmte Entscheidungen ausgerichtet werden. Das heißt, wenn wir durch die Digitalisierung Rundfunkfrequenzen gewinnen, dann müssen wir uns darum bemühen, diese digitale Dividende dafür zu nutzen, im ländlichen Raum einen kostengünstigen Zugang zu Breitband zu schaffen; denn wir werden das - egal wie viel Geld wir einsetzen - nicht über die normale Verkabelung schaffen.
Der Megabitbereich für den Privatanschluss ist das eine. Das andere ist die Frage, was die Dienstleister brauchen und was an Telemedizinversorgung notwendig ist, wenn wir Spezialisten im ländlichen Raum halten wollen. Was ist an Telelearning für eine gute Schul- und Hochschulversorgung an solchen Standorten notwendig? Dafür müssen wir in den zweistelligen Megabitbereich eintreten. Hierzu braucht es weitere Lösungen, die wir im Konsens mit der zur Verfügung stellenden Industrie erreichen müssen, weil wir in diesem Bereich sicherlich kein Staatsbreitband einführen wollen. Deswegen ist es richtig, dass wir mit den Geldern zuerst dafür sorgen, dass solche Modelle aufgebaut werden. Auf Dauer kann es nicht die Aufgabe des Staates sein, so etwas zu finanzieren und zu subventionieren.
Ich nenne noch zwei weitere Beispiele. Wir müssen uns auf die Frage konzentrieren, wie wir den Ausbau der ökologischen Landwirtschaft vorantreiben können. Wenn auf der gleichen Fläche durch Umstellung auf ökologische Landwirtschaft ein Drittel mehr Beschäftigung möglich ist und wenn selbst bei Produkten, die in unserem Land wachsen - ich spreche nicht von exotischen Früchten, die auch in Bioqualität nach Deutschland kommen -, mehr als die Hälfte des Bedarfs importiert werden muss, weil Deutschland die Umstellung auf ökologische Landwirtschaft versäumt und die Länder die Umstellungshilfen radikal gekürzt haben, sodass heute ein Landwirt in Deutschland bei der Umstellung weniger Geld bekommt als in den osteuropäischen Niedriglohnländern, dann machen wir einen Fehler. Wir versäumen einen Milliardenmarkt, der vor allem den ländlichen Räumen zugute kommen könnte. Hier muss dringend umgesteuert werden. Es ist ein gutes Zeichen, dass auf Initiative der SPD zumindest im Bundeshaushalt entsprechende Mittel zur Verfügung gestellt werden.
Was die Einnahmesituation in der Landwirtschaft angeht, sind die Erzeugerpreise in der Tat in vielen Bereichen gestiegen. Wir wissen aber auch, dass die Landwirte an vielen Stellen - für Energie, Pestizide und Dünger - höhere Kosten zu tragen haben. Auch hier ist die Umstellung auf eine ökologische Landwirtschaft hilfreich, weil der Bedarf an den teurer werdenden Gütern sinkt. Insofern hat die Unterstützung bei den Kosten einen Doppeleffekt: Sie trägt zum Klimaschutz und gleichzeitig zur Nutzung eines Milliardenmarktes bei, der in Deutschland auch 2007 wieder um einen zweistelligen Prozentsatz wachsen wird.
Ich freue mich über die Ankündigung von Minister Seehofer, die Konferenz über die Zukunft ländlicher Räume regelmäßig durchzuführen. Ich glaube trotzdem, dass wir ergänzend dazu den SPD-Vorschlag verwirklichen sollten, innerhalb der Bundesregierung einen Rat für ländliche Räume zu schaffen, in dem all die Ressorts, deren Arbeit die ländlichen Räume tangiert, ihre Politik aufeinander abstimmen, sodass in den Verordnungen und Gesetzentwürfen von vornherein die Bedürfnisse der Dörfer und Städte im ländlichen Raum berücksichtigt werden.
Ich möchte einen letzten Punkt ansprechen, nämlich die Frage der Finanzierung. Die Große Koalition hat gemeinsam einiges für die ländlichen Räume erreicht, und sie hat noch einiges vor. Wir müssen aber auch wissen: Wer der Politik mehr Aufgaben zuordnet, der braucht dafür auch mehr Geld. Es ist gut, dass die Mittel für die Gemeinschaftsaufgabe im Haushalt 2008 von 615 Millionen Euro auf 660 Millionen Euro anwachsen. Nach vielen Jahren gibt es endlich wieder einen Aufwuchs. Im Vergleich zu den Mitteln, die dem ländlichen Raum verloren gegangen sind, ist dies aber nicht ausreichend. Wir haben durch den 2005 von Bundeskanzlerin Angela Merkel ausgehandelten Kompromiss über die EU-Finanzierung in der sogenannten zweiten Säule der Agrarpolitik - in diesem Bereich werden die Maßnahmen zur Steigerung der Wertschöpfung im ländlichen Raum wie die Förderung der wirtschaftlichen Infrastruktur und Ähnliches finanziert - einen Verlust von durchschnittlich über 300 Millionen Euro im Jahr zu verzeichnen. Also müssen wir uns darüber unterhalten, wie man diesen Verlust ausgleicht in einem Bereich, dem sogar mehr Aufgaben zugeordnet werden als 2005. Denn es ist eine einfache Rechnung: Ein Verlust von 300 Millionen Euro kann nicht durch eine Aufstockung der Mittel in Höhe von 45 Millionen Euro ausgeglichen werden.
Das ist der Grund - darüber werden wir uns in der Großen Koalition ausführlich unterhalten müssen -, warum wir gesagt haben, dass wir die Situation höherer Erzeugerpreise nutzen müssen, um bei den Direktzahlungen, also dem, was man im Volksmund ?Agrarsubventionen“ nennt, Geld einzusammeln und es in die Förderung der ländlichen Räume zu investieren. Wir haben den Vorschlag unterbreitet, 8 Prozent davon zu nehmen; das wären weitere 375 Millionen Euro im Jahr. Damit wären die Verluste mehr als überkompensiert, und wir hätten die Chance, das Geld für die ländlichen Räume effektiv zu nutzen.
Wenn wir diese Chance nicht jetzt ergreifen, in einer Zeit, in der die Landwirtschaft boomt und die Europäische Union ähnliche Vorschläge macht, dann werden wir am Ende erleben, dass in Brüssel vor allem bei den Agrarsubventionen, also der ersten Säule, gekürzt wird und die Mittel nicht den Regionen zur Verfügung stehen, in denen wir sie einsetzen wollen, um die Wirtschaftskraft und die Attraktivität dieser Regionen zu steigern. Wir sollten also mit einer positiven Verhandlungseinstellung dort hineingehen und uns nicht auf den Status quo berufen. Das wäre der beste Rat, den man Deutschland an dieser Stelle geben kann.
Zudem müssen wir uns - hier treffen sich FDP- und SPD-Position - über den Inhalt der zweiten Säule und der Gemeinschaftsaufgabe unterhalten. In der Vergangenheit ist in vielen Bereichen Geld verplempert worden. Das muss geändert werden. Wenn wir dieses Geld besser ausgeben, dann habe ich um die Zukunft der ländlichen Räume keinerlei Angst.
Vielen Dank.
Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner:
Ich gebe das Wort der Kollegin Dr. Kirsten Tackmann, Fraktion Die Linke.
Dr. Kirsten Tackmann (DIE LINKE):
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Liebe Gäste! Vor zwei Wochen sendete der Rundfunk Berlin-Brandenburg eine Dokumentation, die viel Staub aufgewirbelt hat: Einmal Westen und zurück. Sie wurde auch in der Prignitz gedreht, wo ich seit mehr als 20 Jahren in einem kleinen Dorf mit etwa 80 Einwohnern lebe. Ich weiß also, wie schwer das Leben in den Dörfern unterdessen geworden ist. Deswegen hat mich die rbb-Dokumentation nicht erschreckt. Ich kenne die Realität.
Ja, man kann natürlich darüber streiten, ob die Situation wirklich so dramatisch ist, wie dort dargestellt. Aber wir sollten aufhören, diese Probleme kleinzureden.
In zweimal 45 Minuten war zu erleben, was die Worte ?Die ländlichen Räume stehen auf der Kippe“ wirklich bedeuten. Das war nämlich in etwa die Aussage der Studie des Berlin-Instituts für den Brandenburger Landtag aus dem Sommer, die Minister Seehofer zitiert hat. Angesichts dieser Situation darf sich Agrarpolitik nicht auf Landwirtschaftspolitik reduzieren, sie muss Strukturpolitik für die ländlichen Räume sein.
Die Studie des Berlin-Instituts spricht von zwei Entscheidungsoptionen, die die Politik nach Ansicht der Wissenschaftler zeitnah hat. Erste Option, Herr Seehofer: sofortiges Umsteuern, kein Weitermachen. Im Gutachten werden Beispiele genannt, wie man vorgehen könnte. Es gibt zum Beispiel selbstverwaltete Zwergenschulen in Schweden, Polikliniken in Lappland - die gab es also nicht nur in der DDR -, selbstverwaltete Mikroregionen in Mexiko, Zukunftsräte in der Schweiz, Dorfmobil-Projekte in Österreich. Was diesen Projekten zugrunde liegt, ist ein völlig anderes Denken des ländlichen Raums. In Schweden ist es zum Beispiel politisches Ziel, die Besiedlung der Inseln vor Stockholm zu erhalten. Natürlich weiß auch die schwedische Regierung, dass dazu gehört, dass man dort die öffentliche Daseinsvorsorge sichert. So etwas geht, wenn man die Interessen der Menschen höher bewertet und nicht immer nur über Kosten diskutiert.
Wenn in der Bundespolitik dieses Umdenken nicht endlich einsetzt, dann, so das Berlin-Institut weiter, bleibt nur eine zweite Option - diese hat Minister Seehofer schon genannt -, die gezielte Entsiedlung, zum Beispiel mit einer Wegzugsprämie. Die Brandenburger Landesregierung hat ähnlich wie Minister Seehofer aufs Schärfste protestiert. Das ist aber angesichts der tatsächlichen Politik der Bundes- und Landesregierung scheinheilig.
Warum ziehen denn die Menschen aus den ländlichen Regionen weg? - Sie tun es, weil sie meistens mit den Problemen alleine gelassen werden. Fatalerweise erfolgt der Wegzug eben nicht ganz allgemein, sondern sozial- und geschlechtsselektiv. Es gehen vor allen Dingen junge, kluge Frauen, weil sich gerade ihre Lebensbedingungen in den Dörfern deutlich verschlechtern. Das zeigt auch die aktuelle Studie ?Gleichstellung im ländlichen Raum“, die im Auftrag meiner Fraktion gerade erstellt wurde.
Natürlich ist es gut, wenn die Jugend in die Welt hinauszieht; das hat noch niemandem geschadet. Schlimm ist nur, dass viele junge Leute selbst dann nicht zurückkommen können, wenn sie es wollen. Woran liegt das? Es fehlen Ausbildungsplätze, Bus- und Bahnverbindungen, Sparkassen- und Postfilialen, Fachärzte sowie soziale und kulturelle Bildungsangebote. Selbst Behördengänge werden zu Tagesreisen. Kurz: Die Organisation des Alltags ist in den ländlichen Räumen unterdessen sehr schwierig geworden, vor allen Dingen für Ältere und Alleinerziehende. Klar, die Finanzierung der öffentlichen Daseinsvorsorge überfordert die ohnehin überschuldeten Haushalte in den ländlichen Gemeinden. Daher muss es aus meiner Sicht einen Solidarausgleich zwischen Stadt und Land geben. Das ist sozial gerecht; denn die Städter und Städterinnen nutzen den ländlichen Raum durchaus als Erholungsraum.
Es bröckelt aber nicht nur die Infrastruktur. Am dringendsten fehlt in den ländlichen Räumen existenzsichernde, bezahlte Arbeit. Das hat auch mit politischen Fehlentscheidungen zu tun, auch auf Bundesebene. Wer das Bombodrom in der Kyritz-Ruppiner Heide nutzen will, zerstört 15 000 bis 18 000 Arbeitsplätze in dieser Region und dazu alle Zukunftspotenziale, die sie hat.
Wer bei den kleinen Biokraftstofferzeugern mit Strafsteuern Gewinne abschöpfen will, die es gar nicht gibt, vernichtet Arbeitsplätze im ländlichen Raum.
Wer die Mehrwertsteuer um 3 Prozentpunkte erhöht, entzieht Kaufkraft, die zum Beispiel den regionalen Dienstleistungsanbietern fehlt. Im Landkreis Prignitz, in dem ich wohne, lag die Kaufkraft 2005 mit rund 6 000 Euro deutlich unter dem bundesweiten Durchschnitt von rund 8 500 Euro. Das war Platz 428 von bundesweit 439 Landkreisen. Wer Regionalisierungsmittel kürzt, ist mitverantwortlich für die Stilllegung von Bahnlinien. Wer eine Steuerpolitik im Interesse des Großkapitals und der Reichen macht, ist mitverantwortlich für die desolaten Kommunalhaushalte, also auch für den Ausfall der Kommunen als Arbeit- oder Auftraggeber.
Wer die Telekommunikation privatisiert, ist mitverantwortlich für die mangelnde Versorgung mit Breitbandanschlüssen. Gesellschaftliche Interessen und Gewinnmaximierung sind heute oft nicht miteinander zu vereinbaren. Dabei bleiben auch Einkommenschancen gerade für Frauen in den ländlichen Räumen auf der Strecke. Norwegen hat übrigens zum Jahresende eine flächendeckende Breitbandversorgung bis zum Polarkreis angekündigt.
Gerade weil es auch politische Gründe für die schwierige Situation in den Dörfern gibt, sagt die Linke: Das muss nicht so bleiben. Das darf auch nicht so bleiben.
Weder Bevölkerungsschwund noch Verarmungstendenzen sind Naturgesetze. Beides sind Folgen falscher Politik. Die Linke schlägt zum Beispiel seit Jahren eine Ausbildungsplatzabgabe vor. Gerade der Ausbildungsplatzmangel treibt junge Leute aus den ländlichen Räumen. Wir streiten für kluge Konzepte für einen bürgernahen und bezahlbaren öffentlichen Personennahverkehr. Wir wollen die Förderung einer dezentralen Biokraftstoffversorgung ohne Strafsteuer und Beimischungszwang. Busse und Bahnen sollten auf jeden Fall regional erzeugte Biokraftstoffe steuerfrei tanken können.
Wir brauchen öffentlich geförderte Beschäftigung. In Berlin schafft der rot-rote Senat damit gerade 10 000 Arbeitsplätze. Wir brauchen einen gesetzlichen Mindestlohn von 8,44 Euro. Auch das stärkt die regionale Nachfrage.
Es gibt zwei akute Bedrohungen für die ostdeutsche Landwirtschaft. Die erste Bedrohung ist die geplante Streichung von mehreren 100 Millionen Euro aus Brüssel. Betroffen wären mehr als 5 000 Agarbetriebe, davon über 90 Prozent in Ostdeutschland. Das muss verhindert werden. Die zweite Bedrohung sind Bodenspekulationen, auch durch die Verkaufspraxis der BVVG. Hier muss dringend eingegriffen werden, und zwar durch die konsequente Anwendung des Grundstückverkehrsgesetzes und durch Überprüfung der Vergabepraxis der BVVG.
Alles das wären aus unserer Sicht erste wichtige Schritte hin zu Dörfern mit Zukunft. Meine Fraktion beteiligt sich an dem Kreativwettbewerb um die besten Ideen mit einem eigenen Antrag. Wir greifen darin ein sehr wichtiges Thema auf, nämlich die Tendenz, dass in den Dörfern immer häufiger Arbeit nur zeitweise oder saisonal verfügbar ist. Die Linke will, dass die Arbeit so organisiert wird, dass daraus existenzsichernde Arbeitsplätze werden.
Frankreich hat hier gute Vorarbeit geleistet. In sogenannten Arbeitgeberzusammenschlüssen bilden verschiedene Betriebe gemeinsame Pools an qualifizierten Arbeitskräften. Die Angestellten des Arbeitgeberzusammenschlusses wechseln dann je nach Bedarf von einem Betrieb zum nächsten. Das funktioniert ähnlich einem Maschinenring: Dort nutzen Bauern gemeinsam einen Traktor. Das geht auch beim Personal, wie das Beispiel Frankreich zeigt. Aktuell gibt es in Frankreich 4 100 Arbeitgeberzusammenschlüsse, in denen ungefähr 40 000 Menschen Lohn und Brot finden.
Die Vorteile für die Mitgliedsbetriebe sind vielfältig: Sie können über ein flexibles, bedarfsorientiertes, erfahrenes und qualifiziertes Personal verfügen - das ist angesichts des drohenden Fachkräftemangels ein schwerwiegender Vorteil -; das professionelle Personalmanagement spart Geld; durch Aus- und Fortbildung sowie Qualifizierung können arbeitsarme Zeiten überbrückt werden. Auch das organisiert der Arbeitgeberzusammenschluss.
Was haben die Beschäftigten davon? Ihre Vorteile sind auch ganz klar: Im Gegensatz zu Saisonarbeitskräften sind sie ganzjährig und vor allen Dingen sozialversicherungspflichtig beschäftigt. Sie haben eine abwechslungsreiche Tätigkeit. Die integrierte Qualifizierung verbessert ihre Arbeitsplatzchancen, auch außerhalb des Arbeitgeberzusammenschlusses. Ein Arbeitgeberzusammenschluss sichert und verstetigt also unsichere Arbeitsverhältnisse. Das unterscheidet ihn ganz klar von der modernen Sklaverei in vielen Leiharbeitsfirmen.
Mehr noch: Er schafft sogar existenzsichernde Arbeitsplätze, zum Beispiel im Pilotprojekt der Spreewald-Forum GmbH. Hier sollten mit Landesförderung die Übertragbarkeit der französischen Erfahrungen unter einheimischen Bedingungen geprüft und die Gründung eines ersten Arbeitgeberzusammenschlusses begleitet werden. Zunächst haben sich dort sieben Betriebe zusammengeschlossen, vor allen Dingen Landwirtschafts- und Landschaftsbaubetriebe, aber auch eine Autoverwertung. Unterdessen sind es 15 Mitgliedsbetriebe, und 20 Arbeitsplätze sind geschaffen worden.
In Potsdam-Mittelmark wird gerade die Gründung eines weiteren Arbeitgeberzusammenschlusses für März vorbereitet. Hervorgegangen ist dieser übrigens - das ist ganz wichtig - aus einem erfolgreichen Potsdamer Betreuungsprojekt, Agrotime, für einheimische Erntehelfer. Unterdessen denken auch sie, dass ein Arbeitgeberzusammenschluss ein deutlich besserer Weg ist.
Um eines klar zu sagen: Arbeitgeberzusammenschlüsse lösen keine arbeitsmarktpolitischen Probleme - zumindest nicht vordergründig -, sondern sie lösen Probleme kleiner Unternehmen. Auf jeden Fall sind sie ein sinnvollerer Beitrag als die FDP-Forderung nach billigen Saisonarbeitskräften.
Arbeitgeberzusammenschlüsse haben also viele Gewinner: die Betriebe, die Beschäftigten und die Gesellschaft; denn dadurch können Menschen aus der Arbeitslosigkeit oder aus der Perspektivlosigkeit herausgeholt werden. Also, liebe Kolleginnen und Kollegen, lassen Sie uns doch einfach einmal französisch denken.
Ich danke Ihnen für die Aufmerksamkeit.
Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner:
Ich gebe das Wort der Kollegin Cornelia Behm, Bündnis 90/Die Grünen.
Cornelia Behm (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich muss zugeben, dass ich über die heutige zweite Debatte zum Agrarbericht 2007 ziemlich überrascht bin. Ich erinnere daran, dass die Koalitionsfraktionen hier vor genau fünf Wochen beschlossen haben, den jährlichen Agrarbericht abzuschaffen; Begründung: Abbau überflüssiger Bürokratie. Wir Grüne haben damals dagegengehalten - das machen wir noch heute - und darauf hingewiesen, wie wichtig es ist, dass die Agrarpolitik alljährlich Bilanz zieht und dass man über diese Bilanz debattiert. Jetzt, genau fünf Wochen später, setzen Sie nun, zur besten Debattenzeit, eine anderthalbstündige Debatte zum Agrarbericht 2007 auf.
- Ja, klar. Schauen Sie in die Tagesordnung. - Dabei haben wir über denselben Agrarbericht bereits im Juni hier im Plenum debattiert. Offensichtlich glaubt die Große Koalition selbst nicht an die Argumente, die sie hier vor fünf Wochen zum Besten gegeben hat. Oder folgen Sie einfach dem Prinzip, dass man die größten Abschiedsfeiern vor allem denjenigen angedeihen lässt, die man sowieso schon immer loswerden wollte?
- Jetzt komme ich zur Sache.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, die Preise für Agrarprodukte steigen in einem Maße, wie es sich bis vor kurzem niemand vorstellen konnte, und die Agrarkonjunktur zieht entsprechend an. Das ist eine positive Entwicklung, die wir Grüne begrüßen. Nicht zuletzt hat die Agrarpolitik der rot-grünen Regierung maßgeblich dazu beigetragen, diese Trendwende auf den Agrarmärkten herbeizuführen.
Ich nenne hier den Bioenergieboom, der durch die Biogas- und Biokraftstoffförderung der rot-grünen Bundesregierung einen starken Schub erfahren hat.
Ich nenne auch den Bioboom, den es ohne die rot-grüne Trendwende in der Agrarpolitik in Deutschland nicht gegeben hätte.
Aber natürlich spielen hier auch Faktoren eine Rolle, die mit deutscher Politik nichts, aber auch gar nichts zu tun haben.
Die gesamte Entwicklung des Weltmarkts hat zu höheren Preisen für Agrarprodukte geführt, zum Teil aufgrund der steigenden Nachfrage nach veredelten Agrarprodukten aus den Schwellenländern, zum Teil aufgrund der weltweit gestiegenen Bioenergienachfrage, und dazu kommen schlechte Ernten in verschiedenen Ländern.
Worin allerdings der Beitrag schwarz-roter Agrarpolitik zu dem Aufschwung besteht, den wir derzeit erleben,
wird wohl auf immer ein Geheimnis der Großen Koalition bleiben. Kollege Bleser
wird zwar nicht müde, bei jeder sich bietenden Gelegenheit vor diesem Hohen Hause zu erklären, wie stolz er auf die Politik ist,
aber außer dem gebetsmühlenartig wiederholten Hinweis darauf, man habe für bessere Stimmung unter den Bauern gesorgt, weil wieder ein Konservativer Agrarminister ist, erfahren wir nichts. Die weltweit gute Agrarkonjunktur ist jedenfalls nicht das Werk schwarz-roter Agrarpolitik in Deutschland.
Wir Grüne freuen uns über die gute wirtschaftliche Lage der Bauern, und sie ist den Bauern auch von Herzen zu gönnen. Das hat nämlich viele Vorteile. Die Subventionsabhängigkeit der Landwirtschaft wird sinken, und das ist sowohl für die Landwirtschaft als auch für die Steuerzahler eine gute Nachricht. Es ist ebenfalls eine gute Nachricht für die vielen Hundert Millionen Landwirte in den Entwicklungsländern.
Aber man darf die Augen vor den Schattenseiten dieser Entwicklung nicht verschließen. Dazu gehören steigende Lebensmittelpreise, die die Inflation treiben und für viele ärmere Bevölkerungsschichten zum Problem werden - nicht nur hierzulande, sondern insbesondere in den Entwicklungsländern.
Wir dürfen die Augen auch nicht davor verschließen, dass die gestiegene Nachfrage nach Agrarprodukten zu einer Intensivierung der Landwirtschaft führt, die viele ökologische Probleme mit sich bringt. Extensive Bewirtschaftungsformen und Vertragsnaturschutz, die für die Erhaltung vieler Biotope und bestimmter Arten so wichtig sind, werden unattraktiv, wenn die Natur- und Umweltleistungen nicht angemessen entgolten und die Mindereinnahmen nicht ausgeglichen werden. Deshalb ist es verheerend, dass die EU, der Bund und die Länder die Mittel für die Agrarumweltprogramme zusammengestrichen haben.
Der Druck zur Beseitigung von Landschaftselementen wie Hecken und Feuchtgebieten steigt, um mehr Ackerfläche zu gewinnen. Das bedeutet aber auch ein Ende der vor allem touristisch so attraktiven Kulturlandschaften, die der Minister gegenüber Herrn Hinsken gerade so gelobt hat.
In weiten Teilen des Landes wird immer mehr wertvolles Grünland umgebrochen. Zwischen 2003 und 2006 haben beispielsweise Nordrhein-Westfalen und Mecklenburg-Vorpommern 4 Prozent ihres Grünlands verloren. In diesem Jahr haben drei Bundesländer sogar die 5-Prozent-Hürde gerissen. Dieser Entwicklung muss die Politik dringend etwas entgegensetzen. Die bisherigen Vorgaben und Maßnahmen zur Erhaltung von extensiven Bewirtschaftungsformen, von Dauergrünland und von Landschaftselementen reichen ganz offensichtlich nicht aus.
Auch die Stilllegungspflicht wird bald völlig wegfallen - davon ist ganz fest auszugehen -; denn der ursprüngliche Anlass, die Verminderung von Agrarüberschüssen, besteht nicht mehr; im Gegenteil. Allerdings waren die Brachen aus der Flächenstilllegung ein Beitrag zur Erhaltung der Artenvielfalt in der Agrarlandschaft. Hierfür muss Ersatz geschaffen werden. Denkbar wäre ein Mindestanteil an Landschaftselementen auf den beihilfefähigen Flächen oder ein Mindestanteil an ökologischen Vorrangflächen. Die könnten zwar landwirtschaftlich genutzt werden, aber unter Beachtung bestimmter Naturschutzziele.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, als ich Ihren Antrag mit dem Titel ?Unsere Verantwortung für die ländlichen Räume“ in die Hand nahm, war ich zuerst überrascht: Wow! Er enthält viele Bekenntnisse zu den ländlichen Räumen. Das bin ich - abgesehen davon, dass Sie die Pressemitteilungen des Deutschen Bauernverbandes wiederholen - von Ihnen gar nicht gewohnt. Beim näheren Hinschauen zeigt sich aber, dass der Text seinen Höhepunkt schon überschritten hat, bevor der Teil mit den Forderungen überhaupt beginnt. Anders ausgedrückt: Auch hier bleibt es ein Geheimnis, woraus Ihre Politik für die ländlichen Räume konkret besteht.
Sie wollen die Rahmenbedingungen für die mittelständische Wirtschaft verbessern; das ist schön. Wir erfahren aber nicht, wie das geschehen soll.
Sie wollen einwirken, unterstützen, klären und verfolgen, aber wollen Sie auch konkret etwas tun? Ja, Sie wollen weitere Straßen im ländlichen Raum bauen. Dabei haben wir gerade von Minister Seehofer gehört, dass die Flächenversiegelung unbedingt gestoppt werden soll.
Trotzdem habe ich in Ihrem Antrag gelesen, dass Straßen gebaut werden sollen.
Das nenne ich innovativ. Wie viele Arbeitsplätze sind denn in den vergangenen Jahren durch den Straßenbau im ländlichen Raum entstanden? Mittlerweile weiß wirklich jedes Kind, dass die Wirtschaftsentwicklung in Deutschland durch Straßenbau nicht gefördert werden kann.
Jobmaschine Straßenbau: Sie glauben wohl immer noch daran.
Glauben Sie, dass das Versenken weiterer Millionen in Beton den ländlichen Räumen irgendetwas bringt? Das kann doch wohl nicht Ihr Ernst sein.
Eine zukunftsfähige Politik für den ländlichen Raum sieht anders aus. Wir brauchen dafür erstens einen Umbau der europäischen Agrarpolitik, weg von pauschaler Subventionsvergabe, hin zu einer Vergütung gesellschaftlicher Leistungen von Landwirten, die besonders umwelt- und klimaverträglich wirtschaften. Zweitens müssen wir die GAK endlich zu einer Gemeinschaftsaufgabe ?Entwicklung des ländlichen Raums“ umbauen. Beides sucht man bei Ihnen allerdings vergeblich. Dabei liegen die Vorschläge auf dem Tisch. Wir brauchen einen Umbau der ersten Säule, hin zu mehr Klimaschutz und zur Ökologisierung der Landbewirtschaftung.
Die europäische Landwirtschaft hat auf dem Weltmarkt nur dann eine Chance, wenn sie auf Qualität und konsequenten Umweltschutz setzt.
Dafür müssen wir die zweite Säule deutlich stärken. Auch die zweite Säule - die Entwicklung des ländlichen Raums - braucht Verlässlichkeit und Planungssicherheit, also das, was Sie für die erste Säule - die Landwirtschaft - immer fordern. Unsere Landwirte leben eben auch von der zweiten Säule.
Wir Grüne wollen eine Agrarpolitik, die konsequent auf mehr Arbeitsplätze setzt; denn das Leben auf dem Land ist für die Menschen nur dann attraktiv, wenn sie dort auch ihr Brot verdienen können.
- Quatsch! - Wir wollen eine Verbesserung der Lebensmittelsicherheit und der Tierseuchenbekämpfung; denn das Vertrauen der Verbraucherinnen und Verbraucher in Agrarprodukte aus Deutschland gewinnen wir nur, wenn wir gesündere und vor allem frischere Lebensmittel als unsere Nachbarn anbieten.
Schlussendlich wollen wir eine leistungsstarke bäuerliche Landwirtschaft;
denn sie erhält unsere gewachsene Natur- und Kulturlandschaft.
Ich danke Ihnen für die sehr beredte Aufmerksamkeit.
Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner:
Nächster Redner ist der Kollege Franz-Josef Holzenkamp, CDU/CSU-Fraktion.
Franz-Josef Holzenkamp (CDU/CSU):
Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Ich komme aus dem wunderschönen, wieder erfolgreichen Niedersachsen, einem Flächenland.
Ein Großteil des Landes ist ländlicher Raum. Heute sprechen wir über den ländlichen Raum. Niedersachsen ist ein Agrarland. Die Agrarwirtschaft ist nach der Automobilindustrie der zweitwichtigste Wirtschaftszweig.
Ich persönlich komme aus dem Oldenburger Münsterland. Wer es nicht kennt, sollte wissen: Es ist immer eine Reise wert. Vor 50 Jahren war diese Region ein Armenhaus; heute ist sie die am stärksten boomende Region in ganz Niedersachsen. Liebe Kollegin Tackmann, mit planwirtschaftlichen Mitteln haben wir dies nicht erreicht.
Doch immer wieder, meine Damen und Herren, stehen Städte und Metropolen mit ihren Herausforderungen im Vordergrund der politischen Betrachtung, obwohl sich in den ländlichen Räumen ein Großteil des wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Lebens abspielt. Deshalb freue ich mich heute über die überfällige Debatte zur Zukunft der ländlichen Räume. Ein paar Zahlen zur Verdeutlichung: Wir reden über etwa 65 Prozent unserer Bevölkerung. Wir reden über einen Großteil der Wirtschaftsbetriebe, da die meisten von ihnen im ländlichen Raum angesiedelt sind und dort produzieren. Wir reden über einen Großteil unserer öffentlichen Infrastruktur.
Aber - das muss man auch sagen - ländlicher Raum ist nicht gleich ländlicher Raum. Ländlicher Raum ist vielfältig: Es gibt einerseits die Regionen, die nahe an Ballungszentren liegen, die sogenannten Speckgürtel. Sie glänzen mit attraktiver Wohnlage, mit gutem Zugang zu öffentlicher Infrastruktur und einer prosperierenden Wirtschaft. Andererseits gibt es - ich glaube, deshalb unterhalten wir uns auch heute über die ländlichen Räume - die Regionen, die in der Regel entfernt von den Ballungszentren liegen, eine dünnere Besiedlung, eine geringere Bevölkerungsdichte und eine unzureichende Infrastruktur - da sind wir gefragt! - aufweisen sowie durch fehlende bzw. immer häufiger in Zentren abwandernde Arbeitsplätze gekennzeichnet sind. Dieses wird durch die demografische Entwicklung verstärkt; das ist schon angeklungen. Um diese Abwärtsspirale zu durchbrechen, müssen wir den ländlichen Raum - da sind wir uns, wie ich denke, einig - wieder in den Fokus nehmen.
An dieser Stelle möchte ich Minister Seehofer meinen persönlichen Dank aussprechen: Herr Minister Seehofer, Sie haben diese Ausgangslage und die erkennbaren Tendenzen zum Anlass genommen, einen Diskussionsprozess zu initiieren, der ja, wie Sie es dargestellt haben, schon läuft. Einen festen Platz hat er ja zum Beispiel Jahr für Jahr in einer öffentlichen Veranstaltung im Rahmen der Grünen Woche.
Meine Damen und Herren, ländliche Räume dürfen nicht nur als grüne Oasen, als Erholungsraum gesehen werden, sie sind auch ein Wirtschaftsfaktor. In den Fällen, wo sie als Wirtschaftsfaktor keine Rolle spielen, können sie auch keine erfolgreiche Entwicklung aufweisen. Nur so geht es.
Dafür wollen wir mit unserem Antrag die richtigen Anstöße geben. Um nicht falsch verstanden zu werden: Wir brauchen beides, Stadt und Land. Deshalb unterstützen wir auch keine ?Fluchtprämien“.
Es ist schon angeklungen: Die Agrarwirtschaft übernimmt im ländlichen Raum sowohl aus wirtschaftlicher Sicht als auch aus kulturprägender Sicht eine zentrale Rolle. Dieser Bundesregierung, Frau Behm, ist es gelungen, die Landwirtschaft wieder in die Mitte der Gesellschaft zu rücken. Das war vorher nicht so. Dafür möchte ich Ihnen, Herr Minister, als Landwirt auch persönlich Dank sagen.
Landwirtschaft allein kann eine Region wirtschaftlich nicht tragen, aber eine erfolgreiche Landwirtschaft ist Voraussetzung für den Erfolg der vor- und nachgelagerten Bereiche. Sie finden sich im ländlichen Raum in einer Vielzahl an Ausprägungen: von Futtermittel- und Düngemittelproduzenten über den Anlagebau bis hin zur Ernährungswirtschaft. Diese Kette bezeichnet man im Fachjargon als Agribusiness.
Auch hier zur Verdeutlichung ein paar Zahlen: Wir sprechen über einen Umsatz in Höhe von 550 Milliarden Euro pro Jahr. Das ist zum Beispiel doppelt so viel wie in der Automobilindustrie. Wir sprechen über etwas mehr als 4,5 Millionen Arbeitsplätze im ländlichen Raum - mit steigender Tendenz. Die Ernährungsbranche boomt; ihr Exportanteil beträgt mittlerweile 22 Prozent. Auch hier ist eine steigende Tendenz zu verzeichnen: Allein in diesem Jahr konnte sie ein Plus von 10 Prozent verzeichnen.
Meine Damen und Herren, ich habe zu Beginn aus gutem Grund über meine Heimat gesprochen. Ihr Erfolg hängt nämlich sehr stark mit dem Agribusiness zusammen. Wir haben bei uns ein sogenanntes Cluster für Agrartechnologien entwickelt: von der Landwirtschaft als unverzichtbarem Primärsektor - das möchte ich betonen - bis hin zur Ernährungswirtschaft. Die Menschen bei uns haben Arbeit. Sie fühlen sich wohl, sie bleiben, sie investieren, und sie gründen auch Familien. In meiner Heimat befindet sich der geburtenstärkste Landkreis in unserer gesamten Republik. Nehmen Sie sich daran ein Beispiel.
- Ja, ich habe vier Kinder. - Das Ergebnis: wachsende Bevölkerung und eine Arbeitslosenquote von gut 5 Prozent. Vor 25 Jahren lag sie im Schnitt noch bei 25 Prozent. Verbesserungen sind also möglich.
Wie Sie sehen, ist die Agrarwirtschaft eine Wachstums- und Zukunftsbranche. Wenn man so will, findet augenblicklich die zweite grüne Revolution statt. Die Agrarwirtschaft ist innovativ, vielfältig und nachhaltig. Gott sei Dank gibt es eine Entwicklung von Überschussmärkten zu Nachfragemärkten.
Die Agrarwirtschaft übernimmt zwei zentrale Aufgaben. Die erste Aufgabe ist die Nahrungsmittelversorgung für weltweit - das kann man nur global sehen - 6,5 Milliarden Menschen; 2050 werden es schon etwa 9,5 Milliarden Menschen sein. Das ist eine große Herausforderung. Darin liegt aber auch ein riesiges Wertschöpfungspotenzial für den ländlichen Raum.
Die zweite Aufgabe ist die eines Energielieferanten. Hier stehen wir selbstverständlich erst am Anfang - aber mit von uns formulierten, sehr ambitionierten Zielen.
Deswegen müssen die Rahmenbedingungen passen. Verschiedene Vorredner haben schon die EU-Agrarpolitik erwähnt. Wir haben gerade eine große Agrarreform hinter uns. Ich setze - die Bauern erwarten das auch - auf Verlässlichkeit und Berechenbarkeit. Deshalb erwarten wir bis 2013 bei der ersten Säule keine Kürzung der Ausgleichszahlungen.
Bei diesen Diskussionen muss man auch den gesellschaftlichen Leistungen gerecht werden, die die Landwirtschaft tagtäglich in Deutschland und in Europa bei Einhaltung der höchsten Standards im Tierschutzbereich und im Umweltbereich und der Sozialstandards erbringt. Im Übrigen bewirken die Ausgleichzahlungen Kaufkraft, die im ländlichen Raum bleibt und nicht in irgendwelchen Gutachterbüros oder an anderen Orten verschwindet.
Auf nationaler Ebene sind Anpassungen notwendig. Herr Minister, ich bin sehr froh darüber, dass Sie den Flächenverbrauch - die Versiegelung beträgt etwa 100 Hektar pro Tag - angesprochen haben. Wir müssen darüber reden; das kann so nicht bleiben, auch wenn es eine Herkulesaufgabe wird, daran etwas zu ändern.
In dem Zusammenhang ist auch der Naturschutz angesprochen worden. Naturschutz ist für die Menschen da. Wir von der CDU/CSU-Fraktion stehen zu dem, was schon jahrhundertelang gilt, nämlich ?Schützen durch Nützen“ und nichts anderes.
Aber auch andere Dinge sind von elementarer Bedeutung für die Stabilität im ländlichen Raum. Ich nenne beispielsweise die Erbschaftsteuerreform. Frau Happach-Kasan, ich bin davon überzeugt, dass wir hier zu einem guten Ergebnis kommen werden. Ferner ist das Krisenmanagement von elementarer Bedeutung. Der Minister spricht es immer wieder an. Beim Bürokratieabbau haben wir einiges auf den Weg gebracht. Heute wird noch das Fleischgesetz verabschiedet. Wir haben ein 30 Jahre altes Gesetz endlich entrümpelt und einen akzeptablen Kompromiss für die betroffenen Landwirte erzielt.
Unabhängig von den Bedingungen in den ländlichen Regionen gibt es überall das Problem, dass die Infrastruktur nur unzureichend entwickelt ist. Außerdem leidet der ländliche Raum besonders unter dem demografischen Wandel. Um diesen Raum zukunftssicher zu machen, stehen wir vor zusätzlichen Aufgaben. Wir müssen zukünftig mehr für die Verkehrsinfrastruktur tun. Die Lücken bei den Autobahnen müssen endlich geschlossen werden. Wir müssen mehr Geld in die Hand nehmen. Ich nenne in diesem Zusammenhang die Breitband-Technologie. Man kann viel meckern. Aber man muss feststellen, dass die Bundesregierung beim Agrarhaushalt viel Geld in die Hand genommen hat. Wir sind uns alle einig, dass es im nächsten Jahr noch eine weitere Steigerung geben muss.
Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner:
Herr Kollege, die Frau Kollegin Maisch würde gerne eine Zwischenfrage stellen. Würden Sie dies erlauben?
Franz-Josef Holzenkamp (CDU/CSU):
Ja, gerne.
Nicole Maisch (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Danke, Frau Präsidentin. - Herr Holzenkamp, Sie haben über den Flächenverbrauch im Kontext mit dem Naturschutz gesprochen. Sind Sie der Meinung, dass dem Naturschutz in Deutschland zu viele Flächen zur Verfügung stehen, oder wie darf ich Ihre Aussage verstehen, dass man im Zusammenhang mit der Minimierung des Flächenverbrauchs auch über den Naturschutz reden muss?
Franz-Josef Holzenkamp (CDU/CSU):
Ich habe zunächst über den enormen Flächenbedarf gesprochen und darüber, wie wir mit dem immer knapper werdenden Gut Fläche umgehen. Ich habe von ?Schützen durch Nützen“ gesprochen.
Ich habe nicht über die Zahl der Naturschutzflächen gesprochen, sondern darüber, welche Bedingungen vorherrschen und wie man damit umgeht und umgehen sollte. Die Naturschutzflächen sollen nicht, zugespitzt formuliert, für Menschen gesperrt werden, sondern für die Menschen da sein. Davon habe ich gesprochen.
Eine flächendeckende öffentliche Infrastruktur von Schulen über Hochschulen bis hin zur medizinischen Versorgung ist - das ist angeklungen - ein unverzichtbarer Standortfaktor. Wir wollen das Zusammenleben fördern, mehr tun für das Ehrenamt und für die Vereine als Garanten des sozialen Friedens im ländlichen Raum. Für dies alles brauchen wir ein integriertes Entwicklungskonzept; das ist angesprochen worden. Das werden wir auf den Weg bringen.
In der Umsetzung aber bin ich, Herr Minister - ich glaube, da sind wir sehr beieinander -, für einen dezentralen Ansatz, für das sogenannte Prinzip der Subsidiarität, weil die Menschen vor Ort einfach besser wissen, wie man dort vorgehen kann.
Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner:
Herr Kollege!
Franz-Josef Holzenkamp (CDU/CSU):
Frau Präsidentin, ich komme zum Schluss.
Wir wollen lebendige, pulsierende ländliche Räume. Dafür brauchen wir bessere Rahmenbedingungen, und deshalb bitte ich Sie alle, unseren Antrag zur Verantwortung für die ländlichen Räume und die dort lebenden Menschen zu unterstützen.
Herzlichen Dank.
Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner:
Nächster Redner ist der Kollege Dr. Edmund Peter Geisen, FDP-Fraktion.
Dr. Edmund Peter Geisen (FDP):
Verehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrter Herr Minister Seehofer! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Geht es der Landwirtschaft gut, geht es den ländlichen Räumen gut. Dort stehen meines Erachtens die Stützen unserer Gesellschaft. Ich füge hinzu: Eine gute Landwirtschaft ist auch guter Klimaschutz.
Kaum gibt es positive Tendenzen im Agrarbereich, die durch den Weltmarkt hervorgerufen wurden, so hören die Damen und Herren von der Regierungskoalition nicht auf, zu frohlocken, wie gut es doch der heimischen Landwirtschaft geht. Minister Seehofer hört man nur noch über seine eigene Politik jubilieren - dies zum Ärger der Landwirte und der Landbevölkerung.
Denn die Fakten sind anders:
Erstens. Die Landwirtschaft war jahrelang die Inflationsbremse in Deutschland. Die Einkünfte lagen am Existenzminimum, die Arbeit wurde nicht honoriert. Es entstand ein riesiger Investitionsstau.
Zweitens. Jetzt gibt es seit einigen Monaten eine Trendwende, und man vergisst, eine ehrliche Rechnung aufzumachen: Alle Produktionskosten, insbesondere die für Futter- und Betriebsmittel sowie die Energiekosten, sind enorm gestiegen. Der Großteil der Kostensteigerung ist hausgemacht: an erster Stelle durch die Erhöhung der Mehrwertsteuer um 3 Prozentpunkte - eigentlich um 4 Prozentpunkte, rechnet man die Energiepreissteigerungen des letzten Jahres hinzu -, an zweiter Stelle durch die Steuersätze für Agrardiesel, die im Vergleich zu anderen EU-Ländern Mehrkosten von bis zu 100 Euro pro Hektar verursachen. Das macht für einen deutschen Durchschnittsbetrieb bis zu 8 000 Euro pro Jahr aus.
Hier hatte die FDP-Fraktion gehofft, dass Sie, Herr Minister Seehofer, im Rahmen der deutschen Ratspräsidentschaft aktiv geworden wären. Ich habe - sozusagen als Hilfestellung - einen Antrag zur Harmonisierung der Steuersätze für Agrardiesel in der EU eingebracht. Fehlanzeige! Meine Kolleginnen und Kollegen in der Großen Koalition haben diesen Antrag leider einstimmig abgelehnt.
Drittens. Ihre Erntehelferregelung führt zu höheren Bürokratie- und Arbeitskosten sowie zu Ertragsausfällen. Ich frage Sie, Herr Minister Seehofer: Warum hören Sie nicht auf Ihre eigenen Leute, auf die Länderminister und die Kolleginnen und Kollegen aus der eigenen Fraktion? Forderungen aus Ihren eigenen Reihen gibt es genug. Können oder wollen Sie sich nicht bei Ihrem Koalitionspartner durchsetzen?
Zur Erntehelferregelung liegt ebenfalls ein Antrag der FDP vor, der den Anliegen der Bauern vor Ort viel besser gerecht wird als Ihre nunmehr im dritten Jahr verkorkste Regelung.
Glauben Sie mir; ich weiß, wovon ich rede. Ich habe mit vielen Betroffenen vor Ort gesprochen. Es ist doch billiger Populismus, wenn man verkündet, dass auf den Obst- und Gemüsefeldern das Problem der Arbeitslosigkeit in Deutschland gelöst wird. Wie hat es der Chefredakteur einer landwirtschaftlichen Fachzeitung so schön formuliert? Der eigenen Klientel schaden, um in der Öffentlichkeit Punkte zu sammeln!
Wir fordern, dass die Eckpunkteregelung nicht noch einmal verlängert wird und stattdessen die volle Arbeitnehmerfreizügigkeit gewährleistet wird. Wissen Sie eigentlich, dass in der ganzen EU neben uns nur Österreich die Grenzen bis 2009 dichtmacht?
Viertens. Auch das kürzlich verabschiedete, verkorkste Gesetz zur Modernisierung des Rechts der landwirtschaftlichen Sozialversicherung wird schon bald zu Beitragserhöhungen und Kostensteigerungen für Landwirte führen.
Die landwirtschaftlichen Krankenkassen sind wiederum nicht an den Bundesmitteln, zum Beispiel hinsichtlich der kostenlosen Familienmitversicherung, beteiligt worden. Das führt zu großer Verunsicherung, aber auch zu Wut und Ärger bei den Betroffenen.
Bei der landwirtschaftlichen Unfallversicherung haben wir eine Umstellung des Systems gefordert. Der Bund und die BGs stecken stattdessen über 1 Milliarde Euro in eine nicht funktionierende Reform. Auch hier werden Beitragserhöhungen mit Sicherheit die Folge sein. Das sage ich Ihnen voraus.
Schönfärberei kann Murks auf Dauer nicht verdecken.
Vielen Landwirten geht es noch immer nicht gut. Die Strukturen der ländlichen Räume sind noch immer gefährdet. Sie sind nicht in Ordnung. Mit dieser Regierung gibt es keine Verlässlichkeit und keine Planungssicherheit für die Landwirte und die ländlichen Räume. Die Interessen der Landwirte werden beim parteipolitischen Machtpoker leichtfertig aufs Spiel gesetzt.
Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner:
Ich gebe das Wort dem Kollegen Dr. Gerhard Botz, SPD-Fraktion.
Dr. Gerhard Botz (SPD):
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrter Herr Bundesminister! Werte Kolleginnen und Kollegen! Frau Behm, ich möchte eine Vorbemerkung machen: Die Redezeit kann immer knapp werden; aber ich war sehr froh, als Ihre Redezeit zu Ende ging. Ich habe befürchtet, dass der eine oder andere Gast auf der Tribüne, der aus einem ländlichen Raum stammt, sich ängstlich in eine Zukunft verschlagen sieht, in der er sich mit einem Buschmesser zur nächsten Postdienststelle durchschlagen muss.
Ich komme zur Sache, also zu unserer Verantwortung für ländliche Räume. Wenn ich in meinem strukturschwachen Wahlkreis zu einer öffentlichen Veranstaltung zu diesem Thema einlade, dann führt das immer zu drei Fakten: Erstens. Der Saal ist voll. Zweitens. Selbstverständlich sitzen die Landwirte und die Vertreter der vor- und nachgelagerten Bereiche im Saal; sie gehören da auch hin. Drittens. Zur Überraschung dieser Vertreter stellen sie oft aber nicht die Mehrheit der Anwesenden. Uns als Experten überrascht das nicht. Ich zähle diese anderen einmal kurz auf: die Kommunalpolitiker, Vertreter der Krankenhäuser, der Katastrophenschutzorganisationen, der Naturschutzverbände und Vertreter der Organisationen, die die Kinderbetreuung und vieles mehr in den ländlichen Regionen in der Hand haben.
Das macht Folgendes klar - das muss klar gesagt werden; das lenkt unser Handeln; das dürfen wir nicht vergessen -: Unsere Bürger in den ländlichen Räumen haben nicht nur bezogen auf die Landwirtschaft eine Erwartungshaltung. Wenn es aber um die strukturschwachen Räume geht - ich beziehe mich in meiner Rede heute etwas stärker auf diese Räume -, dann sind und bleiben Landwirtschaft und Forstwirtschaft entscheidende Teile der Wirtschaft. Diese Branchen bieten den Bürgern Erwerbsmöglichkeiten. Hier können sie ihr Einkommen erzielen. Sie sind der Grund für den Verbleib der Bürger in diesen ländlichen Räumen. Meiner Meinung nach muss das die entscheidende politische Zielstellung bleiben.
Die Erwartungen, die die Bürger, die in diesen Regionen leben, an uns haben, wachsen; das spüren wir doch alle. Dabei geht es aber nicht um irgendwelche überzogenen Horrorbilder oder Ähnliches. Vielmehr wird die Frage an uns gerichtet: Was könnt ihr konkret tun? Ich sage Ihnen eines: Ich bin sehr zufrieden und dankbar, Herr Bundesminister - das, was ich jetzt sage, richtet sich an die gesamte Bundesregierung -, dass das im Nationalen Strategieplan für die Entwicklung ländlicher Räume 2007 bis 2013 aufgegriffen wurde; denn es war höchste Zeit, dass das geschieht.
Ich hoffe - Herr Minister, Sie wissen ja, wie das ist; denn Sie sind sehr erfahren -, dass dieser Plan nicht irgendwann irgendwo verstaubt, sondern dass er in jeder Abteilung Ihres Hauses immer ganz oben auf dem Tisch liegt. Da das für alle Häuser gilt, bin ich dankbar, dass auch Vertreter der anderen Ministerien hier anwesend sind. Es handelt sich nämlich um den Nationalen Strategieplan der Bundesregierung für die Jahre 2007 bis 2013. Dieser Plan ist ein Fortschritt, und dieser Fortschritt ist ein Verdienst der Großen Koalition.
Zum Schwerpunkt meines Beitrags. Herr Minister, in Punkt eins unseres Papiers, um das wir miteinander gerungen haben, ist die Verpflichtung zur Koordinierung aus Ihrem Haus heraus festgehalten. Wichtig ist, dass dann, wenn es um die Notwendigkeit von Veränderungen der Arbeiten oder um die Umgestaltung und Weiterentwicklung der GAK geht, die Stimme von außen - ich erinnere nur an den OECD-Prüfbericht vom März 2007 - und die Stimme der Fachleute in unserem Land, zum Beispiel der Fachleute, die Ihrem Haus die Ergebnisse des Bundesprogramms ?Regionen aktiv“ geliefert haben, fast identisch sind. Das, also die GAK, ist sicherlich nach wie vor ein wichtiges Werkzeug. Aber so, wie es derzeit ist, reicht es nicht mehr aus, um den Bedürfnissen des ländlichen Raumes gerecht zu werden.
Werte Kolleginnen und Kollegen, viele von Ihnen haben bereits das Thema Breitbandversorgung angesprochen. Ich habe großes Verständnis dafür, dass wir und vor allen Dingen die Medien immer ein Gipfelthema brauchen, an dem wir etwas fast symbolisch festmachen. Das ist nicht schlecht. Um nicht falsch verstanden zu werden, sage ich aber: Das ist nur ein Gipfelthema. Dahinter versteckt sich nicht nur der Wunsch, sondern auch die berechtigte Erwartung, dass auch die anderen Strukturelemente stabilisiert werden.
Frau Behm, ich sage Ihnen: Nicht nur in dem Teil Deutschlands, aus dem ich komme, sondern auch in dem Teil, der den anderen seit inzwischen fast zwei Jahrzehnten maßgeblich unterstützt, werden in Zukunft Straßen gebaut werden müssen; auch das muss man in einem solchen Zusammenhang einmal sagen.
Ich möchte Ihnen an dieser Stelle noch zwei Dinge sagen. Die Zeit geht wie immer zu schnell zu Ende.
Erstens. Ich bin nicht bereit - ich hoffe, Ihnen geht es genauso -, mir von Wissenschaftlern empfehlen zu lassen: Investiert die verbleibenden Fördermittel, die es mit hoher Wahrscheinlichkeit nur noch bis dann und dann gibt, in die Leuchttürme und die Ballungszentren. Dann geht in Wartehaltung, und hofft, dass das geschieht, was wir euch prophezeien, nämlich dass irgendwann die Ausstrahlungskraft dieser Mittel, wenn ihr Glück habt, ausreicht, den einen oder anderen ländlichen Raum zu erleuchten. - Das reicht den Menschen nicht.
Zweitens. Wir brauchen Netzwerke, minimale Knotenpunkte, in die Geld gehen muss. Verehrte Kollegen von der konservativen Seite,
auch deshalb ergibt es einen Sinn, rechtzeitig von der ersten Säule in die zweite Säule zu wechseln und, bevor sie uns endgültig verloren geht, das Geld in landwirtschaftsnah zu definierende Elemente zu investieren.
Abschließend muss ich sagen - da muss ich hier Verschiedene anschauen -: Ich bin enttäuscht.
Ich glaube, dass wir in der Mitte richtig liegen.
Wir sollten auch als Politiker - das mag als Schwäche definiert werden - ab und zu mit einem Schuss Emotion
- diese Freiheit habe ich mir heute genommen - die Menschen daran erinnern, dass Fördergelder richtig sind, dass sich die Menschen aber immer wieder in benachteiligten
ländlichen Gebieten auf sich selber besonnen haben, Selbstvertrauen und Kraft geschöpft haben, nach vorne geschaut
und gesagt haben: Hier ist eine Krise, aber diese Krise bietet auch Chancen. Wir packen es an, wir gehen da durch und erarbeiten uns eine gemeinsame vernünftige Zukunft.
Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner:
Ich gebe das Wort dem Kollegen Klaus Hofbauer, CDU/CSU-Fraktion.
Klaus Hofbauer (CDU/CSU):
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Erlauben Sie mir, Frau Dr. Happach-Kasan, eine Bemerkung. Sie haben zu Beginn Kritik an unserem Minister geübt. Ich möchte Ihnen sagen, dass Sie mit dieser Kritik völlig danebengelegen haben.
Unser Minister Horst Seehofer leistet für die Landwirte und für den ländlichen Raum eine hervorragende Arbeit. Die Menschen des ländlichen Raums, insbesondere die Bauern, haben Vertrauen in die Politik von Horst Seehofer.
Liebe Frau Kollegin Behm, wir arbeiten im Unterausschuss Strukturfragen sehr eng zusammen, und ich schätze Ihre Arbeit. Erlauben Sie mir aber, eine Feststellung zu machen: Ich bin den Verantwortlichen der Koalitionsfraktionen sehr dankbar, dass dieses Thema zu einer solch guten Zeit diskutiert und beraten wird. Damit wird das Thema Landwirtschaft und ländlicher Raum wirklich einmal in den Mittelpunkt unserer Arbeit gestellt. Herzlichen Dank dafür, dass wir diese gute Zeit bekommen haben.
- Und unser Fraktionsvorsitzender ist da. Er verfolgt die Situation sehr genau, und er hat uns in der Fraktion ganz gewaltig bei der Erarbeitung dieses Antrags unterstützt.
- Darf ich, liebe Frau Kollegin Behm, noch eine zweite Bemerkung machen? Vielleicht können Sie diese in Ihre Zwischenfrage einbeziehen.
Frau Kollegin Behm, Sie haben die Verkehrspolitik und die Infrastrukturpolitik hier negativ angesprochen. Es ist meine feste Überzeugung, dass eine intakte Infrastruktur die beste Förderung für den ländlichen Raum ist. Ohne eine intakte Infrastruktur gibt es keine Entwicklung des ländlichen Raums. Deswegen brauchen wir gute Straßen und eine insgesamt intakte Infrastruktur im ländlichen Raum.
Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner:
Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage der Kollegin Behm?
Klaus Hofbauer (CDU/CSU):
Selbstverständlich.
Cornelia Behm (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Geschätzter Kollege, ich muss jetzt doch einmal an unsere Reise nach Ostbayern erinnern.
- Nein, es war keineswegs eine private Reise, die wir da unternommen haben. Ich spreche von der Delegationsreise des Unterausschusses ?Regionale Wirtschaftspolitik“. Wir besuchten drei Landkreise, und auf zwei davon möchte ich zu sprechen kommen: den Landkreis Cham und den Landkreis Hof. Wir haben gesehen, dass die Wirtschaftsentwicklung dort sehr unterschiedlich verläuft.
Haben Sie sich einmal damit auseinandergesetzt, wie die Wirtschaftsentwicklung dieser beiden Kreise sich zu ihrer Infrastrukturausstattung verhält? Sollten Sie das noch nicht getan haben, kann ich Ihnen eine Untersuchung meines Kollegen Anton Hofreiter empfehlen, der sich dieses Problems angenommen hat. Haben Sie Interesse daran? Möchten Sie diese Studie vielleicht zugeleitet bekommen?
Klaus Hofbauer (CDU/CSU):
Meine sehr geehrten Damen und Herren, ich kenne diese Studie, weil der Kollege Hofreiter sie uns im Verkehrsausschuss zur Verfügung gestellt hat. Ich bitte um Verständnis dafür, dass ich mit dieser Studie inhaltlich nicht ganz einverstanden bin, weil die Verkehrspolitik darin unserer Meinung nach völlig falsch dargestellt wird. Wir brauchen eine gute Infrastruktur, weil wir ansonsten insbesondere die strukturschwachen Gebiete und die ländlichen Räume nicht erschließen können.
Frau Kollegin Behm, ich bin Ihnen dankbar, dass Sie meinen Heimatlandkreis Cham angesprochen haben. In diesem Landkreis, in dem ich früher einmal kommunaler Wirtschaftsreferent sein durfte, haben wir bereits vor 20 Jahren den ?Aktionskreis Lebens- und Wirtschaftsraum“ gegründet. Darin haben wir Wirtschaft - einschließlich der Landwirtschaft -, Kultur, Schulen usw. einbezogen, um eine Region gemeinsam zu entwickeln. Die Entwicklung sieht folgendermaßen aus: Im Jahr 1983 hatten wir im damaligen Landkreis Kötzting, einem Teil meines Wahlkreises, im Winter eine Arbeitslosenquote von 48,3 Prozent. Jetzt haben wir eine Arbeitslosenquote von 3,5 Prozent.
Das ist die Entwicklung aufgrund einer guten Infrastrukturpolitik.
Meine Damen und Herren, mit dem gemeinsamen Antrag der beiden Koalitionsfraktionen wollten wir eines erreichen: Der ländliche Raum soll nicht zum Anhängsel der Ballungsräume - allein wichtig in den Bereichen Naturschutz und Erholung - degradiert werden. Vielmehr wollen wir mit diesem Antrag klarstellen, dass Ballungsräume und der ländliche Raum gleichwertige und gleichberechtigte Partner sind, die auf gleicher Augenhöhe miteinander kommunizieren müssen.
Mir ist es ein Anliegen - wie Sie, Herr Kollege Kelber, es bereits gemacht haben -, die Stärken des ländlichen Raumes zu unterstreichen. Als Vertreter des ländlichen Raumes sollten wir von dieser Jammertalmentalität wegkommen. Wir sollten die Stärken des ländlichen Raumes herausstellen und den ländlichen Raum selbstbewusst erläutern.
Auf einer Veranstaltung des Kollegen Koschyk mit Kommunalpolitikern und der CSU-Landesgruppe ist kürzlich bei der Diskussion über den ländlichen Raum ein junger Mann aufgestanden und hat sehr selbstbewusst gesagt, dass wir als Bewohner des ländlichen Raums ganz anders auftreten sollten, weil es bei uns Qualitäten gibt
wie die, dass man sich ein Häuschen bauen kann, gute Arbeitsplätze findet, eine hohe Lebensqualität hat, die Natur vor der Haustür ist und es ein gutes kulturelles Angebot gibt. Diese Stärken des ländlichen Raumes sollten wir wieder herausstellen; denn das ist meiner Meinung nach die beste Werbung für den ländlichen Raum.
Das heißt aber nicht, dass wir die Probleme unter den Teppich kehren wollen. Deshalb halte ich es für richtig, dass wir gemeinsam mit den Ministern Horst Seehofer und Michael Glos ministerienübergreifend integrierte nachhaltige Konzepte für den ländlichen Raum erarbeiten. Die Arbeit für den ländlichen Raum ist eine Querschnittsaufgabe. Wir müssen - da spielt auch die Kulturpolitik eine Rolle, auch wenn das Länderaufgabe ist - die Verbände einbeziehen. Ich glaube, dies ist von entscheidender Bedeutung.
Ich möchte mich ausdrücklich bedanken für die Programme zur finanziellen Förderung der ländlichen Räume, zum Beispiel für die GAK, aber auch für die GA im Allgemeinen. Dies sind ganz wichtige Säulen für die strukturschwachen Gebiete. Herr Kelber, ich vertrete hier eine andere Auffassung als Sie: Wir wollen nicht, dass das, was unsere Landwirte an Mehreinnahmen haben, abgezogen und in andere Programme gesteckt wird. Seien wir froh, dass unsere Bäuerinnen und Bauern Mehreinnahmen haben! Das muss bei den Bauern bleiben.
Ich möchte nicht verhehlen, dass wir uns mit den Programmen intensiv auseinandersetzen müssen. Im Moment läuft auf europäischer Ebene die Finanzierungsperiode 2007 bis 2013. In dieser Periode sind die Weichen für den ländlichen Raum im Großen und Ganzen richtig gestellt. Jetzt müssen wir die Programme vor Ort mit sinnvollen Projekten umsetzen. Dafür brauchen wir regionale Organisationen. Es ist aber auch die Aufgabe des Parlaments, gemeinsam mit dem Minister bereits an die nächste Finanzierungsperiode zu denken. Die Weichen für die Finanzierungsperiode ab 2013 werden im Jahre 2008 gestellt; schon 2008 werden auf europäischer Ebene die ersten Punkte festgelegt. Es wird entscheidend darauf ankommen, dass wir diesen Prozess für die ländlichen Räume gestalten.
Erlauben Sie mir, die Versorgung mit Breitbandanschlüssen anzusprechen. Herr Minister, wir sind Ihnen sehr dankbar, dass Sie sich dieses Themas gemeinsam mit Michael Glos angenommen haben. Wir sind uns einig in der Auffassung, dass die Breitbandvernetzung keine Sache der nächsten 20 Jahre ist, sondern in den nächsten zwei, drei Jahren geregelt werden muss.
Ich bin davon überzeugt, dass schon heute viele Ansiedlungsentscheidungen - ob einer ein Haus bauen will; ob einer eine Existenz gründen will; ob einer einen mittelständischen Betrieb erweitern will - davon abhängen, ob Breitbandanschlüsse verfügbar sind. Deswegen ist es gut, dass unser Minister die Weichen gestellt hat, gemeinsam mit den Ländern entscheidende Schritte zu machen.
Auch die regenerativen Energien sind für den ländlichen Raum von entscheidender Bedeutung. Meine Forderung im Hinblick auf die regenerativen Energien ist, dass die Wertschöpfung bei den Bauern, im ländlichen Raum bleibt.
Es darf nicht sein, dass die Wertschöpfung bei den regenerativen Energien an Konzerne geht, die jetzt ganz groß in diesen Bereich einsteigen. Wir müssen die Voraussetzungen schaffen, dass die Wertschöpfung bei den Erzeugern bleibt. Die Produktion der Rohstoffe muss im Mittelpunkt stehen. Wir müssen uns Gedanken machen, wie die Genossenschaftsidee, die im ländlichen Raum in den letzten Jahrzehnten von großer Bedeutung war, mit neuem Leben erfüllt werden kann.
Die Bauern müssen bei diesen Dingen als Unternehmer dabei sein; das halte ich für ganz zentral. - Lieber Herr Vorsitzender der Unionsfraktion, ich meine schon die richtige Genossenschaft. - Deswegen sind wir dankbar, dass sich die Ministerien von Horst Seehofer und Michael Glos des Themas Energie und insbesondere der Förderung von Wärme- und Biogasleitungen angenommen haben. Wir werden das jetzt umsetzen, weil wir insbesondere in der Diskussion über das EEG darauf achten müssen, dass die Effizienz gesteigert wird. Und die Effizienz im ländlichen Raum wird nur dann gesteigert, wenn auch die Wärme dieser Anlagen genutzt wird und man sie nicht entweichen lässt. Herzlichen Dank für diese Initiative!
Meine sehr geehrten Damen und Herren, es gäbe noch viele Aspekte anzusprechen: Verkehrsanbindung, öffentlicher Personennahverkehr, öffentliche Daseinsvorsorge, Tourismus. Der liebe Kollege Ernst Hinsken hat den Tourismus ja schon wiederholt angesprochen. Das sind wichtige Punkte.
Mit unserem Antrag haben wir das Thema ländlicher Raum nicht neu erfunden, aber wir wollten gemeinsam mit den Ministerien einen Akzent setzen. Das Thema ländlicher Raum als Lebens-, Wirtschafts- und Kulturraum wird uns noch gewaltig beschäftigen. Hier liegen große Chancen. Nutzen wir gemeinsam mit den Bürgerinnen und Bürgern diese Chancen. Ich glaube nämlich, dass der ländliche Raum eine Zukunft hat.
Herzlichen Dank.
Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner:
Letzte Rednerin in dieser Debatte ist die Kollegin Waltraud Wolff, SPD-Fraktion.
Waltraud Wolff (Wolmirstedt) (SPD):
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Meine Damen und Herren! Unsere Verantwortung für die ländlichen Räume: Wo stehen wir dabei in Deutschland, und was ist zu tun?
Lassen Sie mich einen Prüfbericht der OECD an den Anfang meiner Rede stellen. Die OECD hat die deutsche Politik für die ländlichen Räume geprüft. Wir müssen das hier so konstatieren: Das Ergebnis ist nicht gerade rühmlich. Sie zeigt nämlich auf, dass wir in Deutschland unsere Chancen und Möglichkeiten noch nicht genutzt haben.
Die OECD kommt zu dem Ergebnis, dass unsere Politik für ländliche Räume im Wesentlichen aus der Ergänzung der EU-Agrarpolitik besteht und dass wir strukturell noch nicht neu aufgestellt sind.
Das betrifft auf der einen Seite die Gemeinschaftsaufgabe ?Verbesserung der Agrarstruktur und des Küstenschutzes“ und auf der anderen Seite genauso die Gemeinschaftsaufgabe ?Verbesserung der regionalen Wirtschaftsstruktur“, mit der in erster Linie die strukturellen Unterschiede kompensiert werden sollen. Ziel einer Politik für die ländlichen Räume ist die Steigerung der Wettbewerbsfähigkeit sowie der Erhalt und Ausbau von Wirtschaftskraft. Das hat die Debatte hier ganz eindeutig gezeigt.
Die Mehrheit der Menschen in Deutschland lebt nicht in Großstädten, sondern in ländlichen Regionen, die ganz unterschiedlich sind. Auf der einen Seite gibt es blühende Regionen, nämlich wenn sie sich in der Nähe von Ballungsgebieten befinden. Auf der anderen Seite gibt es aber auch Regionen mit schrumpfender Entwicklung. Ich komme aus Sachsen-Anhalt. Für den Norden von Sachsen-Anhalt muss man das so konstatieren.
Durch unser Grundgesetz wird uns ein ganz klarer Auftrag gegeben. Herr Minister Seehofer hat das vorhin einleitend auch schon gesagt. Wir als Parlament sind nämlich dafür zuständig, dass es für die Bürgerinnen und Bürger in Deutschland gleichwertige Lebensbedingungen gibt. Das ist eine Aufgabe, die wir annehmen und auch anpacken müssen.
Meine Damen und Herren, im Haushalt 2008 haben wir die Mittel für die Gemeinschaftsaufgabe ?Verbesserung der Agrarstruktur und des Küstenschutzes“ erhöht. Wir haben hier auch Projekte für die Breitbandförderung im ländlichen Raum aufgenommen. Jeder hat das hier wohlwollend getan und gesagt: Wir haben in der GAK etwas installiert, wofür unsere Förderung in der Zukunft weitergehen muss.
Herr Seehofer, Sie haben in Ihrer Halbzeitbilanz angekündigt, eine weitere Modernisierung und Stärkung der GAK anzustreben. Wir als SPD haben das gerne aufgenommen. Aufgrund der ELER-Verordnung, die wir aus der EU bekommen haben, gilt es, besonders für die Entwicklung der ländlichen Räume neue Wege zu beschreiten. Hier soll und muss es zu einer Öffnung kommen, sodass möglichst auch Kleinstunternehmen - ich sage das für die Zuschauerinnen und Zuschauer: Das sind Unternehmen, die weniger als zehn Beschäftigte haben - gefördert werden können. Diese Öffnung geht über die Landwirtschaft hinaus.
Hier gilt es auch, die GAK in Deutschland zu ändern. Wir müssen ganz eindeutig neue Schritte gehen. Aus Sicht der SPD ist Ihnen hier noch einmal ganz deutlich zu sagen: Wir unterstützen Sie, wenn es um eine Änderung der GAK geht.
Wir haben in der heutigen Debatte aber auch schon gehört, dass die Fraktion der CDU/CSU, unser Koalitionspartner, in dieser Diskussion noch nicht so weit fortgeschritten ist. Ich möchte Ihnen noch einmal versichern: Es ist gut, wenn wir unseren Koalitionspartner dabei auch auf der parlamentarischen Seite ins Boot bekommen.
- Sie müssen dann das Protokoll lesen.
Politik für die ländlichen Räume ist mehr als Agrarpolitik. Das ist sicherlich richtig. Aber genauso richtig ist, dass gerade die Landwirtschaft und die Veredelungswirtschaft viele ländliche Regionen prägen. Es freut mich, dass der Situationsbericht des Deutschen Bauernverbandes, der am Dienstag dieser Woche vorgestellt worden ist, diese positive Entwicklung aufnimmt. Die Landwirte können zuversichtlich sein - das sagen der Bauernverband und dessen Präsident, Herr Sonnleitner. Das kann ich von hier aus nur unterstützen. Die Einkommen steigen, die Investitionen steigen und die Zukunftserwartungen sind gut.
Die steigenden Preise für Agrarprodukte kommen bei den Bauern an. Wenn wir uns noch einmal bezüglich des Milchmarktes erinnern: Vor zwei Jahren war nie die Rede davon, dass es einmal einen Literpreis von 40 Cent geben könnte. Den haben die Milchbauern immer gefordert. Heute ist er Realität geworden. Dieser Aufschwung kommt bei den Menschen an, weil er ganz deutlich zeigt: Die Agrargenossenschaften, die Betriebe vor Ort können ordentlich verdienen.
Der Präsident des Deutschen Bauernverbandes, Gerd Sonnleitner, hat bei der Vorstellung dieses Berichts das umfassende Verbot des Verkaufs unter Einstandspreis auf der Habenseite der Großen Koalition verbucht.
Damit ist es uns ganz ernst: Lebensmittel dürfen nicht verramscht werden. Sie haben ihren Preis. Wenn jetzt kurz vor Inkrafttreten der Gesetzesänderung die Butter fast billiger als die Milch verkauft wird, dann muss ich sagen: Das ist ein echter Affront.
Wir alle wollen gute Lebensmittel. Dafür sollen die Bauern anständige Preise verlangen dürfen.
Jetzt muss ich ein wenig von meiner Rede weglassen, weil mir meine Redezeit davonläuft.
Ich habe es vorhin schon gesagt: Die Entwicklung der Landwirtschaft profitiert. Gleichzeitig wissen wir, dass wir die Förderung der ländlichen Räume deutlich verbessern müssen. Ein Schwerpunkt kann hier nur die integrierte ländliche Entwicklung sein. Das ist aufwendig, aber es lohnt sich. Wir haben die Ergebnisse des Wettbewerbs ?Regionen aktiv“ vor Augen. Wir haben darüber diskutiert. Alle 18 Modellprojekte haben davon profitiert. Wichtig war, dass die einzelnen Regionen selber Träger gewesen sind. Die Region selbst konnte festlegen, konnte schauen, wo die Defizite sind, wo die bestehenden Potenziale sind und was genutzt werden kann. Das hat dieses Modellprojekt ausgezeichnet. Die Konsequenz kann doch jetzt nur sein, dass wir dafür sorgen, dass dieser Ansatz auch in der Regelförderung in der Zukunft möglich wird.
Die Politik für ländliche Räume muss deutlich gestärkt werden. Das muss sich auch im Haushalt widerspiegeln. Gerade in der Gemeinsamen Agrarpolitik der Europäischen Union ist die Stärkung der zweiten Säule unumgänglich. Modulation ja, Degression nein!
Es geht nicht darum, ob es große oder kleine Betriebe sind oder ob große oder kleine Betriebe besser sind. Es geht vielmehr darum, welche Leistungen ein Betrieb vollbringt. Es geht sehr viel mehr darum, wie viele Mitarbeiter in einem Unternehmen angestellt und welche Sozialstandards gewährleistet sind.
Die Kappung der Direktzahlung betrifft vor allem Betriebe in den neuen Bundesländern. Die diskutierten Kürzungssätze würden die deutsche Landwirtschaft mit insgesamt 300 Millionen Euro belasten. Damit würden wir knapp die Hälfte der Kürzungen in der gesamten EU tragen müssen. 96 Prozent von diesen 5 700 Betrieben sind in den neuen Bundesländern. Viele Arbeitsplätze in ohnehin strukturschwachen Gebieten wären gefährdet. Es kann doch nicht sein, dass wir gerade dort die Landwirtschaft schwächen, wo der größte Bedarf für die Stärkung der Entwicklung der ländlichen Räume besteht, was auch von der EU in den Programmen festgeschrieben ist. Da fragt man sich, wie man auf EU-Ebene so paradox vorgehen kann.
Dennoch ist das Ziel der Kommission richtig: weg von der Marktintervention hin zur Stärkung der ländlichen Räume. Landwirte wollen sich an den Märkten ausrichten. Sie wollen die Marktchancen ergreifen. Gleichzeitig müssen sie aber auch Herausforderungen wie den Klimawandel oder den Rückgang der Artenvielfalt bewältigen.
Die Landwirtschaft - damit komme ich zum Schluss, Frau Präsidentin - trägt, wie wir wissen, zum Klimawandel bei. Gleichzeitig ist sie aber auch von den sich ändernden klimatischen Bedingungen stark betroffen. Sie kann darüber hinaus als Rohstoffproduzent von Energie aus Biomasse einen wichtigen Anteil für die Begrenzung der Folgen des Klimawandels leisten.
Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt:
Kommen Sie bitte zum Ende, Frau Kollegin.
Waltraud Wolff (Wolmirstedt) (SPD):
Ich komme zum Ende. - Auf der anderen Seite trägt eine nachhaltige und angepasste Landwirtschaft dazu bei, dass wir auch später gerne in den ländlichen Regionen leben wollen.
Lassen Sie uns diese Vision in die Wirklichkeit umsetzen.
Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt:
Frau Kollegin.
Waltraud Wolff (Wolmirstedt) (SPD):
Folgen Sie unserem Antrag! Lassen Sie uns prosperierende Wirtschaftsbereiche in den ländlichen Räumen etablieren.
Vielen Dank.
Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt:
Ich schließe die Aussprache.
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlagen auf den Drucksachen 16/5956, 16/4806 und 16/6643 an die Ausschüsse vorgeschlagen, die in der Tagesordnung aufgeführt sind, wobei die Vorlage auf Drucksache 16/4806 federführend im Ausschuss für Wirtschaft und Technologie und die Vorlage auf Drucksache 16/6643 federführend im Ausschuss für Arbeit und Soziales beraten werden sollen. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall. Dann ist so beschlossen.
Wir kommen jetzt zur Abstimmung über den von der Bundesregierung eingebrachten Entwurf eines Fleischgesetzes. Der Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 16/7503, den Gesetzentwurf der Bundesregierung auf Drucksache 16/6964 in der Ausschussfassung anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf in der Ausschussfassung zustimmen wollen, um ihr Handzeichen. - Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Damit ist der Gesetzentwurf in zweiter Beratung angenommen bei Zustimmung durch die Koalition und die Linke und Gegenstimmen der FDP und Bündnis 90/Die Grünen.
und Schlussabstimmung. Wer dem Gesetzentwurf zustimmen möchte, möge sich bitte erheben. - Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Damit ist der Gesetzentwurf angenommen bei gleichem Stimmverhältnis wie vorher.
Wir kommen zur Beschlussempfehlung des Ausschusses für Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz zu dem Agrarpolitischen Bericht 2007 der Bundesregierung sowie dem Entschließungsantrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen zu dem genannten Bericht. Der Ausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 16/6864, den Entschließungsantrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen auf Drucksache 16/5599 in Kenntnis der Unterrichtung durch die Bundesregierung auf Drucksache 16/4289 abzulehnen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Damit ist die Beschlussempfehlung angenommen gegen die Stimmen der antragstellenden Fraktion Bündnis 90/Die Grünen bei Zustimmung des Hauses im Übrigen.
[Der folgende Berichtsteil - und damit der gesamte Stenografische Bericht der 133. Sitzung - wird morgen,
Freitag, den 14. Dezember 2007,
an dieser Stelle veröffentlicht.]